Publikation

Heinz Tesar Architektur
Herausgeber:in: Winfried Nerdinger
Verlag: Electa
ISBN: 8-8370-3912-3
Publikationsdatum: 2005

Embryonale Versteinerungen

Der österreichische Architekt Heinz Tesar in München

Die Bauten des in seiner Recherche betont künstlerisch ausgerichteten Wiener Architekten Heinz Tesar stossen oft auf Kritik oder gar Ablehnung. Nun versucht das Architekturmuseum der TU München mit einer Retrospektive in der Pinakothek der Moderne dieses ebenso vielfältige wie qualitativ heterogene Œuvre zu deuten.

2. Dezember 2005 - Roman Hollenstein
Der schwarze Kubus im anonymen Wiener Neubauviertel Kagran ist ein Meisterwerk der heutigen Sakralarchitektur. Aussen mit anthrazitfarbenen Chromstahlplatten verkleidet und innen mit hellem Birkensperrholz gefüttert, lebt der Betonkörper vom Spiel des Tageslichts, das durch ungezählte runde «Lichtlochfenster» ins Kircheninnere fällt. Wie in keinem seiner anderen Werke ist es hier Heinz Tesar gelungen, den Raum zum klingen zu bringen. Gleichzeitig scheint die im Geiste Le Corbusiers konzipierte Christus-Kirche von Kagran mit dem früheren Schaffen des in Wien tätigen Architekten zu brechen, obwohl der Bezug zur Kunst weiterhin allgegenwärtig bleibt.

Schon als junger Mann versuchte sich der 1939 in Innsbruck geborene Tesar als freier Künstler, um sich dann in den sechziger Jahren an der Akademie in Wien die Grundlagen der Architektur zu erarbeiten. Damals entstanden die blutroten Plazenta- und Embryobilder, die bis heute Tesars entwerferische Recherche bestimmen. So ist seine städtebaulich bisher wichtigste Realisierung, die Erweiterung des Lagerhausviertels in St. Gallen (1989-2005), kaum ohne die rostrot aquarellierte Skizze eines Forellen-Embryos zu denken. Dieses in der grossen Tesar-Retrospektive in der Münchner Pinakothek der Moderne zwar ausgestellte, im opulenten Katalog aber nicht publizierte Blatt ist offensichtlich den Tesar-Interpreten entgangen. Dabei nimmt es wie keine andere Zeichnung den in einen langgestreckten Körper und einen halbovalen Kopf geteilten Grundriss des an der Vadianstrasse gelegenen Polizei- und Geschäftsgebäudes vorweg, aber auch denjenigen des Bürohauses beim Dresdner Zwinger (1993-99). Doch anders als der formal und urbanistisch missglückte Bau in Dresden erinnert die Ostschweizer Hofrandrekonstruktion mit dem rundtempelartigen, von einem «Säulenmantel» umschlossenen Stirnbau an jene Allüren, die schon die St. Galler Baukunst des Jugendstils auszeichneten.

Biomorphe Formen

Für Tesars Theorie der «Praearchitektur» sind embryonale Grundrisse und biomorphe Formen entscheidend. Solche aus unserem Dasein entwickelten «Homotypen» prägen Tesars Bauten ebenso wie eine immer wieder leicht postmodern angehauchte Fassadensprache. Denn für Tesar, der Architektur als «Versteinerung gesellschaftlicher und individueller Prozesse» versteht, die sich in Schichten überlagern, ist ein gradliniger baukünstlerischer Fortschritt kaum vorstellbar. Die damit verbundene Absage an das Avantgardedenken und an die immer schneller wechselnden Architekturmoden bewirkt zusammen mit den formal und funktional unkonventionellen, oft dem architektonischen Kitsch nahen Entwürfen, dass seine Bauten hierzulande gerne beargwöhnt, wenn nicht sogar abgelehnt werden.

Die Deutung dieser Eigenwilligkeiten bildet nun die Basis der vom Architekturmuseum der TU München zusammengestellten Schau. Sie ist für ein breites Publikum attraktiv, weil sie neben Gemälden und Zeichnungen, die von Beuys, Nitsch und Rainer beeinflusst scheinen, auch anschauliche Modelle sowie grossformatige Fotos (aber keine Pläne) präsentiert und Tesars Œuvre in drei anschauliche Themenkreise gliedert. Der erste gilt der vom organischen Leben bestimmten künstlerisch-architektonischen Formfindung. Dazu werden Tesars Bauten und Projekte aus dem Bereich der Sakralarchitektur vorgestellt, die - abgesehen von der Kagraner Kirche - stark dem Biomorphismus verpflichtet sind. Darunter finden sich so interessante Lösungen wie die evangelische Kirche in Klosterneuburg (1993-95), Tesars erste Verneigung vor Ronchamp. Nur dass hier die Wandöffnungen zu einheitlichen Fensterquadraten geworden sind und das mit saugnapfartigen Lichtkuppeln besetzte Blechdach - welches das «ausserirdische» Erscheinungsbild des Kunsthauses Graz um zehn Jahre vorwegnahm - sich organisch nach aussen wölbt. Das künstlerisch gedachte Detail kann aber auch ins Peinliche kippen, wie bei den «Herzpfeilern» der 1997 projektierten, aber nicht realisierten Synagoge von Dresden. Ganz ähnlich wie die Kirche von Klosterneuburg und die 2003 entworfene Moschee in der Wiener Huttengasse sollte das als riesige Jakobinermütze geformte Gotteshaus von Dresden von oben durch Bullaugen erhellt werden.

Tektonische Platten

Im zweiten Teil der Schau geben die mit attraktiven Oberlichtsälen aufwartende Sammlung Essl in Klosterneuburg (1999) und das von der Kritik einst viel gelobte kleine Stadttheater Hallein (1993) Einblicke in Tesars Welt der «Klanglichträume». Hier trifft man auch auf einen 2001 vorgelegten Wettbewerbsentwurf für das Kunstmuseum St. Gallen. Dort hätte ein «säulenummantelter» Erweiterungsbau wie ein moderner Tempel mit viel städtebaulichem Einfühlungsvermögen in den Stadtpark eingefügt werden sollen. Ähnlich subtilen Haltungen begegnet man in dem mit «Schichtungen» überschriebenen dritten Ausstellungsbereich, der Tesars urbanistischen Studien gewidmet ist. Mit dem malerisch komponierten, aber in der Volksabstimmung gescheiterten Klösterli-Projekt beim Berner Bärengraben hatte Tesar Anfang der achtziger Jahre einen Hauptbeitrag zur europäischen Postmodernediskussion beigesteuert. Danach begab er sich mit seinem vielschichtigen Entwurf für die Neubebauung des Wiener Nordbahnhofgeländes (1991) vorübergehend auf das Terrain des Rationalismus.

Als Synthese dieser beiden Richtungen darf man das stadtplanerische Konzept für die touristische Erschliessung des einsamen Veneguera- Tals im Südwesten Gran Canarias bezeichnen. Der bald wie ein konstruktives Flachrelief, bald wie eine archaische Siedlung, eine Ruinenstätte oder eine Weltraumstadt anmutende Entwurf aus dem Jahre 2002 sah einen flächendeckenden Cluster von Patiohäusern für 16 000 Touristen vor. Diese vielleicht allzu utopische, dank der überzeugenden Interpretation der vulkanischen Ablagerungen aber perfekt in die Umgebung eingepasste Arbeit könnte eine Alternative zur banalen, immer weitere Landschaften verunstaltenden Tourismusarchitektur auf den Kanarischen Inseln bieten. Hätte sich Tesar weiter mit dieser bedeutenden Aufgabe auseinandersetzen können, wäre er vielleicht sogar seine künstlerischen Obsessionen losgeworden, die seit Jahren schon wie ein unruhiger Traum um die Themen «Kalvarienberg» oder «Embryomuseum» kreisen und so der architektonischen Forschung mehr Energie abziehen als beifügen.

[ Die vom Architekturmuseum der TH München in der Pinakothek der Moderne veranstaltete Ausstellung dauert bis zum 8. Januar. Katalog: Heinz Tesar. Architektur. Hrsg. Winfried Nerdinger. Electa, Mailand 2005. 303 S., Euro 35.-. ]

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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