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7. Juni 2019 TEC21

«Wir müssen seinem Werk Sorge tragen»

Eugen Brühwiler verband eine enge Freundschaft mit Christian Menn. Clementine Hegner-van Rooden, die Menn ebenfalls persönlich kannte, hat mit ihm über seinen Kollegen und Freund gesprochen.

TEC21: Herr Brühwiler, was lässt uns Christian Menn neben Entwürfen, Ideen und Konzepten als sein Vermächtnis für die Baukultur zurück?
Eugen Brühwiler: Christian Menn pflegte einen intensiven Austausch mit Berufskollegen. Er empfand die Gespräche als bereichernd, wenn er mit interessantem Fachwissen konfrontiert war. Diese Gesprächskultur und seine Offenheit für Kritik nehme ich mit. Ich werde sie pflegen und dadurch hoffentlich wiederum Fachleute zum mündlichen Austausch und zur Kritik von Projekten und Bauwerken ermuntern.

TEC21: Sie haben viele Gespräche mit ihm geführt. Wie kam es zu dieser kollegialen Freundschaft?
Eugen Brühwiler: Im Mai 1998 hatte er mir vorgeschlagen, mit ihm sein 1986 erschienenes Buch «Stahlbetonbrücken» zu überarbeiten und um Aspekte der Dauerhaftigkeit und der Erhaltung zu erweitern. Dieser überraschende Vorschlag war mir eine grosse Ehre, die ich als Chance verstand – damals war ich gerade drei Jahre als Pro­fessor für Bauwerkserhaltung an der ETH Lausanne tätig. Menn und ich hatten 1993 beim Brückenwett­bewerb für den Doppelspurausbau des Wipkinger­viadukts zusammengearbeitet. Er war Jurymitglied und ich als Brückeningenieur bei den SBB. Bei der Erarbeitung der dritten Auflage, die 2003 erschienen ist, hat mir Menn viel mitgegeben. Ich war beeindruckt, wie er bei seinen Ausführungen oft Skizzen erstellte – immer mit Kugelschreiber – und die Statik und das Kräftespiel seiner Entwürfe mit Pfeilen für Zug- und Druckkräfte einfach und klar erklärte. Diese Erfahrung hat meine Tätigkeit als Hochschullehrer, Forscher, beratender Ingenieur und Experte stark beeinflusst.

TEC21: Inwiefern?
Eugen Brühwiler: Es ist ein Aspekt, den wohl viele seiner Gesprächspartner mitnahmen: sein Geschick, dem Entwurf von Brücken und dem Verständnis, wie eine Brücke «funktioniert», eine hohe Gewichtung beizumessen. Auf dieses wesentliche Kriterium, das Menn im Brückenentwurf vertrat, konzentriert sich unser Fachbuch; entwurfsspezifische und konstruktive Aspekte von Stahlbetonbrücken. Denn die grössten Mängel im Brückenbau betrafen und betreffen den technischen und gestalterischen Entwurf. Einfache Modelle schaffen Klarheit. Detailberechnungen behandelten wir nicht, da sie meist nur von sekundärer Bedeutung sind und weder auf Qualität noch auf Wirtschaftlichkeit einen nennenswerten Einfluss haben. Das kreative Denken steht im Vordergrund.

TEC21: Bemerkenswert ist, dass Sie das Kapitel über den Brückenentwurf vollständig umgeschrieben haben. Hinterfragte Menn seine Entwurfskriterien?
Eugen Brühwiler: Diese Überarbeitung hat mich sehr überrascht, da ich davon ausging, dass Menn aufgrund seiner grossen Entwurfserfahrung eine konsolidierte Haltung aufweisen würde. Aber nein, er vertrat die Haltung, dass alles (noch) besser gemacht werden kann. Noch vor wenigen Jahren sagte er mir, dass dieses Kapitel erneut überarbeitet werden sollte.

TEC21: Das Buch nimmt keinen Bezug auf Normen, bringt keine Hintergrundinformation zu Normartikeln …
Eugen Brühwiler: Auch das widerspiegelt eine grundlegende Haltung von Menn: Nicht das sture Einhalten der Norm, sondern der kreative Entwurf nach den Kriterien der «Structural Art» schafft gute Ingenieurbaukunst. Allerdings entspricht dies nicht mehr der gegenwärtigen Arbeitsweise. Der Bauingenieur führt seine Berechnungen in einem streng normierten Rahmen aus. Ihm bleibt kaum Zeit, und es fehlen oft Anreize, um ein Projekt intensiv zu bearbeiten und zu verbessern. Die Digitalisierung des Ingenieurwesens wird die Tragwerksanalyse und die rechnerischen Normnachweise beeinflussen – und hoffentlich ba­na­lisieren. So könnten die Ingenieure wieder ver­mehrt Rechenergebnisse detailliert beurteilen und Normvorschriften nicht buchstabengetreu, sondern projektbezogen interpretieren. Dies setzt allerdings solide Kenntnisse voraus, wie ein Brückentragwerk funktioniert. Deshalb werden die Methodik von Menn und Fachbücher in Zukunft wieder einen wichtigeren Stellenwert erhalten.

TEC21: Menns Meinung, dass Ingenieurbaukunst das Ergebnis von Innovation, Kreativität und Ideenreichtum ist – und nicht etwa von Normen und Berechnungen –, hält dann in die Praxis Einzug?
Eugen Brühwiler: Zu viele Nachweise und Detailberechnungen lenken vom Wesentlichen ab. Sie lähmen die Fantasie und Kreativität der Bauingenieure. Dies gilt auch bei bestehenden Brücken, die oft nur stur «nachgerechnet» und nicht wirklich überprüft werden. Insofern ist zu hoffen, dass eine Neuausrichtung der Arbeitsmethodik der Ingenieure stattfinden wird, wie Menn dies immer forderte.

TEC21: Trotz durchdachter Entwürfe mussten die meisten Stahlbetonbrücken von Menn bereits nach 20 Jahren Betriebsdauer instand gesetzt werden. Weshalb?
Eugen Brühwiler: Die meisten seiner Brücken wurden in einer Zeit gebaut, als die Kenntnisse über die Dauerhaf­tigkeit von Stahlbeton rudimentär waren und noch keine Tausalze für die Schnee- und Eisräumung verwendet wurden. Entsprechend zeigten die der ­Witterung und den Tausalzen ausgesetzten Betonober­flächen nach geraumer Zeit Bewehrungskorrosionsschäden und deutliche Zeichen einer Alkali-Aggregat-Reaktion auf. Dies betraf besonders die Ganterbrücke, die 2007/08 nach nur 27 Betriebsjahren instand gesetzt werden musste.

TEC21: Der Entwurf kann also nur so gut sein, wie die technischen Kenntnisse bekannt sind?
Eugen Brühwiler: Dem ist so. Menn gab es zu denken, dass seine und andere Brücken so früh instandsetzungsbedürftig waren. Er äusserte unaufgefordert seine Bedenken – wenn es sein musste bis zum Bundesrat wie im Fall des Felsenauviadukts. Ausserdem beschäf­tigte er sich als ETH-Professor in der Forschung mit der Dauerhaftigkeit von Stahlbeton und Methoden zur Instandsetzung von Stahlbetonbrücken. Er war beispielsweise fasziniert von der UHFB-Technologie und erkannte das Potenzial, die Betonbauweise damit dauerhaft zu verbessern. 2014/2015 wurde diese Technologie weltweit erstmals in einem Grossprojekt eingesetzt: für den Chillon-Autobahnviadukt am Genfersee (TEC21 47/2014 «Ultrahochleistungs-Faserbeton in der Praxis»). Während der Projektierungsphase hinterfragte Menn im persönlichen Gespräch mit mir Aspekte dieser Anwendung. Als 85-Jähriger half er mir so, diese Grossanwendung zu konsolidieren.

TEC21: Freunde, Kollegen und am Brückenbau Interessierte haben das Gespräch mit Menn gesucht. Dieser Austausch zwischen Jung und Alt ist heute nicht selbstverständlich.
Eugen Brühwiler: Menn war auch nach seiner Emeritierung aktiv, vor allem für Bauherrschaften und Ingenieurfirmen aus dem Ausland. Er hatte eine gewisse Präsenz in den Medien und erhielt Anfragen für Vorträge, denn er war bekannt für seine inspirierenden Brückenprojekte und markanten Aussagen. Er nahm diese Anfragen gern und pflichtbewusst an. Wenn es ihm zu viel wurde, bat er mich, ihn zu vertreten. Zudem wussten Berufskollegen seine zuweilen patriarchalisch formulierten Ratschläge zu schätzen, denn diese konnten durchaus Garant sein für ein ausgewogenes Brückenprojekt. Und nicht zuletzt war Menn von diesem Austausch mit jüngeren Kollegen abhängig, denn er musste seine Entwürfe mit Visualisierungen auf Papier bringen und mit statischen Berechnungen und Modellen nachweisen. Dies war nur durch eine enge Zusammenarbeit mit Ingenieurbüros ­möglich.

TEC21: Und wie reagierte er auf die Änderung des Berufsbilds der Ingenieure über die letzten Jahrzehnte?
Eugen Brühwiler: Sie war ihm keinesfalls gleichgültig – im Gegenteil. Er schrieb Leserbriefe, hielt Vorträge und verfasste Beiträge in den Medien. Er hat versucht, ­seiner Sorge um den Ingenieurberuf Ausdruck zu verleihen, indem er unermüdlich forderte, dass der Bauingenieur wieder die Federführung im ­Brückenentwurf übernimmt. Denn abgesehen von der Erfüllung der normierten, technischen Anfor­derungen, die vom Ingenieur immer garantiert werden muss, sind die Wahl des Tragsystems und die grundlegende Formgebung primär Ingenieur­aufgaben. Leider delegieren viele Ingenieure ihre Gestaltungsfragen an den Architekten, manchmal gar den gesamten Entwurf. Dadurch sind die Inge­nieure immer mehr zu Handwerkern, zu Ausführenden geworden, statt Führende im Bau­wesen zu bleiben.

TEC21: Solche Meinungen vertrat Menn durchaus energisch.
Eugen Brühwiler: Er sorgte sich um den Berufsstand. Ich interpretiere seine spontanen, manchmal zornigen Aussagen auch als Ohnmacht gegenüber Meinungen und Ansichten, an denen nicht zu rütteln war und die er als falsch erachtete. Hinzu kam, dass er oft daran zweifelte, dass seine Projektideen richtig verstanden würden. Er befürchtete, man würde sie verändern. Seine Leidenschaft für das Ingenieur­wesen war gross – ebenso sein Leidensdruck. Es hat mich be­eindruckt, wie auch ein anerkannter «Weltstar des Brückenbaus» andauernd um Anerkennung für seine Standpunkte kämpfen musste.

TEC21: Weshalb setzte er sich diesem Druck aus und plante und beriet bis ins hohe Alter?
Eugen Brühwiler: Es war sein Lebensstil. Der Brückenbau mit allen seinen Facetten war ihm wichtiger als manch anderes. Sogar an seinem 80. Geburtstagsfest dis­kutierten wir spät abends noch über die aerodynamische Funktionsweise von breiten, aufgelösten Fahrbahnträgern für Hängebrücken. Er ist nicht umsonst einer der grössten Brückenbauer, der viel kreiert, un­eigennützig gelehrt und realisiert hat, der viel nachgedacht und gründlich recherchiert hat – und eine klare Haltung hatte. Seine Verpflichtung an die intellektuelle Ingenieurleistung ist beispielhaft. Er scheint daraus Energie gewonnen statt verloren zu haben.

TEC21: Worin fand Menn seine Inspiration?
Eugen Brühwiler: Zu Beginn inspirierten ihn vor allem die Brücken von Robert Maillart. Er analysierte sie und bewertete sie kritisch. Aber auch die Brücken von Berufskollegen und die Brücken aus früheren Zeiten wie die Steinbrücken der Rhätischen Bahn erkundete er systematisch, um das Wesentliche des Entwurfs herauszukristallisieren. Dadurch gewann er eine reiche Kenntnis der Geschichte des Brückenbaus und der Ingenieurbaukunst.

TEC21: Von diesem Wissen profitierte er in seiner Entwurfsarbeit. Können auch wir davon profitieren?
Eugen Brühwiler: Auch wenn nicht alle seine Brückenentwürfe gebaut oder gemäss der ursprünglichen Entwurfsidee ausgeführt wurden, können aufmerksame Ingenieure aus diesem beachtlichen Werk wesentliche Impulse für ihre eigenen Entwürfe filtern. Es ist wichtig, dass wir ihm Sorge tragen, dann wird es nachhaltig bestehen bleiben und zu einem erfahrbaren Erbgut Schweizer Ingenieurbaukunst.

7. Dezember 2018 TEC21

Einzeleingriffe mit Gesamtkonzept

Während des aktuellen Umbaus des Kongresshauses und der Tonhalle in Zürich setzen sich die Ingenieure von Conzett Bronzini Partner eingehend mit zahlreichen Einzelbaustellen auseinander.

Mit der laufenden Instandsetzung wird das Kongresshaus in Zürich an die heutigen Anforderungen in puncto Gebäudetechnik, Tragwerk oder Brandschutz angepasst, um für die nächsten 50 Jahre nutzbar zu sein. Teile des Ensembles werden rückgebaut, um die Attraktivität des architektonisch einzigartigen Baus zu steigern. Die Innenräume werden heller, moderner, sicherer und flexibler nutzbar (vgl. «Intelligenter Schachzug»).

Auf Holz im Wasser fundiert

Der bestehende Gebäudekomplex besteht aus fünf einzelnen Baukörpern, die sich in unmittelbarer Nähe des Zürichsees befinden und von den Schwankungen des Seespiegels tangiert werden. Ehemals das frühere See­ufer bildend – der Bereich hin zum See wurde in den 1880er-Jahren nach Plänen von Stadtingenieur Arnold Bürkli aufgeschüttet –, ist der Baugrund setzungsempfindlich. Die Gebäude sind deshalb auf Pfählen fundiert.

