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24. Februar 2018 Spectrum

Schatten ihrer selbst

Der Brünner Werkbundsiedlung „Nový dům“ (Das neue Haus) ist anlässlich des 90-Jahr-Jubiläums eine umfassende Buchdokumentation gewidmet – indes bietet die Anlage heute ein trauriges Bild. Zur Geschichte der kleinen Schwester der Wiener Werkbundsiedlung.

Man könnte sie eine kleine Schwester der Wiener Werkbundsiedlung nennen. Eine etwas glücklose Schwester, die sich von Anfang an an die Falschen gehängt hat, an der früh herumoperiert wurde. Und die heute ein Schatten ihrer selbst ist.

Sechs Schwestern sind sie, die Werkbundsiedlungen, angefangen mit der 1927 gebauten Stuttgarter Weißenhofsiedlung, gefolgt von Brünn im nächsten und Breslau im übernächsten Jahr sowie 1931 von Zürich-Neubühl sowie 1932 von der Prager Baba-Siedlung und der Wiener Werkbundsiedlung, der zu ihrem 80-Jahr-Jubiläum, gleichzeitig dem 100. Gründungsjubiläum des Österreichischen Werkbundes, eine fulminante Ausstellung mit ausführlicher Monografie im Wien Museum gewidmet war.

Nun ist, zu ihrem 90. Geburtstag, auch der Brünner Werkbundsiedlung „Nový dům“ (Das neue Haus) eine umfassende tschechisch-englische Buchdokumentation gewidmet, herausgegeben vom in Sachen Moderne äußerst engagierten Museum der Stadt Brünn. Man konnte dabei auf einen Fundus aus zahlreichen Fotografien aus der Bau- und Eröffnungsphase zurückgreifen, diedie hochgesteckten Ambitionen der Siedlung anschaulich machen.

Heute bietet die Siedlung allerdings ein eher trauriges Bild – nur mit großer Mühe bringt man die historischen Ansichten der meisten der 16 in Xylolith-Leichtbauweise errichteten Häuser mit den heutigen zusammen. Es ist das Ergebnis eines von Beginn an fragwürdigen Ansatzes, der sich, wenigstens zum Teil, aus dem Überschwang einer im Aufbruch begriffenen Zeit in einer im Aufbruch begriffenen jungen Republik erklärt.

Ein Ursprung der Siedlung liegt im überwältigenden Eindruck der Stuttgarter Siedlung, die als begehbares Exponat 1927 errichtet wurde, unter der künstlerischen Leitung Ludwig Mies van der Rohes und unter Beteiligung großer Teile der Creme der damaligen Architektur, darunter auch der Wiener Josef Frank. Noch im selben Jahr begann man die Planung für Brünn – allerdings unter komplett anderen Prämissen: als privates Investitionsprojekt zweier Bauunternehmer, die die Häuser als Generalplaner errichteten und im Anschluss an die öffentlicheAusstellung zu verkaufen beabsichtigten. Das Ganze war als Spin-off der für das Jahr 1928 geplanten großen Ausstellung zum Zehn-Jahr-Jubiläum der Tschechoslowakei auf dem neuen Brünner Messegelände konzipiert. Als Baugrund fand man ein Areal unweit der Messe, beim „Wilson-Wald“ am westlichen Stadtrand mit Blick ins Grüne. Den Grünblick gibt es heute noch, allerdings führt nun eine große Umfahrungsstraße nahe an der Siedlung vorbei.

Die Siedlung war, man muss es sagen, ein ziemliches Desaster. Die Besucherzahlen erreichten nicht die Erwartungen, kaum ein Haus wurde verkauft. Dabei war in Brünn der Boden für die architektonische Moderne denkbar gut – die gesamte Stadt ist bis heute das wohl beste Beispiel für den Dialog, den eine unaufgeregte, konsequent moderne Sachlichkeit mit der historischen Umgebung einer gewachsenen Stadt eingehen kann. Für die Siedlung engagierten die beiden Initiatoren neben Größen der Brünner Architektur wie Bohuslav Fuchs, Jiří Kroha und Ernst Wiesner (deren Häuser als Erste verkauft wurden) auch Nachwuchsplaner, die teilweise ihr Studium noch nicht abgeschlossen hatten. Besonders deren glamourös funktionalistische Hauseinheiten, klar unter dem bestimmenden Einfluss von Le Corbusier entstanden, wurden selbst von der wohlwollenden Kritik gnadenlos zerpflückt: Schlafzimmer ohne direkte Belichtung und Belüftung, 1,50 Meter hoch und zugänglich nur über eine steile Hühnerstiege – das war, bei aller Aufgeschlossenheit, nicht das, was man sich unter dem Wohnen der Zukunft vorstellen mochte.

Nun lässt sich das wohl von allen Werkbundsiedlungen in Stuttgart, Brünn, Breslau, Zürich, Wien und Prag behaupten: dass ihre Wohnkonzepte großteils nicht verstanden, nicht geschätzt wurden und, ja, teilweise auch schlecht durchdacht waren und an den Wünschen und Bedürfnissen der Bevölkerung vorbeigingen. Ebenso wie für Le Corbusiers Stuttgarter Doppelhaus wie für die Brünner Studentenprojekte fanden sich überhaupt erst Bewohner, nachdem die Häuser radikal umgebaut worden waren. Da die meisten der Brünner Hauseinheiten zudem erst nach Beginn der Ausstellung fertiggestellt wurden, gibt es kaum Fotografien der ursprünglichen Innenraumaufteilungen und -einrichtungen.

Als Modelle für den Massenwohnbau, das machte die Ausstellung des Wien Museums vor sechs Jahren deutlich, konnten die Siedlungen nicht dienen. Als Mustersiedlungen konzipiert, waren sie dennoch als experimentelle Projekte wichtig – sei es in Bezug auf neue Materialien wie in Stuttgart, sei es in puncto Grundrisskonzepte und Raumausnutzung wie in Wien, sei es bezüglich neuartiger kollektiver Wohnformen wie in Breslau.

Die Brünner Siedlung, die heuer ihr 90-Jahr-Jubiläum feiert, ist wohl die, der am übelsten mitgespielt wurde. Der Verkauf der als großbürgerliche Wohnstätten konzipierten Häuser – die dennoch als Muster für künftigen Massenwohnbau dienen sollten – zog sich bis 1942 hin und konnte, mit großen finanziellen Verlusten der Investoren, erst nach weitreichenden Umbauten einiger Hauseinheiten abgeschlossen werden. Der in der Mitte der Siedlung vorgesehene Spielplatz wurde schließlich als Abstellplatz für die Mülltonnen der Siedlungsbewohner genutzt.

Die – aus der Sicht der Nutzer sicher sinnvollen – Umbauten des Jahres 1942 blieben bis heute bestehen. Denkmalgeschützt sind lediglich einige wenige Fassaden der Siedlung. Damit sind weiteren Veränderungen Tür und Tor geöffnet, wenngleich man sich bemüht hat, bestehende originale Bausubstanz zu sichern. Der größte Schock ergibt sich für Leser der Dokumentation jedoch, wenn man erfährt, dass noch in den 1990er-Jahren manche der Häuser, darunter das besonders markante frei stehende Einfamilienhaus von Jiří Kroha, dermaßen radikal ungebaut wurde, dass man selbst als Fachfrau kaum zu erkennen vermag, ob und wie das alte Haus im heutigen steckt. Die Zukunft der Siedlung? Man wird sehen.

5. Januar 2018 Spectrum

Was vom Werke übrig blieb

Die Glanzstofffabrik in Sankt Pölten: Ab 1905 war sie weltweit die zweitgrößte Produzentin von Viskosefasern, 2008 kam das Aus. Wo große Teile des Werkareals abgerissen wurden, sind heute Wohnungen und Arbeitsräume geplant. Und auch die Kunst hat sich des ehemaligen Werks angenommen.

„Bau d. Wasserreinigers Karl Fellerer Linz“, informiert ein Schild am Baugerüst des Wasserturms. Die Bauarbeiter haben sich am Fuß des Turms zu einem Gruppenfoto versammelt. Wir schreiben das Jahr 1905. In Viehofen bei St. Pölten wird das Werk der Ersten österreichischen Glanzstoff-Fabrik A.G. errichtet, ein riesiger festungsartiger Komplex mit drei zylindrischen Wassertürmen mit Spitzkegeldächern, die die Eckpunkte der Anlage markieren und später das einprägsame neusachliche Logo der Firma bilden werden. Ist auch der Kupferschmied Karl Fellerer auf dem Foto? Nahm er vielleicht einmal seinen halbwüchsigen Sohn, den späteren Architekten Max Fellerer, mit auf die Baustelle?

„Glanzstoff“, vulgo Kunstseide, war eine bahnbrechende Erfindung der Jahrhundertwende. Eines der unterschiedlichen Herstellungsverfahren hatten sich der aus der Südsteiermark stammende Johann Urban und der Deutsche Max Fremery 1897 patentieren lassen. Für ihre zart schimmernde Kupferkunstseide auf Zellulosebasis erfanden sie den Namen „Glanzstoff“, um allen Assoziationen zur Künstlichkeit billiger Ersatzstoffe das Versprechen eines neuartigen, besseren Materials entgegenzusetzen.

Als ein Zollabkommen zwischen dem Deutschen Reich und Österreich-Ungarn die Wareneinfuhr aus Deutschland erschwerte, entschlossen sich die Gründer der Vereinigten Glanzstoff-Fabriken AG zum Bau eines Werks in Österreich. Aus Kosten- und Logistikgründen wurde es in Viehofen angesiedelt – mit ausreichend Wasser und über einen eigenen Schienenweg an die Trasse der Westbahn angeschlossen. In elegante Gärten gebettete Villen für Direktoren und leitende Angestellte ergänzten das Produktionsareal ebenso wie von der Gemeinde geforderte Arbeiterwohnhäuser. Architekten waren der Leiter des städtischen Bauamtes, Josef Prokop, und der Bauunternehmer Richard Frauenfeld. Das Werk stellte schließlich bis zu 12.000 Tonnen Viskosefasern pro Jahr her, zeitweise war es der zweitgrößte Produzent der Welt. Im Ersten Weltkrieg wurde ein Teil des Geländes von der Torpedofabrik Whitehead genutzt, und auch der „Glanzstoff“ war weniger friedlich als sein Name, produzierte man doch Garne für Fallschirme und Kartuschbeutel für Granaten. Und auch „die Glanzstoff“ galt als Dreckschleuder – dem höchsten Fabrikschlot des Landes entstieg schwefelig-fauliger Pesthauch, giftige Substanzen entwichen nicht nur in die Luft, sondern kontaminierten auch Boden und Grundwasser. Besonders in den 1960er- und 1970er-Jahren kam hochgiftiges Asbest zum Einsatz, Sulfate, FCKW, Zink und Schwefelwasserstoff reicherten sich im Boden an.

St. Pölten, dem Viehofen 1923 eingemeindet wurde, blieb dem wichtigsten Arbeitgeber der Stadt mehr als ein Jahrhundert lang in Hassliebe verbunden. Man überstand Wirtschaftskrisen, temporäre Schließzeiten, die NS-Zeit mit der Beschäftigung zahlreicher Zwangsarbeiter, eine drohende Sprengung, den Abtransport der Hälfte des Maschinenparks durch die Rote Armee, Reparationszahlungen, mehrere Produktionsumstellungen sowie Stilllegungspläne. 1993 war ein Konkurs nicht mehr abzuwenden. Das endgültige Aus kam 2008 nach einem Brand der Abluftreinigungsanlage. Die neuen Emissionsauflagen erfüllte das Werk, das unterdessen als sauberste Viskosefertigung der Welt galt, nicht mehr. In dem, was von den Hallen und den Verwaltungsbauten blieb, sind heute keine Maschinen mehr zu finden. Nach diversen Firmenumschichtungen gehört der Rest des Werks heute zu einer Holding, die am ehemaligen Standort 15 Mitarbeiter beschäftigt. 2009 wurde der große Schornstein gesprengt.

Große Teile des Werksareals wurden abgerissen, der verbliebene Rest wurde unter Denkmalschutz gestellt. Wo einst die Direktorenvilla gegenüber dem Werksareal stand, ist heute eine Brachfläche. Das Wiener Architekturbüro F+P Architekten/Sepp Frank erstellte einen Masterplan für den Bau von 1300 Wohnungen und Raum für 1000 Arbeitsplätze. 2015 setzte sich Felix Mitterers Theaterstück „Glanzstoff“ an zwölf simultanen Plätzen auf dem Areal mit der Geschichte des Ortes auseinander. Peter Noever brachte sich mit einem Kunst- und Designkonzept ein. Die 2500 Quadratmeter große historische Produktionshalle war von 2012 bis zu deren Umzug in einen Neubau im Jahr 2015 ein Standort der New Design University. Die Geschichte des Glanzstoff-Areals ist typisch für postindustrielle Areale der Gegenwart. Für die Geschichte des 15 Hektar großen Glanzstoff-Areals beginnt jedenfalls eine neue Phase, die von Wohnen und Arbeiten unter anderen als den historischen Prämissen geprägt sein wird, ähnlich wie etwa die historischen Areale ehemaliger Stahlwerke heute (teil)öffentlichen Mischnutzungen dienen.

Die jüngste Intervention auf dem Gelände ist die Eröffnung von Brigitte Kowanz' permanenter Installation „Fountain“. Aus Kowanz' eingehender Beschäftigung mit dem Ort und seiner Geschichte ging eine letztlich auf maximale Einfachheit reduzierte Intervention hervor: Ein weißer Lichtstrahl, aus der Nähe betrachtet sind es drei parallele, ergießt sich in elegantem Schwung aus der Spitze eines der drei Fellerer'schen Wassertürme in das Erdreich. Nach diversen Zubauten und dem Abriss jüngerer Anfügungen ist der Turm nun in die heterogene Struktur einer unverputzten Außenwand, die einmal eine Innenwand war, integriert, ein wenig hilflos in der Wand steckend, auf einem teils abgeräumten, teils bebauten Gelände, das seiner Zukunft harrt. Die glatte Materialität des Metallbogens mit seinen schlanken Lichtröhren kontrastiert mit den rauen Oberflächen der Wände, den nun im Freien liegenden, bröckelnden Böden ehemaliger Innenräume und den unkrautbewachsenen Schotterfeldern der Abrissflächen. Ein Zeichen der Hoffnung, wenn man so will.

4. November 2017 Spectrum

Am Anfang war das Erdbeben: Skopje revisited

Es ist ein unwillkommener Schatz, den die mazedonische Hauptstadt Skopje birgt: ein einzigartiges Ensemble brutalistischer und metabolistischer Architektur der 1960er- und 1970er-Jahre. Derzeit in einer Ausstellung im Wiener Ringturm.

Am Anfang des modernen Skopje stand ein verheerendes Erdbeben, das die über Jahrhunderte osmanisch geprägte Bausubstanz der historischen Stadt im Juli 1963 zu 80 Prozent zerstörte. In weltweiter Solidarität steuerten Staaten aus Ost und West, die das blockfreie Jugoslawien stets besonders umwarben, finanzielle und auch architektonische Unterstützung in Form von Planung und Ausführung öffentlicher Bauten wie Schulen und Museen bei.

Nach der Katastrophe bewies man in Skopje langen Atem und vermied einen schnellen, planlosen Wiederaufbau. 1965 schrieben stattdessen der UN-Sonderfonds, die jugoslawische Regierung, die Union Internationale des Architectes (UIA) und die jugoslawische Architektenvereinigung einen urbanistischen Wettbewerb unter acht geladenen einheimischen und internationalen Teams aus. Zur Disposition stand die Neugestaltung des zerstörten Stadtzentrums auf einer Fläche von circa zweimal zwei Kilometern. Der Jury stand der Zagreber Architekt Ernest Weissmann vor, ein ehemaliger Mitarbeiter Le Corbusiers, der 1932 die linksgerichtete Arbeitsgruppe Zagreb gegründet und sich damit in der ersten Reihe der internationalen Moderne positioniert hatte. Zur Mitarbeit eingeladen wurden unter anderem der italienische Stadtplaner LuigiPiccinato und die Niederländer Van den Broek en Bakema.

Ganz im Sinne der Nachkriegsmoderne begriff man die Zerstörungen als Chance für eine Neukonzeption der Stadt, die seit Beginn des 20. Jahrhunderts mehreren Modernisierungs- und Erweiterungswellen unterworfen wurde – zuletzt 1948 mit einem urbanistischen Leitplan des Tschechen Luděk Kubeš, der den Prinzipien der Funktionentrennung nach der „Charta von Athen“ der internationalen Architektenvereinigung CIAM folgte. 1963 begann man indes bereits,die Rigidität der Charta von Athen infrage zu stellen – und das neue Skopje sollte den aktuellsten Ansprüchen genügen.

Gespannt erwartete die internationale Fachwelt die Entstehung einer modellhaften „cité mondiale“, die Lösungen für die aktuelle „urban crisis“ bieten und Wege zur Humanisierung der gebauten Umwelt zeigen sollte. Dass diese Ziele erreicht wurden, lässt sich allerdings nur sehr eingeschränkt behaupten. Das Siegerprojekt des Wettbewerbskam vom japanischen Architekten Kenzo Tange, der sich auf die archaischen Bilder von Stadtmauer und Stadttor berief, freilich in Form von Wohnhochhaus-Zeilen in bombastischem Maßstab einer modernen Metropole, zu der Skopje werden sollte. Tanges nur teilweise umgesetztes Projekt brachte auch die Gedanken des in Japan um 1960 entwickelten architektonischen Metabolismus auf den Balkan, der organische Prinzipien von Wachstum und Stoffwechsel auf Architektur und Stadtplanung übertrug, mit flexiblen, erweiterbaren Großstrukturen und Verkehrssträngen als „Adern“ des Organismus Stadt. Tange entwarf letztlich nur den Bahnhof von Skopje, die Planung der einzelnen Gebäude oblag Architekten und Architektinnen wie den Einheimischen Janko Konstantinov, der bei Alvar Aalto studiert und beim emigrierten Wiener Victor Gruen in Kalifornien gearbeitet hatte und unter dem Eindruck der Katastrophe in sein Heimatland zurückkehrte, und Georgi Konstantinovski, der in Yale abgeschlossen und mit den amerikanischen Architekturgrößen Paul Rudolph und Ieoh Ming Pei zusammengearbeitet hatte. Konstantinovski realisierte in Skopje unter anderem das Stadtarchiv, einenbrutalistischen Turmbau mit gerillten Sichtbetonwänden, und das Studentenheim „Goce Deltchev“, die ebenso zu Ikonen der gegenwärtigen Brutalismus-Renaissance taugen wie Konstantinovs Post- und Telekommunikationsamt, dem die Kuratoren der Ausstellung im Wiener Ringturm (noch zu sehen bis 17. November) kürzlich ein eigenes Buch widmeten.

Ein Spezifikum von Skopjes architektonischem Erbe ist jedoch die Internationalität seiner Planer, die die architektonischen Geschenke ihrer Länder projektierten. So entwarf der Schweizer Alfred Roth, ein enger Mitarbeiter Le Corbusiers, die Johann-Heinrich-Pestalozzi-Schule. Den Wettbewerb für das Museum zeitgenössischerKunst gewann die Warschauer Gruppe der „Tiger“ mit einem erdbebensicher konstruierten Bau in Form eines liegenden Quaders mit zurückspringendem verglastem Erdgeschoß, Skulpturengarten und weißer Marmorverkleidung auf einer Anhöhe über der Stadt. Auf Einladung der Unesco unterstützten Künstler und Künstlerinnen das Museum durch Schenkungen beim Aufbau seiner Sammlung.

Weitere Highlights des modernen Skopje sind etwa das Mazedonische Nationaltheater, das mit seinen schrägen Ebenen die Oper von Oslo vorwegzunehmen scheint, die vom slowenischen Architekten Marko Mušič entworfene Universität St. Kyrill und Method, das Mazedonische Museum, die Messe und das Hydro-Meteorologische Institut. Einige von ihnen finden sich unterdessen in der Brutalismus-Datenbank des Deutschen Architekturmuseums Frankfurt, das sich der Dokumentation von Bauten des sperrigen Stils der 1960er- und 1970er-Jahre widmet und sie unter dem Motto „Rettet die Betonmonster!“ ab 9. November in einer Ausstellung präsentiert. Auch in der Retrospektive zur jugoslawischen Architektur der Tito-Ära, die das New Yorker MOMA für 2018plant, wird Skopje vertreten sein.

Für einige der Bauten scheint die neue Wertschätzung indes zu spät zu kommen – das 2010 von der damaligen Regierung gestartete milliardenteure Programm „Skopje 2014“ versuchte die Moderne zugunsten Las-Vegas-artiger neoklassizistischer Kitschbauten im Rekordtempo aus dem Erscheinungsbild der Stadt zu löschen. Vielfach wurden Bauten der als „sozialistisch“ diskreditierten Nachkriegsmoderne kurzerhand pseudoklassizistisch „verpackt“. Widerstand aus der Bevölkerung, die großteils mit Monatseinkommen von 300 bis 500 Euro auskommen muss, blieb nicht aus. Mittels medienwirksamer Aktionen wie des „Umarmens“ der doch nicht so verhassten Gebäude konnten weitere Demolierungen verhindert werden.

Die Mitte dieses Jahres gebildete neue sozialdemokratische Regierung versprach den Rückbau der 2014-Projekte. Umgesetzt wurde er nicht, da dies auch Abrisse von Neubauten bedeutet hätte. Auch die jüngste Zeitschicht wird wohl ein Teil von Skopje bleiben.

9. September 2017 Spectrum

Nah am Wasser gebaut

Intelligente Verdichtung bei baupolizeilichen Beschränkungen: zum Neubau eines Kleingarten-Doppelhauses an der Unteren Alten Donau. Bemerkenswert, raffiniert!

„Häuser am Wasser“ nennt der Architekt Jürgen Radatz das Doppel-Kleingartenhaus. Oder Kleingarten-Doppelhaus? Egal, „Häuser am Wasser“. Das löst Assoziationen aus: Seezugang mit eigenem Bootssteg? Blick auf adriatische Gestade? Oder Gelseninvasion und Überflutung?

Wasserzugang gibt es natürlich nicht nur in Altaussee, Antibes und Alicante, sondern auch in Wien. In den 1920er- und 1930er-Jahren boomten die Wochenendhauskolonien in Klosterneuburg und Kritzendorf, in denen sich eigene Weekend-Gesellschaften als soziale Biotope mit lockeren Umgangsformen und lässig-sportivem Lifestyle entwickelten. Auch Ansätze, durch Reihenhauszeilen die Kosten zu senken und die Weekendhaus-Zersiedelung der Donauufer einzudämmen, gab es schon damals. Heute ist vom damaligen Weekend-Bewusstsein praktisch nichts mehr da, die hölzernen Weekendhäuser an der Donau erfreuen sich aber bei einer jungen Klientel neuer Beliebtheit, verbunden mit entsprechenden Preisen. Manche Häuser sind auch grobschlächtigen Ausbauten für eine Dauernutzung nicht entgangen.

