Publikation

An den Rand geschrieben
Wohnkultur, Stadtkultur
An den Rand geschrieben
Autor:in: Roland Rainer
ISBN: 3205991907
Publikationsdatum: 2000
Umfang: 192 Seiten, 89 SW-Abb.

Vernunft und Leidenschaft

Stadthalle, Donauinsel, ORF-Zentrum: Als langjähriger Stadtplaner hat der Architekt Roland Rainer nicht nur das Erscheinungsbild Wiens geprägt. Am 1. Mai wird er 90.

26. April 2000 - Jan Tabor
Vor den Mitgliedern des Wiener Stadtsenats hielt Roland Rainer im November 1957 einen Vortrag, in dem er seine Auffassungen über die künftige Entwicklung Wiens vorstellte. Rainer, damals Professor in Dortmund, war einer jener drei Kandidaten, die eingeladen worden waren, sich für die Stelle eines Stadtplaners zu bewerben. Einen nicht genannten „großen Stadt- und Landesplaner“ zitierend, verglich Rainer die Arbeit des Stadtplaners mit der eines Teppichwebers: „Andere haben vor ihm gewebt, und andere werden nach ihm weiter weben. Der Wiener Stadtplaner webt an einem sehr kostbaren Teppich, der in der Geschichte aus der Landschaft und den Werken der Menschen entstanden ist.“

Den Wiener Stadträten gefiel der Vortrag sehr, und sie ernannten Rainer zum Wiener Stadtplaner. Im Juni 1962 erschien im Verlag für Jugend & Volk unter der Verlagsnummer 2342/7210/2062 eine Publikation, die man längst „den Rainer-Plan“ nennt. Das leinengebundene, quadratische Buch (31 mal 31 Zentimeter) mit 201 Seiten und der schlichten Überschrift „Roland Rainer Planungskonzept“ ist in jeder Hinsicht ein außerordentliches Werk: zeitlos schöne Typografie, gediegenes Layout, in Farbe gedruckte Karten und Pläne in der Qualität einer Map Art, eine ausgewogene Mischung aus Wissenschaftlichkeit und Emotion, gut geschriebene Fachbeiträge und Essays. All das sollte der Wiener Stadtplanung das verleihen, was sie bis dahin nicht kannte: Rationalität und Leidenschaft.

Das Buch, mit bibliophiler Sorgfalt redigiert und hergestellt, ist eine antiquarische Rarität. Nicht antiquiert hingegen ist nicht nur das Layout, sondern auch der Inhalt. Schon beim Durchblättern und Einlesen fallen zwei Aspekte auf: wie wesentlich und wie vorteilhaft Roland Rainer die Entwicklung Wiens beeinflusst hat (so schlug Rainer etwa die Erschaffung der Donauinsel vor) und wie aktuell seine Ideen (selbstredend nicht alle) geblieben sind. Der Rainer-Plan ist jene Vorlage, nach der - unbewusst - am kostbaren Teppich Wien gewebt wird.

Die Bestellung Rainers zum Wiener Stadtplaner und sein Planungskonzept bedeuteten um 1960 die längst fällige Trennung von den NS-Architektur- und Städtebauvorstellungen, die in Wien nach 1945 weiter galten und gepflegt wurden. „Die ersten Jahre nach der Befreiung gehören zu den dunkelsten Epochen der österreichischen Architekturgeschichte“, schrieb 1965 Sokratis Dimitriou, Kunsthistoriker und damals einflussreicher Protege der Moderne, in der von Hans Hollein herausgegebenen Zeitschrift Bau. Über die besonders wichtige Rolle, die Roland Rainer bei der Überwindung der Stagnation gespielt hat, besteht kein Zweifel. „Der wohl einflussreichste Architekt der Nachkriegszeit ist Roland Rainer, der auch als Stadtplaner von Wien, als Pädagoge und Publizist gewirkt hat“, meinte Dimitriou.

In seinem ebenfalls 1965 veröffentlichten Aufsatz über die „Entwicklung und Situation der österreichischen Architektur seit 1945“ schreibt Friedrich Achleitner: „Die Situation von 1945 schien ausweglos: nicht nur die wirtschaftliche, die naturmäßig das Bauen stark bestimmt, sondern auch die politische und kulturelle ... Den größten Beitrag zu der Verwandlung der allgemeinen architektonischen Situation leistete in der Folge zweifellos Roland Rainer. Er ist der einzige Architekt, der von Anfang an ein klares Konzept erarbeitet hat, das zunächst in einigen Schriften, wie die ,Behausungsfrage', 1947, ,Städtebauliche Prosa' und ,Ebenerdige Wohnhäuser', beide 1948, den Niederschlag findet.“

Auf nächtlichem Himmel, hoch über der düsteren neugotischen Rathaussilhouette, schweben wie supermoderne Luftschlösser strahlende Glaspaläste, oben fliegt, von Westen kommend, ein Jumbo die kommende Weltstadt Wien an, unten braust der Großstadtverkehr, als handelte es sich um New York. In den Fünfzigerjahren war in Wien die moderne Architektur noch ein attraktives Wahlverprechen. „Damit Wien wieder Weltstadt werde, wählt SPÖ“, hieß es auf einem Wahlplakat für die Gemeindewahlen 1954.

Obwohl sie noch gar nicht existierten, ließen sich bereits zwei irdische Bauwerke dieser himmlischen Wien-Vision zweifelsfrei identifizieren: der erst 1955 fertig gestellte Ringturm von Erich Boltenstern und die Stadthalle von Roland Rainer, deren Bau erst 1956 begonnen werden sollte. Auf dem Plakat für die Kommunalwahlen im Herbst 1954 wurde als das Bauwerk der Zukunft Rainers Entwurf für den im Sommer 1954 abgehaltenen internationalen Wettbewerb für die Wiener Stadthalle verwendet. Der finnische Architekt Alvar Aalto, der damals neben Le Corbusier als der bedeutendste Proponent der internationalen Moderne galt, und der Wiener Architekt Roland Rainer, damals Professor an der Technischen Hochschule in Hannover und noch wenig bekannt, mussten sich den ersten Preis teilen. Ausgeführt wurde der Entwurf von Rainer.