Die 1895 erbaute Tonhalle und zu einem grossen Teil die Gebäudeerweiterung aus den 1930er-Jahren stehen auf Holz-, andere und später erstellte Bauteile auf Betonpfählen. Der Grundwasserspiegel folgt den Schwankungen des Seespiegels. Der tiefste Spiegel und damit die Fäulnisgrenze der Holzpfähle liegt etwa 0.60 bis 1.10 m über der bestehenden Gebäudesohle bzw. über den Pfahlköpfen. Die wichtigste Voraussetzung für eine lange Lebensdauer dieser Pfähle war somit gegeben.

Allerdings musste der konservierende Zustand auch während der Bauarbeiten bewahrt werden. Die Ingenieure von Conzett Bronzini Partner planten deshalb eine ausgeklügelte Grundwasserhaltung und ­detaillierte Bauetappen unter Terrain und Grundwasserspiegel wie Betonieren und Ausheben unter Wasser. So gewährleisteten sie, dass die bestehenden Holzpfähle auch bei über 5 m tiefen Baugruben, die für die Erweiterung nötig waren, nie trockengelegt und somit nie dem schwer kalkulierbaren Fäulnisprozess aus­gesetzt waren.

Um die Wasserdichtigkeit des Fundaments zu bewahren, wurden Eingriffe in die bestehenden Bodenplatten nur dort vorgenommen, wo es zum Beispiel für neue Kanalisationsrohre nicht anders ­möglich war. Die Nahtstellen sind auch nach der Bauphase zugänglich, falls nötig wird man nachinjizieren. Der durchdachte Grundbau ermöglichte es, die Fundamenterweiterungen inklusive zusätzlicher Pfahlgründungen nur durch punktuelle Eingriffe umzusetzen.

Tragwerk bewahren

Vergleichbar gingen die Ingenieure die Instandsetzung und Erweiterung des Tragwerks der Gebäude an. Um möglichst viel von der vorgefundenen Substanz zu ­bewahren und dennoch einen modernen Betrieb zu ­gewährleisten, sind bauliche Eingriffe bezüglich Gebäudetechnik, Brandschutz, Gebäudehülle und Erdbebensicherheit unumgänglich. Architekten und Ingenieure behandelten jeden Eingriff gesondert – allerdings mit einem ganzheitlichen, baustellenübergreifenden Ansatz. So sollte das vertikale Tragkonzept belassen werden. Dieses Vorgehen wird den denkmalpflegerischen und den wirtschaftlichen Interessen gerecht, denn ­zusätzliche Belastungen von bestehenden Bau­teilen werden vermieden und Tragreserven aus Nutz­last­veränderungen ausgenutzt.

Wo trotzdem neue Betonbauteile erforderlich sind, schliessen die Ingenieure sie monolithisch an die bestehende Konstruktion an. Dazu wird die Be­wehrung der angrenzenden Bauteile lokal freigelegt und mit den neuen Bauteilen vergossen. Beim Betonieren von neuen tragenden Wänden zwischen vorhan­denen Decken werden in der oben liegenden Decke ­Kernbohrungen erstellt, durch die der selbstverdichtende Beton gepumpt wird. Dieser in kurzen Etappen und mit relativ kleinen Baugeräten ausführbare Bauablauf ­berücksichtigt die örtlichen Gegebenheiten: ­Die mehrheitlich innen liegenden Bauteile sind meist nur über die bestehenden, teilweise schmalen Erschliessungswege zugänglich.

Eingriff für Eingriff klären

Bevor mit der Planung der Eingriffe begonnen werden konnte, war eine umfassende Aufnahme des Bestands erforderlich. Die Ingenieure lernten das Gebäude in seinen Details kennen, befassten sich mit seiner baulichen und statischen Geschichte, versuchten den Kräftefluss und die Konstruktion zu begreifen und analysierten das Potenzial. Über tausend Bestands­pläne unterschiedlicher Detaillierungstiefe und die statischen Berechnungen des Büros Maillart zum Kongresssaal­trakt geben Auskunft über die Tragkonstruktion der fünf Trakte. Andere Bauteile waren weniger gut dokumentiert, weshalb vorab viele Sondierungen nötig waren, um die Nachweise führen zu können.

Historischer Gartensaal neu eingebettet

In den 1980er-Jahren erfolgte mit der Erweiterung des Gartensaaltrakts inklusive Panoramasaal der radikalste Eingriff in den Bestand (vgl. «Bewegte Geschichte»). Diese Anbauten wurden nun abgebrochen, erhalten blieb der Gartensaal mit seiner filigranen Trag­konstruktion, ­dessen Untergeschoss und das Untergeschoss des Tagungszentrums. Die Neubauten mit einem Tragsystem aus Stahlbetonstützen mit aufgelagerten vorgespannten Unterzügen umschliessen die belassenen Gebäudeteile.

Die neuen Decken werden monolithisch mit dem Bestand verbunden und stabilisieren ihn so gleichzeitig horizontal. Vertikale Lasten werden kaum übertragen, um Zusatzbelastungen der vorgefundenen Stützen und deren Pfahlfundation möglichst zu ver­hindern. Das neue Restaurant auf der Terrasse über dem historischen Gartensaal wird als Stahlskelettbau konstruiert. Dieser Pavillon gibt die Lasten ausschliesslich auf die Decken und Stützen der Erweiterung ab, die auf Grossbohrpfählen oder, wo nicht anders möglich, auf Mikropfählen fundiert wurde.

Neu miteinander verzahnt

Die Verzahnung und die horizontale Stabilisierung erfolgten nicht nur rund um den Gartensaal, sondern über den gesamten Komplex. Dadurch wird dieser auch den aktuellen Anforderungen bezüglich Erdbebensicherheit gerecht. Die einzelnen Gebäudetrakte waren durch Dilatationsfugen getrennt. Sie fingen die längst abgeklungenen Bewegungen aus Temperaturänderungen im Gebäudeinnern und vor allem die Schwind- und Kriechvorgänge sowie die Setzungen der Fundamente auf.

Da im Erdbebenfall die Fugenweiten für ein unabhängiges Schwingverhalten der einzelnen Gebäudetrakte mit 1 bis 2 cm zu schmal sind, wurden sie im Bereich der Geschossdecken stellenweise vergossen. Die Gebäudetrakte verschmolzen miteinander und wurden insgesamt steifer. Zudem liessen die Ingenieure ohnehin notwendige Wände erdbebenstabil ausbilden oder vorhandene Betonwände lokal ertüchtigen.

Konservierte Stahlfachwerke

Verstärkt werden mussten auch die Dachkonstruktionen aus Stahl-Fachwerken, die die Tonhalle und das Kongresshaus überspannen. Die statische Nachrechnung zeigte, dass sie grundsätzlich genügend tragfähig und aufgrund des trockenen Raumklimas kaum korrodiert sind. Wegen der zusätzlichen Beanspruchungen aus Bühnen- und Gebäudetechnik musste das Dachtragwerk über dem grossen Tonhallesaal aber trotzdem statisch ertüchtigt werden.

Da die Stahlqualität Schweissungen nicht zuliess, lösten die Ingenieure sämtliche Anschlüsse an die bestehenden Stahlteile mittels Umfassungslaschen, Klemmen und Druckanschlüssen. Die Verstärkung wurde vorgespannt, damit diese bereits unter ständigen Lasten Kräfte abträgt und vorab keine plastischen Umlagerungen nötig sind – eine Bedingung, um den Bestand nicht unnötig zu beschädigen (vgl. «Stuck an feinen Drähten», Kasten unten).

Die detaillierten Eingriffe widerspiegeln die Verflechtung der Disziplinen. So unterschiedlich die einzelnen baulichen Eingriffe letztlich auch ausfallen, ihnen liegt ein gleicher Ansatz zugrunde: Originales möglichst als Ganzes zu erhalten und Neues interdisziplinär aufeinander abgestimmt an die Merkmale des Bestands anzuknüpfen.


Literatur:
Robert Maillart, Tonhalle und Kongresshaus, ETH-Bibliothek, Hochschularchiv ETHZ (HS 1085 : 1936/38-1)
Strategie Kongressstadt Zürich, Norbert Müller, Martina Glaser, Präsidialdepartement, Stadt Zürich
Arthur Rüegg und Reto Gadola (Hrsg.), Kongresshaus Zürich 1937–1939: Moderne Raumkultur, Zürich, gta Verlag, 2007
Sonja Hildebrand, Bruno Maurer und Werner Oechslin (Hrsg.), Haefeli Moser Steiger: die Architekten der Schweizer Moderne, Zürich, gta Verlag, 2007

23. November 2018 TEC21

Die Promenade am See

Viele harte Verbauungen an Schweizer Seeufern sind über 100 Jahre alt. Ihre Instandsetzung und Aufwertung sind diffizile Aufgaben, da Wellen auf der einen und der Bevölkerungsdruck auf der anderen Seite auf die Uferzone prallen. Die neue Seeufergestaltung im siedlungsdichten Raum von Brunnen steht dafür exemplarisch.

Brunnen wandelte sich ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum Kurort. Die Landschaft am Vierwaldstättersee zog den Tourismus an; die touristische Infra­struktur folgte. Insbesondere am ­See­ufer wurde grosszügig und mutig gebaut (Aufschüttung von Wehrihaggen, Waldstätterquai und -terrasse sowie Bellevuequai). Die heutige Ufer­anlage ­basiert in ihrer Disposition immer noch auf dieser his­torisch gewachsenen Grundlage. Über das letzte Jahrhundert ergänzt und sporadisch ausgebessert, ­entsprach sie aber in Teilbereichen nicht mehr den aktuellen Anforderungen. Der Zugang zum Wasser für die Bevölkerung über die Uferpromenade sollte ver­bessert und das Bauwerk instand gesetzt werden.

2005 lobte die Gemeinde Ingenbohl einen Studienauftrag aus. Dettling Wullschleger Architekten mit Ryffel + Ryffel Landschaftsarchitekten gewannen und wurden 2006 zusammen mit den Ingenieuren von ­Staubli, Kurath & Partner mit der Projektausarbeitung beauftragt. Seit Sommer 2016 ist die erste von vier Etappen realisiert. Die Uferlinie erscheint neu mit einem rund 70 m langen und fast 4 m breiten Seesteg und einer Treppenanlage mit Sitzstufen beim Bootssteg. Dabei griff das Planerteam die ­his­torische Gestaltung auf und verknüpfte die nutzungsspezifischen Aspekte mit den statischen und ­sicherheitsrelevanten Anforderungen so, dass sie das architektonische Konzept stützen.

Konsequenz aus Belastung und Nutzung

Bei mittlerem Seewasserstand befindet sich der Seesteg nur etwa 0.6 m über dem Wasser. Die zwei untersten Stufen der Treppenanlage sind permanent überspült. Damit die Ingenieure eine Konstruktion entwickeln konnten, die spezifisch auf den Kontext mit seinen statischen Rahmenbedingungen reagiert, und damit bei Sturmereignissen keine Schäden durch Überbelastung, schädliche Erosionsprozesse oder Materialverfrachtungen entstehen, wurden die Prozesse im Wasser genau analysiert. An diesem Ufer treten rechnerisch signifikante Wellenhöhen von 1.6 m auf. Die einzelnen Maximalwellen sind sogar nochmals 80 % grösser. Während der Föhnlage trifft die für die Bemessung der Uferverbauung relevante Welleneinwirkung auf der gesamten Länge gleichzeitig auf.

Ausserdem ist der Baugrund schwierig. Die oberen Schichten bestehen aus einer künstlichen Aufschüttung, die im Rahmen der Quaiverbreiterung und beim Bau der alten Ufermauer eingebracht wurde. Sie enthält grosse Blöcke, was die Rammbarkeit stark beeinträchtigte und die Wasserhaltung beim Trockenlegen der Baugrube erschwerte. Darunter folgt eine setzungsempfindliche, schlecht tragfähige Schicht. Die neue Uferverbauung steht nun auf schwimmenden Pfählen, die 30 bis 40 m in den Baugrund reichen. Auf den Pfahlköpfen lagern ein Fundamentriegel und darüber die Oberkonstruktion. Sie ist an den Auflagern gefugt. Die Fugen und die sich daraus ergebende statische Bestimmtheit des Tragsystems verhindern, dass die differentiellen Setzungen das Tragverhalten infolge unerwünschter Zwängungen beeinflussen.

Weil die Seetreppe durchlässig ausgestaltet wurde, gelangt ein Teil der Wellenenergie in den darunter liegenden Hohlraum. Dort wurde ein massiver Blockwurf eingebaut, der die Wellenenergie vernichtet und dadurch die auf das Bauwerk wirkende Belastung markant reduziert. Die Brüstungen entlang des Seestegs und die Treppenstufen sind seeseitig abgeschrägt. Auch diese angewinkelte Untersichtsfläche reduziert die Wellenkraft auf die Verbauung, da die senkrecht auf das Ufer treffenden Wellen wieder auf den See zurückgeworfen werden. Der Hohlraum unter der Treppe ist zugleich Unterschlupf für Jungfische und Wassertiere. Damit und mit den teils nicht begehbaren Kiesstränden und neuen Blockwürfen beim Seesteg erhält die Situation auch punktuelle ökologische Aufwertungen.

Was unbeschwert erscheint, ist ein detailliert ausgearbeitetes Projekt, das auf die spezifische ­Wellen- und Windsituation vor Ort abgestimmt ist. Die
Konstruktion der Uferzone verhindert eine schadensreiche Erosion und einen übermässig belastenden ­Wellenschlag. Obwohl das Bauwerk nach wie vor eine unnatürliche und harte Verbauung ist, beruht es auf einem Eingriffskonzept, das die gestalterische, technische und sicherheitsspezifische Massnahmen verträglich mit den Nutzungsbedürfnissen vereint.

23. November 2018 Paul Knüsel
TEC21

Ein schmaler Pfad für mehr Natur

Das Naturschutzgebiet Hopfräben liegt am Ufer des Vierwaldstättersees, der Zugang zum Wasser ist teilweise verbaut. Die Renaturierung des Verlandungsbereichs wurde mit einer Schutzplanung für das dahinter liegende Flachmoor kombiniert.

