Akteur

Herzog & de Meuron Architekten BSA/SIA/ETH
Basel (CH)

Ein Sporttempel für einen totalitären Staat

In China bauen – Jacques Herzog äussert sich zu Architektur und Moral

Das Olympiastadion von Herzog & de Meuron gilt als architektonisches Meisterwerk. Das Wahrzeichen der Pekinger Sommerspiele dient aber auch dem chinesischen Regime zur Selbstdarstellung. Mit Jacques Herzog sprach Roman Hollenstein über das Bauen in einem Land, in welchem die Menschenrechte immer wieder missachtet werden.

7. Juni 2008 - Roman Hollenstein
Lange glaubte man im Westen an eine politische Öffnung Chinas. Die Vorfälle rund um Tibet zeigen nun aber, dass in der Volksrepublik weiterhin die Menschenrechte mit Füssen getreten und Minderheiten unterdrückt werden. Wie erleben Sie das als in China tätiger Architekt?

Jacques Herzog: Um diese Vorfälle und die Entwicklung im heutigen China ganz generell zu verstehen, sollte man dieses unermessliche Land nicht nur aus einem westlichen Blickwinkel betrachten. China hat eine ganz andere Geschichte als Europa, und die Gesellschaften haben sich deshalb ganz unterschiedlich entwickelt. China ist eine Hochkultur, die seit über 5000 Jahren besteht und in dieser langen Zeit Werke von unglaublicher Innovationskraft und Schönheit hervorgebracht hat. Das ist beeindruckend und kann nicht einfach so nebenbei betrachtet werden. Es ist mit ein Grund, weshalb heute und in Zukunft aus diesem Land beachtliche Leistungen erwartet werden können. Gleichzeitig hat China Verhaltensmuster hervorgebracht, die sich von den unseren unterscheiden. Auch wir mussten dies zuerst lernen, als wir in China zu arbeiten anfingen. So waren die Verhandlungen mit den Chinesen oft alles andere als einfach.
Gesellschaftliche Öffnung

Bei allem Verständnis für die unterschiedliche Entwicklung darf man aber doch vor der heutigen Situation die Augen nicht verschliessen.

Es gibt heute eine schnell wachsende Zahl von Intellektuellen, Künstlern und Architekten, die den gewährten Freiraum der letzten Jahre energisch und radikal dazu nutzen, einen eigenständigen chinesischen Beitrag zur globalen Gegenwartskultur zu leisten. Dennoch ist nicht zu leugnen, dass China seit 5000 Jahren eine Herrschaft kennt, die zumindest zeitweise grausam und kaum je demokratisch war und auch heute noch die Menschenrechte missachtet. Das können wir aus unserer schweizerisch-basisdemokratischen Sicht nicht verstehen und auch nicht akzeptieren. Wir sollten aber nicht vergessen, dass es auch in Zentraleuropa bis vor 60 Jahren diktatorisch regierte Länder gab. Anders ausgedrückt: Die Demokratie, wie wir sie verstehen, ist ein rares Gut, zu dem man Sorge tragen muss und das nur in einem langjährigen Prozess entstehen kann. Man kann anderen Ländern Demokratie nicht aufzwingen, schon gar nicht einem so riesigen Land und einer so alten, eigenständigen Kultur wie China. Man kann und muss jedoch das Respektieren der Menschenrechte stets von neuem zum Thema machen. Mit Protesten oder Boykotten – etwa der Olympischen Spiele – kommt man aber nicht weit.

Kann denn durch das Thematisieren der Menschenrechte allein etwas bewegt werden?

Unserer Meinung nach ist die dramatische wirtschaftliche Entwicklung in China der eigentliche Motor des Prozesses der gesellschaftlichen Veränderung. Die Bevölkerung wird nach dem Vorbild der westlichen Demokratien zunehmend mehr Offenheit und mehr Freiräume einfordern, ohne die auch die wirtschaftliche Dynamik und der Konsum ins Stocken geraten werden. Wir haben diese gesellschaftliche Öffnung in unserer sechsjährigen Anwesenheit in China selbst erfahren können und denken, dass da eine grosse Chance liegt: Prozess statt Boykott.

Man sagt, Sie hätten sich schon vor dem Olympiastadion für den Wettbewerb um den Pekinger Neubau des chinesischen Staatsfernsehens (CCTV) interessiert. Was macht für Sie und andere renommierte Architekturbüros – von Rem Koolhaas über Steven Holl und Norman Foster bis Massimiliano Fuksas – China so faszinierend?

Die Geschichte ist ganz anders. Wir haben China nicht von uns aus angepeilt. Vielmehr wurden wir von Ai Weiwei und Uli Sigg aufgefordert, das Land zu besuchen, weil es dort viel Interessantes zu sehen und zu tun gebe. Als ehemaliger Schweizer Botschafter in China ist Sigg der Letzte, der die Menschenrechte nicht einfordern würde, und der Künstler Ai Weiwei, der wegen der Haltung seines Vaters in der Verbannung aufwachsen musste, ist ein vehementer Verfechter eines neuen China. Das befähigt ihn abzuschätzen, wie man allenfalls Architektur und Kunst einsetzen kann, um einen Prozess günstig zu beeinflussen. Wir reisten dann nach China und erfuhren dort ganz zufällig, dass der Stadion-Wettbewerb noch offen war. In letzter Minute haben wir unsere Anmeldung abgeschickt. Da war keine Strategie dahinter, in China Fuss zu fassen. Was den CCTV-Wettbewerb betrifft, so hatten wir zu spät davon gehört. Wir sehen China nicht als einen Markt für Aufträge, wie dies andere Büros tun, auch wenn wir zusammen mit Ai Weiwei einige Projekte ausarbeiteten, die – obwohl sie letztlich scheiterten – für uns interessante Experimente darstellten.

Bietet China den westlichen Architekten Möglichkeiten, die sie zu Hause nicht haben?

Wir bauen überall auf der Welt und haben keine Lieblingsorte. Wie wichtig das Stadion für den chinesischen Staat werden sollte, war anfänglich nicht abzusehen, ebenso wenig wie die Tatsache, dass die Regierung bereit war, unser radikales Design auch wirklich zu realisieren – aus welchem Grund auch immer. Insofern waren die Chinesen gute Bauherren. Das Land ist für uns aber auch deswegen interessant, weil dort noch handwerkliche Traditionen vorhanden sind und eingesetzt werden können, die es hierzulande gar nicht mehr gibt. Schliesslich sind die Chinesen aufgrund ihrer Tradition viel offener als andere Nationen. Es gibt nichts, was sie überrascht.

Radikale Freiheit

Warum sind derzeit die Chinesen so gierig nach westlicher Architektur?

Ich bin nicht sicher, ob sie so gierig danach sind. Ich denke vielmehr, dass die Chinesen früher oder später alles selbst machen werden. Es gibt bereits jetzt eine grosse Zahl interessanter Künstler und junger Architekten, die bald auch die globale Szene beeinflussen werden.

Doch mit dem Olympiastadion betrieben Sie noch eine Art architektonischer Entwicklungshilfe?

Von Entwicklungshilfe zu sprechen, ist kaum angebracht angesichts der Kulturgeschichte dieses Landes. Es geht eher um einen Austausch und einen Prozess der Öffnung. Wir hatten stets den Eindruck, dass wir mindestens so viel von China lernen konnten, wie wir umgekehrt von unserer Seite her einbrachten. Mit dem Stadion konnten wir einfach China in einem Moment der Geschichte etwas bieten, das es dort so nicht gab.

Haben Sie keine moralischen Bedenken, Ihre Arbeit in China könnte das totalitäre Regime direkt oder indirekt bejahen?

Nein. Wir sehen zwei mögliche Haltungen: Man kann sagen, in einem Land, das nicht unsere gesellschaftlichen, wirtschaftlichen oder moralischen Standards hat, engagiere ich mich nicht. Dann könnte man aber an vielen Orten nicht bauen, im Grunde nicht einmal im Amerika der Bush-Administration. Wenn man aber nach China geht, kann man sich für einen Prozess der Öffnung starkmachen. Im Kleinen – und ich möchte die Architektur nicht überbewerten – macht man das auch mit einem Bauprojekt.