So bedauerlich es auch ist, dass nicht der konstruktiv interessante Entwurf von Aalto ausgeführt wurde, so unbestreitbar ist doch die außerordentlich hohe architektonische Qualität der Stadthalle von Rainer. Die Mehrzweckhalle (die 1974 nach einem Entwurf von Rainer um eine große Schwimmhalle erweitert wurde) mit einem Fassungsvermögen von bis zu 20.000 Zuschauern ist der größte Veranstaltungsraum in Österreich. Das räumliche und architektonische Konzept einer von der Konstruktion ausgehenden Plastizität sowie die sorgfältige Planung und Ausführung erweisen sich weiterhin als so solid und flexibel, dass die Stadthalle seit ihrer Fertigstellung 1958 bis heute tadellos funktioniert und auch ästhetisch nicht veraltet wirkt.

Aufgrund seiner Wettbewerbserfolge wurde Rainer beauftragt, auch die Stadthalle in Bremen (1964) und die Mehrzweckhalle in Ludwigshafen (1965) zu errichten. Die fantasiereiche, aber unaufdringliche Gestaltung, die die drei Stadthallen auszeichnet, sowie die Selbstverständlichkeit, mit der sie im jeweiligen Stadtgefüge - und in der mittlerweile langen Zeitspanne - bestehen, ist für viele Bauwerke von Rainer charakteristisch. Dies gilt für jedes Einzelne der Reihenhäuser in einer der vielen Siedlungen - die bekannteste ist die 1967 entstandene Gartenstadt Puchenau bei Linz - genauso wie für den riesigen, zwischen 1968 und 1985 entstandenen Komplex des ORF-Zentrums auf dem Küniglberg.

Anders als der Architekt der ORF-Landesstudios, Gustav Peichl, erlag Rainer nicht der Versuchung, der ORF-Zentrale ein technoides Aussehen zu verleihen, das die Modernität und Bedeutung bzw. Macht dieser öffentlichen Kommunikationsinstitution zu symbolisieren hätte. Mit dem ORF-Zentrum hat er ein Bauwerk errichtet, das durch die Bedeutung der Funktionalität für die Gestaltung und der Präfabrikation für die Konstruktion manifestartig herausragt. Das ORF-Zentrum ist ein mächtiges, weit sichtbares Bauwerk, das nicht Macht, sondern seinen Dienstcharakter demonstriert.

Gleichzeitig mit der Wiener Stadthalle wurde 1958 ein Bauwerk von Roland Rainer fertig gestellt, das beinahe Kultcharakter hatte und heute unter Denkmalschutz steht (aber, seit Jahren leer stehend, als Spekulationsobjekt bedroht ist): das Böhlerhaus. Dieses Bürogebäude in einer Baulücke auf dem Friedrich-Schiller-Platz gegenüber der Akademie der bildenden Künste war wegen seiner Glas-Aluminium-Fassade und dem Penthaus mit einem bepflanzten Dachgarten „damals als eines der ersten Lebenszeichen einer jungen österreichischen Architekturszene verstanden worden“, wie der 1997 erschienene „Wiener Architekturführer“ vermerkt. Damals, 1958, war Roland Rainer allerdings bereits 48 Jahre alt und seit zwei Jahren Professor an der Akademie (wo er 1980 emeritierte).

Roland Rainer ist ein Architekt, der unbedingt an die Verbesserung der Welt durch die sozial und kulturell verantwortlich agierende Architektur glaubt. Seine als Habilitationsarbeit an der Technischen Hochschule in Wien eingereichte theoretische Schrift „Behausungsfrage“ wurde mit der Begründung abgelehnt, es handle sich um eine „sozialpolitische Propagandaschrift“. 1958 unterbrach er für mehrere Jahre seine Entwurfsarbeit, um das öffentlich ausgeschriebene Amt des Wiener Stadtplaners zu übernehmen. Es war ein Entschluss, der für Rainer selbst nur durch seine „fast irrationale Leidenschaft für Stadtplanung erklärbar“ ist. 1961 legte Rainer sein „Planungskonzept“ für Wien vor, einen Stadtentwicklungsplan, der zu den genauesten und fortschrittlichsten in Europa zählte und der auch in wichtigen Grundzügen verwirklicht wurde - zum Beispiel mit den neuen Stadtzentren oder der Donauinsel. 1963 legte er sein Amt aus Protest gegen politische Verhinderungen der Stadtplanung zurück. Das bedeutete, wie Rainer 1990 schrieb, „auch das Ende jeder Architektentätigkeit im Auftrage der Stadt Wien für die nächsten 25 Jahre“.

Die wahre Leidenschaft Roland Rainers allerdings ist die so genannte anonyme Architektur und naturnahes Bauen. Im Burgenland oder in China, auf dem Balkan oder in der Türkei, in vielen Gegenden der Welt hat Rainer die volkstümlichen Bauweisen analysiert, fotografiert und beschrieben. Das 1976 erschienene Buch „Die Welt als Garten - China“ ist eines von den vielen Büchern, die Rainer zum Thema humanes und ökologisches Bauen veröffentlicht hat. Alle seine Bauten und städtebauliche Studien betrachtet er als Manifeste dieser seiner Auffassung: die Welt als Garten, die Stadt (des Wohnens) als Gartenstadt.

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