Publikation

All began just by chance. Julius Shulman.
All began just by chance. Julius Shulman. © Thomas Spier
Autor:in: Thomas Spier
Publikationsdatum: 2005
Format: DVD,

Sehet hin und staunet

Das Haus als Case Study war ein journalistischer Schöpfungsakt, der sich architektonisch bezahlt machte. Die mediale Seligsprechung der Projekte darf ihrerseits heute noch als einzigartige Architektur-PR-Fallstudie betrachtet werden.

2. März 2002 - Ute Woltron
John Entenza war der Heiland einer ganzen Architektengeneration, weil er einige ihrer Weggenossen selbst zu Heiligen erkor und dann auch machte. So einfach war das, so kompliziert es auch war.

Der Architekturprophet begann mit der medialen Segnung seiner Jünger zu Ende des Zweiten Weltkriegs, als er in Los Angeles eine avantgardistisch positionierte, mit Innovationen aller Art reich gedüngte Architektur- und Designzeitschrift namens Art & Architecture leitete. In der ersten Nummer des Jahres 1945 unternahm er seine erste Predigt in Form seines Herausgeberbriefs, mit der Aufforderung, die Architekten mögen seinen Worten folgen, und die begann so: „Vieles, das mal oberflächlich, mal profund, zum Wohnungsbau der Nachkriegszeit gesagt wird, scheint uns doch nur bloßes Gerede und Spekulation auf Papier zu sein. Es ist an der Zeit, zu konkreten Fallbeispielen überzugehen und eine Fülle an Material zusammenzutragen, aus dem schließlich etwas entsteht, das sich Wohnhaus der Nachkriegszeit nennen kann. (...) Auf dieser Idee aufbauend möchten wir jetzt ein Projekt ankündigen, das wir als Case Study House Program bezeichnen.“

Entenza rief also - von ihm hochselbst Auserwählte - dazu auf, schlichte, moderne, innovative und möglichst preiswert herzustellende Einfamilienhäuser als Prototypen zu entwerfen, an den Bauherren, die Baufrau zu bringen und die ganze Angelegenheit formschön und regelmäßig in seiner Zeitung präsentieren zu lassen. Die Saat fiel auf fruchtbaren Boden. Von 1945 bis 1966 entwarfen die verschiedensten amerikanischen Architekten in und um Los Angeles 36 dieser Haustypen, von denen die meisten auch realisiert wurden. Das Case Study Program durchlief über die Jahre verschiedene Entwicklungs- und Qualitätsstufen, ein paar der Häuser - etwa jene, die Charles und Ray Eames, Richard Neutra und Pierre Koenig entworfen hatten - wurden von der Architekturgeschichte schließlich zu heiligen Stätten der Baukunst geweiht, und ihre Erbauer erlangten internationalen Kultstatus. Vor allem die Phase der 50er-Jahre brachte einige Prachtvillen hervor, deren ursprünglich angedachte übergeordnete Botschaft, nämlich für jedermann erschwinglich zu sein und irgendwann einmal sogar in kleine Serien zu gehen, freilich keinen Widerhall fand.

Trotzdem war das Programm einflussreich, die Nachwirkungen sind bis heute in zeitgenössischen Architekturen zu verspüren, etwa was den Einsatz industriell gefertigter Bauelemente anbelangt, aber auch in Sachen Grundrisslösungen und Umgang mit dem Raum rund um das Haus. Die Fall-Studenten ihrerseits standen großteils unter dem Einfluß R. M. Schindlers, der sich schon viele Jahre zuvor mit genau diesem Thema sehr erfolgreich zu befassen begonnen hatte. Schindler selbst nahm nie am Programm teil, ganz einfach weil ihn der Allmächtige nicht dazu einlud, genauso wenig wie andere ebenfalls sendungsbewusste starke Typen wie Gregory Ain oder den geradezu anbetungswürdigen John Lautner.

Warum Entenzas journalistisch-selektiver Architektur-Schöpfungsakt international dermaßen Furore machte, lässt sich retrospektiv kaum mehr analysieren. Fest steht aber, dass der Begriff Case Study House bis heute fast über den Nimbus einer kleinen Architekturschule verfügt, und daran ist die perfekte journalistische Aufbereitung der gebauten Leckerbissen schuld. Der architekturbesessene Entenza ließ in seinem Blatt für jede einzelne der Villen quasi Messen lesen. Dabei entstanden originelle und unkonventionelle Textstrecken wie etwa das von Richard Neutra verfasste fiktive Gespräch zwischen den potenziellen Bauherrschaften Omega, Alpha und dem Architekten selbst. Und nicht zuletzt engagierte der Architekturpublizist die besten jungen Fotografen der Westküste für das Oeuvre, allen voran natürlich Julius Shulman. Allein seine atemberaubende Aufnahme der im Glashaus über LA schwebenden Fräuleins im Koenig-Domizil No. 22 - sicher eines der berühmtesten Architekturfotos überhaupt - hätte das Case-Study-Programm bekannt gemacht.

Wie sich das improvisierte Fotoshooting dort im Jahr 1960 tatsächlich abgespielt hat, wie die Originalbeiträge in Arts & Architecture ausgesehen haben, wie sich die einzelnen Häuser heute und gestern in Plan und Detail präsentieren, das kann demnächst in der riesigen, umfangreichen und faszinierenden Publikation Case Study Houses (Elizabeth T. Smith, EURO 154,20/440 Seiten, Taschen, Köln 2002) nachgeschlagen werden: Ein Trip an die Westküste, in eine vergangene, gegenwärtige Moderne und in die Tiefen einer einzigartigen Architektur PR-Kampagne.

teilen auf

Für den Beitrag verantwortlich: Der Standard

Ansprechpartner:in für diese Seite: nextroomoffice[at]nextroom.at

Tools: