Akteur

Jürgen Sawade
* 1937 Kassel 2015 Berlin

Zu den Wochenaufgaben

9. Januar 2007 - Erika Mühlthaler
Mühlthaler: Mit den Wochenaufgaben begann Ungers seine Berliner Lehrzeit. Neu war nicht der Aufgabentypus, denn Kurzentwürfe hat es auch an benachbarten Lehrstühlen schon gegeben, aber die Art und Weise der inhaltlichen Konzeption. Wie kam Ungers zu dieser didaktischen Konzeption?

Sawade: Ungers entwickelte seine Wochenaufgaben als Reaktion auf die ersten Entwurfsarbeiten, die ihm vorgelegt wurden. Die Studenten zu der Zeit entwarfen illustre Geschichten im Grünen. Sie wussten aber nicht, was ein Skelettbau, was ein Scheibenbau und was ein Massivbau ist. Ungers erkannte, daß er die Defizite ausgleichen mußte, um systematisch weiterarbeiten zu können. Er wollte die Arbeit der Studenten strukturieren und systematisieren. Daraufhin haben wir Wochenwettbewerbe zu den oben genannten Themen gemacht. Die Strukturierung, eine der wesentlichen Aufgaben der Architektur, war den Studenten bis dato nicht bewußt. Ungers Versuch zielte nun darauf, daß die Studenten exemplarisch in verschiedenen idealisierten, man könnte auch sagen konzeptionellen Tragwerksstrukturen denken lernen mussten. Damit hat er die Entwurfsarbeit angekurbelt und die Studenten sauber in Kategorien denken lassen, indem sie nun wirklich wussten, was ist ein Skelett, was sind Scheiben, was also ist Plattenbauweise und was ist dagegen Massivbau. Und dann fingen die Seminare an.

Mühlthaler: Was können Sie zur Idee der Aufgabenstellung sagen?

Sawade: Die Wochenaufgaben sind typisch für Ungers. Ausgehend vom Einfamilienhausbeispiel entwickelten wir eine konzeptionelle Skizze. Um zu vermeiden, daß die Studenten, wie er sagte, die banalsten und schönsten Dinge dann einfach abkupfern würden, entschied er, das Programm oder die Aufgabenstellung zu modifizieren: Der Eingang sollte zum Beispiel in einer Höhe von 4,50 m liegen. Das machte es schwer, nicht selbstständig über die Entwurfsaufgabe nachzudenken und zu entwerfen und ließ keine Routine aufkommen. Die Ergebnisse der Arbeiten waren ja dann auch etwas verrückt. Und trotzdem diszipliniert.

Mühlthaler: Ungers begann 1963 sein Entwurfsseminar mit Aufgabenstellungen für kleine Einfamilienhäuser, und entwickelte Anfang der 70er Jahre Szenarien für Siedlungs- und Stadtgründung für bis zu 100.000 Einwohnern. Welchen Einfluß hat die Aufgabenstellung auf das Entwerfen?

Sawade: Die Studenten sollten in einer Woche keine Riesenprojekte absolvieren. Ein kleines Stück Architektur macht genauso viel Arbeit, ist aber überschaubarer und führt ebenso zu interessanten Ergebnissen. Es ging in den Wochenaufgaben darum, die Studenten in Systematik und konzeptionellem Denken zu trainieren: das mehr oder minder gleiche Grundrissprogramm mit unterschiedlichen funktionalen Auflagen sollte in Skelettbauweise, als Scheibenbau oder Massivbau beziehungsweise in Kombinationen entwurflich umgesetzt werden. Es waren nicht nur die berühmten 10% Imagination nötig, sondern auch die 90% Transpiration, die die Studenten bis dahin immer vergessen hatten.

Mühlthaler: Wie verliefen die Präsentationen? Waren alle daran beteiligt?

Sawade: Ja, alle. Coram publico. Das hatte Ungers sehr schnell eingeführt. In seinen Seminaren waren etwa 15-25 Studenten. Bei Präsentationen musste jeder Student sein Konzept im Beisein aller vortragen, so dass wir bei den Besprechungen nicht immer bei Null anfangen mussten, sondern auf den Kritiken der vorangegangenen Arbeiten aufbauen konnten.
Die Studenten lernten nicht nur durch die Kritik an Ihrer Arbeit, sondern sahen 25 verschiedene Konzepte. Das gleiche Präsentationsmodell habe ich dann selbst mit 50 Studenten in Dortmund praktiziert. Präsenzpflicht!
In den Ungers-Seminaren nach den Wochenaufgaben haben die Teilnehmer dann beispielsweise Wohnungssysteme in Stahl bearbeitet, andere Wohnungssysteme in Großtafelbauweise.
Neben der konzeptionellen Bearbeitung der Entwürfe, hatte ich die Seminare büromäßig organisiert, von morgens um neun bis nachmittags um fünf, alle zeichneten von Anfang an in den gleichen Strichstärken und fortlaufend wurde an einem gemeinsamen Layout gearbeitet. Am Ende gingen die Studenten dann mit einer Publikation aus dem Seminar. Und das war natürlich toll! Die hatten plötzlich etwas in der Hand, mit dem man arbeiten konnte. Ich war damals auch sehr interessiert daran, die Realität in die Hochschule zu holen. Um die Schere zwischen Realität und Studium zu schließen oder schließen zu helfen, hatte ich bei der Bearbeitung der Wohnungssysteme in Stahl Fachingenieure von Krupp Stahlbau und von Otis eingeladen. Die kamen und diskutierten mit uns.
Auch bei dem Thema sozialer Wohnungsbau wollten wir uns mit der Realität auseinandersetzen und neue Ideen entwickeln. Wohnen und Schlafen wollten wir austauschbar machen, Schiebeelemente planen und so weiter. Wir wollten das Programm des Sozialen Wohnungsbaus sozusagen von Schematismus und Doktrinen befreien, Raumgrößen auflösen und flexibler machen. Das war eigentlich unsere Aufgabe.
Oder später, als wir anfingen, Berlin zu überbauen und Gespräche hatten mit den Senatsbaudirektoren.
Das waren, würde ich sagen, Sternstunden auch der TU, als anerkannt wurde, dass es gut ist, wenn die Hochschule den intellektuellen Freiraum, den sie hat, der Stadt zur Verfügung stellt. Deshalb haben wir auch versucht, Gutachten an die Hochschule zu holen. Die Lehre war eigentlich eine Mischung aus Grundlehre und Vision. Wir haben nur auf Berliner Grundstücken gearbeitet. Durch die Kooperation mit der Stadt, mit Einladungen an Fachingenieure und Berliner Institutionen zu Vorträgen und in der Auswahl realistischer Grundstücke haben wir an der Hochschule versucht, Studenten die Realität nahe zu bringen. Ungers hat alles dafür getan. Wir waren der Meinung, nur so sind sie auch nachher in der Lage, realistische Projekte zu machen.

Mühlthaler: Welche Bedeutung hatte die Praxis für die Ungers‘ Lehrkonzept? Kann man sagen, daß Ungers Entwurfsunterricht auf die Praxis des Entwerfens ausgerichtet war?

Sawade: Ja sicher, das war das A und O. Die Studenten wollten ja auch alle Architekten werden, sie wollten raus und entwerfen und bauen. Das ist die große Vision von allen. Und die einen schaffen es und die anderen schaffen es nicht. Und die anderen begreifen, dass sie große Entwerfer sind, und andere gehen andere Wege. Die Bandbreite der Architekten kann man ja alleine bei uns sehen. Der eine wird Direktor des Archäologischen Instituts in Athen,ein anderer wird Lektor oder schreibt Bücher und der nächste geht in die Forschung oder macht Verkehrsplanung. Also die Bandbreite der Architektur ist ja offensichtlich so groß dass man eine ganze Menge damit machen kann. Aber das, was Ungers auszeichnete, das war seine Entwurfslehre.

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