Historisch gesehen kommt es immer wieder zu einer Einvernahme der Architektur durch die Macht. Wie sehen Sie diese Problematik?

Auch hier kann man zwei Haltungen unterscheiden. Entweder lässt man sich in eine Ideologie einspannen, oder man tut es nicht. Für die, welche diese Ideologie mitzutragen bereit sind, gibt es als Ausdrucksmittel die ideologische Architektur, die sich in den Dienst der Macht stellt und diese mit einer eigenen Ästhetik auszudrücken sucht, wie das die Nazi-Architekten oder die stalinistischen Architekten machten. Wir setzten in China ganz entschieden nicht auf eine derartige Ästhetik. Vielmehr drückt unser Design eine radikale Freiheit aus. Das Interessante am Olympiastadion ist vielleicht weniger die kühne Form als vielmehr die Tatsache, dass es ein Potenzial hinsichtlich des öffentlichen Raums besitzt wie kein zweites Projekt in China. Es ist eine begehbare Skulptur in der Art des Eiffelturms, wo die Menschen sich treffen können. Das Stadion ist die öffentliche Plattform des neuen Peking. So gesehen ist dieses Gebäude eine Art trojanisches Pferd: Es will zwar keinesfalls etwas zerstören, aber es wird eine Wirkung haben. In unserem Stadion drückt sich auch Stolz aus; in erster Linie ist es aber ein Ort, an welchem die Menschen zusammenkommen können – und zwar in einer unkontrollierbaren und zwanglosen Art und Weise. Ich spreche jetzt nicht vom Stadioninnern, sondern von dem durch das Geflecht der Streben definierten Raum zwischen innen und aussen, der nach den Spielen frei zugänglich sein wird. Dieses Potenzial war von Anfang an sozusagen unser politisches Programm. Politisch, aber nicht im Sinn einer Revolution gegenüber der Partei. Das Politische an unserer Architektur ist der offene und vielfältig interpretierbare Raum, der angeboten wird und der sich einer ideologischen Festlegung entzieht.

Würden Sie auch für Ahmadinejads Iran, für Mugabes Simbabwe oder für Nordkorea bauen?

Das ist im Moment kein Thema. Die Situation in diesen Diktaturen ist viel eindimensionaler als in China. Allein schon weil China eine lebenslustige Bevölkerung besitzt, kann die Regierung nicht in derselben ritualisierten, ideologisierten Form den öffentlichen Raum bestimmen.

Offenheit und Modernität

Wie reagieren Sie auf den Vorwurf, die grossartige Architektur Ihres Stadions habe nur in einem autoritären System und nur auf Kosten von rechtlosen Wanderarbeitern realisiert werden können?

Je komplexer eine Bauaufgabe, desto qualifiziertere Leute braucht es auf allen Ebenen der Planung und Ausführung. Das Olympiastadion ist ein sehr komplexes Objekt, an dem die Chinesen für die Zukunft viel lernen konnten. Wie bereits gesagt, versuchen wir einen Prozess der Öffnung zu unterstützen und gewiss nicht den Status quo zu zementieren. Die billigen Arbeitskräfte sind eine Tatsache. Ihretwegen gilt China ja heute als Werkbank der Welt. Für die Sicherheitsstandards auf der Baustelle waren unsere chinesischen Partner zuständig. Aber der Staat hat kein Interesse daran, Arbeiter zu verheizen oder gar der Todesgefahr auszusetzen.

Ihr Stadion wird als Wahrzeichen der Olympischen Spiele vom kommunistischen China dazu genutzt, der Welt seine Offenheit, Modernität und Überlegenheit zu demonstrieren. Haben Sie keine Angst, dass dies der Marke Herzog & de Meuron im Westen schaden könnte?