Auch in Wiener Kleingartenanlagen geht der Trend seit Langem zum legalisierten Dauerwohnen. Vielfach ist hier auf „Gartensiedlung“ gewidmet worden, was maßstabsprengende dreigeschoßige Bauten erlaubt. Bei Kleingarten-Widmungen halten rigidere baupolizeiliche Beschränkungen der Grundflächen und Volumen Auswüchse im Zaum. Für Planer und Planerinnen bedeuten derartige Bauaufgaben einen sorgfältigen Umgang mit der mitunter kniffligen Entwicklungvon Raumprogrammen, was dem Ergebnis, richtig verstanden und umgesetzt, aber nur guttun kann. Gleichzeitig haben Kleingartenanlagen mit ihrer teils öffentlichen Durchwegung und ihrem hohen Anteil an Grün eine nicht zu unterschätzende Bedeutung fürdas städtische Mikroklima und die Qualität urbaner Erholungszonen.

Beim Bau der beiden Häuser an der Alten Donau wurde die geltende Kleingartensiedlungs-Beschränkung auf maximal zwei oberirdische Geschoße – je 50 Quadratmeter Fläche – als positive Herausforderung begriffen. Gewünscht war dabei durchaus die Qualität von Einfamilienhäusern mit Garten, allerdings in reflektierter Weise: Auf den beiden je 200 Quadratmeter großen Kleingarten-Parzellen sollte mit Bauland sparsam umgegangen und der obligatorische Abstand der Gebäude zur Grundstücksgrenze nicht für Alibi-Grünstreifen verschwendet, sondern für größere, qualitätvollere Freiräume genutzt werden. Die Entscheidung für eine verdichtete Bauweise mit einem Doppelhaus anstelle zweier frei stehender Häuser lag daher auf der Hand. Eine 90-Grad-Abwinkelung ermöglichte dabei die Ausbildung von geschützten Gartenhöfen für beide Einheiten. Sichtschutz zum belebten öffentlichen Fuß- und Radweg bieten efeubewachsene Grünwände. Bäume und Weinstöcke, die denHolzbau sukzessive weiter in die Vegetation einwachsen lassen, sind gepflanzt, duftenderbodendeckender Thymian ersetzt pflegeintensive Rasenflächen.

Im nördlichen Hausteil nimmt das Erdgeschoß eine vermietete Zweizimmerwohnung ein, das Obergeschoß Büro und Archiv des Auftraggebers, der selbst ein Naheverhältnis zur Architektur hat. Entsprechend eng war die Zusammenarbeit mit dem Architekten, aus der eine bemerkenswerte Lösung für die Bauaufgabe des kleinen suburbanen Einfamilienhauses entstanden ist. Äußerlich gibt sich das in Holzriegelbauweiseerrichtete Doppelhaus unauffällig mit ruhig gruppierten Quadern und einer Fassade in hell lasierter Rot-Zeder, die allmählich ergraut und dabei einen warmen Rotbraunton behält. Geschützte Sitzplätze und Pergolen, deren Sichtbeton-Oberflächen den gleichen Holzbretter-Rhythmus haben wie die Fassade, sichern im Erdgeschoß Privatsphäre, während die Obergeschoße mit großen Fenstern den Ausblick auf Fluss und Stadt ins Haus holen.

Besonders der südliche Hausteil erweist sich in seinem Inneren als raffinierte Schichtung von Raumvolumen auf insgesamt sieben Ebenen, die – kein Zufall, da Auftraggeber und Architekt mit den Qualitäten der Wiener Moderne vertraut sind – als intelligente Umsetzung eines Loos'schen Raumplans im kleinen Maßstab gesehen werden kann: Das oberste Niveau bildet der Arbeitsraum der Bauherrin, von dem sich, halbstöckig versetzt, das Raumkontinuum des als offene Empore ausgebildeten Wohnzimmers und der niedrigen Küche mit luftigem, hohem Essplatz zur Eingangsebene hin staffelt. Das im Tiefparterre liegende Schlafzimmer bleibt im Sommer kühl, verstellbare Metall-Lamellen schützen tagsüber vor Sonne und geben nachts Sicherheit. Weiter in dieErde eingegraben sind die Niveaus der Sanitärräume und eines kleinen Pool-Dampfbad-Bereichs, der über ein Glas-Oberlicht mit Tageslicht versorgt wird.

Während die Häuser äußerlich über den Maßstab der umgebenden Bauten nur unwesentlich hinausgehen, bieten sie in ihrem Inneren jeweils rund 120 Quadratmeter helle Wohnfläche. Zum Raumkonzept gehören neben Schrägdurchblicke ermöglichenden Treppenläufen und offenen Emporenebenenauch Einbaumöbel, die das begrenzte Raumangebot bestmöglich ausnutzen. Für eine angenehme Haptik und ein gutes Klima nicht nur in architektonischer, sondern auch in technischer Hinsicht sorgen Zellulosedämmung, Massivholzdecken, Lehm-Innenputz und eine zentrale Wasser-Wärmepumpe, die über die rötlichen Akazien-Stabparkett-Fußböden heizt und kühlt.

Vom geschützten Wohnbereich aus erweitert sich die Wohnqualität ganz selbstverständlich nicht nur für die Besitzer des Hauses, sondern für die Allgemeinheit auch in den öffentlichen Bereich hinein: Über den Fußweg auf den frei zugänglichen Badesteg und ins laue Naturgewässer gesprungen – morgens im glitzernden Gegenlicht, abends bei spektakulär verfärbtem Himmel über der Wolkenkratzer-Skyline der Großstadt und manchmal mit der akustischen Untermalung einer Frosch-Sinfonie.

Da möchte man wieder einmal Tucholsky zitieren: „Ja, das möchste: / Eine Villa im Grünen mit großer Terrasse, / vorn die Ostsee, hinten die Friedrichstraße; / mit schöner Aussicht, ländlich-mondän, / vom Badezimmer ist die Zugspitze zu sehn – / aber abendszum Kino hast dus nicht weit.“ In der Tat, ein Spaziergang von zehn Minuten entlang der Alten Donau bringt einen zur U-Bahn und den Lichtern der Metropole zurück.

12. August 2017 Spectrum

Wo Luxus Tradition hat

Einst waren es die Architekten der Donaumonarchie, die an der Küste von Opatija bauten, dann folgte ein Bauboom unter Tito. Nach dem Jugoslawienkrieg sollte Qualität an erster Stelle stehen, doch gelang dieser Versuch nicht. Erst heute führt ein neuer Aufschwung die Geschichte von einst fort: Es wird spannend.

In Regen auf den Semmering. Im Coupé Adolf Loos, über sein Haus am Michaelerplatz, die Angriffe, über Altenberg etc.“ Das waren noch Zeiten, als man, wie hier Arthur Schnitzler, im Zug einen Plausch mit Adolf Loos halten konnte. Dass der Semmering mit seiner ganzen Hotel- und Villenarchitektur ein rein auf Profit ausgerichtetes Investorenprojekt der Südbahngesellschaft war und architektonische Klasse zugunsten eines – bestenfalls – gefälligen Mainstreams kaum eine Chance hatte, tat seiner Beliebtheit auch bei versnobten Intellektuellen und Architekten wie Loos keinen Abbruch.

Als Ende 1879 die Steuerbefreiung der Südbahngesellschaft auszulaufen drohte, versprach ihr Direktor Friedrich Julius Schüler bei Verlängerung der Steuerbefreiung den Bau von Kur- und Hotelanlagen zur Attraktivierung der Gegend nach dem Vorbild von Toblach. Villengrundstücke wurden Bauern billig ab- und mit Gewinn verkauft, 1881 entstand das Südbahnhotel. Der von der Arbeitsgemeinschaft Wildhack & Morpurgo mehrmals erweiterte Hotelkasten ist mit seinen Anhäufungen pittoresker Motive ein ziemlich verhauter Komplex. Das Innere des leer stehenden Hotels, das gelegentlich für Theateraufführungen genutzt wird, beeindruckt aber immer noch mit seinen riesigen Sälen und der bis zu den Toilettenbereichen erhaltenen Einrichtung.

Während es bürgerliche Intellektuelle wie Schnitzler ins Südbahnhotel zog, dürfte sich Loos nach der gemeinsamen Zugfahrt eher ins Panhans begeben haben, das Hotel des früheren Südbahn-Restaurantpächters Vinzenz Panhans, von den Architekten Fellner & Helmer 1913 im Stil eines Schweizer Lungensanatoriums auf eine gigantomanische Länge von fast 300 Metern mit 400 Zimmern auf fünf Etagen erweitert.

Schnitzler hingegen blieb gelegentlich auch im Coupé sitzen und gelangte so nach Abbazia, heute Opatija, wo er wie sein Autorenkollege Richard Beer-Hofmann in der Villa Quisisana, dem heutigen Hotel Opatija, Quartier nahm. Wie das Südbahnhotel am Semmering war in Opatija das Quarnero der Brückenkopf der touristischen Entwicklung. Personal und Restaurantpächter kamen teils vom Semmering. Bald entstand ein zweites Südbahn-Hotel, das Kronprinzessin Stephanie (später Moskva, heute Imperial), das 1902 durch den Anbau des „Erzherzog-Ludwig-Viktor-Hallenbades“ attraktiviert wurde. Beide Hotels bauten Wildhack und Morpurgo, deren Bürogemeinschaft sich freilich baldnach der von massiven Kostenüberschreitungen geprägten Erweiterung des Hauses am Semmering auflöste.

Alfred Wildhack realisierte noch einige Villen in Opatija und am Semmering, während sich der aus einer Triestiner jüdischen Familie kommende Robert Morpurgo unter Zurücklassung seiner einer Südbahn-Investoren-Familie entstammenden Frau und eines großen Schuldenberges mit seiner Geliebten nach Amerika absetzte. Platzhirsch im Villenbau von Abbazia war Carl Seidl, ein Schüler Theophil Hansens. In Seidls pittoreskem mediterranem Zuckerguss-Historismus sitzt man auf der Caféterrasse des heutigen Hotels Milenj (Ex-Villa Hasslinger, Hotel Al Mare, Hotel Principe Umberto, Pension Hausner und Hotel Jadran) und in der Villa der Baronin Haas-Teichen, dem heutigen Hotel Ariston, auf dessen Sofas schon die Kennedys und Coco Chanel Platz nahmen. An der Villa entlang führt der vom „Abbazianer Verschönerungsverein“ angelegte zwölf Kilometer lange Lungomare zwischen Lovran im Westen und dem Fischerhafen Volosko, heute ein Agglomerat von Restaurants, im Osten, vorbei an der Villa Angiolina, die ebenfalls der Südbahngesellschaft gehörte und heute das Tourismus-Museum von Opatija beherbergt. Im Park begegnet Besuchern eine Büste des als Wohltäter des Ortes verehrten Südbahn-Developers Friedrich Julius Schüler.

Gegen ein Zuviel an schönbrunnergelber Mehlspeisen-Architektur sind in Opatija auch Kräutlein gewachsen – so steht in einem Palmenhain neben der Villa Quisisana das Erstlingswerk des slowenischen Otto-Wagner-Schülers Max Fabiani, das Kronprinzessin-Stephanie-Kurhaus für k. k. Staatsbeamte, heute Gesundheitszentrum. Sonst hatte die Moderne im frühen 20. Jahrhundert aber am Küstenland nicht mehr Chancen als am Semmering. Der Krieg machte der österreichischen Geschichte Opatijas ohnehin ein Ende. Abbazia wurde italienischund Italien sehr bald faschistisch. Diese Epoche hat im Ort kaum Spuren hinterlassen, anders als die Tito-Zeit, deren augenfälligstes Zeugnis das Hotel Ambasador ist.

Das Hochhaus an der Uferpromenade war ein ambitioniertes Projekt der 1960er-Jahre. Vom Museum moderner Kunst in Rijeka koordiniert, war der Bau des Architekten Zdravko Bregovac ein Gesamtkunstwerk mit Arbeiten der besten jugoslawischen Künstler ihrer Zeit: von Skulpturen von Dušan Džamonja und Wandgemälden von Edo Murtić über ein Grafikkonzept bis zu den Uniformen des Personals war das gesamte Erscheinungsbild durchdesignt. Nach einer durchgreifenden Sanierung ist davon praktisch nichts geblieben. Das Innere ist heute in jenem ubiquitären Hotelstil gehalten, den das Publikum offenbar goutiert. Ein weiterer Bau von Bregovac, das 1967 gebaute schlicht-elegante Hotel Paris, steht hingegen seit Jahren leer. Im benachbarten Ičići baute Bregovac das Ferienhaus von Ivo Robić, das sogar ein Plattencover des Sängers zierte. Robić vermachte das Haus der katholischen Kirche, die es zu einem Gotteshaus umbaute – im blauen Quader an der Hauptstraße wird heute die Messe gelesen.

Im Zeichen des Brutalismus steht das Hotel Adriatic, dessen sägezahnartig versetzte Zimmereinheiten den Blick auf Meer und Inseln inszenieren. Der Architekt Branko Žnidarec realisierte den Erweiterungstrakt mit Konferenzräumen 1970. Teils unsensibel umgebaut, lassen manche Bereiche des Inneren noch die räumliche Großzügigkeit des Entwurfs erkennen, der, Standard im damaligen Jugoslawien, weitläufig mit künstlerischen Arbeiten – hier spacigen Op-Art-Reliefs – ausgestattet wurde.

Nach dem Jugoslawienkrieg versuchte man in Opatija auf Qualität zu setzen. Einige Hotels wurden abgerissen, die Parzellen im Stadtzentrum bislang aber nicht neu bebaut. In manche der Villen und Pensionen zogen Sportwettencasinos. Aber vor wenigen Jahren hat der Architekt Idis Turato zwischen Volosko und Rijeka das Hotel Navis gebaut. Stylish, nicht billig, aber Luxus hat hier ja Tradition. Die Geschichte geht weiter.

10. Juni 2017 Spectrum

Urlaub in der KPČ-Villa

Das andere Ferien-Resort

In den 1950er-Jahren wurden Architekten in Prag aufgrund von „modernistischem Formalismus“ inhaftiert – später mussten sie eine Wochenendsiedlung für die kommunistischen Machthaber am Moldau-Stausee planen. Heute wird dort exklusiv geurlaubt.

Die Lage: großartig. Ein Nadelwald über der Moldau, unweit des Schwarzenberg-Schlosses Orlik, eine Stunde südlich der Hauptstadt. Segeln, schwimmen,fischen, tagsüber dienstliche Besprechungen, danach gemütlich auf der Terrasse sitzen und bei einem Gläschen mit den Kollegen auf das zwischen den Kiefernstämmen glitzernde Wasser schauen. Alles, was man brauchte, um sich von der anstrengenden Arbeit in Prag zu erholen.

Andere hatten es nicht so gut. Um im berüchtigten Prager Gefängnis Pankrác zu sitzen, konnten schon Anklagen wie „modernistischer Formalismus“, „architektonischer Kosmopolitismus“ oder „funktionalistische Vergangenheit“ ausreichen – juristisch verbrämt als „Devisenvergehen“ oder „Bereicherung an sozialistischem Eigentum“. Nach NS-Widerstandskämpfern, gefolgt nach Kriegsende von NS-Größen und Kollaborateuren, saßen seit den „Säuberungen“ der Stalinzeit auch sozialistische Intellektuelle in Pankrác ein, darunter mehrere Architekten. Stalins Schatten waren lang: In der Sowjetunion herrschte das „Tauwetter“ Chruschtschows, in Prag drohte, vertrat man seine kulturellen Auffassungen zu offen, mehrjährige Haft.

Die Perversion der kommunistischen Machthaber kannte keine Grenzen. Als man 1959 daran ging, am neu angelegten Moldau-Stausee eine Wochenendhaussiedlung für die Funktionäre der KPČ zu planen, wurden eben jene inhaftierten Architekten zur Planung verpflichtet, die ihre architektonische Überzeugung ins Gefängnis gebracht hatte. Für die Ausführungsplanung zog man inhaftierte Techniker, Handwerker und Bauleiter heran. Praktisch: Die inkognito arbeitenden Planer konnten niemandem von der streng geheimen, auf keiner Karte verzeichneten Siedlung erzählen. Und: Man musste sie nicht bezahlen. Unter der Leitung des Technischen Instituts des Innenministeriums entstand das, was heute in Tschechien als „Knastprojekt“ bekannt ist.

Zur Erschließung des 470 Hektar großen Areals wurden 15 Kilometer neue Straßen und Wege angelegt, durchgehend elektrisch beleuchtet und gesäumt von immergrünen Bäumen, die eine Lokalisierung des Geländes sogar aus der Luft unmöglich machten. Zäune und Schranken riegelten das streng bewachte Areal von der Außenwelt ab. Wer beim Segeln oder Surfen dem Funktionärsufer zu nahe kam, wurde von Polizeibooten umgehend zu „erlaubten“ Gestaden eskortiert. Für die Planung der euphemistisch „Wochenendhütten“ genannten Bungalows hatte die Nomenklatura eindeutige Vorgaben: „Die Wände haben auf jeden Fall lotrecht und gerade zu sein, keinesfalls wie Damenkleider!“, lautete eine eher skurrile.

Mehrfache Planänderungen auf Wunsch der Politbüro-Mitglieder sind dokumentiert. Letztlich entstand jedoch ein singuläres Ensemble dessen, was in Tschechien in Anlehnung an die Brüsseler Weltausstellung von 1958 als „Brüsseler Stil“ bezeichnet wird: Perverserweise stand gerade dieser für die Hoffnung auf eine internationale Öffnung in der Kultur eines Staatssozialismus, dessen Konzept ein „menschliches Antlitz“ (noch) nicht vorsah.

Zentrum der Anlage ist ein Hotelbau mit Außen- und Innenpool, Saunen und Tennisplatz. Die Zimmer – alle mit Fernsehern „Firma Grundig, mit Fernbedienung“, wie man nach der Samtenen Revolution von 1989 erfuhr – dienten auch zur Unterbringung von Mitgliedern der sozialistischen Bruderparteien, die zur Hirsch- und Schwarzwildjagd anreisten. Den Hotelbau plante, wie man heute weiß, Bedřich Rozehnal, Professor an der TH Brünn und international anerkannter Spezialist für Krankenhäuser, den sein funktionalistischer Ansatz und offene Worte zur Organisation der Brünner Universität nach Pankrác gebracht hatten. Auch den locker im umgebenden Wald verstreuten 15 Funktionärsvillen, Sportanlagen und Cafépavillons, meist mit Flachdächern, offenen Grundrissen, großen Fensterwänden und Terrassen, ist der Einfluss des tschechischen Funktionalismus anzusehen, kombiniert mit den stumpfwinkligen Grundrissen und gekurvten Linien Oscar Niemeyers und Le Corbusiers. Kein Wunder: Le Corbusiers ehemaliger Mitarbeiter Jaroslav Vaculík war ebenso unter den Planern.

Das größte Haus entwarfen der Architekt Jiří F. Kaisler und der Statiker František Bäumelt für den damaligen Staatspräsidenten Antonín Novotný. Die Villa mit repräsentativer Empfangshalle, Pool und wellenförmigem Sonnendach liegt in größerer Entfernung auf einem Hügel mit Blick über den Stausee. Sie könnte ohne Weiteres in Lugano stehen oder in Beverly Hills. Gerade diese Villa war es, die nach 1989 durch Vandalismus am meisten beschädigt wurde. Seit 2010 ist sie im Besitz der Familie der früheren Besitzer des Grundstücks, ebenso wie die einstige Villa des Premierministers. „Privateigentum“-Schilder und Schranken halten Unbefugte fern. Einige Villen sind dauerhaft vermietet, etwa die Hälfte ist als Ferienhäuser über das nach wie vor bestehende Hotel zu mieten.

Nach dem Zusammenbruch des Sozialismus fiel das Areal an den Staat, der anteilig an der heutigen Betreibergesellschaft beteiligt ist. Der Ruf der Anlage blieb miserabel: In den 1990er-Jahren bewohnten mehrere Mitglieder der tschechischen Mafia und der tschetschenische Terrorist Schamil Bassajew die Bungalows. Innerhalb von zwei Jahren flogen auf dem Gelände zwei Autos in die Luft, wenig später wurde ein lästiger Kronzeuge bestialisch aus dem Weg geräumt und ein seitdem vermisster Geschäftsmann und Polizeispitzel gekidnappt.

Das heutige Spa-Hotel Orlik hat sich von seiner dunklen Vergangenheit befreit. Die vernachlässigten Gebäude wurden umsichtig restauriert und ihr Moderne-Glamour für eine junge Klientel wirkungsvoll inszeniert. Mit Midcentury-Möbelklassikern nach Entwürfen von George Nelson und Charles und Ray Eames sind Hotel und Villen sicher weitaus schicker eingerichtet, als sie es je waren – durchgestylt bis zur passenden Typografie und eleganten Zimmerschlüsselanhängern. Von der Vergangenheit der Anlage erwähnen Website und Infomaterial nichts –ein Lageplan des Gesamtareals wird aber bereitwillig ausgedruckt und auch der Standort der Präsidentenvilla eingezeichnet. Die vor einigen Jahren vielfach publizierten Ruinen der Moderne gibt es hier nicht mehr zu sehen. Aber Nutzung ist ohnehin die beste Denkmalpflege.

25. März 2017 Spectrum

Das glücklose Haus

Wassermann & Strnad

Über die Höhen und Tiefen gleichermaßen wie über die diversen Häuser im Leben des Schriftstellers Jakob Wassermann – und seines Architekten Oskar Strnad.

Die Geschichte meinte es nicht allzu gut mit dem Haus, Planern und Bauherren brachte es kein Glück. Dabei hatte alles so schön begonnen. Oder auch wieder nicht. Die Ups und die Downs lagen nahe beieinander im Leben des Schriftstellers Jakob Wassermann. Und auch in dem seines Architekten Oskar Strnad.

Wassermann war 1898 aus München nach Wien gezogen und schnell in den Kreis um Arthur Schnitzler und Hugo von Hofmannsthal integriert. Die Verehrung der jungen, exzentrischen Julie Speyer mündete bald in eine Heirat, die dem mittellosen Dichter ein sorgenfreies Leben durch die stattliche Mitgift der Braut versprach. Es kam anders. Das Geld war nach zehn Jahren aufgebraucht, die Ehe, der vier Kinder entsprangen, schon früher. Im Versuch zu kitten, was nicht zu kitten war, baute das Paar 1914 ein Haus in einem Grinzinger Weinberg. Finanziert wurde es von einem Gönner Wassermanns – besser gesagt von dessen Frau, einer Verehrerin des Autors, die über ihre Mutter, eine geborene Rothschild, immensen Reichtum mit in ihre Ehe gebracht hatte.