Schwyz ist ein Voralpen- und Moorkanton. Wohl am bekanntesten ist Rothenthurm. Diese Hochmoorlandschaft hatte die Schweiz vor 31 Jahren zur Annahme des Moorschutzartikels verleitet. Seither sammelt die kantonale Umweltbehörde wichtige Erfahrungen, wie das strenge Gesetz für Eigen­tümer, Nutzer und Besucher verbindlich umgesetzt ­werden kann. Im Moor darf an sich nichts verändert werden, und auch die Zugänglichkeiten sind zu beschränken. Verbote funktionieren aber nicht immer. Gemäss Remo Bianchi vom Amt für Natur, Jagd und Fische­rei des Kantons Schwyz werden Lösungen häufig besser akzeptiert, wenn sie auch gegensätzliche Ansprüche verbinden. «Konkret heisst das: Zwischen Naturschutz und Naherholung gilt es einen Ausgleich zu finden.» Auch im Hopfräben direkt neben dem Siedlungsgebiet von Brunnen wird nun ein solcher Spagat geübt.

Grossräumlich ist der Standort eine der wenigen Flachuferzonen am Vierwaldstättersee. Im Kern enthält diese Landzunge ein Streuried als letzten Rest des Muota­deltas. Das Areal steht auf der Liste der Flachmoore von nationaler Bedeutung. Es ist bäuerliches Grundeigentum und wird standorttypisch genutzt und gepflegt. Die knapp sieben Fussballfelder grosse Fläche besticht durch ihre ökologische Qualität: Sauergräser, Schilfgürtel und Wasserpflanzen bilden die ökologisch wertvolle Vegetation; Fische, Wasservögel und Amphibien profitieren von der Verlandungszone, so gut es eben geht.

Denn wie der Augenschein vor Ort verrät, drängt der Mensch bis hart an den Rand. Das Feuchtbiotop wird von Gewerbe- und Erholungsinteressen in die Zange genommen. Im Norden und Süden steckt je ein Campingplatz den Schutzperimeter ab. Im Nordwesten bildet eine öffentliche Badeanstalt die künstliche Grenze. Und auch eine Kieswaschanlage gehört zur einengenden Nachbarschaft. Einen Puffer, der Raum für die natürliche Dynamik bieten würde, gibt es kaum. Doch auch für Wanderer, Biker und Hundefreunde ist das Muotadelta attraktiv. Örtliche Hängegleiterschulen peilen eine nahe gelegene Landewiese an. Fussgänger suchen derweil eine Abkürzung dem Vierwaldstättersee entlang. Misslungene Anflugmanöver und Trampelpfade hinterlassen mehr als nur temporäre Spuren im empfindlichen Feuchtgebiet.

Im Einzelnen und in der Summe sind die Störungen für die besondere Flora und Fauna uner­träglich und unkontrollierbar geworden. Um weitere Konflikte zu verhindern, hat die Kantonsbehörde vor zweieinhalb Jahren einen Schutzplan in Kraft gesetzt. Die einvernehmliche Lösung mit Grundeigentümern, Nachbarn und der Gemeinde wartet nun auf den Abschluss ihrer Umsetzung. Ausstehend ist die Bewilligung dreier Einzelprojekte, die gemeinsam der ökologi­schen Aufwertung von Uferzone und Flachmoor dienen.

Widerstand an den Grenzen

Die ersten Schritte zum Schutz des Feuchtstandorts unternahm die Gemeinde Ingenbohl vor fast einem halben Jahrhundert. Aber erst 2011 wurde die Dringlichkeit der Angelegenheit erhöht. Bis 2016 verhandelten die Behörden von Brunnen und des Kantons Schwyz mit Eigentümern und Nutzern über eine Neuordnung des räumlichen Geflechts. Eine ökologische Bewirtschaftung mit Düngerverbot wurde nie infrage gestellt. Die härteren Nüsse waren an den bisherigen Grenzen zu knacken: Weil die Schwyzer Behörde den Abstand zwischen Flachmoor und Erholungsnutzung vergrössern wollte, sprach man mit den Nachbarn über eine Umlegung der Campingplätze westlich und östlich des Biotops. Einer wehrte sich juristisch dagegen. Ohne Erfolg: Das Bundesgericht lehnte die Beschwerde ab.[1]

Anfang 2016 setzte der Kanton Schwyz den neuen Nutzungsplan Hopfräben in Kraft. Im Osten muss der Zeltplatz Flächen für eine Pufferzone freigeben. Im Gegenzug wird das davor liegende Seeufer zu einem attraktiven Badeplatz umgestaltet. Ein Sichtschutz und ein kleines Fliessgewässer sollen den öffentlichen Bereich vom Flachmoorperimeter abtrennen. Denn ennet dieser neuen Grenze erhält die Natur nun Vorrang. ­Dafür muss das harte Seeufer aber aufgeweicht werden.

Aktuell schützt ein künstlicher Damm aus Abbruchmaterial das natürliche Hinterland; dieser wird gemäss Renaturierungsprojekt durch einen Überflutungsbereich mit Graben und Teich ersetzt. Danach soll ein künstliches Unterwasserriff 25 m seeseitig der heutigen Uferkante den Wellenbelastungen standhalten und trotzdem dynamische Umlagerungsprozesse ermöglichen. Seine Oberkante liegt 20 cm unter dem Mittelwasserspiegel, sie soll die anlaufenden Wellen brechen und zugleich in der Flachwasserzone verhindern, dass das Moorufer erodiert. Je nach Wasserstand, Wellen- und Windsituation wirkt das Riff unterschiedlich. Die Ingenieure dimensionieren es mithilfe von Wellenmodellierungen und binden es im Untergrund ein, damit es selbst nicht erodiert oder von den Wellen zerstört wird.

Dank dem Dammrückbau wird die Verbindung zwischen Moor und See wiederhergestellt, und beide Ökosysteme werden vernetzt: Wasservögel, Fische und Amphibien finden im verzahnten Ufer zusätzliche Brut- und Laichplätze. Auf dem Wasser ist zudem ein 200 m breiter Streifen mit Bojen markiert; das Seeufer vor dem Hopfräben ist für Schwimmer und für das Befahren oder Ankern mit Booten neuerdings tabu.

Die Natur am Ufer gewinnt

Die Abflachung des Ufers wird auch in den Bereichen fortgesetzt, die als kommunale Badezone zugänglich sein werden. Hierfür werden massive Steinblöcke entfernt, um flache Strände und Kiesbuchten ausbilden zu können. Damit die uferparallele Strömung das Mate­rial des neugestalteten Abschnitts nicht verfrachtet und dieses den Einlauf des Hechtgrabens verstopft, werden Umlenkbuhnen rechtwinklig zum Ufer bis in eine Was­ser­tiefe von 2.5 m gezogen.

Während die Natur am Ufer gewinnt, steht am Nordrand der Flachmoorparzelle die Naherholung im Vordergrund. Die kantonale Schutzplanung sieht hier einen neuen Wanderweg vor, der mehrheitlich durch die Pufferzone und teilweise über den Rand des Streurieds führt. Den Hopfräbenweg hiess das Bundesgericht in Lausanne gut. In der Urteilsbegründung wurde die Strategie anerkannt, die sich die Schwyzer Planungsbehörde zur Entflechtung der Nutzungen ausgedacht hatte. Der schmale Moorpfad soll weitere Störungen vermeiden und eine «schutzverträgliche Besucherlenkung» ermöglichen. Vorgesehen ist ein Weg auf Holzprügeln und mit Kiesab­deckung, der höchstens 1.4 m breit ist. Als Sichtschutz für die Vögel auf der Riedfläche können halboffene Palisaden oder Sträucher dienen.

Aktive Beteiligung, hängige Beschwerde

Der Hopfräben hat eine lange Geschichte. Das bezieht sich auf die natürliche Entstehung und inzwischen auch auf die Anerkennung der ökologischen Werte: Bereits im frühen Mittelalter wird die Verlandungszone urkundlich erwähnt. Ab dem 16. Jahrhundert wird sie sogar zum Fischereischongebiet erklärt. Und Ende des letzten Jahrhunderts setzt sich die Besorgnis durch, dass der Rest der einstigen Moorfläche besseren Schutz verdiene.

Inzwischen beteiligen sich weitere Kreise aktiv an der Aufwertung des naturnahen Standorts: Das Elektrizitätswerk des Bezirks Schwyz will hier verfügbaren Raum nutzen für einen ökologischen Ausgleich zur Wasserkraftgewinnung an der benachbarten ­Muota. Eine zusätzliche Gewässerrinne in der Moorpufferzone soll dem seltenen Bachneunauge neue Laichplätze bieten.

Und am Ufer könnte eine Bucht dem Hecht als Rückzugsort dienen. Beide Eingriffe würden gleichzeitig eine Trennlinie zwischen öffentlichem Seeufer und Biotop bilden. Das Konglomerat an baulichen Massnahmen wird dazu führen, dass der Flora und Fauna sowie dem Menschen eigene Nutzungsräume zugewiesen werden.

Insofern scheint ein glückliches Ende vieler ­Bemühungen in Sicht; gut ist es, trotz ausdiskutierten Projekten und zur Genehmigung eingereichten Plänen, aber noch nicht. Abermals steht die Bereinigung eines juristischen Streits aus. Die Schwyzer Umweltorganisationen wehren sich gegen den Abbruch eines alten Badehauses am Aufwertungsufer; auch der Kanton rügt die Gemeinde deswegen. Ein gültiger Entscheid dazu steht aber noch aus, weswegen auch die Baubewilligung sistiert ist. Klarheit herrscht hingegen, was am Ufer vor dem Flachmoor geschehen darf: Um die Fauna vor äusseren, physischen und visuellen Störungen besser abzuschirmen, muss nun auch hier ein Sichtschutz erstellt werden, dessen Höhe sich an Standards in anderen Naturschutzgebieten orientiert. Diesen Vorschlag der Naturschutzorganisationen hat die kommunale Bewilligungsbehörde als Zusatzauflage akzeptiert. Somit stünde der baldigen Aufwertung des Flachmoors Hopfräben inklusive Ufer nichts mehr im Weg.


Anmerkung:
[01] Bundesgerichtsentscheid (BGer) 1C_222/2015 vom 26. Januar 2016.

23. November 2018 Paul Knüsel
TEC21

«Die Natur vor sich selber schützen»

Am Seeufer von Brunnen in der Gemeinde Ingenbohl wird geplant und gebaut. Die Projektbeteiligten tauschen sich aus über Ansprüche, die sie zu erfüllen, und über Interessen, die sie zu vertreten haben. Wo waren und sind die Hürden, was wünscht man sich am Seeufer, und was ist unmöglich zu realisieren?

TEC21: Sie haben am Seeufer des siedlungsdichten Raums von Brunnen gebaut (vgl. «Die Promenade am See»), und Sie planen bauliche Aufwertungsmassnahmen rund um ein benachbartes Naturschutz­gebiet, das Flachmoor Hopfräben (vgl. «Ein schmaler Pfad für mehr Natur»). Zwei sehr gegensätzliche Gebiete am Seeufer mit unterschiedlichen Anforderungen an die Eingriffskonzepte. Ohne ins Detail zu gehen, ist ihnen aber ein langjähriger Planungs­prozess gemeinsam.
Albert Auf der Maur: Das ist in der Tat so. Verbauungen am Seeufer dauern lang – in unserem Fall dauert die Planung bereits Jahrzehnte. Die erste Etappe in Brunnen ist nun aber umgesetzt. Beim Hopfräben sind wir noch in der Planung.
Beat Schuler: Kernelement ist der Zugang zum Wasser. Insgesamt sollen beide Orte an Attraktivität gewinnen und trotzdem den Sicherheits- und ökologischen Anforderungen entsprechen.
Richard Staubli: Wir sind oft bei Seeufer­planungen involviert und bemerken, dass nicht unbedingt der schlechte Zustand beispielsweise von ­Hafenmauern der Auslöser für eine Erneuerung ist, sondern im Siedlungsgebiet vielmehr der Nutzungs­druck durch die Bevölkerung. Um 1900 baute man an vielen städtischen Uferbereichen Prome­naden rund 2 m über dem Seespiegel. Man flanier­te, hatte aber keinen eigentlichen Bezug zum Wasser. Heute wird gerade dieser Punkt zum Thema. Die Be­völkerung möchte näher ans Wasser. Nicht nur an Seen, auch an Flüssen. Die Uferanlagen sind an schönen Tagen teilweise so rege genutzt, dass man sie erweitern und attraktiver gestalten möchte. Bei einem Eingriff ist man mit den bestehenden, 50 bis 100 Jahre alten Strukturen konfrontiert und ent­sprechend mit den Werten, die es zu erhalten gilt. Andererseits ist ein Grossteil der See- und Fluss­ufer in der Schweiz künstlich verbaut, und man ist bestrebt, solche Uferzonen wo möglich zu renaturieren.

TEC21: Steht die Zugänglichkeit zum Wasser denn nicht im Widerspruch zu Sicherheitsfragen?
Albert Auf der Maur: Das war in der Tat der grosse Dis­kussionspunkt für die lokale Bevölkerung. Die Ufer­promenade ist exponiert. Ein Föhnsturm am Quai bedeutet, alle Kursschiffe ­fahren in den Föhn­hafen, und die Wellen schwappen bis über die Kantons­strasse. Baumstämme und Holz werden in Massen an­geschwemmt. Die erste Erneuerungs­etappe der Ufer­zone im Siedlungsbereich von Brunnen aber schafft Zugänglichkeit und ist sicher zugleich. Die Sicher­heit von früher ist auch heute noch gewährleistet.
Richard Staubli: Es gibt verschiedene Arten von Sicherheit. Für den Ingenieur ist gewiss die Tragsicherheit der Bauwerke wichtig. Im Wasser sind Bauwerke über längere Zeiträume wenig belastet, doch plötzlich treten bei Sturm Spitzenbelastungen auf. Das Bauwerk sollte auf die­se Extreme ausgelegt sein und ­keinen Schaden nehmen. Welche Wellen kom­men mit welcher Jährlichkeit aus welcher Richtung? Wenn wir das Bauwerk entsprechend dimensionieren, müssen wir unter Umständen relativ harte Verbau­ungen einplanen. Das steht aber mit ökologischen As­pekten im Konflikt – insbesondere in einem ökologisch wertvollen Raum wie den Uferzonen. Zudem gilt es die Sicherheit der Bevölkerung zu beachten. Wie na­h darf der Mensch – insbesondere das Kind – ans Wasser? Braucht es ein Geländer? Die politische Behörde muss die verschiedenen Ansprüche abwägen und entscheiden, welche Risiken sie übernehmen kann.
Stephanie Matthias: Speziell die Frage, ob es ein Geländer benötigt, ist individuell zu beurteilen. Bei Rampenabgängen gewährleistet dieses die Absturzsicherheit. An der Uferkante von Brunnen ist die ­­Absturzhöhe allerdings so gering, dass man sich bewusst gegen ein Geländer entschieden hat.

TEC21: Wie werden die ökologischen Aspekte berücksichtigt?
Kuno von Wattenwyl: Die Fischereigesetzgebung ist besorgt um Fisch, Krebs und Fischnährtiere – also alles, was Fische fressen – und um deren Lebens­raum. Bei Verbauungen und auch bei der ­Neugestaltung von Verbauungen fordert sie eine ökologische Verbesserung dieses Lebensraums. Dabei weiss man: Kiesstrände oder Flachuferzonen, even­tuell mit Schilf bepflanzt, sind ökologisch viel wert­voller als ein harter Abschluss durch eine Mauer. Meine erste As­­so­ziation zum gestalterischen Plan, das Wasser am Ufer von Brunnen erlebbar zu machen, war daher ein Kies­strand. Man kann direkt ans Wasser gehen, sieht vielleicht einen Fisch, kann Steine ins Wasser werfen, zugleich wird aber auch der Fisch­lebensraum aufgewertet. Doch diese vielleicht naive Vorstellung stiess auf ­Widerstand. Daher war zu ­verhandeln, welche Aufwertungsmassnahmen den ökologischen Zustand tatsächlich verbessern können.

TEC21: Welche Aufwertungsmassnahmen sind das?
Kuno von Wattenwyl: Grundsätzlich können das unterschiedliche Massnahmen sein. Sie reichen vom totalen Rückbau der Ufermauer über die Schaffung neuer Laichplätze und einer neuen Uferbestockung bis zum Anlegen einzelner Fischunterstände. In Brunnen hat man sich für eine Treppe entschieden, die ins Wasser reicht und hohl ist. Der Hohlraum – ein ­Fischunterstand – ist für aquatische Lebewesen erreichbar. Das ist aber eine Kompromisslösung, weil damit der vorhandene aquatische Lebensraum nur minimal aufgewertet wird.
Richard Staubli: Die Schüttung eines grossflächigen Flachstrands wäre aufgrund des steil abfallenden Seegrunds nicht möglich gewesen, ohne die Stabilität des Geländes zu beeinträchtigen. Uferzonen in städtischen Gebieten bergen diesen typischen Konflikt zwischen verschiedensten Interessen. Einerseits haben wir den Menschen, der das Gebiet nutzen möchte und mit seinen Verbauungen und Nutzungen die Ökologie stört. Andererseits sollen wir die Öko­logie verbessern.
Stephanie Matthias: Auch an die Schifffahrt mussten wir denken. So wollte man auf keinen Fall badende Gäste in der Nähe des Anlegestegs. Ein Badeverbot ist aber schwierig umzusetzen, wenn der Strand zum Baden einlädt. Eine Badestelle ist nun etwas ausserhalb der Quaizone, im Umfeld des Naturschutzgebiets Hopf­räben, vorgesehen.
Kuno von Wattenwyl: Ein Knackpunkt ist auch, dass Flachuferverbauungen mehr Platz an Land ­benötigen. Und dieser war beim vorliegenden Projekt schlicht nicht vorhanden.

TEC21: Auf welche Variante konnte man sich einigen?
Kuno von Wattenwyl: Für die harte Verbauung im Siedlungsraum bediente man sich eines Kunst­griffs: Dem Projekt wurde eine nahe gelegene­ Aufwertungsmassnahme am See zugeschlagen. In der Bewilligungspraxis ist es nicht verboten, Aus­­gleichsmassnahmen ausserhalb des eigentlichen Projektperi­meters umzusetzen. Allerdings ist eine naturräumli­che Nähe zum Projekt sinnstiftender als eine weit entfernte Ausgleichsmassnahme.

TEC21: Oft wirken ökologische Massnahmen aufgesetzt ­beziehungsweise kommen zu einem späten Zeitpunkt hinzu. Sind sie denn nicht gestalterisch in die Architekturplanung eingebunden?
Richard Staubli: Bei Projekten dieser Grössenordnung werden Wettbewerbe für Architektur oder Landschaftsarchitektur durchgeführt. Im Siedlungsgebiet sind es städtebauliche und architektonische Überlegungen, die zur Gestaltung führen; das Projekt basiert weniger oder kaum auf ökologischen Aspekten. Erst nachträglich beginnt man örtliche Massnahmen wie Fischnischen oder Blocksteine anzuordnen. Der gestalterische Spielraum für solche späteren Einzelmassnahmen im Gesamtkonzept ist klein. Hier müss­te man ansetzen und die ökologischen Gesichtspunkte bereits frühzeitig in den Wettbewerb einbringen.
Kuno von Wattenwyl: Entwickelt man ein technisches Bauwerk und baut am Schluss die Ökologie ein, die ebenso notwendig ist, dann sieht das Projekt aus ökologischer Sicht ganz anders aus, als wenn man es als Ökologieprojekt beginnt und nachher die Hochwassersicherheit einbaut. Es war hier kein wirkliches Ökologie-, Renaturierungs- oder – was es eigentlich hätte sein sollen – Revitalisierungsprojekt.
Sandro Betschart: Aus Sicht des Gewässerschutzes war der erweiterte Perimeter durchaus ­zweckerfüllend. Denn es ist schwierig, den Raum in städtischen Gebieten so aufzuwerten, dass er der Natur stark dient. Es liegt an uns Verantwortlichen, sich auf einen Kompromiss einzulassen und zu ­schauen, wo es sich lohnt zu kämpfen. Die Seeufer­verbauungen im Zentrum von Brunnen und im ­naturnahen Gebiet Hopfräben bilden daher sich gut ergänzende Gegensätze.
Albert Auf der Maur: Diese Kombination wurde auch möglich, weil Gemeinde und Kanton eng zusammengearbeitet haben.
Stephanie Matthias: Allerdings war es Zufall, dass die jahrzehntelangen und aufwendigen Planungspro­zesse der beiden an und für sich getrennten Projekte zeitlich schliesslich zusammengefallen sind.

TEC21: Die Uferverbauung beim Flachmoor Hopfräben ist erst noch in Planung.
Stephanie Matthias: Das Projekt nahm seinen Anfang vor 40 Jahren. Wie die Uferzone in Brunnen ist auch die Landzunge vor dem Hopfräben künstlich aufgeschüttet worden. Dieses Gebiet war immer ein beliebter Rückzugsort für die Bevölkerung. Nun ist ­ge­plant, dass knapp 100 m des öffentlich zugänglichen Damms zurückgebaut werden, um das geschützte Flachmoor mit dem offenen Gewässer aquatisch wieder zu vernetzen. Für die Bevölkerung sollen Badebuchten erstellt werden, und zudem wird eine grössere Liegewiese geschaffen. Mit einer konsequenten Besucherlenkung trennt man Naturschutzgebiet und öffentliche Nutzung.
Albert Auf der Maur: Aber Nachbarn und Schutz­organisationen werden Einsprachen machen.
Stephanie Matthias: Wir führen bereits Einigungs­gespräche. Die Interessen des Menschen und der Ökologie widersprechen sich: Camping, Erschliessung der Ufer, Kieswerk, Kiesgewinnung bei der Muotamün­dung, Flachmoor und so weiter. Der bereits in Kraft gesetzte Teilzonenplan hilft, die Interessen gegeneinander abzuwägen. Zusammen mit dem Nutzungsplan und der Schutzverordnung ist es dieser Abwägung und einer guten Kommunikation zu verdanken, dass wir das Projekt überhaupt umsetzen können.

TEC21: Kann man trotz der künstlichen Verbauung an ­beiden Orten von guten ökologischen Beispielen ­sprechen?
Sandro Betschart: Durchaus. Wir haben die Situa­tion sicher nicht verschlechtert. Der Dialog fand statt, und die unterschiedlichen Disziplinen haben sich ausgetauscht. Früh miteinander reden heisst früh selber denken und eruieren, wie man die einzelnen Fach­aspekte in das Projekt konstruktiv einbinden kann.
Richard Staubli: Auch in der naturnahen Zone müssen wir verhindern, dass das Ufer durch Wellen weg­erodiert wird. Aus Sicht der Wellenbelastung finden wir beim Hopfräben eine ähnliche Ausgangslage vor wie am Quai von Brunnen. Es handelt sich um eine exponierte Lage mit einer starken Wellenbelastung bei Sturm. Aber während wir bei der Seeufer­gestaltung in Brunnen eine harte Kante dagegen ­setzen, nutzen wir im Hopfräben weichere und naturnähere Mittel. Mit einem vorgelagerten Riff werden ein Teil der Wellenenergie vernichtet und die Ufer­zone geschützt.
Kuno von Wattenwyl: Es ist eine schizophrene ­Situation. Man schützt die Natur vor sich selber, weil man sie vorher so eingeengt hat, dass sie sich nicht mehr ausbreiten kann. Wir haben der Natur die Dynamik weggenommen.

TEC21: Wie stehen die Erfolgsaussichten?
Kuno von Wattenwyl: Ob es ein Erfolg wird, ist gar nicht so einfach zu sagen. Beim Hopfräben besteht die Möglichkeit einer Erfolgskontrolle. Bei der Verbau­ung im Zentrum von Brunnen gibt es weder Vor- noch Nachaufnahmen – das war damals noch nicht not­wen­dig. Es wäre mir für weitere Projekte ein wichtiges Anliegen, dass das Ziel der ökologischen Aufwertung definiert wird. Dazu gehören entsprechende Massnahmen und messbare Indikatoren. Bei Aufwertungen ist es wichtig, kleine Strukturen für die Flora und Fauna zu schaffen.
Richard Staubli: Wir Ingenieure verfassen für unsere Projekte jeweils eine Nutzungsvereinbarung. Darin ist zum Beispiel festgehalten, wie weit das Seeufer erodieren darf. Auch in der Ökologie sind solche klaren Zielvereinbarungen wichtig; sie sollten dann mit einem Monitoring überprüft werden.

23. November 2018 TEC21

Zwischen hartem und weichem Verbauungsgrad

Bauvorhaben an Schweizer Seeufern sind situativ unterschiedlich – hier dicht besiedelter Raum, dort schützenswerte Moore. Oft ist den Orten aber eines gemeinsam: Sie sind nicht mehr natürlich. Die Uferzone wird zur Aufgabe für Ingenieure, die sich mit den Wellen- und Windverhältnissen auseinandersetzen.

Viele Schweizer Seeufer sind nicht mehr natürlich. Sie wurden in den letzten Jahr­hunderten aufgeschüttet, um für Uferpromenaden, Bahntrassen und Strassen Land zu gewinnen. Naturufer – insbesondere mit flachem Verlauf – wurden in ­harte ­Verbauungen mit Geländesprüngen umgebaut. So geschehen beispielsweise um 1880 am Zürichsee oder am Vierwaldstättersee in Brunnen um 1870. Aquatisch und ökologisch wertvolle Wasserwechselzonen gingen unwiderruflich verloren. Solche künstlich erschaffe­ne Uferzonen rückzubauen, wie es der Naturschutz verlangt, oder zu renaturieren und die aquatischen Le­bensräume der Flachwasserzonen wiederherzustellen, ist in Siedlungsgebieten oft nicht ohne Weiteres bzw. nur von der bestehenden Ufermauer her möglich. Denn mittlerweile stehen auf den Aufschüttungen Bauwerke.

Aus­serdem sind viele Seen inzwischen reguliert, und die natürlichen Prozesse haben sich grundlegend verändert. Jedes Projekt am geschützten Seeufer bedingt eine Ausnahmebewilligung. Diese einzuholen bedarf meist eines jahrelangen Planungsprozesses, der städtebau­liche oder landschaftsarchitektonische, ökologische und technische Aspekte zu berücksichtigen hat. Solche oft kontrovers diskutierten Projekte kann die öffentliche Hand nur dann angehen, wenn der Nutzungsdruck der Bevölkerung hoch ist, wenn sie als Nah­erholungsgebiete von grosser Bedeutung sind und wenn ein kompetentes Planungsteam dahintersteht.

Ähnliche Einwirkung – ungleiche Konzepte

Im naturgetreuen Zustand bildet sich am Ufer eines Flachwasserbereichs ein stabiler Seegrundverlauf aus, der sich dynamisch verändert. Harte Verbauungen stören dieses dynamische Gleichgewicht des Grundverlaufs, sodass heute an diesen Bauwerken ungewöhnlich hohe Wellen brechen und reflektieren – vergleichbar mit einer felsigen Küste. Die Bauten sind teilweise immensen Aufschlagbelastungen ausgesetzt, die vor allem in den Bauwerksfugen grosse Schäden anrichten und Kolklöcher verursachen. An vielen Orten wird der Seegrund vor den Uferbauten durch Wellenbewegungen erodiert, und es kommt zu Unterspülungen von Kon­struktionen. Zahlreiche Uferbauten sind daher instandsetzungsbedürftig und müssten umgestaltet werden. Eine diffizile Aufgabe.

In der Instandsetzung oder Renaturierung von Uferbauten verflechten sich ökologische, architektonische, politische und technische Themen. Exemplarisch zeigen dies die Seeufergestaltung im Zentrum von Brunnen (vgl. «Die Promenade am See»). und die ökologischen Aufwertungsmassnahmen am Seeufer im Moorgebiet Hopfräben (vgl. «Ein schmaler Pfad für mehr Natur»). Die beiden Standorte in der Gemeinde Ingenbohl, Kanton Schwyz, unterscheiden sich – hier der dichte Siedlungsraum, da ein schützenswertes, aber eingezwängtes Flachmoor. Dennoch sind sie landschaftlich eng verbunden. Ihre Ufer sind nach Süd-Südwesten ausgerichtet und den Wellen ausgesetzt. Die lange Streichlänge (freie Anlaufstrecke des Winds) von Süden und Westen her über den See mit starken, über Stunden konstanten Winden führt zu beachtlich hohen Wellen, und es können grosse Schwemmholzmengen auftreten.

Es ist die Aufgabe des Bauingenieurs, diese ­Prozesse im Wasser zu analysieren, daraus realistische Belastungsszenarien abzuleiten und die Bauwerke ­entsprechend zu dimensionieren – nicht nur die Trag-, sondern auch die Ermüdungssicherheit muss nachgewiesen werden (Bestimmung der Dimensionierungswellen, Risikoanalyse und daraus Ableitung sinnvoller Lastkombinationen). Neben den Nutzlasten sind Wellen und Strömungen weitaus die grössten Einwirkungen. Wellen erzeugen keine kontinuierlichen Kräfte, sondern Spitzenlasten, die durch Extremereignisse wie einen Sturm entstehen (wie bei Naturgefahren üblich unterscheidet man die Auftretenswahrscheinlichkeit – 30-, 100-, 300-jährliches Wellenereignis und Extremereignis). Strömungen wirken hingegen ständig und belasten Bauwerke dauerhaft.

Die Bauten im und am Wasser müssen beiden dynamischen Belastungen langfristig standhalten (vgl. «Wellen als Belastung», Kasten unten). Nur so können wirtschaftliche Bauwerke entstehen, die den hohen gestalterischen, ökologischen und technischen Anforderungen am See­ufer gerecht werden.

5. Oktober 2018 TEC21

Neu eingebettet

Die St. Jakobshalle in Basel bestand aus Einzelbauten. Die Arbeitsgemeinschaft Degelo Architekten / Berrel Berrel Kräutler und die Ingenieure von Schnetzer Puskas formten ein harmonisches Ganzes, indem sie dem Bestand einen Mantel gaben – funktional, gestalterisch prägend und statisch wirksam.

Die St. Jakobshalle erfuhr von 2016 bis 2018 eine Transformation in die Gegenwart. Kurz vor der Wiedereröffnung am 15. Oktober erscheint sie nicht mehr als die solitäre «Arena» mit Annexbauten auf einem Treppensockel an der Brüg­linger­strasse, sondern zeigt sich neu gegenü­ber «Joggeli», dem Stadion St. Jakobs-Park, als öffentliche, multi­funktionale Anlage mit einladendem und wit­­te­rungs­geschütztem Zugang. Damit erfüllt sie, was ­der Wettbewerbsentwurf 2013 versprach: nämlich, ­«die fun­ktionale Grundproblematik der (…) Anlage (…) strategisch auf der städtebaulichen Ebene zu lösen» (vgl. «Sach- und Dachgeschichten»).

Zeitgemässer Komplex

Die im September 1976 eröffnete St. Jakobshalle um­-fasst mehrere Gebäudeteile. Mit einer Zuschauerkapazität von rund 9000 Personen ist sie nach dem Zürcher Hallen­stadion die zweitgrösste Veranstaltungshalle der Schweiz und beherbergt zwei kleinere Hallen mit jeweils einem Betonfaltdach (Kleine Halle und Halle 2) und eine Haupthalle mit einem eleganten Hängedach (Grosse Halle, vgl. «Das Hängedach von 1976», Kasten unten). Ursprünglich für sportliche Aktivitäten mit oder ohne Publikum konzipiert, musste die Liegenschaft bereits seit Jahrzehnten einem breiteren Nutzungsmix gerecht werden. Als Teil der Sport- und Eventstätte St. Jakob dient der Gebäude­komplex dem Breitensport und dem Schul-, Universitäts- und Vereinssport. Andererseits bietet sie Platz für Grossevents in den Bereichen Sport und Kultur sowie für verschiedenste Firmenanlässe wie Generalversammlungen, Konferenzen, Kongresse und Tagungen.

Um für alle bisherigen und potenziellen Veranstalter attraktiv zu bleiben, wurde die St. Jakobshalle laufend unterhalten. Dabei erfolgten die Instandsetzungsarbeiten in den letzten 15 Jahren vor allem modulartig in kurzen Zeitfenstern, um den Events nach wie vor ihren bespielbaren Zeitraum zu ermöglichen. Diese Strategie liess sich nun aber nicht weiter umsetzen, da die erforderliche Instandsetzung tief greifende bauliche Massnahmen an der Gebäudehülle, im Innenausbau und an der technischen Infrastruktur nötig machte. Dies bedingte grössere Betriebsunterbrüche und ein technisches und betriebliches Gesamt­konzept. Zudem musste die gesamte Halle an aktuelle Sicherheitsvorschriften angepasst werden. In erster Linie betraf das die Fluchtwege, den Brandschutz und die Erdbebensicherheit.

Mit der neuesten Instandsetzungs- und Modernisierungsaufgabe galt es also, aus der ehemaligen Sport­halle einen zeitgemässen, multifunktionalen Hal­len­komplex entstehen zu lassen. Der dafür ausgeschriebene Wettbewerb von 2013 sollte ein Projekt ausfindig machen, das den Bestand mit weiteren Nutzflächen und neuen Funktionen ergänzt und ihn zugleich mit den aktuellen sicherheitsspezifischen Anforderungen in Einklang bringt. Die komplette Erneuerung sollte darüber hinaus in Etappen abgewickelt werden können, die auf die wiederkehrenden Anlässe wie das Tennisturnier «Swiss Indoors» abgestimmt sind.

Die Arbeitsgemeinschaft Degelo Architekten / Berrel Berrel Kräutler zusammen mit Schnetzer Puskas Ingenieure überzeugte das Preisgericht mit ihrem Projekt: Es ergänzt den Bestand aus einzelnen Gebäuden so, dass die Einzelstücke zu einem Ganzen zusammengefasst werden. Der Bestand – mit wahren ingenieurspezifischen Perlen – erhält einen Mantel, der funktional genutzt wird, gestalterisch das neue Erschei­nungsbild prägt und statisch wirksam ist.

Raumhoch aufgespanntes Dach

Teil der Mantelnutzung, die den Bestand wörtlich umfasst, ist die neue Eingangshalle. Sie ist direkt zur Tramhaltestelle an der St. Jakobs-Strasse gerichtet. Über den vorgelagerten grosszügigen Platz, der für Ereignisse mit über 12 000 Zuschauern angemessen ist, zieht sich das Strassenniveau fliessend ins doppelgeschossige Foyer hinein. Über Foyer und Platz spannt ein weit auskragendes Dach und verdeutlicht den ­öffentlichen Charakter des Gebäudes. Hierfür wurde das bestehende Dach der Eingangshalle auf derselben Höhe weitergeführt und mit einer markanten, 130 m langen Stirn aus Sichtbeton gefasst. «Die Spannweiten von bis zu 70 m bewogen uns, ein aufgelöstes Raumtragwerk zu entwickeln, das diese grosse Spannweite bewältigen konnte und zugleich Raum für die Gebäudetechnik bot», erklärt Tivadar Puskas, der leitende Ingenieur des Teams von Schnetzer Puskas Ingenieure.

Das Dachtragwerk aus Beton kann als grossmassstäblicher Gitterrost gelesen werden. Seine Kon­struktionshöhe nimmt von 3.65 m auf 4.65 m zu und schwebt 6.5 m über dem Strassenniveau. Er besteht prinzipiell aus lamellenartig alle 5 m angeordneten, bis 28 m weit gespannten Wandscheiben. Als geschoss­hohe Rippen und Längsträger funktionierend, werden sie an der Unterseite mit einer Sichtbetondecke und an der Oberseite mit einer Eindeckung aus leichten, isolierenden Holz-Sandwich-Elementen eingefasst. Beide Decken wirken statisch als horizontale Scheiben. Die Rippen und die zwei quer dazu verlaufenden Längsträger – der Rand- und der Innenträger – sind zumeist vorgespannt. Die Vorspannkabel sind entsprechend dem Momentenverlauf verlegt, was planerisch, geometrisch und umsetzungsspezifisch komplex war, da die Kabel geschickt aneinander vorbeigefädelt werden mussten.

Der neue Mantel baut grundsätzlich auf der bestehenden Raum- und Tragstruktur auf. Das schlug sich öko­nomisch, bezüglich Umsetzbarkeit und auf die notwendige Etappierung positiv nieder. Der Rost ruht auf ­einzelnen Auflagern aus Beton – dem Kassenhaus, den Wandscheiben des neuen Warenlifts, den Wänden des neu erstellten Flucht- und Verkehrswegs aus der Arena (Lkw-Ausfahrt) sowie der einzelnen, markanten Pendelstütze (max. 2000 t) an der nordwestlichen Ge­bäudeecke. Diese Pendelstütze aus einem 420-mm-Vollstahlrohr, das mit einer Betonhaut ummantelt ist, wird vom «Findling» des Schweizer Künstlers Eric Hattan in Form eines 25 t schweren Granitblocks als sta­tisches Punktlager des Dachs betont.

Fundiert ist die markant skulptural geformte Stütze auf einem kreuzförmigen Trägerrost aus verschweissten Stahlblechträgern. Das Kreuz leitet die anfallenden Lasten um den bestehenden Sammelkanal herum auf vier Grossbohrpfähle. Diese haben einen Durchmesser von 1.3 m und ragen 15 m tief in den Baugrund. Die Zugkräfte infolge der Abspannung des Dachs werden durch Zugstützen entlang des Bestands aufgenommen und dort in den Baugrund ein­geleitet (%%gallerylink:42845:vgl. Abb.%%).

Das geschosshohe Dach schafft Raum für die aufwendigen technischen Installationen der Gebäudetechnik (vgl. «Luft im Dach») und bietet zudem Platz für das Materiallager. Damit können alle Lüftungs- und Entrauchungseinrichtungen verdeckt und in den Innenraum integriert werden. Das macht die Dachaufsicht zur fünften Fassade und optimiert die Zugänglichkeit, die Wartung und den Lärmschutz. Die statisch notwendige Höhe wird als Stauraum genutzt, was anderenorts Mehrfläche generieren würde. «Aus der ästhetisch und bezüglich der Gebäudetechnik erforderlichen Höhe ergab sich die statische Leistungsfähigkeit des Dachtragwerks», so Tivadar Puskas.

Verankert, gekoppelt und geschützt

Statisch effizient war auch die bestehende Grosse Halle – und zwar sowohl für gewöhnliche als auch für aus­sergewöhnliche Ereignisse wie Erdbeben. Einzig die Dilatationsfuge (vgl. «Das Hängedach von 1976», Kasten unten) liessen die Ingenieure mit der aktuellen Ertüchtigungsarbeit punktuell schliessen. Heute wirkt der Bestand – neu aussen gedämmt und verputzt – als statischer ­Anker für das über die Mantelnutzung zusammengeschlossene Ganze. Das neue Dach des funktio­nellen Rings wurde an allen Seiten der steifen Grossen Halle über jeweils 20 m Länge gekoppelt. Die Eck­bereiche liess man frei, damit Bewegungsspielraum vorhanden blieb und Zwängungen minimiert werden.

Die St. Jakobshalle – eine Perle des Ingenieurwesens – erhielt auf diese Weise eine aufgewertete Bedeutung und eine Erdbebenertüchtigung zugleich. Abgesehen davon, dass der Erhalt von Bausubstanz ohnehin nachhaltig ist, zeigt dieses Bauprojekt exemplarisch auf, dass in die Jahre gekommene Ingenieurbaukunst mit relativ einfachen Massnahmen unter Berücksichtigung aller gegenwärtigen Anforderungen modernisiert erhalten bleiben kann – auch ohne Unterschutzstellung. Das heisst allerdings nicht, dass hier nicht durchaus noch Nachholbedarf besteht.

Bislang weder geschützt noch im Inventar für schützenswerte Bauten aufgeführt, erhielt die St. Jakobs­halle zumindest einen sinnbildlichen Schutz: Gleich einem Konglomerat, das einzelne Gesteine in einer feinkörnigen Matrix verkittet, sind nun auch hier die Einzel­bauten verkittend in der Ummantelung eingebettet – und in gewissem Sinn konserviert. Dass die Grosse Halle mit dem Hängedach nach wie vor einen wesentlichen Kern der Anlage darstellt, ist aus Ingenieurssicht ein besonderer Mehrwert dieses Umbauprojekts.

31. August 2018 TEC21

Das Minimum ist das Maximum

Das Museum für Gestaltung und die Kunstgewerbeschule in Zürich erstrahlen seit März wieder im Glanz der 1930er-Jahre – auch dank der Analyse der Ingenieure von Dr. Deuring + Oehninger. Damit liessen sich die notwendigen statischen Massnahmen auf ein Minimum beschränken.

Das Stammhaus des Museums für Gestaltung strahlt seit den aktuellsten Umbauarbeiten neue Ruhe aus – sowohl äus­sere als auch innere. Die äussere Ruhe hatte der Komplex aus drei Kuben mit jeweils rhythmisierten und differenzierten Fassaden grundsätzlich nie verloren. Die innere Ruhe aller­dings war aus statischer Sicht nie gegeben. In einer Krisensituation wie einem Erdbeben wäre der Bau gemäss neuesten Berechnungen nach den aktuellen norma­tiven Grundlagen des SIA kollabiert; damals war die mögliche konstruktive Erdbebensicherheit eines Gebäudes noch zu wenig im Bewusstsein der Planer. Mit den Umbauarbeiten sollte der Bau deshalb auch auf den Lastfall Erdbeben ertüchtigt werden. Doch die vorgesehenen Massnahmen hatten es in sich – die ausgeführten Eingriffe hätten mit weniger vertieften Analysen so massiv sein können, dass die Seele des Bauwerks zerstört worden wäre.[1]

Ein Winkel aus drei Trakten

Zwischen Ausstellungsstrasse und Sihlquai steht seit 1933 das Museum für Gestaltung – früher als Kunstgewerbemuseum und Gewerbeschule bekannt . Adolf Steger und Karl Egender lieferten in einem zweistufigen Projektwettbewerb (1925–1927) den Entwurf für den Massivbau. Er besteht aus drei Trakten und ist der erste öffentliche Bau in Zürich, der nach den Ideen des «Neuen Bauens» ausgeführt wurde (vgl. «Zurück in die Zukunft»). 1981 wurde er ins Inventar der kunst- und kulturhistorischen Schutz­objekte von überkommunaler Bedeutung der Stadt Zürich aufgenommen. Die Trakte – Berufsschule, Museum und Saal – wurden in drei Losen vergeben und unabhängig voneinander von drei verschiedenen Ingenieurbüros erstellt. Sie sind mit Fugen voneinander getrennt.

Im Nordosten des Grundstücks, zur Limmat hin, liegt der fünfgeschossige Berufsschultrakt. Der Bau des Ingenieurbüros Terner & Chopard ist als Rahmenkon­struktion mit einem Achsabstand von 3.50 m erstellt und bildet den langen Flügel der im Grundriss winkelartig angeordneten Gebäudevolumen. Die Rippendecken mit eingelegten Bimsbetonhohlsteinen tragen quer zu den Rahmen. Die Hauptkonstruktion ist bis ins vierte Obergeschoss identisch, das fünfte Obergeschoss ist an der Südfassade zurückversetzt. In Traktmitte ist quer zum Gebäude über die gesamte Höhe eine zusätzliche Dilatationsfuge angeordnet.

Bemerkenswert sind die Wände zwischen dem Korridor und den Klassen­zimmern, die den Raum zwischen den Hauptstützen nur so weit ausfachen, dass jeweils im oberen Teil eine grosszügige Verglasung entsteht – eine gestalterisch wertvolle Geste für den Korridor, der auch als grosszügiger Aufenthaltsbereich der Studierenden funktioniert.

Der Saaltrakt des Ingenieurbüros Robert Maillart ist der kurze Flügel und zugleich der Haupteingang des Museums. Über dem Eingangsbereich spannt die Decke stützenfrei über die gesamte Gebäudebreite. Sie ist auf Unterzügen und eingespannten Stahl­beton­stützen gelagert. Darüber liegt der grosse Saal, der ebenfalls von einer Unterzugsdecke überspannt wird. Die Kon­struktionen bestehen aus Unterzugs­decken und Rippendecken mit Bimsbetonhohlsteinen wie beim Berufsschultrakt. Im Bereich des Treppenaufgangs sind zusätzlich massive Mauerwerkswände vorhanden. Im Unter­geschoss befindet sich ein Raum mit einer für Maillart typischen Pilzdecke.

Der dreischiffige Museumstrakt des Ingenieurbüros E. Rathgeb zwischen den beiden Flügelbauten besteht wie der Schulbau wiederum aus einer Rahmenkonstruktion mit einem Achsabstand von 3.50 m. Die typischen Rippendecken mit eingelegten Bims­betonhohlsteinen finden sich auch hier quer zu den ge­vou­teten Rahmen tragend. Die im obe­ren Geschoss zurückspringenden Fassadenstützen werden über die Hauptrahmen abgefangen. Im Mittelschiff ist der Raum zweigeschossig und erinnert mit seiner markanten Tragkonstruktion an eine Mischung aus Basi­lika und Industriehalle. «Der Trakt sollte den hier vermittelten Berufsfeldern eine würdevolle und doch industrielle Heimat geben», so der heutige Direktor des Hauses, Christian Brändle. Damit war die Halle von Beginn an das Herzstück des 85 Jahre alten Gebäudes.

Leider wurden diesem Raum 1958 innenräumliche Strukturen implantiert, die das Ge­bäude zu seinen Ungunsten veränderten – insbesondere die Zwi­schen­decke im Mittelschiff. In den letzten Jahren durften Ruggero Tropeano Architekten das Museum aber erneut um­bauen – den Schultrakt renovierten die Architekten Arthur Rüegg und Silvio Schmed. Erstere verhalfen dem Museum in respektvoller Herangehensweise wieder zu altem Glanz (vgl. «Zurück in die Zukunft»).

Die Seele bewahren

Der brandschutzspezifische Aspekt war einer der Treiber, den ursprünglichen Zustand der Halle wiederherzustellen. Die eingebaute Zwischendecke aus Holz war der Feuerpolizei ein Dorn im Auge – so erhielten all jene, die das Mittelschiff freilegen wollten, neben den gestalterischen Argumenten auch die notwendige technische Unterstützung. Allerdings waren weitere Eingriffe so aufwendig, dass der Charakter des Bauwerks an anderen Stellen zu verschwinden drohte.

Vor mehreren Jahren wirkende Ingenieure hatten in einer oberflächlichen Studie für eine Erdbebenertüchtigung ermittelt, dass im langen Flügelgebäude Erdbebenwände notwendig seien. Dafür hätten die charakteristischen Ober­lichter in den Korridoren des Schultrakts geschlossen werden müssen. «Das wäre weder stimmig noch die adäquate Lösung gewesen», betont der projektierende Bauingenieur Martin Deuring, der im Zuge der aktuellen Arbeiten von den Architekten angefragt wurde, eine vertiefte Analyse der Erdbebenertüchtigung des Ge­bäudekomplexes durchzuführen. Ein Tragwerk sei nicht deshalb das beste Tragwerk, wenn es für sich betrachtet das geeignetste sei, sondern es sei dann das beste, wenn es das Gesamtkonzept am besten stütze.

In interdis­zi­plinärer Weise erfassten die Ingenieure von Dr. Deuring + Oehniger schliesslich zusammen mit den Architekten und der Denkmalpflege den Bestand des Bauwerks mit seiner Bau- und Nutzungsgeschichte, seinem architektonischen Konzept, seinen tragwerks- und materialspezifischen Eigenschaften sowie seinen nutzungsbezogenen Bedürfnissen bzw. zeitgemässen Anforderungen.

Auch Prof. Hugo Bachmann, der von Martin Deuring als Experte für Schwingungsprobleme und Erdbebensicherung beigezogen wurde, um die Arbeiten der Erdbebenertüchtigung korreferieren zu lassen, betont: «Die Ingenieure sollten sich ganz am Anfang mit der Geschichte und der Substanz des Gebäudes vertieft auseinandersetzen. Erst wenn man das Gebäude und sein Tragwerk wirklich kennt und versteht, kann man ihm neue, statisch wirksame Elemente einfügen, die dem geschützten Bestand gerecht werden.»

Kluge Wahl der Methode

Die Ingenieure erfassten, gut mit Archivplänen bestückt, die gegebene Bausubstanz (Bauwerksklasse II, Erd­beben­zone Z1, Baugrundklasse C), entnahmen Proben und aktualisierten die Baustoffeigenschaften aller Querschnitte der Tragelemente. Danach untersuchten sie das Gebäude bezüglich Erdbebensicherheit gemäss den aktuell gültigen Tragwerksnormen mittels dyna­mi­scher Computerberechnung. In einem dreidimensionalen Finite-Elemente-Modell unter Einbezug der wichtigen Interaktion zwischen Baugrund und Tragwerk erfolgte die wirklichkeitsnahe Erdbebenanalyse.

Ausschlaggebend für die später umgesetzten Massnahmen war, dass die Ingenieure nicht nach dem vereinfachten Ersatzkraftverfahren vorgingen – eine statische, lineare Berechnungsmethode mit horizontalen Ersatzkräften –, mit einer losgelösten Betrachtung der einzelnen Kuben. Vielmehr führten sie eine ver­tiefte Tragwerksanalyse mit dem dreidimensionalen, kräftebasierten Antwortspektrenverfahren durch – eine dynamische, lineare Berechnungsmethode, bei der das Schwingungsverhalten der massgebenden Eigenschwingungsformen ermittelt wird. Die drei im Grundriss asymmetrisch angeordneten Gebäudetrakte mit unterschiedlichen Bauwerkshöhen wurden an einem Gesamtmodell analysiert. Erst so konnten die Inge­nieure dem asymmetrischen Tragwerk Rechnung tragen.

Die Resultate aus dem Antwortspektrenverfahren wurden mit dem verformungsbasierten Push-over-Verfahren plausibilisiert – ein Verfahren, das vergleicht, wie stark sich ein Tragwerk unter Erd­beben­einwirkung verformen könnte und wie stark es sich im örtlichen Erdbebenfall tatsächlich rechnerisch verformt. Dieses Verfahren war zur Planungszeit mit der SIA-Norm 269/8 «Erhaltung von Tragwerken – Erdbeben» zwar noch nicht in Kraft – diese Norm gilt erst seit 1. Dezember 2017 –, zählte aber bereits zum etablierten neuen Know-how.

Ist das Verhältnis – der sogenannte Erfüllungsfaktor – von Verformungsvermögen zu erforderlicher Verformung kleiner als 1, muss eine Verstärkung des Tragwerks in Betracht gezogen oder die Nutzung eingeschränkt werden. Unter Berücksichtigung des nichtlinearen Baustoffverhaltens eruierten die Ingenieure, ob das Verformungsvermögen vorhanden ist, das im Erdbebenfall benötigt würde. Mit Ausnahme von Teilbereichen wiesen sie für das Gesamttragwerk eine ausreichende Erdbebensicherheit von r > 1 nach.

Bedingung für die ausreichende Sicherheit war die kraftschlüssige Verbindung der nur 2 cm breiten Fugen zwischen den Gebäudetrakten. Denn die Stockwerke sind teilweise auf ungleicher Höhe. Eine Decke hätte bis anhin beispielsweise an eine Rahmenstütze stossen können, und durch den Anprall hätten die Stützen knicken und einen Kollaps verursachen können. Die kraftschlüssige Verbindung wurde im Rahmen der Umbaumassnahmen umgesetzt. Alle drei Kuben wirken nun zusammen und schwingen – wie im Gesamtmodell modelliert – nicht mehr unabhängig voneinander.

In Teilbereichen des Gebäudes zeigt die Analyse eine ungenügende Sicherheit von ca. r = 0.50. Die problematischen Zonen wie die gelenkig ausgebildeten Rahmen und der ungenügend gehaltene Aktsaal im fünften Obergeschoss wurden mit eingebohrten Ge­windestangen ertüchtigt, womit für das Gesamttragwerk nun eine ausreichende Sicherheit von r > 1.0 vorliegt. Alle anderen Eingriffe, wie neue Leitungen durch bestehende Unterzüge, wurden in Abstimmung aller Fachplaner einzeln besprochen und punktuell so platziert, dass sie das Tragwerk nicht zusätzlich schwächen.

Mehr Planung gleich weniger Massnahmen

Dank der Analyse mittels des verformungsbasierten Verfahrens konnten die Ingenieure einen ausreichenden Erfüllungsfaktor nachweisen. So konnte das Mass an baulichen Eingriffen stark reduziert und dennoch die Anforderungen der aktuellen Normen erfüllt werden. «Eine vertiefte Analyse ist auch bei anderen bestehenden Bauwerken sinnvoll», bemerkt Hugo Bachmann, «hier waren die Konsequenzen allerdings beachtlich.» Der finanzielle Aufwand für die baulichen Massnahmen, die hier umgesetzt wurden, war gemäss Martin Deuring schliesslich kleiner als der planerische Mehraufwand. Dieser Mehraufwand verhinderte aber radikale Baumassnahmen, die teuer gewesen wären und das Denkmal mit seinem Charakter zerstört hätten. Die kreative Leistung vorab reduzierte den baulichen Aufwand danach – ohne statische, gestalterische oder allzu grosse denkmalpflegerische Abstriche machen zu müssen.


Anmerkung:
[01] Zu diesem Thema siehe auch: «Damit Denkmäler nicht zu Mahnmälern werden», TEC21 14–15/2017.

8. Juni 2018 TEC21

Aufgefrischtes Äquivalent

Der Umbau der ehemaligen Volksbank an der Zürcher Bahnhofstrasse 53 erforderte aufwendige Eingriffe am Tragwerk – manche radikaler, als den beteiligten Planern zunächst lieb war. Die sorgfältige Auseinandersetzung mit dem Bestand ermöglichte es den Ingenieuren von WaltGalmarini dennoch, den Bau von 1925 für die kommenden 50 Jahre fit zu machen.

Die neue Bauherrschaft des Gebäudes an der Zürcher Bahnhofstrasse 53 war ein Glücksfall: Ohne die langfristige Planung des Versicherungsunternehmens AXA, das die ehemalige Volksbank 2012 von der Credit Suisse kaufte, hätte der Umbau so nicht realisiert werden können. Er war eine Gratwanderung zwischen der über 90-jährigen Geschichte des Baus und den gegenwärtig verlangten Anforderungen. Dennoch konnte die Bauherrschaft vier Jahre nach dem Kauf die Räume Anfang Mai wieder der Alltagsnutzung übergeben. Eine lange Zeit, die sich relativiert, wenn man weiss, was dazwischen geschah: nämlich eine intensive und aufwendige Planungs-, Ertüchtigungs- und Umbauzeit.

Für den Umbau des seit 2004 denkmalgeschützten Bauwerks setzten sich die Planenden intensiv mit dem Bestand auseinander. «Die bewusst investierte und von der Bauherrschaft bewilligte Zeit lohnt sich», so Projektleiter Wolfram Kübler vom Ingenieurbüro WaltGalmarini, «denn unsere Erfahrung zeigt, dass nur so die neuralgischen Stellen entdeckt werden können.»

Als das Bauen mit Beton neu war

Die Bahnhofstrasse 53 wurde zwischen 1923 und 1925 als Stahlbetonrahmenkonstruktion mit Hourdis­decken (Betonrippendecken mit Ziegelhohlkörpern) gebaut. Das Gebäude ist flach fundiert, mit einer Pfahlreihe entlang der Grundstücksgrenze zum St. Annahof. Schrägdach, Binder, Unterzüge, Innen- und Fassadenstützen sowie Wandscheiben wurden in Ortbetonbauweise erstellt. Über der ehemaligen Schalterhalle im Innenhof befindet sich ein Stahlfachwerkdach mit Glasbetondecke.

Betonkonstruktionen aus den 1920er-Jahren haben grundsätzlich ähnliche Eigenschaften und basieren auf der ersten Betonnorm von 1905. Der Baustoff Beton war damals neu und musste seine material­gerechte Form noch finden. Die Betonbauwerke waren analog zu Holzkonstruktionen konstruiert – lineare Tragwerke wie Rippendecken und Hourdisdecken waren Standard. Flächentragwerke wurden noch kaum ausgeführt. Das Material war teuer, und die damaligen Ingenieure versuchten, möglichst wenig davon einzusetzen.

Eine andere Vorstellung von Robustheit

Mit der Planung für die Umbauarbeiten waren die Ingenieure zugleich auch mit dem Wandel vom elastischen zum plastischen Modell konfrontiert. Die Modellvorstellungen für das statische System des historischen Betonbaus waren rein elastisch; die Verformungen waren reversibel. Diese Vorstellung des statischen Modells – insbesondere des Betonbaus – hat sich inzwischen geändert. Heute sollen sich Betontragwerke irreversibel verformen können und duktil sein. Ein spröder Bruch darf nicht auftreten. Die Tragelemente dürfen reissen – die Risse sollen aber zahlreich und klein sein, damit sie sich unsichtbar verteilen. Gegenüber der Bauzeit von damals sind dies grundlegend andere Anforderungen, die die Tragkonstruktion gegenwärtig zu erfüllen hat. Die Ingenieure sollten diese Aspekte verstehen, um das historische Tragwerk begreifen und ihm letztlich auch moderne und funktionierende Ertüchtigungen implementieren zu können.

Ein Charakteristikum des Tragwerkbestands sind die glatten Stahlstäbe der Bewehrung. Sie bestehen aus ungeripptem Betonstahl. Die Kraftübertragung in den Beton erfolgt über die Haken nur am Ende der Stäbe. Es wurden aufgebogene Eisen verwendet, und es gab keine konstruktive Bewehrung. Die Eisen wurden einzig dort eingelegt, wo im Balkenmodell und in den Trajektorienbildern Zug auftrat – das ergab beispielsweise in den Unterzügen und Stützen eine sparsame Bewehrung mit Bügeln von 7 mm Durchmesser alle 30 cm. Die Rippen der Hourdisdecken haben gar keine Verbügelung.

Ein zweites Charakteristikum ist der Beton selber, der gestampft ist. Als unvibrierter Stampfbeton ist er viel heterogener und weist mehr Kiesnester auf als vibrierter Beton. Ausserdem ist die Überdeckung viel streuender – zum Teil war sie nur 2 cm stark oder gar nicht vorhanden. Bezüglich Brand- und Korrosionsschutz ist dies unzuverlässig und genügt den heutigen Normen nicht, entsprach in dieser Ausführung jedoch dem damaligen Kenntnisstand.

Die SIA-Norm 269 «Grundlagen der Erhaltung von Tragwerken» ist für ein solches Umbauprojekt ein gutes Werkzeug. Sie erlaubt explizit, die Eigenschaften des Bestands zu berücksichtigen und mit statischen Modellen und Versuchen nachzuweisen, dass historische Konstruktionen sehr wohl tragsicher, dauerhaft und gebrauchstauglich sein können, obwohl sie die aktuellen SIA-Normen für Neubauten nicht erfüllen.

Tückische Lücke

Die Auflager der Hourdisdecken vereinen die Problematik sinnbildlich: Die Hourdisdecken spannen einachsig von der Aussenfassade zum Korridorunterzug. Die Endhaken der Biegebewehrung in den Hourdisdecken reichten aber nicht in die Aussenwand, sondern endeten davor. Die Decken sind so unzureichend auf Schub und Biegung dimensioniert. Das per Zufall und mit Schrecken in den Bestandsplänen entdeckte und mit Sondierungen bestätigte Konstruktionsdetail tauchte bei sämtlichen Auflagern an der Aussenfassade auf. Es ist ein Konstruktionsdetail im denkmalgeschützten Bestand, das zur neuralgischen Stelle bezüglich der Machbarkeit, der Termine, des Kräfteflusses, des Bauablaufs und der gestalterischen und konstruktiven Umsetzung wurde. Die Ingenieure entdeckten dieses mangelhafte Detail nur, weil sie sich die Zeit für eine eingehende Bestandsuntersuchung nehmen durften.

Um die historisch wertvollen Decken trotzdem erhalten zu können, beschlossen die Planer mit der Unterstützung eines Vertrauensingenieurs seitens Denkmalpflege – Jürg Conzett – und eines Experten seitens Bauherrschaft – Prof. Dr. Peter Marti –, bereits während des Vorprojekts die tatsächlichen Tragreserven und das Versagensverhalten der Konstruktion mittels Belastungsversuchen an der Eidgenössischen Materialprüfungs- und Forschungsanstalt Empa zu erörtern und eine bauliche Ertüchtigungsmassnahme zu entwickeln. Ziel war es, die bestehenden Decken trotz der statischen Mängel erhalten und künftig mit aktuell höheren Bürolasten beanspruchen zu können. Keinesfalls aber durften sie bei entsprechender Belastung ohne Vorankündigung spröde brechen. Es sollte ein – nach heutiger Begrifflichkeit – robustes Tragwerk resultieren.

Die Ingenieure ertüchtigten den mehrere Meter langen Auflagerbereich mit einem einzigen, wiederkehrenden Konstruktionsdetail, ohne dass für die Bauherrschaft und Nutzer gegenüber einer Ersatzdecke aus Stahlbeton nach heutigem Stand der Technik Nachteile entstanden sind. Der Kräftefluss konnte mit verhältnismässigem Aufwand geschlossen werden. Für diese Ertüchtigung des Deckenanschlusses erhielt die Bauherrschaft eine vorgezogene Baubewilligung. So konnten die Planenden bereits während des Bau­projekts in den Bestand eingreifen und den Zeitplan entschärfen.

Eingefügt, abgesenkt, verstärkt

Im Vordergrund der Planung stand der frühestmögliche Wiedervermietungstermin. Dieser beeinflusste massgeblich das Umbau-, Nutzungs- und Tragwerkskonzept unter Berücksichtigung der denkmalpflegerischen Vorgaben und durchzog alle Überlegungen und Abwägungen wie ein roter Faden. Jedes Gebäude hat allerdings seine Eigenheiten. Kübler betont: «Standardlösungen, die einen schnell zum Ziel bringen, gibt es nicht. Oft müssen für Ertüchtigungen in Bestandsgebäuden aufgrund der Randbedingungen individuelle, aber möglichst skalierbare Lösungen entwickelt werden.» Daher gaben vor allem drei andere Bausteine den Ausschlag für das definitiv ausgeführte Projekt der Tragkon­struktion: die Erhöhung des 1. Untergeschosses, die Erd­bebenertüchtigung und die Einfädelung der Gebäudetechnik auf Ebene des Tragwerks.

Die Implementierung der Gebäudetechnik in den Bestand ist die offensichtlichste Problematik. Sie hatte einen erheblichen Einfluss auf die baulichen Massnahmen am Tragwerk. Um keine Raumhöhe zu verlieren, sollten die Lüftungskanäle auf Ebene der Tragkon­struktion liegen, wofür Unterzüge zu durchstossen waren. Bei elastisch dimensionierten Tragwerksteilen wie den Unterzügen, die eine schwache Verbügelung aufweisen, ist das heikel und war hier nicht ­möglich. Das Planerteam beschloss – und die Denkmalpflege bewilligte –, die Unterzüge zu ersetzen. Gebäudetechnik und Tragwerk in einer Ebene wurden so realisierbar.

Ebenso liess es die Denkmalpflege zu, die Stützen im Kernbereich und in den beiden Untergeschossen zu ersetzen. Das bahnte den Weg für das neu genutzte 1. UG. Die Planer liessen die Zwischendecke absenken (ausser beim geschützten Tresorraum) und alle bestehenden Trag­elemente komplett entfernen. Aus zwei gedrungenen Ebenen wurden ein grosszügiges hohes Untergeschoss und ein Kriechgeschoss für die Gebäudetechnik. Die neuen Stützen stehen auf Einzelfundamenten im Kriechboden, die die Lasten in die un­verstärkte Fundation leiten. Die Erhöhung des 1. UG schaffte 2000 m² zusätzliche vermietbare Verkaufsfläche an der Bahnhofstrasse – ein relevanter Punkt in der langfristig ausgelegten Kosten-Nutzen-Rechnung.

Dieses «Geschenk des Himmels», wie Architektin Tilla Theus es an der Eröffnungsfeier nannte, war nur dank einer temporär errichteten %%gallerylink:41682:Spriesskonstruktion aus Stahl%% möglich. Diese befand sich während des gesamten Umbaus im Korridorbereich – dem ringförmigen Kern des im Grundriss fünfeckigen Gebäudes, der den Hof auf allen Seiten umgibt –, trug Fassaden, Deckenteilstücke sowie das Dach und stabilisierte das ganze Gebäude während des Rückbaus. Der Bereich um die Spriesskonstruktion durfte ebenfalls rückgebaut werden. Stützen, Unterzüge und für die Globalstabilität notwendige Decken wurden ringförmig in Ortbetonbauweise neu aufgebaut. Die Lastumlagerung vom Bestand in die Spriesskonstruktion und wieder zurück in das zum ursprünglichen Tragwerk äquivalente Ersatztragwerk erfolgte mittels Hydraulikpressen.

Der Neubau im Kern garantiert nicht nur die Tragsicherheit, die infolge der Lasterhöhung aus Ertüchtigung, des schwereren Aufbaus und der von 200 auf 300 kg/m2 aktualisierten Büronutzlasten neu zu bemessen war, sondern erhöht auch den anfänglich zu tiefen Erfüllungsgrad für die Erdbebensicherheit.
Erdbebenwand: aus der Not eine Tugend

Neben der Erweiterung des ersten Untergeschosses und der Einfädelung der Gebäudetechnik auf Tragwerk­ebene war für die Instandsetzung des Tragwerks ein weiterer Baustein taktbestimmend: die Erdbebenertüchtigung. Der Erdbebenwiderstand war nach Merkblatt SIA 2018 im Ursprungszustand unter 0.25. In Zone Z1 auf Baugrundklasse B gelegen und bezüglich Nutzung als Büro- und Geschäftsgebäude mit einer Belegungszahl > 50 Personen deklariert, wird das Gebäude der Bauwerksklasse BWK II zugeordnet. Es war zwingend erforderlich, das Verhalten während eines Erdbebens zu verbessern.

Die Planenden entwickelten das Erdbebenkonzept kombiniert mit den Massnahmen, die ohnehin geplant waren. Dabei konnten sich die Ingenieure allein auf das Gebäude konzentrieren. Gemäss den Abklärungen der Bauherrschaft erfüllen die direkt angrenzenden Liegenschaften die Erdbebensicherheit bereits oder werden es künftig tun und geben keine Einwirkungen auf das Tragwerk der Bahnhofstrasse 53 ab. Eine über die Geschosse durchgehende Dilatationsfuge zum Nachbargebäude von einigen Zentimetern ermöglicht gemäss den Ingenieuren Gebäudeverformungen im Erdbebenfall, ohne dass Kräfte gegenseitig übertragen werden.

So nutzten die Ingenieure die Treppenhäuser, die über alle Geschosse neu erstellt wurden, als aussteifende Kerne. Der Steifigkeitsschwerpunkt S – ursprünglich einzig durch die Sandsteinfassaden bestimmt und nur knapp innerhalb des Gebäudegrundrisses liegend – und der Massenschwerpunkt M lagen aber weit auseinander. Diese Exzentrizität sorgte für eine ungünstige Torsion. Die neu eingebundenen Erdbebenwände %%gallerylink:41689:holten den Steifigkeitsschwerpunkt nah zum Massenschwerpunkt%%. Das verringert die ungünstigen Belastungen deutlich und versteift das gesamte Bauwerk.

Ausserdem wurden drei weitere durchgehende Erdbebenwände erstellt. Eine davon parallel zur Bahnhofstrasse – im Erdgeschoss ein Sichtblocker und im 2. OG ein störender Wandriegel zwischen Empfangsbereich der Anwaltskanzlei und denkmalgeschütztem Sitzungszimmer. Im Erdgeschoss wurde die Wand in der Breite reduziert, sodass sie dort einen Durchgang in das Ladenlokal bildet. Im Eingangsbereich der Anwaltskanzlei hingegen entwickelten die Planenden eine kreative Konstruktion in Form einer %%gallerylink:41686:Gitterwand%%.
Mit Sinneswandel in die Neunutzung

Es gleicht einem Sinneswandel, statische Elemente als Raumskulpturen zu nutzen. Eine ebensolche veränderte Einstellung widerspiegelt auch das Auditorium im Dachgeschoss. Früher Raum für Lager und Gebäudetechnik, ist es heute ein repräsentatives Sitzungszimmer mit einer sakral anmutenden Atmosphäre. Das histo­rische lineare Betontragwerk aus betonierten Dach­bindern prägt den Raum. Es wurde mit Spritzbeton auf die notwendige Überdeckung von 3 cm reprofiliert.

Jetzt ist es zwar nicht mehr so schlank und filigran, doch es erfüllt alle aktuellen Anforderungen bezüglich Dauerhaftigkeit, Tragsicherheit oder Brandschutz und ist dennoch ein Zeitzeuge der Ingenieurbaukunst aus dem letzten Jahrhundert. Es zeigt auch der nächsten Generation, wie kreative Bauingenieure mit breitem Fachwissen konstruieren und welche räumliche Anpassungen und vorübergehend radikalen Lastumlagerungen, insbesondere während komplexer Bauphasen, ein Betontragwerk ermöglicht – selbst ein historisches.

13. April 2018 Franziska Quandt
TEC21

Hängende Räume

In die bestehende Tragstruktur einer Firmenhalle haben Furrer Jud Architekten eine gestapelte Raumsequenz eingehängt, um neue Gemeinschaftsräume für die Mitarbeitenden zu schaffen. Das nötige Tageslicht gelangt durch eine transparente Fassadendecke ins Innere der mehrheitlich geschlossenen Halle.

Umbauten steigern den Wert einer Immobilie und verbessern oft die Aufenthaltsqualität für die Nutzer. Auch bei Indus–triegebäuden sind Umbauten an der Tagesordnung. Dabei geht es nicht immer nur um die Verbesserung der Arbeitsabläufe. Beim Umbau einer Werkhalle für eine Firma im Fahrleitungssektor in Gwatt bei Thun stand das Wohl der Mitarbeiter im Zentrum. Auf dem Gelände sollten ein Schulungs-, ein Aufenthalts- und ein Garderobenraum entstehen, für deren Umsetzung die Bauherrschaft Furrer Jud Architekten direkt beauftragte.