Wieso sollte es? Es gibt wohl kein Gebäude, das in letzter Zeit so oft besprochen und dessen architektonische Qualität derart hervorgehoben wurde. Die Medien können es selbstverständlich zu einem Symbol des heutigen China machen, zu einem Bau, der für das Regime steht. Unserer Meinung nach steht es aber – wie die Verbotene Stadt oder die Chinesische Mauer, mit denen es die Chinesen auch vergleichen – viel eher für die Kultur von Peking und von China ganz allgemein. Das Gebäude verkörpert etwas, mit dem sich die Leute identifizieren. Sie lieben dieses Stadion. Was können wir mehr erwarten? Aber wir bedauern zutiefst, dass die Regierung gerade jetzt die Menschenrechte mit Füssen tritt. Dennoch sind wir überzeugt, dass China bereits eine offenere Gesellschaft geworden ist und dass dieser Prozess nicht mehr rückgängig gemacht werden kann.

Wir Europäer sehen in unseren Kulturschaffenden – anders als in Firmen und Investoren – gerne moralische Vorbilder. Steven Spielberg, Sharon Stone und andere Schauspieler sowie der Künstler Ai Weiwei haben die chinesische Politik kritisiert. Fühlen Sie sich da nicht auch gefordert?

Ich möchte hier noch einmal betonen, dass wir das Nichtbeachten von Menschenrechten auf das Schärfste verurteilen. Aber wir sind vergleichsweise unbedeutend. Wenn wir nun öffentlich verkünden würden, Herzog & de Meuron distanzieren sich wegen der jüngsten Entwicklung im Bereich der Menschenrechte von ihrem Stadion und gehen nicht an die Eröffnung der Olympischen Spiele, so wäre das lächerlich und hätte darüber hinaus keinerlei Wirkung, weil es der Regierung ganz einfach egal wäre. Vielleicht wäre es ihnen sogar recht, denn die Karten sind heiss begehrt. Spielberg kannte die Situation von Anfang an genau, und damals, als er seinen Auftrag annahm, war China gewiss nicht offener als heute. Wenn er sich nun mit viel Getöse zurückgezogen hat, so ist das nichts anderes als billige Propaganda.

Emanzipatorische Kräfte

Was sagen Sie dazu, dass Architekten wie Renzo Piano oder Christoph Ingenhoven sich dezidiert dagegen ausgesprochen haben, in China zu bauen?

Das ist deren Angelegenheit. Wir glauben aufgrund unserer Erfahrungen, dass Architektur ein Potenzial haben kann, das transformatorische und emanzipatorische Kräfte freisetzt. Es ist unsere Aufgabe, solche Kräfte zu fördern – viel eher, als auf eine aktive Teilnahme zu verzichten und aus der Ferne zu Boykotten aufzurufen.

Die Arbeiten am Olympiastadion sind abgeschlossen. Warum bleiben Sie in der jetzigen Situation weiterhin in China tätig?

Wir haben zurzeit keine weiteren Projekte in China – abgesehen von unserer Mitarbeit bei einer Aktion von Ai Weiwei, in deren Verlauf 100 Villen von 100 jungen Architekten in der äusseren Mongolei entstehen sollen. Wir helfen beim Zusammenstellen der Architektenliste mit. Und, ja, da gibt es noch ein Projekt in Hongkong, bei dem es um die Umwandlung einer ehemaligen Polizeistation in ein Kulturzentrum geht. Auch dieses Projekt hat dank seinem öffentlichen Charakter ein grosses Potenzial. Solche Aufträge interessieren uns. Uns geht es um das Ausloten dessen, was Architektur überhaupt sein und leisten kann. Dazu gehört auch die Auseinandersetzung mit Ideologien und mit psychologischen Aspekten, was letztlich zur Frage führt: Warum macht eine Gesellschaft diese und nicht jene Architektur?

Es gibt immer mehr kreative chinesische Büros. Werden diese bald den Platz einnehmen, den jetzt Sie und andere ausländische Architekten besetzen?

China wird künftig verstärkt darauf tendieren, eigene Künstler und Architekten einzubeziehen, und sich auch auf diesen Gebieten Kompetenz erarbeiten. Es werden auch immer mehr chinesische Künstler, Intellektuelle und Forscher in den Westen gelangen. Das ist ein unaufhaltsamer Prozess, gut für die Chinesen und für uns auch.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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Herzog & de Meuron Architekten BSA/SIA/ETH, Pressebild: Michael Zapf