Den Architekten vermittelte wohl Hugo von Hofmannsthal, der selbst seine Stadtwohnung von Strnad einrichten ließ. Es wurde ein epochales Haus, viel publiziert und wohl das schönste des Architekten, mit einem lichtdurchfluteten weiß gestrichenen Wohn-Ess-Musik-Raum, einem sonnigen Wohnhof und einer Dachterrasse mit Blick über die Stadt. „Innen praktisch und bizarr und theilweise sehr schön“ fand es Schnitzler, den stolzen Hausherrn „wichtig, düster und mit Schlapfen“. Wenige Wochen nach dem Einzug lernte Wassermann, der Einladungen zum Missfallen seiner Frau allein wahrzunehmen pflegte, bei Egon und Emmy Wellesz, Nachbarn aus der Kaasgraben-Siedlung, Emmys Schulfreundin Marta Karlweis kennen. Wie 16 Jahre zuvor stellte wieder ein Sommer in Altaussee, in dem man sich näherkam, die Weichen für sein Leben.

Während Karlweis' Ehe bald geschieden wurde, erreichte Wassermann erst nach langen Streitereien eine Trennung. Mithilfe zahlloser Anwälte versuchte Julie Wassermann-Speyer daraufhin, ihren Mann finanziell zu ruinieren. Trotz seiner Zahlungen häuften sich Schulden und Hypotheken, sodass ein Großteil des umgebauten und erweiterten Hauses vermietet werden musste. 1934 wurde das Haus versteigert und von der Sängerin Tini Senders und ihrem Mann erworben; es blieb bis vor wenigen Jahren im Besitz der Familie. Jakob Wassermann lebte unterdessen mit Marta Karlweis ständig in Altaussee, durch Unterhaltszahlungen finanziell ausgehungert, als Autor aber erfolgreich, womit der Wunsch nach einem repräsentativen großen Haushalt mit Personal, wie ihn Thomas Mann und Hofmannsthal führten, wuchs.

Schließlich vermittelte Hofmannsthal dem Freund die Jahrhundertwende-Villa des Literaten Leopold von Andrian, die einige Zeit zuvor an den Berater der Kunstsammlerin Helene Kröller-Müller, Salomon van Deventer, verkauft worden war. Wassermanns Selbststilisierung als weltentrückter armer Poet machte sich bezahlt, als er den Kaufpreis auf die Hälfte dessen, was Deventer einst bezahlt hatte, drücken konnte und auch die zweite Hälfte des Hauses in Form eines äußerst günstigen Kredits quasi geschenkt bekam – diesmal war der generöse Geldgeber Paul Goldstein, Generaldirektor der Depositenbank und enger Mitarbeiter des berüchtigten „Finanzhais“ Camillo Castiglioni. Nach dem Konkurs der Depositenbank entzogen sich Castiglioni und Goldstein Haftbefehlen durch die Flucht ins Ausland.

Im Sommer 1923 wurde Wassermanns neues Haus von Paul Schultze-Naumburg umgebaut. Als Reformarchitekt hatte er einst den Deutschen Werkbund mitbegründet. In den 1920er-Jahren radikalisierte er sich jedoch künstlerisch und politisch und machte Hitler, Himmler und Goebbels zu seinen Freunden. Schultze-Naumburg wurde später einer der schlimmsten Hetzer gegen die „entartete“ Moderne in Kunst und Literatur. Der Gegensatz zum humanistischen, progressiven Strnad, der aus einem ähnlichen jüdisch-liberalen Milieu wie Wassermann kam, hätte kaum größer sein können – Wassermann wollte sich wohl auch ästhetisch vom unterdessen als „närrisch“ betrachteten, verhassten Wiener Haus distanzieren. Schultze-Naumburg hatte seinerseits immer wieder jüdische Bauherren – in Ebensee baute er 1909 das Landhaus des Berliner Bankiers und Mäzens Franz von Mendelssohn. Im Hause Wassermann-Karlweis wurde bald ein Sohn geboren, nach Wassermanns Scheidung konnte geheiratet werden. Als einem von wenigen Autoren bot ihm sein Verleger Samuel Fischer das Du an, mit Manns und Hesses urlaubte man öffentlichkeitswirksam in St. Moritz.

Nach der Machtergreifung Hitlers distanzierte sich die neue Verlagsleitung unter Samuel Fischers Schwiegersohn Gottfried Bermann Fischer von Wassermann. Zudem ließ seine erste Frau unter Berufung auf ausstehende Zahlungen Wassermanns Verlagskonto sperren. Wassermann musste fürchten, das Haus zu verlieren. In der Neujahrsnacht 1934 starb er, angeblich nach einer von Fischer abgelehnten Bitte um einen Vorschuss. Marta Karlweis zog noch im Jänner nach Zürich, wo sie bei C. G. Jung ihr unterbrochenes Psychologiestudium fortsetzte. Von Julie Wassermann-Speyer, die in den Besitz des Hauses zu kommen versuchte, wurde sie mit Klagen überzogen. 1938 ebenfalls nach Zürich emigriert, mietete sich Wassermann-Speyer im gleichen Haus wie Karlweis ein, die nach ihrem Studienabschluss nach Kanada floh. Als die Altausseer Villa versteigert wurde, kaufte sie Leopold von Andrian zurück. Er musste sie 1939 wieder verkaufen und emigrierte nach Brasilien. Salomon van Deventer wurde wie Schultze-Naumburg zum begeisterten Nationalsozialisten und setzte sich in der NS-Zeit an die Spitze des Kröller-Müller-Museums.

Oskar Strnads Glück wendete sich schon kurz nach dem Bau des Wassermann-Hauses, als nach einem Rechtsstreit sein Bauherr Josef Kranz, Kriegsspekulant und einflussreicher Freimaurer, ankündigte, dafür zu sorgen, dass der Architekt nie mehr einen Auftrag bekommen werde. Strnad baute tatsächlich nur noch wenig und arbeitete bis zu seinem Tod 1935 hauptsächlich als Bühnenbildner. Das Wiener Haus stand zuletzt längere Zeit zum Verkauf und begann zu verfallen, schließlich wurde es unter Denkmalschutz gestellt. Vielleicht gibt es ja doch noch ein Happy End.

3. Dezember 2016 Spectrum

Kleine Budgets als Chance

Dem Procedere nach ähnelt er einem Bachmannpreis der Architektur: der deutsche Erich-Schelling-Preis. Bei der Vergabe sind nicht nur architektonisch, sondern auch gesellschaftlich relevante Planungskonzepte gefragt. Heuer mit Nominierten aus Mexiko und den Niederlanden und einem Sieger aus Belgien.

Zu Anfang war der deutsche Erich-Schelling-Architekturpreis nicht so ganz klar definiert. „Zukunftsweisende Entwurfsideen und Projekte“ sollen prämiert werden, so der eher allgemein gehaltene Zweck der Karlsruher Schelling-Stiftung, die den Preis im Zweijahresrhythmus vergibt. Die erstenPreisträger waren im Jahr der Stiftungsgründung, 1992, die Wiener Coop Himmelb(l)au, gefolgt von Zaha Hadid, diese wiederum von Peter Zumthor.

In den vergangenen Jahren hat man sich allerdings zunehmend auf nicht nur architektonisch, sondern auch sozial und gesellschaftlich relevante Planungskonzepte konzentriert und dem von der Witwe des Architekten Erich Schelling und dem Begründer der Deutschen Architekturmuseums, Heinrich Klotz, initiierten Preis damit ein klareres Profil verliehen. Das Procedere ist dabei etwa das eines Bachmannpreises der Architektur: Drei von einer Jury nominierte Architekten, Architektinnen respektive Büros werden nachKarlsruhe geladen und präsentieren sich nacheinander in öffentlichen Kurzvorträgen. Danach entscheidet die Jury, wer den mit 20.000 Euro dotierten Preis erhält. Mitglied der Jury ist auch der schon zuvor gekürte jeweilige Sieger der Kategorie Theorie.

Dies war heuer der britisch-kanadische Architekturkritiker Doug Saunders, der in den vergangenen Jahren mit seinen Publikationen „Arrival City“ und „Mythos Überfremdung“ bekannt geworden ist. Saunders' Forschungen zu Einwanderungsquartieren westlicher Gesellschaften flossen auch in die Programmierung des deutschen Pavillons aufder diesjährigen Architekturbiennale in Venedig ein. In intelligenter Weise wurden dort die Prämissen für das Funktionieren migrantisch geprägter Quartiere in deutschen Städten thematisiert.

Mit städtischen Infrastrukturen befasst sich auch die für den Preis nominierte junge mexikanische Architektin Rozana Montiel, die dieses Jahr bereits zum vierten Mal auf der Architekturbiennale vertreten war. Sie baut hinreißend schöne Häuser für kleine und größere Budgets, in klarer Formensprache, mit natürlichen Materialien, in präziser architektonischer Formulierung, die ihr bereits einen Platz im aktuellen Architekturdiskurs sichern würden. Um die ging es im Rahmen des Preises aber nicht, sondern um Montiels Eigeninitiativen zu urbanen Interventionen.

Mit Projekten wie „Common-Unity“ in Mexico City unternimmt es Montiel, in sozial schwachen Quartieren die Lebenssituation über die Gestaltung gemeinschaftlicher Freiräume zu verbessern. „Nicht nur für Menschen, sondern mit ihnen“ zu planen nennt sie als ihren Grundsatz, und mittels Recycling Geldmangel als Chance zu nutzen. Im konkreten Fall wurden von Anwohnern zur Erweiterung des beengten Wohnraums errichtete Abtrennungen und Überdachungen im öffentlichen Raum zu gemeinsamen Sonnenschutzdächern umgewandelt und ephemere Strukturen damit zu sinnvoller genutzten permanenten gemacht. Entstanden ist, mit Hilfe der zuerst zögerlichen öffentlichen Verwaltung, ein multifunktionaler Bereich mit Spielplätzen, Bibliothek und nutzungsneutralen Zonen. „DieMenschen engagieren sich, wenn sie einbezogen sind, sie fühlen sich verantwortlich und sind stolz auf das Projekt. So entsteht eine Gemeinschaft über alle Altersgruppen hinweg“, so Montiel.

In anderen Projekten setzt Montiel neue Räume auf bestehende Sozialwohnbauten oder konzipiert öffentliche Nutzungen für leer stehende Lagerhäuser entlang der U-Bahn-Linien von Mexico City, ausgehend von einem Begriff der Stadt als ganzheitlichem sozialem Konstrukt und Netzwerk aus informellen Netzwerken.

Ihr ambitionierter, hochqualitativer sozialer Wohnbau brachte auch den aus Deutschland stammenden, in den Niederlanden arbeitenden André Kempe und Oliver Thill eine Nominierung für den Preis. Der Architektur des Büros, das hierzulande vor einigen Jahren mit dem Franz-Liszt-Konzerthaus im burgenländischen Raiding bekannt wurde, ist die Vorbildwirkung der reduzierten Klassizität der deutschen Architekturikonen Friedrich Schinkel und Ludwig Mies van der Rohe anzumerken, ihre unaufgeregte, ruhige, nicht auf Effekte bedachte analytische Herangehensweise ist wohltuend im allgemeinen Konzert architektonischen Selbstmarketings.

Gewonnen hat den Preis schließlich, nach einer knappen Juryentscheidung, nicht Rozana Montiel, die die klare Favoritin vor allem der zahlreich anwesenden Studierenden war, sondern das dritte nominierte Büro, de Vylder Vinck Taillieu. Wie Montiel begreifen auch Inge Vinck, Jan De Vylder und Jo Taillieu kleine Budgets als Chance. Die eher im privaten Sektor angesiedelten Projekte des Genter Büros umfassen auch unfertige, halb abgerissene oder ruinöse Räume, die stehen bleiben und mit minimalen Interventionen nutzbar gemacht werden.

Sehr wienerisch mutet der Ansatz des Büros an, mit den Gegebenheiten des Projekts zu interagieren und dabei auch Veränderungen und Probleme jeder Art in den dynamischen Planungsprozess einzubeziehen. So wurden bei einem Projekt in Gent, bei dem im Betonguss jede Menge Dinge katastrophal falsch liefen, die Schadstellen kurzerhand knallrot markiert – was heute wie ein Kunstprojekt wirken mag, aber keineswegs als Methode verstanden werden soll: „Wenn sich unvorhersehbare Situationen ergeben, geht es nicht darum, sie zu lösen, sondern sie als Gelegenheit zu begreifen und die Problemstellung zu verändern. Der Moment und die konkrete Situation zählen. Die Arbeit der Architekten ist mit dem Entwurf keineswegs erledigt“, so die Architekten. „Ein Projekt beginnt in dem Moment, in dem es sich die Bewohner aneignen und es verändern.“ Nicht verwunderlich: Das Dreierteam schätzt die Arbeit des Wieners Hermann Czech sehr. Und auch den ähnlich formulierten Ansatz eines weiteren Wieners: Josef Frank.

12. November 2016 Spectrum

Haus ohne Trubel

Eine neue Schicht Gegenwart kann Unternalb im Retzer Land gut brauchen: In einem ehemaligen Gutshof werden Gästezimmer für den Urlaub am Biobauernhof geboten. Der Umbau erfolgte in Kooperation von Caritas-Klienten und Studenten der TU Wien.

Wer hierherkommt, sucht keinen Trubel. Schon gar nicht, wer ohne Auto kommt. Der Zug nach Retz fährt an Unternalb vorbei, hält aber mangels Bahnhof nicht an. Also wieder zwei Kilometer zurückspazieren, will man nicht drei Stunden auf den Bus warten. Auf dem Weg durch den leer gefegten Ort entfaltet sich im milden Nachmittagslicht allmählich der diskrete Charme des Weinviertels: archaisch wirkende Streuobstwiesen, von kleinen Bächlein durchflossen, teils umsichtig, teils brachial hergerichtete Zwerchhöfe, große alte Scheunen mit hohen Walmdächern, dazwischen ein dicker, stumpfer Kirchturm.

Das spätbarocke Anwesen rund um die Kirche öffnet sich Besuchern in einem großen Einfahrtshof, in der Mitte ein mächtiger alter Baum. Ein weiterer Hof liegt dahinter, dann noch einer, Heuschober, Ställe, Tiere, schließlich blickt man hinter einem offenen Tor auf eine bukolische Landschaft mit Teich, Obstbaumalleen, Hühnern, Kuh- und Schafweiden.

Drei große kirchliche Gutshöfe prägten einst den kleinen Ort: einer der Retzer Dominikaner, einer der evangelischen Kirche und dieser, der bis 1984 dem Stift Göttweig gehörte. Dann wurde er an die Caritas verkauft, die ihn als Biobauernhof mit Menschen mit Behinderungen betreibt – zurzeit insgesamt 95 Personen, von denen etwa ein Drittel auf dem Anwesen lebt. Ein Seitentrakt nimmt die Gästezimmer auf, die das Ziel der Reise sind. Als vor drei Jahren der Priester auszog, weil die Pfarre des auch infrastrukturell ausgedünnten Ortes der von Retz angegliedert wurde, entwickelte man bei einer Mitarbeiterkonferenz gemeinsam mit den Caritas-Klienten vor Ort die Idee, in den frei werdenden Räumen Gastzimmer für Urlaub am Bauernhof anzubieten.

Nun kam das von Peter Fattinger an der TU Wien geleitete Studio Design-Build ins Spiel: Studierende entwickeln hier seit 2000 gemeinsam temporäre und permanente Bauvorhaben von der Konzeption über die Planung bis zur Realisierung, mit Unterstützung von Fachbetrieben vor Ort. Mit der Caritas gab es schon bei drei Projekten eine erfolgreiche Zusammenarbeit: 2001 mit der Tmp?Homebase, einer temporären Einrichtung für Asylsuchende auf dem Flughafen Schwechat, 2007 mit einer Waisenheim-Erweiterung auf der indonesischen Insel Nias und 2013 mit der „YoungCaritas“, einem Kompetenzzentrum für sozial engagierte Jugendliche in einem Wiener Gürtelbogen. Alles nicht nur ethisch und sozial sinnvolle Projekte, sondern auch architektonisch mit ihrer äußerst fruchtbaren Mischung aus unvoreingenommener Herangehensweise, studentischer Verve, pragmatischer Lösungsorientiertheit und Liebe zum gemeinsamen Arbeiten überzeugend – Funktionalität und gestalterische Qualität ergänzen einander, wie man es gern häufiger sehen würde.

25 Studierende, davon etwa zwei Drittel Frauen, arbeiteten ein Semester lang am Entwurf; im März 2015 war Baubeginn. Ein Jahr dauerten die Arbeiten, deren professionelle Abwicklung in Zusammenarbeit mit Fachbetrieben vor Ort erfolgte. Neben lokalen Professionisten waren auch die neun Caritas-Werkstätten des Bauernhofs involviert. Mit konkreten Aufgaben betraut, blühten manche der behinderten Menschen während der Bauarbeiten geradezu auf.

Allzu experimentell durfte der Planungsansatz freilich nicht sein: Alle Baumaßnahmen mussten nicht nur die Anforderungen der Caritas erfüllen, etwa was die Bewirtschaftung durch die in Küche, Service und Reinigung tätigen Menschen mit Behinderung betraf, sondern auch in Abstimmung mit dem Bundesdenkmalamt erfolgen. So wurde für die gewünschte Barrierefreiheit hofseitig ein dezenter Fahrstuhl angebaut. Insgesamt 75 Planungs- und Baubesprechungen mit Studierenden und Caritas waren erforderlich, bis alles feststand.

Wie sollte man beispielsweise mit den riesigen Raumhöhen der Pfarrerwohnung umgehen? Die historische Bausubstanz wurde nicht angetastet, die niedrigeren Sanitärblöcke separat so in die Zimmer gestellt, dass ihre Decken als begehbare Emporen dienen. Neben dem Gemeinschaftsaufenthaltsbereich mit mehreren Sitzebenen, der in den mit alten Kelheimer Platten belegten Gang eingebaut wurde, bietet diese Empore im „Prunkzimmer“ ein spezielles Raumerlebnis: Aus nächster Nähe kann man hier die barocken Deckenmalereien bewundern. Alle neuen Einbauten wurden konsequent zeitgenössisch gestaltet und auch in ihrer Materialität – helles Birkensperrholz mit weiß pigmentierter Imprägnierung – von der historischen Substanz abgehoben. Mit intelligent eingesetzten Mitteln wurde eine Ästhetik erreicht, die Kargheit mit warmen Materialien und Beleuchtungssituationen verbindet. Dabei zieht sich das ebenfalls von den Studierenden entwickelte Farbkonzept durchalle Räume – mit dem erstaunlichen Effekt, dass die vom Caritas-Lager stammenden, an sich völlig banalen unterschiedlichen Sitzgelegenheiten durch die gemeinsame matt-olivgrüne Lackierung eine äußerst charmanteEinheitlichkeit erhalten.

Darüber reflektiert es sich am besten im erdgeschoßigen Frühstücksraum – die Gäste sitzen hier bei lokalen Bioprodukten unter der gewölbten Decke an einem gemeinsamen Tisch aus hellrötlicher österreichischer Douglasie, die auch die Böden der Gastzimmer bildet. Durch Entfernen einzelner Wandteile entstand ein großzügiger Wohnküchenbereich mit einer vor Ort gegossenen langen Betonspüle und mit Ausgang zum Hof, wo ein Salettl und eine Feuerstelle neu angelegt wurden.

Das historische Ambiente ist am Ort ebenso selbstverständlich präsent wie die gestaltete Gegenwart – in dieses Konzept passen auch die Fotoarbeiten von Markus Fattinger, die man im ganzen Haus findet: Sie zeigen Details jener in Resten vorhandenen gemalten Wand- und Deckenornamente, die nicht freigelegt wurden und nun unter dem weißen Putz liegen.

Eine neue Schicht Gegenwart kann Unternalb gut brauchen. Im Ort gibt es kein Geschäft mehr, der (hervorragende und gut besuchte) Heurige ist seit vergangenem Jahr der einzige. Junge Familien sind die Zielgruppe des „OBENauf“ genannten Caritas Bed and Breakfast, bei dem man in der Landwirtschaft, etwa beim Tierfüttern, mithelfen kann, zudem Radurlauber und Weinliebhaber, die die zahlreichen Veranstaltungen in der Retzer Gegend besuchen. Auch die Infrastruktur für kleine Seminare ist da. Wer hierherkommt, findet keinen Trubel, aber die Gemeinschaft sozialen Miteinanders, die Wärme eines historischen Bauernhofs, den sinnlichen Genuss lokaler Kulinarik und nicht zuletzt die Qualität zeitgenössischer Architektur.

1. Oktober 2016 Spectrum

Happy End für ein Haus

Im Jahr 1938 beauftragte der Unternehmer Josef Volman in Čelákovice östlich von Prag zwei junge Architekten mit dem Bau seiner Villa. Aufgrund der Kriegswirren und der Emigration der Familie stand die Villa viele Jahre leer, dem Verfall preisgegeben – bis eine neue Eigentümergesellschaft die Instandsetzung anordnete.

Es war ein ungewöhnlicher Auftrag für die jungen Architekten. Karel Janů und Jiří Štursa waren beide erst 28 Jahre alt, als der Unternehmer Josef Volman sie im Jahr 1938 mit dem Bau seiner Villa betraute. Der 1883 geborene Volman hatte in den USA studiert und, nach Böhmen zurückgekehrt, in der Kleinstadt Čelákovice östlich von Prag eine Werkzeugmaschinenfabrik gegründet.

Bei seinem eigenen Wohnsitz, der gleichzeitig der Repräsentation der schnell wachsenden Firma dienen sollte, sparte Volman nicht. Unweit der Fabrik und der Angestelltensiedlungen sollte die Villa in einem parkartigen Gelände mit Ausblick auf die nahen Auen der Elbe stehen. Konsequent modern musste das Anwesen sein und so auch den technologischen Anspruch der Firma vermitteln. Der Auftrag ging an zwei No-Names, die dem radikal linken Prager Kreis um den Kritiker und Publizisten Karel Teige angehörten und bislang allenfalls durch die Gründung einer marxistischen Architektengruppe aufgefallen waren. Als Chefideologe des linken Funktionalismus propagierte Teige einen rationalistischen, tayloristischen Zugang zu Fragen der Architektur. Luxuriöse Privatbauten wie Ludwig Mies van der Rohes wenige Jahre zuvor entstandene Brünner VillaTugendhat wurden vehement abgelehnt und stattdessen Kollektivhäuser nach sowjetischem Vorbild propagiert.

Volman dürfte sich von der Zusammenarbeit mit den Frischlingen die Möglichkeit zur Mitbestimmung erhofft haben. Dabei „störte es Volman nicht weiter, dass wir Linke waren“, wie sich Štursa später erinnerte – „vielleicht weil er seine Maschinen an die Sowjetunion lieferte“. Unter dem Einfluss des von Teige verehrten André Breton und des französischen Surrealismus hatte sich das Interesse der Prager linken Intellektuellen unterdessen auf die psychoanalytischen Aspekte von Architektur verlagert, der Einfluss des zuvor als bourgeois abgelehnten Le Corbusier gewann an Bedeutung.

Mit einem jovialen „Meine Herren, zeichnen Sie mal was, dann sehen wir weiter“ begann die Planung. Eine asketische Architektursprache in Kombination mit psychologischbegründetem freiem Formenvokabular ermöglichte Janů und Štursa einen nicht mehr strikt rationalen, sondern geradezu lyrischen Zugang. Dabei hatten die Architekten immer wieder Schwierigkeiten, das Budget von einer Million Kronen auszuschöpfen. So planten sie zahlreiche Extras wie ein nierenförmiges Solarium auf der obersten Dachterrasse und eine kapriziös vor das Haus in den Park gestellte Terrasse.

Besucher näherten sich dem mit Travertinplatten verkleideten dreistöckigen Stahlbetonskelettbau über einen breiten Bruchsteinweg vom Pförtnerhaus. Das Automobil konnte in einer überdachten Vorfahrt hinter einer geschwungenen Steinmauer geparkt werden, trockenen Fußes betrat man die Garderobe hinter einer hochmodernen gerundeten Glasbausteinwand. Vom offenen Wohnbereich des Erdgeschoßes führte eine Treppe mit gelochter Holzbrüstung zu den Privaträumen des verwitweten Volman und seiner Adoptivtochter. Das Dachgeschoß mit seinen großen Terrassen diente dem Billard- und Kartenspiel des Hausherrn und seiner Freunde. Štursa erinnerte sich, wie der glückliche Volman mit dem Haus „vor seinen ausländischen Gästen angegeben und Karel und mich in seinem Zwölfzylinder-Buick mit Chauffeur herumkutschiert“ habe. Für die Rezeption des zweitteuersten Privathauses der Tschechoslowakei war das Timing denkbar schlecht: Erst nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht wurde es im Jahr 1939 fertiggestellt. Die Fachpresse konnte das Haus nicht mehr besprechen. Volman, zur Zusammenarbeit mit den Besatzern gezwungen, unterstützte den Widerstand und versteckte Archiv und Bibliothek des tschechoslowakischen Staatspräsidenten Tomáš G. Masaryk auf dem Firmengelände.

Nach Volmans Tod im Jahr 1943 wurde die Fabrik bis zur Verstaatlichung von seinem Schwiegersohn geleitet. Der Zwangsarbeit in den Uranbergwerken von Jáchymov entkommen, emigrierte er mit seiner Familie nach Frankreich. Das als Kindergarten genutzte Haus, seit 1979 denkmalgeschützt, wurde nach der Samtenen Revolution der Eigentümerfamilie restituiert und anschließend verkauft. Es folgten Leerstand und Vandalismus, das Skelett der ruinösen Villa war lange Jahre ein von Fachwelt und Laien angeprangertes Memento eines nicht gewürdigten architektonischen Erbes.

Schließlich gab es für das Haus doch noch ein Happy End. Eine neue Eigentümergesellschaft beauftragte das Büro des Prager Architekten Marek Tichý mit der Instandsetzung und Restaurierung der Villa. In mühevoller Kleinarbeit wurden die eigenwillig pastellfarbigen ursprünglichen Wandanstriche analysiert und rekonstruiert, die zerschlagenen Marmorvertäfelungen der mit rosa, hellblau und hellgrünen Wannen ausgestatteten Badezimmer wieder zusammengesetzt, die leeren Fensterhöhlen mit Glasscheiben gefüllt. Der Preis für die großzügige Restaurierung der Villa war der Neubau mehrerer privater Wohnhäuser im immer noch riesigen Park.

Für Marek Tichý ist die nunmehr 15-jährige Beschäftigung mit dem Haus zu einem Teil seines Architektenlebens geworden. Als er den Auftrag erhielt, war er im selben Alter wie seinerzeit Karel Janů und Jiří Štursa. Unterdessen unterrichtet er überdies am selben Institut der Prager Technischen Hochschule wie früher die beiden Architekten. Die Ironie der Geschichte wollte es, dass Jiří Štursa, der 1937 mit dem Bildhauer Otakar Švec ein Denkmal für Präsident Masaryk am Prager Letná-Hügel entworfen hatte, zwölf Jahre später, unter politischem Druck zur Teilnahme gezwungen, den Wettbewerb für ein Stalin-Denkmal am selben Standort gewann. Štursa und Janů starben im Abstand von fünf Tagen im Februar 1995. Die beiden Enkel Josef Volmans kommen manchmal auf Besuch nach Čelákovice. Die Restaurierung der Villa, so Marek Tichý, macht sie sehr glücklich.

13. August 2016 Spectrum

Frisch im Sommer

Als Sport, Körperkultur und Sonnenbräune um 1900 an Bedeutung gewannen, entstanden in Österreich die ersten Frei- und Seebäder. Einige überlebten den Konkurrenzkampf, andere sind heute Ruinen. Ein Ausflug in die Welten des Wassers.

Nicht ohne ein Geschrei, nicht ohne ein wildes, teils von der Kühlung, teils von dem Behagen aufgeregtes Lustjauchzen“ warf sich einst Johann Wolfgang Goethe in die Fluten der Ilm. In Österreich dauerte es bis zum wirklichen Durchbruch des Sommerziels Freibad aber noch ein wenig länger. Schwimmen lernte man ab dem frühen 19. Jahrhundert nach der Methode von Ernst von Pfuel, preußischer Ministerpräsident und Freund Heinrich von Kleists: die Bewegungen des Frosches nachahmend – noch heute als Brustschwimmen praktiziert – und dabei an einer vom Schwimmlehrer gehaltenen angelartigen Rute hängend. Die von Pfuel entwickelten Militärschwimmschulen waren auch für Zivilisten zugänglich – darunter das als einzige Pfuel'sche Schwimmschule noch heute genutzte Seebad „Mili“ in Bregenz.

In Baden bei Wien entwarfen die Architekten der Wiener Oper, August Sicard von Sicardsburg und Eduard van der Nüll, 1848 die beiden Freibecken der Mineralschwimmschule, die der Konkurrenz des unter Moritz II. Graf von Fries ausgebauten nahen BadVöslau Paroli bieten sollten. Die Reste des Bades gingen in den 1990er-Jahren in der heutigen „Römertherme“ auf. Mit der Wandlung medizinischer Standards gewannen Sport, Körperkultur und Sonnenbräune auch für Sommerfrischler an Bedeutung. An Donau, Ybbs, Kamp und Thaya boten hölzerne Flussbäder sommerliche Kühlung – sofern nicht die Abwässer des gnadenlosen Industriezeitalters ErfrischungSuchenden das Baden vergällten. Freischwimmbecken waren – nicht zuletzt wegen der zunehmenden Verschmutzung vieler Flüsse – eine wichtige Alternative. Schon 1882 konnte die eigens gegründete „Badegesellschaft“ das Freibad in Payerbach – mit angrenzendem „Badegarten“ und bald auch einem Tennisplatz – eröffnen. Übertrumpft wurden die Payerbacher erst 1911, als das benachbarte Reichenau mit dem ersten geheizten Freibad der Monarchie konterte. Beide Bäder bestehen in veränderter Form noch immer.

Nach 1918 brachte das Wegbrechen weiter Teile ihres Publikums Österreichs Kurorten neue Herausforderungen. In Baden begegnete man ihnen 1926 mit dem Bau eines großzügigen Strandbades nach Entwürfen des lokalen Architekten Alois Bohn. Foyer und Umkleiden wurden mit Art-déco-Bleiglasfenstern aus den Werkstätten Geyling aufwendig ausgestattet. Der weiträumige Freibereich des Bades im Helenental konnte sich nicht nur mehrerer großer Thermalfreibecken, sondern auch des mit mehr als 3.700 Quadratmeter größten Sandstrandes Österreichs rühmen. Sand und Palmen evozieren bis heute die Sehnsuchtsstimmung einer mondänen Sommerfrische an der Riviera.

Im konkurrierenden Bad Vöslau konnte man Baden gegenüber mit dem von keinem Geringeren als dem Ringstraßenarchitekten Theophil Hansen zwischen 1863 und 1873 gebauten Mineralbad punkten. Nach dem Ersten Weltkrieg demolierte man die nun aus der Mode gekommene Anlage, in der Größen wie Arthur Schnitzler schwimmen gelernt hatten. Allzu modern wollte man es allerdings auch nicht haben. Den bis heute bestehenden neobarocken Komplex mit der markant geschwungenen Eingangskolonnade realisierte 1925/26 der ortsansässige Architekt Wilhelm Luksch. Durch die Eröffnung des Badener Strandbades in derselben Saison untermassiven Erfolgsdruck gesetzt, beauftragte man den Vöslauer Baumeister Louis Breyer zusätzlich mit einer umfangreichenNeugestaltung des oberen Teils des Bades als „Thermal-Parkstrandbad“, in das der angrenzende Marienpark integriert wurde. Noch heute schwimmt man je nach Plaisir im von schönbrunnergelben Kabinenflügeln gesäumten geheizten „blauen Becken“ im vorderen Teil des Bades, an das sich die den Geländesprung ausnutzenden „Schwedenduschen“ unter einer überlebensgroßen Frauenstatue anschließen, oder mit hartgesottenen Stammgästen im rückwärtigen Teil unter Platanen im kalten „grünen Becken“, dem Quellteich des Vöslauer Mineralwassers. Hangaufwärts verstecken sich zwischen den hohen Kiefern des Parks weitere kleinere Becken, Tennisplätze und die Milchbar. Der schon bei seiner Erbauung nicht gerade avantgardistische Charme des Bades trägt heute nicht wenig zur Beliebtheit des aus der Zeit gefallenen Ortes bei.

Auch das unweit gelegene, kleinere Bad Fischau-Brunn konnte da nicht zurückstehen: Gleichzeitig mit Baden und Vöslau baute der Ort sein zwischen 1872 und 1899 entstandenes Mineralschwimmbad mit zwei ovalen Quellteichen mit Kiesboden als kleinere Version von Vöslau aus. Die noch heute bestehenden gelb-grün gestrichenen Holzkabinen plante der Architekt Hans Goldschmied. Nicht lumpen lassen wollte man sich angesichts der neu ausgebauten Bäder der Gegend auch am Fuße der Rax. Im Kurort Edlach legte man im Sommer 1928 ein geheiztes Strandbad mit Holzkabinen des Klosterneuburger FertighausproduzentenKawafag, Strandkörben und echtem importiertem Adriasand aus Grado an. Dem liebevoll gepflegten Bad ähnelt auch die in maritimem Blau-Weiß gestrichene Holzkonstruktion des 1929 eröffneten Schwimm-, Luft- und Sonnenbades im nahen nordburgenländischen Bad Sauerbrunn.

Was dem müßigen Kurgast recht war, sollte ebenso dem Werktätigen frommen: Auch das Rote Wien baute in diesen Jahren moderne Freibäder, etwa das Kongressbad. Mit seinem innovativ mittels Nachtstrom erwärmten und mit einer Flutlichtanlage beleuchteten 100-Meter-Becken und einemZehn-Meter-Sprungturm war das Kongressbad Schauplatz der Ausscheidungskämpfe zur Arbeiterolympiade von 1931. Unter dem starken Eindruck des Roten Wien entstand in Mödling 1927/28 nach Entwürfen des ortsansässigen Architekten Hermann Tamussino das städtische Frei- und Hallenbad. Per Autobus direkt von Wien erreichbar, musste sich das Bad mit seinem ambitionierten Programm mit Modeschauen und Schwimmrevuen auch gegen die Konkurrenz des Badener Strandbades behaupten.

Im ganzen Land ging es nun mit den neuen Seebädern in Mattsee, Gmunden, Klagenfurt, Velden, Faak und Millstatt Schlag auf Schlag. 1931 bis 1933 zogen die Semmering-Grandhotels nach: das Panhans mit dem „Alpenstrandbad“ mit Liegewiese und seitlich öffenbarer Glaswand, das Südbahnhotel mit einem kleineren, aber mit orange lackierten Stahlrohrstühlen und Art-déco-Lüstern weit luxuriöseren Frei- und Hallenbad nach Entwürfen der Otto-Wagner-Schüler Emil Hoppe und Otto Schönthal. Beide Bäder sind heute nur noch Ruinen. Die Mineral-Freibäder in Baden, Vöslau und Fischau und ihre Geschwister hingegen sind geliebte Orte der ultimativen Entschleunigung geblieben, in denen zum „Erlebnis“ nicht mehr als das Glitzern der Sonne im Becken, die Kiesel unter den Füßen und vielleicht ein paar badende Enten notwendig sind.

25. Juni 2016 Spectrum

Auf der Rolltreppe zur Antike

Vor 20 Jahren wurde vor der kroatischen Insel Lošinj eine der besterhaltenen Bronzestatuen des griechischen Altertums entdeckt. Jetzt hat man ihr ein eigenes Museum errichtet. Ein Lokalaugenschein in der Inselhauptstadt, Mali Lošinj.

Der Fund, den ein belgischer Tourist 1996 beim Tauchen vor der kroatischen Insel Lošinj machte, entpuppte sich nur wenig später als Sensation: In 45 Meter Tiefe lag eine der besterhaltenen griechischen Bronzestatuen, einen überlebensgroßen Athleten darstellend, der nach dem Kampf Öl, Sand und Schweiß mit einem Schaber von seinem Körper entfernt. Der ursprünglich aus sieben Einzelteilen zusammengesetzte Jüngling mit dem leicht melancholischen Gesichtsausdruck war, noch unbenutzt, im zweiten Jahrhundert vor Christus auf einem römischen Schiff zu seinem Aufstellungsort an der oberen Adria unterwegs, den er, wohl bei einem Sturm von Bord gefallen oder geworfen, nie erreichte. Zwischen zwei Felsen waagrecht stecken geblieben, sank er nicht weiter; Fotos vom Fundort zeigen das deutlich erkennbare, nach oben gewandte Gesicht.

Die Statue, die einer 1896 entdeckten im Wiener Ephesos-Museum ähnelt, aber weitaus besser erhalten und sogar noch im Besitz ihres originalen Sockels ist, dürfte die antike Kopie eines im Umkreis des Bildhauers Lysipp im vierten Jahrhundert vor Christus hergestellten Modells sein. Für die Datierung wurden neben chemischen Analysen des Materials im Inneren der Statue gefundene Samenkörner ebenso herangezogen wie der zeittypisch modische Schnitt der kurzen Locken, durch die sich der Athlet noch kurz vor dem vom Bildhauer festgehaltenen Moment des Abstreifens des Reinigungswerkzeugs mit der Hand gefahren zu sein scheint.

Zuerst in situ untersucht, dann geborgen, entsalzt, dokumentiert, durchleuchtet, stabilisiert, sieben Jahre lang akribisch restauriert und auf Welttournee geschickt, hat der kroatische Schaber (Apoxyomenos) nun seinen ersten Aufstellungsort in einem eigenen Museum in der Inselhauptstadt Mali Lošinj gefunden. Angewandt wurde für das jeweils zur Hälfte der Gemeinde und dem kroatischen Staat unterstehende Museum ein Gesetz, nach dem Antiken an ihrem Auffindungsort verbleiben sollen. Als Standort wählte man den zuletzt als Tanzsaal genutzten Kvarner-Palast an der Hafenpromenade des Städtchens. Aus einem Wettbewerb ging als Sieger ein Projekt des in Rijeka ansässigen Büros der Architekten Saša Randić und Idis Turato hervor.

Der Aufgabe, ein Museum für ein einziges Exponat zu inszenieren, das wissenschaftliche Ansprüche erfüllt, andererseits aber de facto hauptsächlich von Sommerurlaubern besucht wird, begegnete man mit einem speziellen Konzept: Ein Museumsbesuch ist innerhalb der Öffnungszeiten nur nach Voranmeldung mit einer Führung in Gruppen von maximal 20 Personen möglich, die, angetan mit Einweg-Überziehschlappen, eine szenografierte Sinnenwelt durchwandern. Das kann man populistisch finden – das oberflächliche touristische Abhaken lokaler Museen an Schlechtwettertagen dürfte aber jedenfalls zugunsten einer soliden und dennoch kurzweiligen Vermittlung der Faszination archäologischer Arbeit und antiker Kultur überhaupt vermieden werden.

In die historische Struktur des Gebäudes, dessen Inneres nicht erhalten werden musste, wurde von oben eine neue, abgehängte Stahlkonstruktion gesetzt, ähnlich wie auch die Statue selbst in ihrem Inneren durch eine metallene Stützkonstruktion stabilisiert wurde. Hinter dem Eingang von der sonnenübergossenen Promenade sehen sich Besucher in einen Raum mit ultramarinblauen Wänden mit schwammartiger Putzstruktur gespült, mit einer hängenden Decke aus in der lokalen Werft geschweißtem weißem Blech, die an einen Schiffsbauch denken lässt. Alles klar, hier sollen wir uns auf dem Meeresgrund befinden. Desgleichen im nächsten Raum, zugänglich über die einzige Rolltreppe der Insel, der auffallend heruntergekühlt und allseitig mit schwarzem Noppenkautschuk ausgeschlagen ist. Er enthält eine ausführliche Dokumentation des Statuenfundes in viersprachig beschrifteten Leuchtkästen. Optisch, olfaktorisch und – übertriebenerweise – über Soundcollagen auch akustisch unterschiedene Räume schließen sich an: Auf einen zur Gänze mit geknüpften wollenen Wasserpflanzen-Gobelins ausgeschlagenen Kinoraum (daher die Patschen!), in dem ein Video zur Bergung und Restaurierung des Objekts gezeigt wird, folgt eine Zone mit Olivenholzverkleidung. In diesem Bereich ist ein erstes Original-Exponat zu sehen: ein Mäusenest, das im linken Bein des kroatischen Apoxyomenos gefunden wurde, nebst den Essensvorräten der ansässigen antiken Mäusefamilie, die im anderen Bein gelagert waren. Museumspädagogen hätten sich diesen Umstand nicht besser ausdenken können.

An mehreren Stellen sind auch überraschende Schrägdurchblicke, quasi aus der Mäuseperspektive, nach oben zur Statue möglich, die schließlich in einem mit durchscheinendem weißem Stoff und hinterleuchtetem Glasboden ausgestatteten Raum präsentiert wird. Ganz nah kann man dem antiken Männermodel hier kommen, seine aus rotem Kupfer eingelegten feinen Lippen und Brustwarzen betrachten und die leeren Augenhöhlen, durch die die neue Stahlkonstruktion im Inneren des Kopfes sichtbar wird.

Einen letzten Blick auf den Star des Museums erlaubt am Ende des Parcours noch der ein Stockwerk höher liegende „Kaleidoskop-Raum“, der mehr denn je mit der Wahrnehmung der Besucher spielt: Prismatische Deckenspiegel rücken den Hafen über das Meer und dieses über den Himmel, bunte Lounge-Möbel fordern zum abschließenden Herumlungern und zu weiteren Reflexionen über das Oben und das Unten, Meer, Himmel und Land, über heute, gestern, morgen und ihre Beziehungen heraus.

Dazu gehört dann auch die touristische Realität der Urlaubsinsel Lošinj, die rund um den Apoxyomenos eine umfassende Merchandising-Maschinerie mit Apoxyomenos-Menüs, -Schmuck, -Naturkosmetik, -Honig, -Tee und sogar Apoxyomenos-Massagen anbietet. Das Streben nach High-Class-Touristik bringt es mit sich, dass alle Hotels, mit teils hinterfragbaren Um- und Zubauten, auf Vier- oder Fünfstern-Standard aufgerüstet werden. Schlechte Karten für die Anlagen der Nachkriegszeit wie das Hotel Helios, eine luftige, filigrane Pavillonanlage des Architekten Zdravko Bregovac aus dem Jahr 1960, versteckt im Kiefernwald, die, derzeit als Unterkunft für das Personal der umliegenden Häuser genutzt, bald abgerissen werden soll. Das ist wohl der Lauf der Geschichte.

28. April 2016 Spectrum

Auffallend unauffällig

Ein einfaches Haus wurde gewünscht, in einer geschlossen bebauten Häuserzeile am Stadtrand. Ein unspektakulär funktionierender Ort zum Leben und Arbeiten ist es geworden. Geplant von Jürgen Radatz in Wien.

Vielleicht ist die Ära der Stararchitekten ja gerade dabei, zu Ende zu gehen. Der österreichisch-schwedische Anti-Star Josef Frank hat jedenfalls im Zuge der derzeitigen Ausstellung im MAK hierzulande in letzter Zeit eine enorme Fangemeinde gewonnen. Seine unaufgeregte, unpathetische und antimonumentale und jedenfalls immer offene, flexible Herangehensweise trifft offenbar den Nerv einer Gegenwart, die Architektur wieder als prozesshafte Entwicklung der besten Lösung im Dialog von Planenden und Auftraggebern begreifen möchte – in Reaktion auf die gegebenenUmstände in Topografie, Bestand und praktischen Anforderungen und inklusive der Möglichkeit zu Umbau, Weiterbau und Nutzungsänderungen. So selbstverständlich diese pragmatische Definition von Architektur klingt, so sehr ist sie mit der Entscheidung für ein uneitles, aber alles andere als unambitioniertes Berufsbild verbunden. Und es sind eben diese Qualitäten, die Architekten wie Friedrich Kurrent, Johannes Spalt und Hermann Czech in der verknöcherten Atmosphäre der Nachkriegsjahrzehnte Österreichs wieder entdeckt, geschätzt und in ihrer eigenen gebauten Praxis umgesetzt haben.

Oder Anton Schweighofer. Bei ihm, an der Wiener TU, hat der in Vorarlberg geborene Architekt Jürgen Radatz studiert, dessen Wiener Büro einen solchen Ansatz vertritt. Seine kleinen Interventionen im Stadtraum, ruhig und sorgfältig gestaltete Geschäftsportale, die die historische Umgebung respektieren, ohne sich ihr anzubiedern, nimmt wahr, wer mit offenen Augen durch die Straßen geht, und sieht, wie Farben und Materialtexturen, Proportionen und Lichtführung ein schlüssiges Gesamtes ergeben.

So auch der Auftraggeber eines Hauses in Wien, der den Architekten kontaktierte, nachdem er eine solche Portalgestaltung in der Innenstadt gesehen hatte. „Haus eines geistigen Arbeiters“ hätte man so ein Projekt wohl in den 1920er-Jahren in der etwas pathetischen Sprache der Zeit genannt, „Wohnhaus in Wien“ hätte es bei Architekten wie Frank geheißen. Ein einfaches Haus sollte es sein, in einer geschlossen bebauten Häuserzeile am Stadtrand, für die Familie eines Kunsthistorikers, der nichts weniger als ein Kunstwerk mit Wohnfunktion wollte, sondern vielmehr einen unspektakulär funktionierenden Ort zum Leben und Arbeiten.

Das ist es geworden. Straßenseitig stand ein desolates ebenerdiges Wohnhaus, das nach Umbauten und Leerstand nicht erhaltenswert war. Im Hof des trapezförmigen Grundstücks fand sich die Bausubstanz einer ehemaligen Fabrikation für Nadeln zum Aufspießen von Insekten, nicht spektakulär, aber besser erhalten und prinzipiell adaptierbar. Der Abriss einer hofseitigen Garage ließ die Großzügigkeit der Parzelle sichtbar werden, die nach zwei Seiten mit Ziegelmauern zu den benachbarten Gärten abgegrenzt ist.

Entstanden ist ein Ensemble, das im Gegensatz zur häufigeren Vorgangsweise nicht das Alte an der öffentlichen Straßenseite bewahrt und im rückwärtigen Bereich zeitgenössisch auflöst, sondern die Situation umkehrt – ein Neubau wurde an der Straßenseite erstellt, während im Hof die alte Bausubstanz zum Teil belassen wurde. Durch den Abbruch des vorderen Gebäudes wurde die Neukonstruktion eines Wohntraktes möglich, der sich zur straßenseitigen Umgebung – ganz im Sinne der klassischen Moderne und dem Wunsch des Auftraggebers entsprechend – architektonisch eher distanziert verhält. Das heißt: Die Straßenfassade hat keine repräsentative Funktion, sondern ergibt sich aus der inneren Anlage des privaten Wohnhauses.

Dörflich wirkende Szenerie

Dabei ist sie in ihrer Reduktion harmonisch komponiert, mit einem breiten, durchgehenden Fensterband, das den dahinter liegenden Räumen Morgensonne gibt, über dem Tor der Doppelgarage, daneben zwei Nebenraumfenster und die schmale Haustür. Dahinter empfängt Eintretende ein sonniges Foyer mit Treppe ins Obergeschoß, das den geschützten Garten über eine große hofseitige Glastür ins Haus holt. Der Blick auf die fast dörflich wirkende Szenerie macht die Leichtigkeit und Transparenz deutlich, die die private Seite des Hauses kennzeichnen. Der neue Wohntrakt öffnet sich, von den Nachbargrundstücken uneinsehbar, zum Freibereich und nimmt in zeitgenössischer Form das Motiv der Pawlatsche auf: Verglaste Gänge erschließen die Räume im Erd- und Obergeschoß hofseitig und holen den Garten so permanent nach innen.

Den rechten Teil des u-förmigen Baus nimmt ein großzügiger Wohnbereich mit offener Küche ein, der zwei Glaswände zum Garten hat. Ihm vorgelagert ist ein gedeckter Sitzplatz, der durch die Terrasse vor dem Schlafzimmer im Obergeschoß entsteht. Hier war Schutz vor zu viel Südsonne gewollt, zugleich sollten aber die freien Blickbezüge zwischen Haus und Garten gewahrt bleiben. Daraus ergab sich für den Architekten als logische Konsequenz eine Abrundung der Terrasse. Dem Bauherrn, der mit Radatz' orthogonaler, reduzierter Architektursprache völlig einverstanden war, musste die vermeintlich verspielte Lösung erst vermittelt werden. Am Ende überzeugte sie ihn völlig.

Im gegenüberliegenden Trakt des lang gestreckten Ensembles, das an die regionaltypische Bauform eines Hakenhofes denken lässt, wurde der auf dem Grundstück vorgefundene kleine Fabrikstrakt belassen und zu Arbeitsräumen für das Bauherrenpaar gemacht. Aus den Gegebenheiten der Parzelle entstandene Unregelmäßigkeiten wurden aufgenommen und in das Konzept integriert, bis hin zur Wiederverwendung zweier vor Ort vorhandener alter Straßenlaternen und der Ziegel-Umfassungsmauer, die unverputzt blieb, wo die Garage weggerissen wurde, und bei sichtbar bleibender Mauerwerksstruktur hell gestrichen wurde, wo sie ohnehin nicht mehr roh war. Die Geschichte des Grundstücks und seiner Bebauung wurde so mitsamt zufälligen Gegebenheiten in das Konzept einbezogen und zum bereichernden Teil des Ganzen. „Ein Umbau ist interessanter als ein Neubau – weil im Grunde alles Umbau ist“, schrieb Hermann Czech einmal. Auch hier ist selbst der Neubau Umbau, indem er sich in Beziehung setzt zu dem, was schon da war, und zu dem, was davon geblieben ist.

Das alles ist im herkömmlichen Sinne nicht auffällig – außer durch seine Qualität. Es ist nicht spektakulär. Es hat nicht das Zeug zur Stararchitektur. Aber es gibt dem Leben der Bewohner einen guten Rahmen. Für das Grundstück und für das Straßenbild ist das – mit durchaus begrenzten finanziellen Mitteln realisierte – Einfamilienhaus ein Glück, vielleicht ein Luxus. Und für die Beteiligten ist dies die Tatsache, dass im Zuge der Zusammenarbeit von Auftraggeber und Architekt beim Hausbau beide auch Freunde geworden sind

20. Februar 2016 Spectrum

Nix wie rein ins Grätzl!

Wer will schon kühle, gesichtslose Zimmer in Hotelketten? Dann lieber auf in die Quartiere, die teilnehmen lassen am wahren Leben der Stadt. Über die Stadtlofts der Wiener „Grätzlhotels“ – und die „Wiener Gäste Zimmer“ in einer Favoritner Essigfabrik.

Es gibt eine Welt zwischen Fünf-Sterne-Plus, Backpacker-Hostel und Airbnb. Auch und gerade in Wien, wo steigende Tourismuszahlen ein Publikum mit neuen Bedürfnissen mit sich bringen. So viel Berlin war lange nicht. Flohmarktmöbel, Oma-Lampen und Glühfäden-Birnen vor rohen Ziegelwänden, Vollbärte, Nerd-Brillen und Duttfrisuren über kreativer Arbeit zwischen Laptop, Chai und veganem Dinkelkuchen allüberall. Die neue Prenzlberg-Gemütlichkeit ist im anspruchsvollen Mainstream angekommen und bereits Anlass satirischen Spotts.

Auch das Wiener Café „Zur Rezeption“ beim Karmelitermarkt spielt mit dem Repertoire des Anti-Stylings mit selbstironischer, preisgünstiger Second-Hand-Möblierung in entkernten Räumlichkeiten, wie man es zuletzt bei Magdas Hotel gesehen hat. Der Birnenkuchen ist großartig, Publikum und Personal im entspannten Bereich zwischen lokal und weltläufig und die Hipster-Dichte weit weniger hoch als in vergleichbaren Lokalitäten. Eben diese Nestwärme eines zwanglosen Insidertums mit individualistischem Gesicht ist die Intention der Hotellerie-Idee, deren Wiener Zentrale die „Rezeption“ ist.

Seinen österreichischen Anfang nahm das Konzept 2006 mit der Gründung des Kulturvereins „Pixel Hotel“ in der damaligen designierten europäischen Kulturhauptstadt Linz: Über die Stadt verteilte einzelne Zimmer mit dislozierter Infrastruktur ergänzten temporär die überforderte lokale Hotellerie und sprachen damit ein Publikum an, das am üblichen ubiquitären Hotelkettenstil mit gemustertem Spannteppich und undefinierbaren Stilmöbeln ebenso wenig Interesse hatte wie an überteuerten Designer-Boutiquehotels.

Wie beim Projekt Pixel Hotel waren auch beim Wiener Grätzlhotel engagierte junge Architekten entscheidende Initiatoren des Unternehmens. Das Konzept: Leer stehende Geschäftslokale werden zu einzelnen Hotelsuiten umgewandelt. Sie sind mit Spiegelglas und dicken Vorhängen verlässlich blickdicht zu machen und mit Schlafbereich, Küchenzeile, großem (Ess-)Tisch und Sitzecke zu temporären Kleinwohnungen umgebaut, die Gastlichkeit nicht nur vonseiten der Hoteliers gegenüber den Gästen, sondern auch für diese selbst vermitteln sollen – Gäste der Gäste sind während deren Aufenthalts im Grätzlhotel willkommen. Die Versorgung übernehmen benachbarte Lokalitäten – den Schlüssel holt man, je nach Hotelzimmer-Cluster, in einem Café um die Ecke, wo etwa auch gefrühstückt werden kann.

Die „Rezeption“ bildet die Ausnahme – sie ist als Café mit Rezeption tatsächlich Teil des Hotels. Der Plan ist, dass sich Grätzlbewohner hier mit den Grätzlhotelbewohnern mischen und denen so ein Gefühl des Privatgast-Seins mit allen zuschaltbaren Annehmlichkeiten eines regulären Hotelbetriebs gegeben werden soll. Übernachtungsgästen wird in diesem Sinne der Status von „Wienern auf Zeit“ zugesagt, die sich in den hippen Grätzlhotel-Grätzln dank Tipps der Beherberger wie Einheimische fühlen und bewegen sollen. Ein nicht zu unterschätzender positiver Effekt des Konzepts, für das sich eine Betreibergesellschaft aus Architekten, Unternehmensberatern, Marketing- und Hotelleriefachleuten gebildet hat, ist die intendierte Belebung verwaister Erdgeschoßzonen.

Die Ausstattung der zwischen 25 und 45 Quadratmeter großen „Stadtlofts“ für zwei bis vier Personen in den drei Grätzln Karmelitermarkt, Meidlinger Markt und Belvedere kommt von den auch als Betreiber involvierten Architekturbüros BWM und Kohlmayr Lutter Knapp. Dabei wird jeweils in irgendeiner Form Bezug auf die vorherige Nutzung genommen – etwa mit den in ihrer installativen Ballung als cool kontextualisierten uncoolen Lampen aus einem zugesperrten Lampengeschäft.

Ein alternatives Übernachtungskonzept fährt seit Kurzem auch die Favoritner Essig- und Bierbrauerei Gegenbauer. Der 1929 gegründete Familienbetrieb gelangte durch den Bau von Hauptbahnhof und Sonnwendviertel vom Randlagen-Niemandsland unverhofft in den Dunstkreis eines aufstrebenden Stadtquartiers. Anlass genug für Erwin Gegenbauer, zusätzlich zum erdgeschoßigen Verkaufsraum fünf Zimmer-Küche-Kabinett-Wohnungen im ersten Stock seines Elternhauses zu Gästezimmern zu machen. Abgeschält bis zur rohen Substanz mit Ziegeln, Dippelbaumdecken, Stahlträgern, Holzdielen und offen verlaufenden Leitungen, wird der raue Industrieschick der Zimmer aufgefangen durch raumgreifende Bett-Anlagen – so muss man das wohl nennen: Die aus Kanthölzern ohne Nägel konstruierten modularenSchlafmöbel sind allseitig um Infrastruktur-Zubauten erweitert, die die Funktionen von Schreibtisch, Kasten, Regal und Sitzecke aufnehmen.

Entwickelt wurde das Bettsystem vom Wiener Architekturbüro heri&salli (Heribert Wolfmayr und Josef Saller), dessen Aufgeschlossenheit dem freien Experimentieren mit strukturellen Konzepten gegenüber Prinzip ist. „Wir befinden uns auf einem zur Verfügung stehenden räumlichen Feld. Mögliche darin befindliche Einbauten und Funktionen sind eher temporäre Markierungen“, so die Architekten über die Gegenbauer'schen „Bed & Breakfast“-Zimmer. Der Ansatz traf sich mit dem des Bauherrn, dessen Hauptanliegen im bislang eher nicht durch hochqualitative Nachhaltigkeit aufgefallenenGrätzl hinter der Südbahn die Vermittlung erstklassiger Handwerksarbeit ist. Lowtech auf höchstem Handwerksniveau liefern in den Zimmern auch heimische Bett- und Badtextilien und von der Braumeisterin handgesottene Seife.

Ganz billig sind die Zimmer freilich nicht, ebenso wenig übrigens wie die des Grätzlhotels. Dafür kann man sich bei Gegenbauers am großen Holztisch der „Kuchl“ selbst ein Frühstück mit Kräutern und Eiern aus dem Terrassengarten im Hof des Hauses, hausgeröstetem Kaffee, Brot aus Eigenproduktion und Honig von den Bienen der Balsamico-Terrasse fabrizieren. Für noch mehr Hedonismus sorgt ein Schwimmbad mit Sauna im zweiten Stock.

31. Januar 2016 dérive

Mitteleuropa, dalmatinisch

Nikola Dobrovic´ zählt noch immer zu den großen Unterschätzten der Moderne. Selbst wem er kein Begriff ist, dem mögen Dobrovic´s dalmatinische Bauten vor Ort auffallen als irritierend innerhalb der Tourismus- und Villeggiaturenarchitektur der östlichen Adria, eigenwillig, sperrig, sichtbar unter dem Einfluss Le Corbusiers entstanden, dabei fast unsichtbar hinter üppiger Vegetation, die schmale Sichtfenster freigibt auf rauhe Betonmauern, Flachdächer, offene Loggien. Eigenwillige Symmetrien, seltsame Schrägen, Punktmuster aus in die Wand eingelassenen Glas-bausteinen, in späteren Jahren Wände aus bossierten Steinwürfeln, die Fugen mit Kieseln ausgekittet. Dick, schwer, massiv, trotz teils weißer Putzflächen dunkel, schrullig, ja verschroben ist das alles und hat nichts von der südlichen Leichtigkeit anderer Moderner.

Eines von Dobrovics Markenzeichen waren dabei aus den Attiken und Betonbrüstungen ausgeschnittene Jahreszahlen, Namen der Villen, Hotels und Garten-Follies, auch sein eigener: Das 1936 entstandene Grand Hotel auf der kleinen Insel Lopud vor Dubrovnik signierte der Architekt auf der Terrasse über dem Garteneingang mit seinem Namen samt Beruf in 30 cm hohen ausgesparten Buchstaben.

Dennoch war Dobrovic´ keineswegs ein Blender und Angeber, sondern ein reflektierter Homme à lettres, Mitteleuropäer par excellence: geboren im südungarischen Pécs, wo sein Bruder, der expressionistische Maler Petar Dobrovic´, 1921 Präsident der kurzlebigen ungarisch-serbischen Räterepublik Baranya-Baja wurde. Ausgebildet in Budapest und Prag, wo u. a. ein elegantes städtisches Wohn- und Geschäftshaus am Wenzelsplatz entstand. Seit den frühen 1930er Jahren ansässig in Dubrovnik, das sein Lebensthema in Theorie und Praxis wurde, auch wenn er zehn Jahre später nach Belgrad zog, wo er eine Professur bekleidete. Das von ihm entworfene Belgrader Generalstab-Gebäude steht dort nach den NATO-Bombardements bis heute als Ruine und Mahnmal im Zentrum der Stadt. In Montenegro schließlich entstanden in den frühen 1960er Jahren mit einem Kindersanato-rium in Igalo sowie Postamt, Rathaus und Wohnbauten in Herceg Novi wichtige Spätwerke Dobrovic´s.

Der Dubrovniker Zeit Dobrovic´s widmet sich nun eine neue Publikation mit Texten des Zagreber Architekten und Architekturhistorikers Krunoslav Ivanic´ in und der Belgrader Architekturprofessorin und Mo-derne-Fachfrau Ljiljana Blagojevic´ sowie Fotografien des Wieners Wolfgang Thaler. Sie werden ergänzt durch Pläne und historische Aufnahmen der Häuser in Bau und in Benutzung, inklusive Fotos aus den Privatarchiven der Auftraggeberfamilien.

Wolfgang Thalers Fotostrecken dokumentieren die Bauten in ihrem heutigen – teils, wie beim ikonischen Grand Hotel in Lopud, ruinösen – Zustand. Sie führen Betrachter und Betrachterinnen dabei auch auf die Terrassen und ins Innere der Bauten, die von öffentlichen Bereichen oft selbst äußerlich nur sehr schwer einsehbar und, mit Ausnahme des heute als Hostel geführten, innen komplett veränderten studentischen Ferienheims in Dubrovnik, schon gar nicht zugänglich sind. Eher dunkel und massiv geben sich die Häuser auch im Inneren, Glasbausteine, geschlossene Stiegenbrüstungen und die Holzoberflächen von Einbauschrankwänden prägen die Räume, die die Verschattung im warmen Klima Süddalmatiens wohl auch kühl hält.

Ivanic´ ins und Blagojevic´s ebenso kompetente wie spannende Texte beleuchten kompetent die Hintergründe von Dobrovic´s Schaffen, von biografischen und zeithistorischen Zusammenhängen über die Auftraggeberschaft des Architekten, die zu einem großen Teil aus Medi-zinern, oft aus Prag oder Wien, bestand, bis zum ikonologischen Zusammenhang der mythologischen Namen, die Dobrovic´ seinen Bauten gab. Den Abschluss des durchgehend englischsprachigen Bandes bilden übersetzte Texte Dobrovic´s, in denen er sich mit der baulichen und urbanistischen Tradition von Dubrovnik und seinen Raum- und Platzbildungen auseinandersetzt.

Schade ist lediglich, dass sich das Buch über einen Architekten, den heute sowohl Serbien als auch Kroatien als Teil ihrer jeweiligen nationalen Architekturgeschichte sehen, nur mit Dobrovic´s Zeit in Dubrovnik befasst – eine umfassende Dobrovic´-Monografie ist somit nach wie vor ein Desiderat. Eine Empfehlung als Weihnachts- oder sonstiges Geschenk für Freunde und Freundinnen des Mediterranen jenseits der touristischen Oberfläche sowie der Mo-derne jenseits ihrer gewohnten Hagiografie wird hiermit jedenfalls ausgesprochen.


Krunoslav Ivanicin, Wolfgang Thaler,
Ljiljana Blagojevic´
Dobrovicin Dubrovnik.
A Venture in Modern Architecture
Berlin: Jovis, 2015
176 S., englisch, 38 Euro

7. November 2015 Spectrum

Lust auf Luft

1934 emigrierte Josef Frank nach Schweden, wo er zeitlebens für ein Einrichtungshaus tätig war. Heute gilt er als „Hausheiliger der schwedischen Formgebung“. In Wien gibt es ab Ende November Frank-Stücke zu bewundern und zu erwerben.

Es wäre wohl zynisch zu sagen, dass der Architekt Josef Frank nun posthum nach Wien heimkehrt. Zu tief war seine Frustration. Den „Anschluss“ wartete Frank nicht ab, als er, Sozialdemokrat und jüdischer Herkunft, nach den Februarkämpfen des Jahres 1934 das Land mit seiner schwedischen Frau Anna Sebenius Richtung Stockholm verließ. Hinter sich ließ er auch die jahrelangen Querelen im Österreichischen Werkbund, die nach dem von Meinungsverschiedenheiten grundlegender Art begleiteten Bau der Wiener Werkbundsiedlung zur endgültigen Spaltung der Vereinigung geführt hatten, deren Gründungsmitglied Frank 1912 gewesen war.

Wie viele Architekten der Wiener Moderne konnte Frank auf ein Netzwerk von Freunden, Verwandten und ganzen Clans bauen, die ihn, wie etwa die Blitz und die Beers, in mehreren Generationen immer wieder beauftragten. Den mit ihm verwandten Fabrikanten und Philanthropen Hugo und Olga Bunzl baute er nahe deren Papierfabrik im niederösterreichischen Pernitz Arbeitersiedlungen, einen Kindergarten und ein Sommerhaus, dessen Einrichtung sich von denen der Arbeiterhäuser nicht prinzipiell unterschied. Franks leichte und wie improvisiert wirkenden Möblierungen waren für das Wiener Bürgertum der Ersten Republik die coolere Variante zu den weltentrückten Gesamtkunstwerken der Wiener Werkstätte: Während man dort, wie Spötter meinten, ständig darauf achten musste, nicht die Sessel aus ihrer Achse zu verrücken oder das Ensemble durch falsche Kleidung zu stören, lieferte Franks Einrichtungsunternehmen „Haus und Garten“ den mehr intellektuell als gediegen wirkenden Hintergrund zu einem entspannten Dasein, dessen leicht Boheme-hafter Touch auch einem Bankiers- oder Unternehmerhaushalt gut anstehen mochte.

Wem die Wiener Werkstätte zu ästhetizistisch und Adolf Loos' Stein- und Holzvertäfelungen zu dunkel waren, der fand Alternativen bei Frank und seinem Umkreis. Der „Haus und Garten“-Showroom in der Bösendorfer Straße, an der damaligen Endstation der Badner Bahn, machte der Zielgruppe Lust auf die luftigen, hellen Interieurs. Franks Einrichtungskonzept erlaubte es auch, einzelne Stücke mit alten, schon vorhandenen zu kombinieren. Die Möbel sollten dezidiert nicht „zueinander passen“, sondern in den in neutralem Weiß gestrichenen Räumen einladende, zwanglose „Wohninseln“ bilden. Ein gewisses Chaos war dabei durchaus Konzept: „Im modernen Raum herrscht Unordnung“, war Frank überzeugt und kann damit noch heute all jenen ein Quell der Freude und Erleichterung sein, die an der Aufrechterhaltung minimalistischer Aufgeräumtheit in ihren vier Wänden konsequent scheitern.

Franks unorthodoxes Verständnis von Moderne führte ihn früh zu Konflikten sowohl mit den Kollegen Josef Hoffmann und Clemens Holzmeister als auch mit dem Bauhaus und dem Deutschen Werkbund. Was zu seiner Emigration nach Schweden mit beigetragen haben dürfte – neben der Tatsache, dass er das Glück hatte, in der Gründerin des Stockholmer Einrichtungshauses „Svenskt Tenn“, Estrid Ericson, im Jahr 1934 eine lebenslange Förderin und Arbeitgeberin zu finden.

Bis 1938 behielt Frank seine Wiener Wohnung in der Wiedner Hauptstraße, kehrte immer wieder zurück und betreute Wiener Projekte. Bereits 1941 jedoch war nicht nur Österreich, sondern auch Schweden kein sicherer Hafen mehr – Frank zog vorübergehend nach New York, wo er an der New School for Social Research unterrichtete. Eine Rückkehr nach Wien war keine Option – nicht zuletzt, weil niemand ihn auf Dauer zurückholte. Einen Vortrag im Ottakringer Volksheim hielt Frank immerhin 1948 auf Einladung des damaligen KPÖ-Kulturstadtrats Viktor Matejka. Ironische Bemerkungen über jene auf Ehrenplätzen in der ersten Reihe sitzenden Kollegen, deren Hetze wegen er Wien einst verlassen hatte, verkniff er sich dabei nicht. Clemens Holzmeister, einer der Angegriffenen, besaß im Jahr 1965 dennoch die Größe, die auf Initiative der Architekten Friedrich Kurrent und Johannes Spalt zustande gekommene Verleihung des Österreichischen Staatspreises an Frank zu unterstützen. Zur feierlichen Übergabe schickte der damals 80-jährige Frank seine Nichte. Seine Wiederentdeckung durch die jungen Kollegen Kurrent, Spalt, Friedrich Achleitner, Hermann Czech und Otto Kapfinger dürfte ihn dennoch gefreut haben.

Svenskt Tenn wurde Mitte der 1970er-Jahre von seiner Gründerin an eine Stiftung verkauft, die das Unternehmen heute noch besitzt. Jüngst hat die Stiftung mit dem Haus Claeson im südschwedischen Falsterbo Franks schwedisches Hauptwerk erworben, um es zu restaurieren. Franks Möbel- und Stoffentwürfe machen nach wie vor den bei Weitem größten Teil des Umsatzes von Svenskt Tenn aus. Ihre ungebrochene Beliebtheit beruht auch auf dem bewusst eingesetzten Tante-Jolesch-Prinzip der Verknappung: Man muss schon in das Svenskt-Tenn-Stammhaus an der noblen Stockholmer Adresse Strandvägen 5 fahren, um die handwerklich anspruchsvoll verarbeiteten Stücke in Augenschein zu nehmen. Svenskt Tenn betreibt keine Filialen. Heuer macht man aber eine Ausnahme: von 25. November bis Mitte Februar 2016 werden in einem Pop-up-Store in der Wiener Operngasse 8 Möbel, Einrichtungsgegenstände und jene rund 45 in Schweden gewebten und in Frankreich und England im Siebdruckverfahren bedruckten, meist bunt floral gemusterten Frank-Stoffe zu erwerben sein, die derzeit in Produktion sind. Bei einem Bestand von rund 120 Entwürfen kann man es sich dabei leisten, das Repertoire ab und an zu modifizieren.

Trotz des extrem hohen Preislevels der Produkte sieht sich Svenskt Tenn nicht als Luxusmarke. Nicht Lifestyle will man vermitteln, sondern einen „Way of Living“. Den einst aus Wien vertriebenen Way of Living von Josef Frank, der in Schweden heute als ein Hausheiliger der schwedischen Formgebung gilt, kann man im Übrigen demnächst nicht nur in der Operngasse inhalieren: Ab 15. Dezember zeigt das MAK am Stubenring eine von Hermann Czech und Sebastian Hackenschmdt kuratierte Frank-Ausstellung mit dem treffenden Titel „Against Design“. Da wird sich wohl das eine oder andere Frank-Stück auf den Weihnachts-Wunschzetteln finden.

10. Oktober 2015 Spectrum

Ein Brünner in Pilsen

In den 1920er- und 1930er-Jahren gab es in Pilsen nur ein Must-have: Wohnungseinrichtungen oder Hausumbauten von Adolf Loos. Während des Kulturhauptstadtjahres sind die zahlreichen Loos-Wohnungen öffentlich zugänglich.

Man könnte sich, wollte man böse sein, an englische Gesellschaftssatiren der 1920er- und 1930er-Jahre, etwa von E. F. Benson, erinnert fühlen. Wie in Bensons fiktivem Städtchen Tilling, so musste auch in Pilsen, so könnte man meinen, jeder Haushalt, der auf sich hielt, unbedingt das ebenfalls haben, was die tonangebenden Familien als das neue Must-have-Ding betrachteten. In der westböhmischen Industriestadt waren das in jener Zeit Wohnungseinrichtungen, noch besser: Hausumbauten von Adolf Loos.

Loos' Verbindungen zu Pilsen waren schon früh vorhanden, und sie waren stark. Der gebürtige Brünner und tschechoslowakische Staatsbürger hatte unter den jüdischen Unternehmerdynastien der Stadt seine ersten Auftraggeber – zunächst bei jenen Familienmitgliedern, die nach Wien gezogen waren, später auch bei den Holz-, Drahtgitter-, Farb-, Leder-, Schuhcreme-, Wursthäute- und Baustoffhändlern in Pilsen selbst. Es waren kultivierte Familien mit Anspruch. Abends traf man sich im „Autoklub“ im Hotel Smitka, dem heutigen Hotel Slovan. Auch Loos hatte Entwürfe für die Neueinrichtung der Klubräume gemacht, die schließlich, von Loos beeinflusst, das ortsansässige Büro Fischer & Deutsch gestaltete.

Zu Hause setzte sich das warme anglophile Ambiente entspannten, lässigen Komforts fort, mit holzvertäfelten Wänden, kassettierten Decken, marmornen Türrahmen. Den Semlers baute Loos ein ganzes „Raumplan“-Haus mit höhenversetzten Ebenen und raffinierten Schrägdurchblicken in einen Altbau ein. Auch vor dem Einsatz hohler Pfeilerstellungen und nicht funktionierender Scheinkamine schreckte Loos nicht zurück, wenn es dem harmonischen Raumeindruck diente.
Die Familien Kraus, Hirsch, Beck, Friedler, Teichner, Liebstein, Eisner, Vogl, Kapsa, Müller, Semler und Brummel – fast alle jüdischer Herkunft und irgendwie miteinander verwandt, verschwägert, befreundet oder Geschäftspartner – liebten ihren eigensinnigen Architekten und beauftragten ihn teils in mehreren Familienzweigen und Generationen immer wieder, überwiesen ihm das Honorar doppelt und übernahmen seine Arztrechnungen, wenn sie von seinen Geldschwierigkeiten erfuhren.

Das Verhältnis zur Familie Beck, die zu Loos' größten Fans und Förderern zählte, wurde freilich getrübt, als sich die als Fotografin ausgebildete Tochter Claire in den um Jahrzehnte älteren Architekten verliebte und ihn auch noch durchaus heiraten wollte. Der mit Loos fast gleichaltrige Brautvater Otto Beck blieb der Hochzeit demonstrativ fern, seine Frau Olga hingegen scheint, darf man dem Hochzeitsfoto glauben, ebenso viel Spaß an der Zeremonie gehabt zu haben wie das Brautpaar, Loos' treue Haushälterin Mitzi Schnabl, sein Pilsener Mitarbeiter Norbert Krieger und sein aus Mähren stammender Büroleiter Heinrich Kulka, der neben Olga Beck den Trauzeugen machte. Der ebenso intelligente wie patente und umgängliche Kulka und seine an der Wiener Kunstgewerbeschule ausgebildete Frau Hilde waren Mittler zwischen dem in praktischen Dingen – wie etwa Finanzen – eher weltfremden Loos und seiner Umwelt.

Heinrich Kulka managte das Büro in den Jahren von Loos' Krankheit, Hilde Kulka besorgte die Verwaltung und machte sich nicht zuletzt auch darum verdient, Loos' zahlreiche Pläne und Skizzen, die er in seinen letzten Jahren wegwerfen wollte, zu sammeln und so der Nachwelt zu erhalten. Loos' dritter Ehe war wie seinen beiden vorherigen keine Dauer beschieden. Claire Beck trennte sich nach wenigen Jahren von ihm. Trotzdem pries sie in ihren Erinnerungen den Genius Loos ebenso nachdrücklich wie Kulka, der nach Loos' Tod 1933 die Pilsener Auftraggeberfamilien architektonisch weiterbetreute, bis er nach 1938 ebenso wie beinahe alle Bauherren zur Emigration gezwungen war.

1945 wurde Pilsen von US-amerikanischen Truppen unter General George S. Patton Jr. befreit – was nach dem sozialistischen Umsturz von 1948 allerdings nicht mehr erwähnt werden durfte. Für die großteils nach 1938 „arisierten“ Pilsener Loos-Wohnungen bedeutete die Etablierung der ?SSR die Verstaatlichung. Ihre soliden, nach Loos' Credo keinen kurzlebigen Moden unterworfenen, aber mit besten Materialien handwerklich sorgfältigst durchgeführten Ausstattungen blieben, abgesehen vom beweglichen Mobiliar, größtenteils erhalten – trotz neuer Nutzungen als Kindergärten, Zahnambulatorien und Studentenheime.

Die Geschichte der Tätigkeit Loos' und seiner Auftraggeber in Böhmen und Mähren ist in den letzten Jahren von tschechischer Seite detailliert aufgearbeitet und in einer Ausstellung unter anderem in Prag, Brünn und Pilsen präsentiert worden. Nicht zuletzt seinem einzigartigen Bestand an Loos-Wohnungen verdankt Pilsen in diesem Jahr den Status der europäischen Kulturhauptstadt. Die aus dem Kulturhauptstadt-Budget finanzierte Restaurierung der Wohnungen war einer der Bausteine des Programms. Im Rahmen von Rundgängen, ganz ähnlich den „Wohnungswanderungen“, die Loos in den Zwischenkriegsjahren in Wien veranstaltete, werden die Wohnungen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.
Ein Glücksfall ist es dabei, dass das Haus der seinerzeit eng mit den Becks befreundeten Holzgroßhändlerfamilie Brummel restituiert wurde. Seit 1989 ist es wieder im Besitz der heute über mehrere Erdteile verstreuten Familie, die ihr sorgfältig restauriertes Haus immer wieder im Rahmen von Veranstaltungen öffnet.

Ein Foto der Festgesellschaft bei Loos' 60. Geburtstag, den er 1930 im „Společenské Klub“ in Prag feierte, zeigt den augenscheinlich recht zufriedenen Architekten in der Mitte eines Sofas, umgeben von Freunden und Auftraggebern, zu Füßen des Meisters vor ihm auf dem Parkettboden sitzend seine treuen tschechischen Mitarbeiter Norbert Krieger, Heinrich Kulka und Kurt Unger. Wie sich der Schweizer Architekt Alfred Roth erinnerte, arbeitete Loos selbst, nicht ohne Selbstironie, an seiner Rolle. Nach besonders geistvollen Aperçus, so Roth, habe sich Loos gern an den ihn begleitenden Kulka mit der Aufforderung gewandt: „Kulka, schreiben Sie bitte unverzüglich auf, was Adolf Loos soeben gesagt hat, auf dass die Menschheit sich dessen noch in 500 Jahren erinnere!“ Keine Sorge – so schnell gerät Loos nicht in Vergessenheit.

27. Juni 2015 Spectrum

Die Moderne von Malinska

Historische Hotelanlagen kann man auf Krk und anderen kroatischen Ferieninseln entdecken. Eine Ausstellung im Wiener Ringturm bietet bis 23.Oktober einen Überblick über das reiche architektonische Erbe Kroatiens von der Antike bis zu zeitgenössischen Bauten.

Lachende junge Mädchen mit Badehauben schwimmen im Meer oder winken von der Dachterrasse in die Kamera. Die Insel Krk war schon in den 1930er-Jahren ein beliebtes Sommerziel. Die schwarzweiße Mehrbildansichtskarte, die aus der Sommerfrische nach Hause geschrieben wurde, ging in die Tschechoslowakei. Sie zeigt Szenen aus dem im Jahr 1931 im schönsten weißen Funktionalismus gebauten tschechischen Kinderferienheim im Inselort Malinska. In der Ersten Republik zählten Tschechen zu den wichtigsten Adria-Touristen. Das Land stand wirtschaftlich gut da, das Bürgertum war unternehmungslustig und neugierig – und auch architektonisch anspruchsvoll. Daher finden sich, ganz besonders in Malinska, zahlreiche weiß verputzte Würfel und Quader, die bei Einheimischen und Lokalhistorikern als „tschechische Häuser“ gelten. Als Wiener fühlt man sich heute an Adolf Loos und seine Schüler erinnert, an die Werkbundsiedlung und Josef Frank.

Schon zu Zeiten der Monarchie engagierten sich nicht nur Österreicher, sondern auch Ungarn und Tschechen an der östlichen Adria. Sie kamen nicht nur als Touristen, sondern auch als Investoren, die Architekten und Gäste mitbrachten. Während besonders Baška am Südende von Krk – mit Hotels namens Zvonimir, Praha und Dalibor – als Meereszugang der Tschechen galt, war die Insel Rab (Arbe) fest in österreichischer Hand.

Crikvenica hingegen, auf der Höhe von Krk auf dem Festland gelegen und damit noch im Einzugsbereich der Südbahn, galt als ungarischer Badeort. Der Architekt Kálmán Rimanóczy entwarf 1906 das Hotel Miramare, heute die traurige Ruine eines eleganten Jugendstilbaus, der seiner Revitalisierung harrt. Bereits 1895 eröffnete Dr. Heinrich Ebers' Wasserheilanstalt, späterHotel Erzherzog Joseph, dann Palace Hotel Therapia, ab 1946 Hotel Moskva, nach der Lösung Tito-Jugoslawiens von Stalin Hotel Terapia, seit 2014 als Kvarner Palace einprunkvolles Grand Hotel, das an seine historischen Namen in Form eines Fußbodenmosaiks in der Lobby erinnert. Die 1930er-Jahre brachten dem malerischen Seebad zahlreiche funktionalistische Sommerhäuser mit Terrassen und Flachdächern, darunter ein Haus des kroatischen Adolf-Loos-Schülers Zlatko Neumann.

Auch die Insel Lošinj (Lussin) zehrt noch heute von ihrer kaiserlich- und königlichen Vergangenheit. In der idyllischen Čikat-Bucht (Cigale) bauten Wiener Architekten wie Rudolf Goebel und Alfred Keller rund um Kaiserin Elisabeths Villa Carolina ihr Insel-Abbazia aus Sommerhäusern und Pensionen mit Türmchen, Balkonen, Erkern und Namen wie Osternig-Wienerheim, Mirasole, Fritzi, Hygiea, Favorita, Cyclamina, Flora, Steinhäusl, Ilona und Alhambra. In Veli Lošinj (Lussingrande) wurden die Kuranstalt Maria Amalia für Wiener Mädchen und das Seehospiz der Stadt Wien errichtet, und auchin Mali Lošinj (Lussinpiccolo) hießen die Hotels Marienbad und Vindobona.

Nach dem Ersten Weltkrieg wurde Lošinj als damals italienisches Bad von der Fremdenverkehrswirtschaft vernachlässigt, während Krk einen touristischen Aufschwung erlebte. In Malinska entstanden die weißen Flachdach-Quader der Hotels Slavija, Strnad und Malin. Der auf Krk geborene Architekt Kazimir Ostrogović brachte mit dem Haus Einwalter die Moderne Le Corbusiers nach Malinska. Ostrogovićs Sommerhaus Koch, das heute als Ferienhaus zu mieten ist, entpuppte sich als Arbeitsplatz eines deutschen Spions, als der Bauherr 1942 seine Wehrmachtsuniform anlegte – er hatte von seinem Haus aus Lichtsignale in das italienische Rijeka (Fiume) gesendet.

Die Moderne von Malinska wurde nach Kriegsende neu codiert. Die „tschechischen Häuser“ wurden unter Tito zu Ferienheimen staatlicher Betriebe umfunktioniert, auch die tschechische Kinderferienkolonie nutzte nun jugoslawischer Arbeiternachwuchs. An die 1936 neben dem Kinderheim gebaute Pension Haludovo dockte Anfang der 1970er-Jahre ein gigantisches Ferienresort an – das heute als berühmteste Hotelruine Ex-Jugoslawiens gilt. Der weiträumige Komplex nach Entwürfen des Architekten Boris Magaš eröffnete 1972. Er umfasste Hotels, Ferienwohnungen und Atriumhäuser verschiedener Kategorien, dazu Infrastruktur mit diversen Restaurants, Cafés, Grills, Diskotheken, mit Frei- und Hallenbad und einem Casino. Internationale, vor allem amerikanische, Klientel sollte die Involvierung des „Penthouse“-Gründers Bob Guccione bringen.

Der Jugoslawien-Krieg, der den Tourismus an der östlichen Adria zum Erliegen brachte, bedeutete das Ende der Glamour-Phase von Malinska. Nach Krieg und Flüchtlingsbelegung blieb vielen der Hotels nur der Leerstand. Zu hohe Investitionen wären nötig gewesen, um die Infrastruktur der kleinen, schlicht bis karg ausgestatteten Hotelzimmer, meist ohne Bad, aufzuwerten – die Hotelgäste würden ohnehin jeden Tag im Meer baden und brauchten daher keine eigenen Badezimmer, war noch Kazimir Ostrogović überzeugt. Nach dem Ende auch der sozialistischen Betriebsferienheime ist Haludovo heute nur die bekannteste der zahlreichen Ruinen, die den Strand von Malinska säumen. Auch das tschechische Kinderheim verfällt mehr und mehr – ob es noch einen Retter findet, scheint fraglich.

Neue Hotelarchitektur in Kroatien orientiert sich, dem freien Markt ohne staatliches Regulativ ausgeliefert, allzu oft an den simplen Anforderungen architektonisch anspruchsloser Investoren, die die subtilen Landschaftsbezüge und raumplanerischen Qualitäten ihrer Vorgänger vermissen lassen. Dennoch entsteht, oft an touristisch weniger prominenten Standorten, qualitätvolle Architektur. Auf Krk ist dies vor allem dem aus der Gegend stammenden Architekten Idis Turato zu verdanken. Unter anderem sind im gleichnamigen Hauptort der Insel nach den Entwürfen von Turato und seinem Büropartner Saša Randić seit 2002 ein Kindergarten sowie die Mittelschule des Ortes entstanden, zu der jüngst eine neue Sporthalle gekommen ist – ein Highlight zeitgenössischer Architektur am Rande der von einer Stadtmauer umgebenen historischen Altstadt und in vorbildlicher, Hoffnung machender Harmonie mit ihr.

Einen sehenswerten Überblick über die jahrtausendealte Baukultur von Krk und anderen kroatischen Inseln bietet noch bis 23.Oktober eine Ausstellung im Ringturm. Krk ist hier nur eines von zahlreichen Beispielen für einen Landstrich, der mehr zu bieten hat als Strand und Meer

2. Mai 2015 Spectrum

Petržalka ist überall

1966. Die Stadt Bratislava schreibt einen Wettbewerb für ihr neues Viertel Petržalka aus. Sieger gibt es keine, aber fünf der 84 Teilnehmer werden mit dritten Preisen ausgezeichnet. Letztlich beauftragt freilich wird jemand ganz anderer. Über Wiener Lösungen – dies- und jenseits des Eisernen Vorhangs.

Der Kurs stand auf West, damals, im Wien des Jahres 1954. Da entwarfen Roland Rainer und Carl Auböck, der gerade von einem Studienaufenthalt in Boston nachWien zurückgekommen war, gemeinsam eine ambitionierte Modellhaussiedlung. Das Projekt war von der US-Wirtschaftskommission initiiert worden, das im Rahmen des Marshall-Plans fünf Jahre zuvor gegründete Österreichische Produktivitäts-Zentrum finanzierte es. Nicht zufällig lag der vorgesehene Bauplatz in Lainz an der Veitingergasse, direkt gegenüber der Wiener Werkbundsiedlung, an deren Innovationspotenzial man anknüpfen wollte.

Rainer und Auböck konzipierten eine Gruppe von 15 Sperrholz-Fertigteil-Bungalows mit Gärten, gepflasterten Sitzplätzen, fußläufigen Erschließungswegen und einer kleinen Piazza mit Wasserbecken. Die erdgeschoßigen Bungalows mit flachen Satteldächern konnten in achteinhalb Stunden aufgestellt werden. „Amerikanische“ offene Grundrisse, Warmluftheizung und Klimaanlagen sollten modernes Leben vermitteln; demgemäß wurden die Häuser mit dem Slogan „Designed for modern living“ beworben. Aus einem komplexen Katalog von Grundrissmodulen, Oberflächen, Materialien und zahlreichen Extras bis hin zu verschiedenen Obstbäumen für die Gartenbepflanzung sollten sich Käufer ihr Anwesen individuell zusammenstellen können.

Dem Projekt war wenig Glück beschieden: Die Prototypen wurden von Medien und Volksmund als „Baracken“ geschmäht und gingen letztlich nie in Produktion. Heute ist die in das üppige Grün ihrer Gärten geschmiegte Siedlung auch Fachleuten kaum ein Begriff. Wer die gerade restaurierte Werkbundsiedlung besucht, nimmt meist nicht wahr, dass auch ein Blick auf die andere Straßenseite lohnt. Das Beton-Flugdach der Autoabstellplätze an der Veitingergasse rottet vor sich hin, das Wasserbecken ist lange trockengelegt. In die Häuser aber sind die Kinder der Erstbesitzer eingezogen, teils auch Architekten, die die hohe Wohnqualitätder Häuser mit ihren geschützten Gartenhöfen, offenen Wohnbereichen und großflächigen Fensterwänden – und wohl auch die im Vergleich zur großen Schwester von gegenüber geringe Anzahl neugieriger Architekturtouristen – zu schätzen wissen.

Einen weit größeren Maßstab hatte ein anderes Projekt, das Roland Rainer zwölf Jahre später erarbeitete: 1966 hatte die Stadt Bratislava einen internationalen Wettbewerb für den urbanistischen Leitplan ihres neuen Stadtviertels Petržalka ausgeschrieben. Es war die Zeit des sich ankündigenden Prager Frühlings, mit Alexander Dubček als damaligem Erstem Sekretär des ZK der Kommunistischen Partei der Slowakei. Der neue Stadtteil südlich der Donau, auf dem einst von Kleingärten geprägten Gebiet der Gemarkung Engerau oder Pozsonyligetfalu, die seit der Unabhängigkeit der Tschechoslowakei den Kunstnamen Petržalka – etwa: Petersilistan – trug, sollte für 100.000 Bewohner konzipiert werden. Unter den 84 Wettbewerbseinreichungen wurden erste und zweite Plätze nicht vergeben – die Jury war zu dem Schluss gekommen, „dass keiner der Entwürfe den Qualitätsstandards und den Anforderungen der Wettbewerbsausschreibung gerecht wurde“. Fünf dritte Preise gingen ex aequo an Teams aus Bratislava, Olmütz, Tokio, Los Angeles sowie an das Trio Roland Rainer, Albin Arzberger und Herbert Karrer aus Wien. Ihr Entwurf strukturierte die riesigen Baumassen in ringförmigen Clustern mit südseitig abgetreppten Gebäudehöhen. Es erinnert an Wiener Lösungen, wie die Geschichte ausging: Schließlich wurde keines der Teams auch nur zu einer weiteren Ausarbeitung eingeladen. Stattdessen beauftragte man zwei Architekten des ortsansässigen Entwurfsbüros Stavoprojekt mit der Ausarbeitung eines neuen Bebauungsplanes. Als Petržalka realisiert wurde, war der Prager Frühling bereits der bleiernen „Normalisierung“ gewichen, Dubček kaltgestellt, architektonische Ambition durch Plattenbau ersetzt.

Diese und andere mitteleuropäische Architekturprojekte diesseits, jenseits und über den Eisernen Vorhang und andere Staatsgrenzen hinweg, überraschend fruchtbare, unbekannte, gut gemeinte und gescheiterte, präsentieren in Wien derzeit Ausstellung und Katalog des internationalen Projektes „Lifting the Curtain“, das erstmals im vergangenen Jahr auf der Architekturbiennale in Venedig zu sehen war. 36 beispielhafte Case Studies kommen aus Polen, Ungarn, Tschechien, der Slowakei, Österreich und Ex-Jugoslawien.

Das Forschungsprojekt zu Architekturnetzwerken in Mitteleuropa, zu dem die Ausstellung gehört, ist noch im Gange. Weitere Studien sind in Arbeit – so ein heute vergessenes Wiener Großprojekt, das parallel mit Petržalka lief: Im selben Jahr, 1966, plante man ein riesiges Stadterweiterungsgebiet mit dem Arbeitstitel „Wien-Süd“, für damalige Begriffe verkehrsgünstig gelegen an der Südautobahn zwischen Vösendorf und Inzersdorf (die heute in der Tat hauptsächlich als „Knoten“ eben dieser Autobahn ein Begriff sind), und zudem in unmittelbarer Nähe einer großen Fertigteilbaufirma. Ziel war die „Schaffung eines funktionell ausgewogenen und weitgehend ,selbstständigen‘ Stadtteiles für 75.000 Menschen mit Wohnungen, circa 25.000 Arbeitsplätzen und allen nötigen Folgeeinrichtungen“.

Von der Absichtserklärung dauerte es bis 1970, bis ein Wettbewerb für die 942 Hektar große Satellitenstadt ausgeschrieben wurde. „Die Jury tagt“, berichtete die Wiener Rathauskorrespondenz vom 1. Juni 1971. In einer Halle auf dem Wiener Messegelände wählten internationale Fachleute aus den 219 eingegangenen Entwürfen die Preisträger. Am Ende der Beratungen wurde vermeldet: „Erster Preis an USA“. Das Projekt des Teams Geddes Brecher Qualls Cunningham trug den Sieg davon, der zweite Preis ging an das slowakische Siegerteam von Petržalka: Jan Kavan, Tibor Alexy, Filip Trnkus und Jan Antal.

Dem großen Wettbewerb folgte keine Realisierung. In den kommenden Jahrzehnten wurde das Gebiet teils mit Gewerbebauten, teils mit ambitionslosen Einfamilienhäusern, teils mit kleineren Siedlungen und teils gar nicht bebaut. Eine Wiener Lösung.

28. Februar 2015 Spectrum

Land der großen Gesten

Eine Architekturausstellung im Wiener Ringturm zeigt Serbien als einen der Schauplätze der Moderne. Ikonenhafte Bauten und großzügige Konzepte hatten in den Nachkriegsjahren ihre Hochblüte.

Zum Beispiel Nikola Dobrović. Geboren im ungarischen Pécs, Studium in Prag, Tätigkeit in Belgrad, wichtigste Werke zu einem großen Teil an der Adriaküste. Das wohl beeindruckendste Beispiel ist Dobrovićs Grand Hotel auf der kleinen Insel Lopud vor Dubrovnik. Ein Bau, der die Zeiten der heroischen weißen Moderne noch in seinem gegenwärtigen ruinösen Zustand erahnen lässt: beeinflusst von Le Corbusier und dem russischen Konstruktivismus, geprägt von Bauten wie Moissei Ginsburgs Narkomfin-Gebäude in Moskau – dynamische Balkone und durchzischende Laubengänge, Fensterbänder, kajütenartig kleine Schlafzimmer, dafür große Gemeinschaftsbereiche.

Zwei Ikonen der Moderne, beide in desaströsem Zustand, leerstehend, verfallend. Ginsburgs Narkomfin-Gebäude liegt im Einflussbereich der benachbarten US-Botschaft, die es wohl aus Sicherheitsgründen am liebsten abreißen würde. Dobrovićs Grand Hotel hingegen scheint im letzten Moment wohl doch ein zweifelhaftes Glück zuteil zu werden: Angeblich hat die Hilton-Gruppe das Hotel, das Dobrović 1936 in erster Linie für tschechische Touristen – die in den 1930er-Jahren wohl häufiger reisten als Bürger des verarmten Österreich – baute, gekauft. Hinter einem Lattenzaun und einem aus der Bauzeit stammenden extensiven Palmenhain zu erahnen und auf historischen Fotografien auszumachen ist immer noch die Grandezza eines noblen Hauses für auch architektonisch anspruchsvolle Gäste. Bauarbeiten am denkmalgeschützten Hotel sind im Gange, die einst leeren Fensterhöhlen wieder verglast, man darf hoffen.

Dobrović wird heute sowohl von Kroatien als auch von Serbien als jeweils einheimischer Architekt gesehen, was völlig in Ordnung ist, da nationalstaatliche Zuordnungen zumindest in diesem Fall – siehe oben – obsolet sind. Schließlich steht in Belgrad ein weiteres Hauptwerk von Dobrović: der Nachkriegsbau des Generalstab-Gebäudes der ehemaligen Jugoslawischen Volksarmee, im Jugoslawien-Krieg durch Beschuss schwer beschädigt und bis heute ein noch nicht wiederhergestelltes Kriegsmahnmal in sich. Ab den 1950er-Jahren entstand, unter anderem auf den urbanistischen Grundlagen Dobrovićs und der Charta von Athen aufbauend, Novi Beograd (mit dem von Ivan Antić entworfenen, 1965 eröffneten ikonischen Museum zeitgenössischer Kunst) als neues Stadtviertel, ähnlich wie Novi Zagreb oder Bratislava-Petržalka, durchgrünt und großzügig und heute allmählich wieder von der Fachwelt geschätzt und gewürdigt.

Wenn der Ringturm der Wiener Städtischen Versicherung jetzt eine Architekturausstellung zur Moderne in Serbien zeigt, so wird dabei klugerweise von Serbien als Schauplatz, nicht als geistigem Ursprungsort gesprochen. Und da waren, wie in jeder Großstadt, immer auch Architekten aus anderen Gegenden tätig – in Belgrad zum Beispiel die in Wien bei Adolf Loos und Josef Hoffmann ausgebildeten Kroaten ZlatkoNeumann und Anton Ulrich mit dem Parlament der föderativen sozialistischen Republik Jugoslawien, der aus Slowenien stammende Jože Plečnik mit einer zylindrischen Kirche und der slowenische Bosnier Ivan Štraus (der 1983 auch das während des Jugoslawien-Krieges zu medialer Aufmerksamkeit gelangte Holiday Inn in Sarajevo entworfen hat) mit dem großartigen Donut-förmigen Luftfahrtmuseum, um dessen – leicht zeitversetzte – Realisierung wohl jeder britische Architektur-Utopist der 1960er-Jahre die einstige jugoslawische und heutige serbische Hauptstadt beneiden könnte. Als Gründungsort der Bewegung der Blockfreien Staaten hatte Belgrad im Europa des Kalten Krieges eine besondere Rolle, die es nutzte, um mittels Technologieexport unter anderem in den dekolonisierten Ländern Afrikas zu reüssieren – auch das Headquarter der hier in den 1970er- und 1980er-Jahren führenden staatlichen Entwurfs- und Baugesellschaft Energoprojekt, die rund 80 Prozent ihres Gewinns in Ländern wie Sambia, Nigeria, Sudan und Gabun, aber auch im Irak und Dubai erwirtschaftete, ist in der Ausstellung zu sehen.

Die große Zeit serbischer Architektur, die nach der Loslösung von Moskau den sozialistisch-realistischen Stalin-Stil nie mitmachen musste, lag in den Nachkriegsjahrzehnten, als es unter Tito einiges an Möglichkeiten sowohl zur großen Geste wie auch zu nachhaltigen infrastrukturellen Konzeptionen gab. Ein kaum bekanntes Beispiel hierfür ist die westserbische Stadt Užice, einst Partisanenzentrum und zu Ehren des ehemaligen Partisanen Josip Broz nach dem Zweiten Weltkrieg in Titovo Užice (und 1992 zurück) umbenannt, mit ihrem von Stanko Mandić konzipierten Platz des Partisanen, der in seiner Anlage auf die vorgefundenen topografischen Verhältnisse reagiert. Die Post am Platz wurde im Jugoslawien-Krieg zerstört, die Tito-Statue gestürzt, aber das innen mit Kuhfellen als Akustik-Elementen ausgekleidete Theater steht in seiner skandinavisch anmutenden Sechzigerjahre-Schönheit am Platz wie eh und je.

Außerdem zu entdecken sind im Zuge der verstärkten Industrialisierung und Urbanisierung seit dem späten 19. Jahrhundert ausgebaute Städte wie das südserbische Niš mit seiner beachtlichen Dreißiger- und Fünfzigerjahre-Architektur oder die Hauptstadt der Vojvodina, das „serbische Athen“ Novi Sad und sein Lokalmatador der Zwischenkriegszeit, Djordje Tabaković. Herausragende Zeugnisse der Nachkriegszeit sind hier das nach Entwürfen des aus Dalmatien stammenden Ivan Vitić von 1960 bis 1970 gebaute Museum der Nationalen Revolution (heute Museum für zeitgenössische Kunst derVojvodina), ein hocheleganter flacher Baukörper auf quadratischem Grundriss, und das mit seinen sichtbaren Beton-Geschoßdecken und Sichtziegelwänden an italienische Architektur erinnernde Gemeindezentrum, von Dušan Krstić in Form ineinandergeschobener Quader entworfen und ebenfalls1970 realisiert. Aus demselben Jahr stammt das Warenhaus Bazar, eines der Hauptwerke des Slowenen Milan Mihelič.

Der Katalog zur Ausstellung weist auch auf den wohl implizit bekanntesten (aber nicht als solchen wahrgenommenen) serbischen Architekten hin: Aljoša Josić, aus der Vojvodina stammend, in Paris als Teil des Büros Candilis-Josic-Woods berühmt – und als Verteter eines rigiden Brutalismus berüchtigt – geworden und als Teil des ebenso berüchtigten Team X für die Auflösung der CIAM und damit die Abkehr von der klassischen Moderne verantwortlich.

2. Februar 2015 dérive

Wächterhäuser: Schönheit an Schienen

Vielfach bearbeitet in Essay- und Bildbänden zu Infrastruktur, Architektur und Kulturgeschichte, ist das Semmeringgebiet dennoch ein vergessenes, aus der Welt gefallenes Habitat langsamer Zugfahrten, leerstehender Hotelbauten und verstaubter Ferienimmobilien geblieben. Während die Semmering-Aufenthalte der Wiener Intellektuellen als zumindest teilweise erforscht gelten können, lässt sich dies überraschenderweise von der Infrastruktur der Semmeringbahn nur bedingt sagen. Das zeigt das vor kurzem erschienene Buch von Roland Tusch über die Wächterhäuser der Semmeringbahn. Mit ebensoviel Liebe zur Materie bis ins Detail wie wissenschaftlicher Sorgfalt hat Roland Tusch, ausgebildeter Architekt und Lehrender am Institut für Landschaftsarchitektur der BOKU, mit seinem Team die Häuser erforscht, katalogisiert und analysiert. Dabei tut sich ein Panorama einer unter der Ägide der Südbahn entstandenen »Architektur der Einfachheit« (Tusch) auf, in Form einer dichten Reihung an der Bahnstrecke stehender Häuser mit einheitlichem Grundriss- und Fassadenschema, aber modifiziert, wie die Untersuchung anschaulich macht, nach Fassadenoberfläche, Detailaufrissen, vor allem aber topografischer Situierung, abhängig von den Gegebenheiten des Geländes und der Trassenführung der Bahn, die die Standorte und Orientierungen der schlichten Satteldachhäuser bestimmte. Die Herleitung der eigentümlichen Bruchsteinfassaden mancher Häuser fehlt ebenso wenig wie ausführliche Zitate aus Primärquellen zu Planung, Bau und Nutzung der Häuser.

Was zunächst als Randgruppensujet für Eisenbahnfreaks erscheinen mag – in der Tat ist das Buch als Band 8 der Publikationen des Südbahn Museums erschienen –, entfaltet sich, lässt man sich darauf ein, als kammermusikalische Studie zu einem Thema, das mangels Blockbuster-Qualität eine breite Öffentlichkeit nicht finden wird. Umso wichtiger sind aber, wie hier geschehen, ernsthafte wissenschaftliche Dokumentationen und Auseinandersetzungen mit derartigen Beispielen von Landschaftsplanung – ein eigenes Kapitel widmet sich dem Landschaftsbezug der Häuser – und Architektur. Gerade sie sind am stärksten von Verfall, entstellender Umnutzung und schleichender bis plötzlicher Zerstörung bedroht.

Einer allgemeinen Analyse lässt das Buch einen Katalog der Häuser mit Planzeichnungen folgen, im Anschluss zeigt ein Fotoessay von Gisela Erlacher die lakonische Ästhetik der Häuser an den Schienen und in der Landschaft. Dennoch bleibt der Band keineswegs in kontemplativer Bahn-Nostalgie verhaftet: Auch eine Untersuchung zum Berufsbild und zum alltäglichen Leben der Bahnwärter und Bahnwärterinnen – auch diese gab es – ist Teil des Bandes. Nicht zuletzt ist das Buch auch als Objekt äußerst angenehm – in seiner inhaltlich wie optisch und redaktionell sorgfältigen Behandlung, mit grafisch reduziertem Erscheinungsbild, ohne dabei minimalistisch sein zu wollen, und mit gutem Lektorat gibt es sich ruhig und sachlich. Ein Mehr an Text hätte man sich lediglich für das Kapitel »Die Zukunft der Wächterhäuser« wünschen können. Dort konstatiert Roland Tusch: Für eine zukünftige Nutzung der heute teils bewohnten, teils sanierungsbedürftigen, teils leerstehenden und verfallenden Häuser »müssen neue Konzepte entwickelt werden«. Hier wäre es interessant, wie diese aussehen könnten.


Roland Tusch
Wächterhäuser an der Semmeringbahn.
Haus Infrastruktur Landschaft.
Mit einem Fotoessay von Gisela Erlacher
Band 8 der Reihe Publikationen des SÜDBAHN Museums
Innsbruck: Studienverlag, 2014
224 S., EUR 25,-

10. Januar 2015 Spectrum

Lehm, Bambus, Stroh

Das gemeinsam mit Christoph Schlingensief geplante Operndorf Afrika machte ihn bekannt. Sein beim Studium in Europa erworbenes Wissen setzt Diébédo Francis Kéré in seiner Heimat, Burkina Faso, ein, um der Bevölkerung ein selbstständiges Weiterarbeiten mit lokalen Materialien zu ermöglichen.

Ein „Household Name“, das muss man sagen, ist Erich Schelling außerhalb Baden-Württembergs nicht gerade. Während des Zweiten Weltkriegs mit Planungen für das ins Reich heimgeholte Elsass befasst, wurde der entnazifizierte Architekt in den 1950er-Jahren zu einem der Protagonisten der Nachkriegsmoderne im deutschen Südwesten. Eine heute denkmalgeschützte Ikone ist seine 1953 realisierte Schwarzwaldhalle in Karlsruhe, mit ihrem parabolischen Spannbeton-Hängedach, die erste ihrer Art in Europa. Nicht weit von ihr baute Schelling für die Bundesgartenschau von 1967 die Nancyhalle, einen leichten Stahlbau aus quadratischen Modulen mit Schrägdächern und baumbestandenen Innenhöfen.

Dafür, dass Schelling nach seinem Tod nicht in Vergessenheit geriet, sorgte neben diesen Bauten vor allem auch seine Frau, die 2009 verstorbene Innenarchitektin Trude Schelling-Karrer. Die unter ihrer Federführung in den 1950er-Jahren im kapriziösen Farbakkord Schwarz-Weiß-Gold mit viel Kunst mondän ausgestattete Karlsruher Wohnung des Ehepaars ist heute Sitz der Schelling Architekturstiftung, die seit 1992den von Trude Schelling-Karrer gemeinsam mit dem Gründungsdirektor des Karlsruher ZKM, Heinrich Klotz, begründeten Schelling-Architekturpreis vergibt. Alle zwei Jahre wird die Wohnung so vom Arbeitsplatz der Stiftungsmitarbeiter zum Schauplatz eines Empfangs für Nominierte und Preisträger der Kategorien Theorie – Preisträger Juhani Pallasmaa – und Praxis.

Ehrte der mit 30.000 Euro dotierte Preis früher arrivierte Büros, so soll er nun innovative Konzepte jüngerer Planer fördern, die von der Jury in einer für das jeweilige Jahr festgesetzten Kategorie nominiert werden. Eine leicht Bachmann-Preis-mäßige Dynamik verleiht der Sache die endgültige Entscheidung der Jury unmittelbar nach öffentlichen Vorträgen der drei Nominierten.

Den diesmal für nachhaltige Architekturkonzepte ausgelobten Preis erhielt der aus Burkina Faso stammende Diébédo Francis Kéré. In Berlin ausgebildet, wurde Kéré vor allem mit dem Operndorf bekannt, das er mit Christoph Schlingensief in Burkina Faso plante. Das beim Studium in Europa erworbene Wissen setzt Kéré vor Ort ein, um der Bevölkerung ein selbstständiges Weiterarbeiten mit lokalen Materialien, vor allem vor Ort hergestellten Lehmziegeln, zu ermöglichen. Überzeugungsarbeit ist nötig, wo Stroh und Lehm für Armut stehen und Beton und Blechdächer für Komfort, auch wenn sie klimatisch unsinnig sind.

Kérés Schul- und Krankenhausbauten aus Lehm haben schattenspendende Dächer mit Abstand zu den Wänden, so dass warme Luft entweichen und indirektes Licht in die Räume fallen kann. Bei der derzeit im Bau befindlichen Schulbibliothek von Kérés Heimatort Gando spenden in das Dach integrierte Tontöpfe Licht und Feuchtigkeit für die Begrünung. Das Leben der Menschen in seinem Heimatdorf zu verbessern – und dabei die eigene Angst, zu enttäuschen, zu überwinden – nennt Kéré als seinen Ansatz. Lehm ist billig, nachhaltig und kann von bezahlten Arbeitern vermauert und von den Mitgliedern der Frauenkooperative bearbeitet werden. Die Bevölkerung erhält so die Möglichkeit, selbst weiterzubauen. Langfristig dient die Arbeit, indem sie Infrastruktur und Wissen produziert, der Schaffung eines kollektiven Gedächtnisses. Technik wie Ästhetik sollen replizierbar sein, die Bauten als Typen fungieren, die Pläne sind konsequenterweise als Open Source downloadbar. Kérés Ansätze tragen bereits Früchte auch in anderen Ländern – Mali, Niger, Togo besinnen sich auf ihre Lehmarchitektur und fördern das nötige Wissen und Können.

Lässt sich davon etwas auf Mitteleuropa, wo Arbeit der größte Kostenfaktor ist, übertragen? Auf die Frage, was Europa vom Bauenin Afrika lernen kann, nennt Kéré die Verbesserung des Gemeinschaftssinnes, inklusive öffentlicher Diskussionen und dem Aneignen von Freiräumen. Für eine seit Jahrzehnten leer stehende Kaserne in Mannheim, die in Parzellen aufgeteilt und verkauft werden sollte, projektiert Kéré ein System öffentlicher Freiräume, die den ganzen Komplex für die Allgemeinheit aufmachen. Mit dem Bewusstsein der Begrenztheit von Ressourcen und der Notwendigkeit, Dinge zu ändern, ist das Potenzial verbunden, mit Hilfe alternativer Materialien den High-Tech-Faktor von Gebäuden zu reduzieren und diese, so Kéré, „intelligenter“ zu machen.

Einen sehr ähnlichen Ansatz verfolgt die zweite für den aktuellen Schelling-Preis Nominierte, Anna Heringer. In Linz ausgebildet, engagiert sich die Architektin seit fast 20 Jahren in Bangladesch. Wie Kéré wurde sie für ihre aus Lehm, Stroh und Bambus gemeinsam mit der Ortsbevölkerung realisierten Schulbauten vor einigen Jahren mit dem Aga Khan Award ausgezeichnet. Angesichts des hier üblichen, aber nur für eine Minderheit der Menschheit leistbaren Konzepts von Nachhaltigkeit propagiert sie eine Low-Tech-Nachhaltigkeit, mit arbeitsintensivem Bauen dort, wo es sinnvoll ist, Arbeit zu schaffen. Dabei muss auch auf ehrenamtliche Gemeinschaftsarbeit gesetzt werden, etwa bei dem Lehmbau, der derzeit in Vorarlberg realisiert wird.

Offenheit für neues Denken nennt Heringer als wichtigen Ansatz und als Ziel, die Kontrolle im Laufe des Projektes abzugeben, so dass lokale Handwerker die Gebäude reparieren und auch verbessern können. Architektur, mit der sinnlichen Ästhetik nachhaltiger Materialien als Katalysator, sieht sie als Mittel, Entwicklungen in Gang zu setzen. Konsequenterweise hat sie mit Näherinnen aus Bangladesch jüngst ein anspruchsvolles Mode-Projekt auf der Basis fairer Arbeitsbedingungen und adäquater Bezahlung initiiert. Ihr ethischer Zugang fußt dabei auf dem kategorischen Imperativ in moralischer wie architektonischer Hinsicht: Jede Entscheidung, so Heringer, muss mit sieben Milliarden multiplizierbar sein. Dabei ist ihr, ähnlich wie man es in der frühen Moderne für die Funktion behauptete, Nachhaltigkeit gleich Schönheit.

Auch wenn man das nicht so radikal in eins setzen möchte, so hätten doch alle drei Nominierten den Preis verdient, auch die in Rio de Janeiro tätige Carla Juaçaba, deren Bauten in Formensprache und Material subtil auf ihre Umgebung eingehen und Pragmatik mit hoher sinnlicher Qualität vereinen. So sah das wohl auch der Preisträger – in seiner Dankesrede gab Diébédo Francis Kéré bekannt, das Preisgeld mit Anna Heringer und Carla Juaçaba zu teilen.

8. November 2014 Spectrum

Im Egg Chair am See

Eine Kombination aus opulenter Naturkulisse außen und lebendigem Naturmaterial innen – schlichte, unauffällige Quader in Holzbauweise, geschmiegt in die umgebenden Wiesen: Ferienbungalows am Traunsee. Eine Erholung.

Dass der Tourismus am Traunsee boomen würde, kann man nicht gerade behaupten. Zu kurz die Saison, zu unsicher das Wetter in der hassgeliebten Wahlheimat des Thomas Bernhard. In Gmunden gibt es nach der Schließung mehrerer großer historischer Häuser kaum noch erwähnenswerte Hotellerie – das 150-Jahr-Jubiläum der Erhebung zum Kurort ließ man vor zwei Jahren unbemerkt verstreichen, da es nach allgemeiner Ansicht nichts zu feiern gab. Auf der anderen Seite hat sich jüngst das kulturelle Leben in der Region positiv entwickelt. In diesem Zusammenhang gibt es Hoffnung auf einen neuen, individuellen Tourismus, der über die kurze Sommersaison hinausreicht.

Während der Attersee mit dem Haus Eichmann von Clemens Holzmeister und Max Fellerer und dem Haus Gamerith von Ernst Plischke zwei Bauten von Großmeistern der österreichischen Moderne aufzuweisen hat, sich sonst aber eher privat gibt, kennzeichnet die Westseite des Traunsees ein in weiten Teilen öffentlich zugängliches Ufer, das aber ebenfalls über einige architektonische Feinkost verfügt: 1927 entwarf Franz Gessner das Seebad Gmunden als von zeitgemäßer Horizontalität geprägte Stahlbetonkonstruktion mit Flachdach-Terrassen, während Johannes Spalt 1946 mit dem Seebad im benachbarten Altmünster, einer schlichten U-förmigen Holzriegelkonstruktion mit zentraler Veranda, seinen allerersten Bau realisierte. Im südlich anschließenden Traunkirchen steht neben der historistischen Spitzvillaheute ein Restaurant mit Seeterrasse und öffentlichem Park, das 1936 von Max Fellerer realisierte Landhaus Clody, ein schlichter, L-förmiger Bau mit französischen Fenstern und verglaster seeseitiger Veranda, außerdemdas Haus Frentz, 1962 entworfen von der Arbeitsgruppe 4 mit Wilhelm Holzbauer, Friedrich Kurrent und Johannes Spalt.

Als das Architektenpaar Michael Buchleitner und Mira Thal Buchleitner, die gemeinsam das Wiener Büro Lakonis Architekten betreiben, sich in der Gegend nach einem Seegrundstück für ein Feriendomizil umsahen, waren sie nicht sicher, ob sie sich ein solches – mit entsprechendem Bauvorhaben – überhaupt würden leisten können. Was sich ergab, war ein Glücksfall: circa 2000 Quadratmeter in Hanglage an der Hauptstraße von Traunkirchen, die nach dem Bau einesUmfahrungstunnels de facto zur verkehrsberuhigten Zone geworden war, mit spektakulärem Panorama über den See und zum gegenüberliegenden Traunstein. Geplant und realisiert wurden schließlich, gegenüber einem öffentlichen Badeplatz, zwei Bungalows mit einer respektive zwei Wohneinheiten. Grundlage war die Absicht, die neu errichteten Bauten durch temporäre Vermietung als Ferienwohnungen möglichst wenig leer stehen zu lassen und so die Masse kaum genutzter Zweitwohnsitze in Österreichs Urlaubsorten nicht allzu stark zu vermehren.

Realisiert wurden die Bauten als in die umgebende Wiese geschmiegte schlichte, unauffällige Quader in Holzbauweise, mit beplankten Sitzterrassen und Fassaden in fahl vorgegrauter Lärche. Großflächige Verglasungen inszenieren den kaum überbietbaren Logenblick auf See und Berge. Klar und einfach sind die Grundrisse der Wohnungen mit 150 Quadratmetern im Einzelhaus und je 80 Quadratmetern im Doppelhaus, deren Zentrum jeweils ein geräumiger Wohn-Koch-Essbereich mit hölzernem Esstisch und Sitzbereich bildet. Gebürstete und geölte Lärche in ihrem charakteristischen blassen, warmen Farbton und mit dem einladenden Geruch gesägten Holzes gibt die Oberfläche für Boden, Decke und Wände inklusive Türen und Einbauschränke ab. Nachts und bei übermäßiger Sonneneinstrahlung – oder nach Naturschock durch die überwältigende Präsenz von Bergpanorama und glitzernder Seeoberfläche – lässt sich das archetypische Geborgenheit vermittelnde Holzkisten-Gefühl mittels elektronisch steuerbaren Herunterlassensder innenliegenden Holzjalousien perfektionieren. Die Verwendung der querverlegten breiten Latten lässt dabei alles andere als rustikale Lederhosen-Gediegenheit aufkommen, sondern stattdessen eher an die immer moderne, weil zeitlose und nicht ideologisch befrachtete Verwendung von Holz in der Schweiz und Vorarlberg denken.

Die Kombination aus opulenter Naturkulisse außen und lebendigem Naturmaterial innen zog dabei eine subtile Regie nicht nur in der Grundrissgestaltung, sondern auch in Form und Farbigkeit der Ausstattung nach sich. Auch hier wurde auf das Schlichteste und zugleich optimal Ausgearbeitete zurückgegriffen: Zwei Egg Chairs, 1958 vom dänischen Architekten Arne Jacobsen entworfen, liefern elegante Ohrensessel-Gemütlichkeit vor dem freistehenden Kamin, schlichte zylindrische Filzhocker die einzigen apfelgrünen Farbtupfer in der ansonsten dezent hellgrau gehaltenen Einrichtung. Arne-Jacobsen-Nachttischlampen erfreuen die Augen müder Design-Auskenner auch in den fast skihüttenmäßig schlichten, kleinen Schlafzimmern – schließlich hat man es bei aller ländlichen Umgebung mit einem temporären Domizil für Labsal suchendeStädter mit anstrengenden Broterwerbstätigkeiten zu tun. Feinsteinzeug-Verfliesung in der Art dunkelgrauen Natursteins haben die Architekten in den Badezimmern verwendet, die mit durchgehender Spiegelwand, Badewanne, Extra-Dusche und eingebauter kleiner Sauna als Miniatur-Spa ausgestattet sind.

Ziel war es, so Michael Buchleitner, die Infrastruktur für eine Allwetterdestination zu schaffen – das Skigebiet Feuerkogel ist schließlich nur zehn Minuten entfernt. Dabei kann man sich aber durchaus auch sehr gut vorstellen, bei Dreck und Matschwetter draußen, Kaminfeuer innen und einem gefüllten Glas in der Hand im Eiersessel zu kuscheln und das Spiel des Wetters auf See und Bergen zu beobachten. Und darüber zu sinnieren, ob man nicht die eigene Wohnung ein wenig ausmisten sollte, um immer so eine schlichte, schöne, anregende Umgebung zu haben.

20. September 2014 Spectrum

Kein Glamour am Berg

Das Panhans, das Kurhaus und das Südbahnhotel am Semmering: drei Beispiele für die Melancholie des Leerstandes und des freudlosen Dahinexistierens. Der ehemals mondäne Höhenluftkurort im architektonischen Dornröschenschlaf.

Am Ende nützten auch die Badezimmer-Fliesen mit den vierblättrigen Kleeblättern nichts mehr. 1976 schloss das Südbahnhotel am Semmering seine Pforten. Es folgten Leerstand, Verkauf, temporäre Nutzung durch die Festspiele Reichenau und weiterer Leerstand – mit derzeit nicht absehbarem Ende. Sein seinerzeit großer Konkurrent, das Panhans, existiert seit einer brachialen Achtzigerjahre-Sanierung nach mehreren Verkäufen so irgendwie vor sich hin, während das dritte der großen Semmering-Hotels, das Palace-Hotel Deisinger, später Sanatorium Dr. Hecht, später Artis-Hotel, heute Panhans Sport Hotel, bis zur Unkenntlichkeit totsaniert wurde und heute wie ein Gewerkschaftsheim der Siebzigerjahre wirkt.

Es ist eine seltsame Sache: Einerseits scheint die ganze Region mitsamt ihrem künstlichen Ort Semmering immer noch in einer Art Paralyse gefangen zu sein, die Entwicklungen hemmt oder völlig verhindert – andererseits zeugen zahlreiche Initiativen von einem großen Interesse, das man der Gegend in der Hauptstadt und anderswo entgegenbringt. Absurderweise wird dabei seit Jahren beharrlich eine touristische Vermarktung unter dem Label Zauberberg versucht. Mit Thomas Mann und Lungensanatorien hat der Semmering freilich nichts zu tun.

Erst jüngst sind zwei recht unterschiedliche Publikationen zum Thema erschienen. Den Infrastrukturbauten der Landschaftserschließung widmet sich Roland Tuschs Buch über die Wächterhäuser der Semmeringbahn, die im Zuge eines Forschungsprojektes detailliert katalogisiert, in Planzeichnungen dargestellt und in Architektur und Kontext analysiert wurden. In dichter Reihung stehen die Häuser mit einheitlichen Grund- und Aufrissschemata, aber modifiziert nach Fassadenausführung und Material – teils verputzt, teils Bruchstein –, nach Detailaufrissen, vor allem aber nach ihrer topografischen Situierung, an der Eisenbahnstrecke, abhängig von den Gegebenheiten des Geländes und der Trassenführung der Bahn, die die Standorte und Orientierungen der schlichten Satteldachbauten bestimmte. Ein Fotoessay von Gisela Erlacher zeigt die lakonische Ästhetik der Häuser an den Schienen und in der für die Bahnreisenden inszenierten Landschaft. Mangels Glamourfaktors sind die Häuser nicht weniger als die Palasthotels von Verfall, entstellender Umnutzung und Zerstörung bedroht.

Während Roland Tusch auch das Berufsbild und das alltägliche Leben der Bahnwärter und Bahnwärterinnen – auch diese gab es – zwischen Signal geben und Hühner füttern beleuchtet, ist ein im Zusammenhang mit einer Ausstellung des Jüdischen Museums Wien publizierter Bildband der Fotografin Yvonne Oswald ausschließlich dem leer stehenden Südbahnhotel gewidmet, dessen melancholische Stimmung der Abwesenheit mondäner Gäste es dokumentiert. Der eher nüchterne Altbau von 1882, der in den Siebzigerjahren in Apartments umgewandelt wurde, bleibt dabei ausgespart. Thema ist der monumentale Zubau vom Beginn des 20. Jahrhunderts, entworfen von Alfred Wildhack und Robert von Morpurgo, die im Auftrag der Südbahn-Gesellschaft nicht nur den Semmering bebauten, sondern auch Opatija – die Klientel der verschiedenen Resorts war wohl ähnlich, wenn auch am Semmering ein wenig intellektueller. Die Architektur am Berg sollte jedenfalls mehr Burgenromantik-Heimatschutz als Secession bieten. Während Franz Panhans die Wiener Theaterfachleute Fellner & Helmer für die Erweiterung seines Hotels engagierte, weist das von Franz von Krauß und Josef Tölk entworfene Kurhaus – ein weiterer trauriger Langzeit-Leerstand – immerhin einige Elemente des (um 1910 auch schon nicht mehr ganz frischen) Secessionsstils auf. Mit Alma Mahlers von Hartwig Fischel entworfenem Landhaus am Kreuzberg und Joseph Urbans Villa Landau ist die Dichte moderner Architektur in der Boomzeit des Semmerings zwischen Jahrhundertwende und Erstem Weltkrieg eher dürftig.

Nach einer gewissen Erholung von der Zäsur des Weltkrieges plante in der Ersten Republik Adolf Loos, mit Peter Altenberg, Karl Kraus und Josephine Baker selbst häufiger Semmering-Besucher, ein nicht gebautes Schulprojekt für Eugenie Schwarzwald und ein realisiertes Haus für den Wiener Margarinefabrikanten Paul Khuner hoch über Payerbach – heute immerhin ein positives Beispiel für eine erfolgreiche, sensible Nutzung als Pension und Restaurant.

In der Zeit nach 1930 rüsteten angesichts veränderter Bedürfnisse eines anspruchsvollen reiseerfahrenen Publikums auch Panhans und Südbahnhotel ihre Infrastruktur auf, etwa durch Autogaragen mit Reparaturwerkstätten und diverse Sporteinrichtungen. Hallenschwimmbäder mit öffenbaren Glaswänden und vorgelagerten Liegewiesen waren das Ding der Stunde, entworfen von Anton Liebe und Ludwig Stiegler mit dem Gartenarchitekten Josef Oskar Wladar für das Panhans und von den Otto-Wagner-Schülern Emil Hoppe und Otto Schönthal für das Südbahnhotel. Während das Panhans-Alpenbad in den Achtzigerjahren abgebrochen wurde, ist das Schwimmbad des Südbahnhotels, auf dessen Flachdach einst zum Fünf-Uhr-Tee getanzt wurde, heute noch als ein Schatten seiner selbst erkennbar. Die auf einer Seite orange-weiß gestreiften, auf der anderen Seite gelben Marmorglas-Wandverkleidungen wurden vor einigen Jahren mutwillig kaputtgeschlagen. Details wie die Beschriftungen am Beckenrand, die verchromten Deckenluster und die elegant geschwungenen Geländer der Eistiegsleitern sind noch vorhanden, die orange lackierten Stahlrohr-Freischwinger sind mittlerweile aus dem verfallenden Bad verschwunden.

Mag auch die Melancholie des gegenwärtigen Zustandes zur Erinnerung an das vertriebene Publikum der Vorkriegszeit à la Stefan Zweig passen – der Semmering hätte eine lebendigere Zukunft verdient.

8. August 2014 Spectrum

Offenheit auf Abruf

50 Jahre nach seiner Errichtung ist der Bonner Kanzlerbungalow Star des deutschen Pavillons auf der Architekturbiennale in Venedig. Der zeitgleich entstandene Neubau der Deutschen Botschaft in Wien dagegen steht vor dem Abriss.

Nicht alle haben so ein Glück: 50 Jahre nach seiner Errichtung ist der Kanzlerbungalow der Star des deutschen Pavillons auf der Architekturbiennale in Venedig. Vom Wiederaufbau-Kanzler Ludwig Erhard in Auftrag gegeben, wurde der Bungalow vom Architekten Sep Ruf entworfen, dem Nachbarn Erhards am Tegernsee. Unter den Bäumen, an das Bonner Rheinufer geschmiegt, repräsentativ und doch zurückhaltend, dabei edel, elegant und weltläufig, ist der ebenerdige Bau ganz dem Geiste des Bauhaus und seines in die USA emigrierten Direktors Ludwig Mies van der Rohe verbunden. Nichts sollte an die Großmannssucht des Deutschen Reichs erinnern. Schon einmal hatte Deutschland auf den Zauber funktionalistischer Architektur in Glas, Stahl und Stein gesetzt, als Mies van der Rohes legendärer „Barcelona-Pavillon“ das radikale Statement der Weimarer Republik auf der Weltausstellung des Jahres 1929 war.

Auch Erhard setzte mit dem Bonner Kanzlerbungalow ein Zeichen. Moderner hat wohl selten ein Staatsoberhaupt gewohnt. Kein Zaun schränkte den Blick über den Garten zum Rhein ein. Gäste wurden im Atriumhof oder dem fließenden Raumkontinuum des Repräsentationsbereichs empfangen. Man saß auf Möbeln der amerikanischen Firma Herman Miller, am Klavier nahm einst Udo Jürgens Platz, später der Kanzler selbst, der unterdessen Helmut Schmidt hieß. Durch den Umzug der Regierung nach Berlin in seiner Funktion obsolet geworden, wurde der Kanzlerbungalow vor einigen Jahren mustergültig saniert und für Besucher zugänglich gemacht.

Auf der Architekturbiennale geht er nun gemäß dem Konzept der Architekten Alex Lehnerer und Savvas Ciriacidis eine kongeniale Synthese mit dem deutschen Biennale-Pavillon ein, der, ursprünglich 1909 als Pavillon des Königreichs Bayern entworfen, 1938 vom Architekten Ernst Haiger für die Zwecke NS-Deutschlands umgebaut wurde: Außen dem Geist der NS-Architektur verpflichtet, entpuppt sich der Bau nun im Inneren als 1:1-Nachbau des Kanzlerbungalows. Die Monumentalarchitektur des Dritten Reichs verwandelt sich in ihrem Inneren in die zukunftsfrohe, demokratische Nachkriegsmoderne, sozusagen ein Schaf im Wolfspelz. Ein ironischer Kommentar zur politischen Codierung von Architektur, erinnert die Installation nicht zuletzt auch an das Selbstbild eines entmilitarisierten, weltoffenen Westdeutschlands, wie es sowohl die Weimarer als auch die Bonner Republik in die Welt zu tragen bestrebt waren.

Zeitgleich mit dem Bonner Kanzlerbungalow entstand 1962 bis 65 der Neubau der Deutschen Botschaft in Wien. Den Wettbewerb, der nach dem Abriss der zuletzt, nach Umbau durch Josef Hoffmann, als „Haus der Wehrmacht“ dienenden, kriegsbeschädigten ehemaligen Deutschen Botschaft in der Metternichgasse ausgeschrieben wurde, gewannen ex aequo die drei Entwürfe von Sep Ruf, Alexander von Branca und Rolf Gutbrod, der den Bau letztlich realisierte. Gutbrod repräsentierte das neue, das gute Deutschland. Der Waldorfschüler orientierte sich nicht nur an den Lehren Rudolf Steiners. Lehrmeister waren auch Hermann Hesse, Max Frisch und Hannah Arendt, Kern seiner Arbeit war die Suche nach dem „Eigentlichen“, dem Angemessenen der Aufgabe. Seine Stuttgarter Liederhalle, die geschwungene, organische Formen in die Strenge der Bauhaus-Nachfolge brachte, zählt zu den besten architektonischen Zeugnissen ihrer Zeit in Deutschland.

Für das Wiener Botschaftsgebäude konzipierte Gutbrod eine Gruppierung locker um einen terrassierten Innenhof gesetzter, transparenter Baukörper. Heute kaum denkbar: Kein Zaun trennte den Garten von der Straße. Kein Bollwerk der Macht sollte die mit Arbeiten des Münchner Künstlers Blasius Spreng ausgestattete Botschaft sein, sondern ein für alle offenes Kulturzentrum, zart und schlank in der Konstruktion, mit Oberflächen in Glas und Sichtbeton, Quarzit und Muschelkalk, Chrom und Teakholz. Das Wiener Haus galt als eine der modernsten und schönsten Botschaften der Bundesrepublik.

Nun droht das Gebäude unter den Anforderungen der aktuellen bauphysikalischen und brandschutztechnischen Regelungen erdrückt zu werden. Noch vor wenigen Jahren galt der von der internationalen Denkmalschutzorganisation Docomono als unbedingt schutzwürdig eingestufte Bau als Musterbeispiel einer geschätzten und dadurch auch geschützten Nachkriegsmoderne. Zur Generalsanierung schrieb das deutsche Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung 2007 einen Wettbewerb aus. Ziel war, „die Nutzung dieses wertvollen Beispiels der Architektur der 1960er-Jahre langfristig zu sichern. Im Rahmen des Wettbewerbs sollten hierfür konzeptionelle Lösungsansätze unter Einbeziehung der vorhandenen Bausubstanz und der Urheberrechte dargestellt werden“.

Nachdem die Planungen zum Projekt des siegreichen Büros gildehaus.reich architekten bis 2011 voranschritten, wurde die Sanierung letztlich nicht realisiert. Nun soll das Gebäude abgerissen werden. Ein Denkmalschutz besteht von österreichischer Seite nicht. Von einer Ausschreibung für einen Neubau wurde noch nichts bekannt. Eine Besichtigung wird Interessierten seit Bekanntwerden der Abrisspläne verwehrt.

Die Deutsche Botschaft in Wien ist ein hochrangiges Zeugnis einer progressiven, offenen und antimilitaristischen Selbstdarstellung der Bundesrepublik Deutschland, wie sie zuletzt mit den Olympischen Spielen von München 1972 postuliert wurde. Der Terrorismus der 1970er-Jahre verhinderte später so viel Offenheit. Eine sinnvolle Adaptierung wäre möglich. Während der Kanzlerbungalow zu seinem 50. Geburtstag eine große Bühne in Venedig erhält, flattert der Wiener Deutschen Botschaft nun der Abrissbescheid ins Haus. Leider: Nicht alle haben so ein Glück.

Presseschau

6. November 2018 Wojciech Czaja
Der Standard

Architekturhistorikerin Iris Meder gestorben

Meder Rettete mehrere bedeutende Baudenkmäler der Wiener Moderne vor dem Abriss

Sie war eine der wichtigsten und tatkräftigsten Initiatorinnen bei der Rettung bedeutender Baudenkmäler der Wiener Moderne. Ihrem Kampf ist es zu verdanken, dass das von Erich Boltenstern geplante, 1935 errichtete Kahlenberg-Restaurant nicht abgerissen, sondern unter Denkmalschutz gestellt wurde. Nun ist Iris Meder nach schwerer Krankheit am 5. November gestorben. Meder, 1965 in Pforzheim geboren, studierte Kunstgeschichte und Literaturwissenschaft und zog Anfang der 1990er-Jahre nach Wien, wo sie sich der Wiener Architekturgeschichte widmete. Zu ihren Themen zählten Josef Frank, Oskar Strnad, Otto Wagner, das Hochhaus in der Herrengasse sowie die europäische Badekultur, der sie ein Buch widmete. Meder war Mitglied des Kunstkollektivs H.A.P.P.Y. und Vorstandsmitglied der Österreichischen Gesellschaft für Architektur und kuratierte Ausstellungen für das Wien-Museum sowie für das Jüdische Museum Wien.

5. November 2018 Wolfgang Freitag
Die Presse

Mit untrüglicher Kennerschaft für die Wiener Moderne

Als sie vergangenen Februar einen Beitrag über die Brünner Werkbundsiedlung in der „Presse“ publizierte, gewohnt sorgfältig recherchiert, gewohnt kennerisch formuliert, von jener Klarheit in der Haltung, jener umfassenden Expertise getragen, wie sie auch in ihrem engeren Berufsumfeld nicht mehr selbstverständlich...

Zum vollständigen Artikel im „Die Presse“ Archiv ↗

Publikationen

2017

Architekturlandschaft Niederösterreich
1848 bis 1918

Der neue, insgesamt fünfte der vom ORTE Architekturnetzwerk Niederösterreich herausgegebenen Führer durch die Architekturlandschaft Niederösterreichs versammelt typologisch geordnet Bauwerke aus den Jahren 1848 bis 1918. Dieser Zeitraum, von der österreichischen Revolution und der Thronbesteigung Kaiser
Hrsg: ORTE Architekturnetzwerk Niederösterreich, Kunstbank Ferrum - Kulturwerkstätte
Autor: Iris Meder, Theresia Hauenfels, Andrea Nussbaum
Verlag: Park Books

2009

Architekturplan Wien
Architektur und Landschaftsarchitektur von 1900 bis heute

Wien bietet nicht nur eine Fülle historischer Bauwerke und erstrangige Zeugnisse der klassischen Moderne, sondern hat sich in den letzten Jahren auch als Ort zeitgenössischer Architekturproduktion einen Platz im europäischen Kontext erarbeitet. „Architekturplan Wien“ ist ein handliches, übersichtliches
Hrsg: Architectural Tours Vienna
Autor: Iris Meder, Felicitas Konecny, Alexander G. Williams
Verlag: Falter

2008

Josef Frank
Eine Moderne der Unordnung

Josef Frank war einer der bedeutendsten Köpfe der Wiener Moderne. 1885 in Baden bei Wien geboren, entstammte er dem liberalen, assimilierten jüdischen Bürgertum. In deutlicher Opposition zum über-ästhetisierten Gesamtkunstwerks-Denken der Wiener Werkstätte etablierte Frank seit den 1910er-Jahren gemeinsam
Hrsg: Iris Meder
Verlag: Verlag Anton Pustet

2007

Oskar Strnad 1879-1935

Oskar Strnad (1879 – 1935) war einer der wichtigsten Architekten, Bühnenbildner und Theoretiker der Wiener Frühmoderne: Er begründete gemeinsam mit Josef Frank eine »Wiener Schule«, die sich vom Ästhetizismus der Wiener Werkstätte distanzierte und in ihrer undogmatischen Grundhaltung Adolf Loos nahestand.
Hrsg: Iris Meder, Evi Fuks
Verlag: Verlag Anton Pustet

2005

Moderat Modern
Erich Boltenstein und die Baukultur nach 1945

Erich Boltenstern (1896-1991) war eine der zentralen Figuren der Wiener Architektur im 20. Jahrhundert. Einer der Schule von Oskar Strnad entstammenden spezifisch wienerischen Moderne verpflichtet, profilierte er sich erstmals 1930 mit dem Grazer Krematorium für den „Wiener Verein“, dessen Geschichte
Autor: Iris Meder, Judith Eiblmayr
Verlag: Verlag Anton Pustet