Hoch gestapelt

Schon zu Beginn der Planung wurde klar, dass eine Erweiterung auf dem freien Gelände des Firmenareals den vorherrschenden Werkverkehr stark beeinträchtigen würde. Also setzten sich die Architekten mit einer Ergänzung im Innern der bestehenden Werkhalle auseinander. Um die Arbeitsabläufe möglichst nicht zu behindern, sollte die Intervention allerdings wenig Verkehrsfläche der Halle besetzen. Eine Stapelung der Räume lag auf der Hand: die Garderobe im EG, der Schulungsraum im 1. OG und der Aufenthaltsraum im 2. OG. Besonders reizvoll erschien es den Architekten, den bestehenden Stahlbau zu nutzen und die neue Konstruktion in das vorhandene Tragwerk zu integrieren. Die statischen Abklärungen durch Dr. Uwe Teutsch, Bauingenieur und Inhaber von Tragstatur, stützten diesen Ansatz.

Integration und Anbindung

Der existierende Skelettbau der leicht gedämmten Halle zeichnet sich durch unterschiedlich starke Stützen und Riegel aus. In Querrichtung ist die «dreischiffige» Halle über Rahmenwirkung ausgesteift, in Längsrichtung durch Verbände in der Fassadenebene. In 6.24 m Höhe liegen in Längsrichtung der Halle Kranbahnträger auf Stützenkonsolen auf; die Laufkatze trug bis zu 20 t schwere Lasten von Bobinen und Fahrleitungsmasten.

In der südlichen Hallenecke, wo die Architekten den Raumstapel verorteten, wurde der Kran stillgelegt. Mit dieser Massnahme liess sich das statische Potenzial des überdimensionierten Tragwerks für den Einbau aktivieren. Die beiden Obergeschosse der neuen Sozialräume planten die Architekten als eine hybride und relativ leichte Konstruktion aus Stahl und Hohlkastenelementen aus Holz, die in die Kranbahn eingehängt wurde (14 t Stahl und 20 t Ausbaulasten). Alle Mehrlasten liessen sich über die bestehende Tragkonstruktion der Halle ableiten, da die Aufhängungen des Stahlkastens relativ nah am Auflager der Kranbahnschiene positioniert wurden. Eine zusätzliche Fundierung oder Verstärkung war nicht notwendig. Einzig die Kranbahnschiene entlang der Fassade wurde stellenweise an den Flanschen mit aufgeschweissten dünnen Blechen verstärkt.

Schwebende Kiste

Durch die heterogene Materialisierung des Einbaus – 2. OG silbergraues Profilblech, 1. OG dunkler Stahl und EG Sichtkalksandstein – treten das oberste und das unterste Stockwerk in den Hintergrund, sodass das stählerne Volumen in der Mitte im Raum zu schweben scheint. Zwischen dem gemauerten Sockel im EG und dem Stahl-Holz-Hybridbau darüber haben die Architekten eine 50 cm hohe Fuge belassen, die sie nur mit einer einfachen Verglasung schlossen. Die Fuge stärkt den schwebenden Eindruck des darüber angeordneten Körpers noch und gewährleistet gleichzeitig eine angemessene Belichtung der Umkleidekabinen mit Tageslicht.

Der fast schwarze Stahlkörper mit einer Höhe von 3.6 m, einer Breite von 9.5 m und einer Tiefe von 7.4 m ist als Hohlkasten ausgebildet und wird in Querrichtung durch die beiden raumhohen Stahlwangen ausgesteift. Sie bestehen aus einem Rahmen aus H-Profilen, der mit einem 5 mm starken, alle 1.8 m mit Rippen ausgesteiften Blech ausgefacht ist. In Längsrichtung wird die Aussteifung des Kastens durch eine Rahmenwirkung gewährleistet. Hierfür sind die Verbindungen der Stahlprofile in Längsrichtung des Kastens mit den Endpfosten der Seitenwände in Querrichtung biegesteif ausgeführt.

Diese Rahmenwirkung ermöglicht schliesslich die Vollverglasung der Vorder- und Rückseite des raumhohen Hohlkastens. Boden und Decke sind als Lignatur-Hohlkastenelemente ausgeführt, was die Konstruktion deutlich leichter macht als eine klassische Betonverbunddecke. Die Gewichtseinsparung ermöglichte es, die bestehende Kranbahn unverstärkt zu verwenden und eine schlanke, aber dennoch auffallende Aufhängung der vier Ecken der Gesamtkonstruktion an die Kranbahnträger – jeweils zwei konstruktive Aufhängedetails pro Kranbahn – zu realisieren.

Auf der zur Fassade gewandten Seite umfassen zu einer Lasche zusammengeschweisste Walz- und Blechprofile den Kranbahnträger. Auf der Seite zum Halleninnern haken sich die Walzprofile am Kranbahnträger ein. Die beiden geschlossenen Seitenwände des Kastens wurden mit der Aufhängung der einen Seite komplett in der Werkstatt verschweisst und auf die Baustelle geliefert. Die Verbindung der beiden Seitenwände mit den Längsprofilen des Kastens erfolgte auf der Baustelle durch Schraubverbindungen. Lediglich an vier Stellen im Bereich der Aufhängung des Kastens an den Kranbahnträger in Fassadenebene waren Baustellenschweissungen notwendig. Alle vier Lager sind mit einem schwingungsdämpfenden Elastomer ausgestattet, damit die Vibrationen, die durch die in den anderen Feldern der Halle befindlichen Laufkatzen entstehen, nicht in die Sozialräume übertragen werden.

Die oberen Räume werden über zwei Stahltreppen erschlossen. Die Lauffläche besteht aus Gitterrosten, die auf beiden Seiten des Stahlbaus auf Konsolen aufliegen und von den Profilen des raumhohen Hohlkastens auskragen. Im 1. OG sind die beiden Treppen über eine Art Laubengang verbunden.

Der Aufenthaltsraum im 2. OG erweitert sich über eine Aussentür zu einem neuen Balkon an der Aussenfassade der Werkhalle. Ähnlich wie eine Fensterreinigungs-Hängebühne am Dach befestigt ist, hängt auch der Balkon an einer Tragkonstruktion, die in der Dachebene verankert ist. Vier IPE-400-Profile stehen auf Vierkantrohren, die ihre Lasten auf die Querträger der bestehenden Dachkonstruktion der Halle abgeben. An diesen um 2.3 m über den Dachrand auskragenden Profilen hängen 3.75 m lange Zugstangen, die über eine Blechwange die Profile des Balkons abfangen. Die Thematik der aufgehängten Konstruktion zeigt sich somit nicht nur im Innern der Halle, sondern auch aussen.

Fassadenrhythmus bewahrt

Die Hallenfassade war bis anhin nahezu vollflächig mit einem Wellblech verkleidet. Lediglich auf Höhe des Erdgeschosses kam Licht durch ein durchlaufendes Fensterband in den Raum. Um nun auch die neuen Aufenthaltsräume mit Tageslicht zu versorgen, haben die Architekten den Eckbereich der Fassade auf einem Abschnitt von 11 × 15,7 m mit einer neuen Verglasung versehen. Auch die Dachhaut des Hallendachs musste in diesem Bereich erneuert werden, wobei die Tragkonstruktion unverändert und unverstärkt bestehen bleiben konnte. Die neue Pfosten-Riegel-Konstruktion korrespondiert farblich mit dem für den neuen Halleneinbau verwendeten Stahl, aber auch mit dem Rhythmus der alten, anschliessenden Fassade.

Die transformierte Hallenecke erscheint heute aufgefrischt, hell und transparent, dennoch ist sie als Teil des Bestehenden zu erkennen. Einer Apparatur oder einer grossformatigen Installation gleich fügt sich der neue Einbau als wichtiger Bestandteil wie selbstverständlich in und an die Werkhalle.


Anmerkung:
Dieser Artikel erschien bereits unter dem Titel «Neue Transparenz für eine Werkhalle» in steeldoc 01/18.

9. März 2018 TEC21

Dünne Platte über der Eulach

In Winterthur entstand 2016 eine Fahrradbrücke, die es in sich hat: Der von Staubli, Kurath & Partner zusammen mit der ZHAW entwickelte Übergang ist statt mit Stahl mit vorgespanntem Carbon bewehrt. Das macht die Konstruktion bemerkenswert leicht und schlank.

Zwischen dem Campus der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Winterthur (ZHAW) und der Kantonsschule Büelrain überspannt eine Velobrücke als einfacher, 7.7 m langer Balken wenig spektakulär die kanalisierte Eulach. Eine nähere Betrachtung allerdings lässt stutzen: Die Betonbrücke wirkt nicht massiv, und mit 80 mm fallen die Stege für diese Spannweite äusserst schmal aus. Planung und Bau der Brücke lagen bei den Bauingenieuren von Staubli, Kurath & Partner. Weil aber das Tragwerk alles andere als eine herkömmliche Konstruktion ist, waren die Planenden auf Entwicklungsarbeit angewiesen.

Schlank dank Forschung

Die Fachgruppe Faserverbundkunststoffe FVK am Institut Konstruktives Entwerfen des Departements Architektur, Gestaltung und Bauingenieurwesen an der ZHAW erforscht und entwickelt seit 2011 dünne und gleichzeitig sehr tragfähige Betonplatten. Dabei wird der Beton nicht mehr mit Stahl, sondern mit vorgespanntem Carbon bewehrt. Stahlbewehrung muss in konventionellen Betonbauteilen mit einer Betonüberdeckung vor Korrosion geschützt werden. Diese Überdeckung kann zur Lastabtragung im besten Fall nur teilweise herangezogen werden, trägt bei schlanken Bauteilen aber wesentlich zum Eigengewicht und zur Form bei. Der Filigranität sind dadurch Grenzen gesetzt. Der Einsatz von Carbon bietet Vorteile, da es nicht korrodiert (vgl. Kasten unten). Entwicklungen mit schlaff eingelegten Fasern, Filamenten oder Netzen aus Kohlenstofffasern treffen unter dem Namen Carbonbeton oder auch Textilbeton bereits seit einigen Jahrzehnten auf reges Interesse.

Die technischen Eigenschaften des Carbons, wie die hohe Zugfestigkeit und die Ermüdungsfreiheit auch im Bereich der Bruchspannung, können im Verbund mit Beton aber erst ausgeschöpft werden, wenn die Bewehrung vorgespannt eingesetzt wird. Dadurch kann die hohe Zugfestigkeit von Carbon ausgenutzt und der Materialeinsatz der Kohlenstofffasern um etwa 90 % reduziert werden. Eine Minimierung des Carboneinsatzes ist im Hinblick auf die Wirtschaftlichkeit der Betonprodukte und den Ressourcenverbrauch relevant.

Gemeinsam mit einem Industriepartner hat die Fachgruppe in einem KTI-Forschungsprojekt eine leistungsfähige, nur 40 mm dünne Platte aus hochfestem Beton C65/75 entwickelt, die ausschliesslich mit vorgespanntem Carbon bewehrt ist. Sie lässt sich industriell und grossformatig in der Abmessung von 2.40 m × 10.0 m fertigen und anschliessend auf Mass zuschneiden – ähnlich wie grossformatige Stahlplatten im Stahlbau oder Holzwerkstoffplatten im Holzbau. Neben einfachen sind auch frei geformte Zuschnitte, Oberflächenbearbeitungen wie Bürsten und Fräsen, Bohrungen, Schlitzfräsungen, Taschen und Fasen möglich. Aufgrund der vielfältigen Bearbeitungsmöglichkeiten wurden diese sogenannten cpc-Platten (carbon prestressed concrete; vgl. Kasten unten) bereits häufig als Sekundärtragwerk eingesetzt, etwa als Treppen- oder Brückenbelag.

Mit dem Bauwerk über der Eulach haben die Bauingenieure der ZHAW aus den zum Patent angemeldeten cpc-Betonplatten eine Brücke für den Langsamverkehr konzipiert. Sie ersetzt ihre instandsetzungsbedürftige Vorgängerin und zeigt die Leistungsfähigkeit dieses Werkstoffs erstmals in einem komplett eigenständigen Brückentragwerk.

Vorgängerin: wegen Korrosion gesperrt

Das Tragwerk der ehemaligen Brücke bildeten zwei Einfeldträger aus Stahl, die neben dem aufliegenden Brückendeck aus Betonbohlen auch diverse Werkleitungen trugen. Durch die Lücken zwischen den Betonbohlen gelangte Regenwasser auf die Stahlträger und führte über die Jahre zu Korrosionsschäden. Anfang 2016 musste das Hochbauamt des Kantons Zürich als Eigentümerin die Brücke sperren lassen. Für den Ersatzneubau aus cpc-Platten entfernte man die 120 mm dicken Betonbohlen des alten Brückendecks und die über Konsolen angeschlossenen Geländer. Die Stahlträger blieben für die Führung der Werkleitungen weiterhin erhalten, wurden jedoch um 225 mm verkürzt, um Platz für das Auflager der neuen Brücke zu schaffen.

Geklebte Rahmenkonstruktion

Wie eine Tischkonstruktion stülpt sich die neue Brücke über die alten Stahlträger und schützt diese, ohne sie zu berühren, vor direkter Bewitterung. Die verbliebenen Stahlträger können somit mindestens 40 Jahre weiter genutzt werden. Eine einzige, 7.815 m × 2.37 m grosse und 40 mm starke cpc-Platte formt das Deck. Aufgrund der Vorspannung ist die Brückenplatte «rissfrei», was ihre Dauerhaftigkeit erhöht. Ein zusätzlicher Belag ist nicht erforderlich – die oberste Betonschicht dient als Verschleissschicht. Die Platte ist mit Senkkopf­muttern aus Edelstahl auf einen darunter liegenden, umlaufenden, 320 mm hohen Tragrahmen verschraubt und über die gesamte Länge verklebt. Der Rahmen, der aus zwei flächig verklebten cpc-Platten besteht, ist an der Oberseite in Längsrichtung in einem leichten Kreisbogen mit einem Radius von 218 m geschnitten. Aufgrund ihres Eigengewichts folgte die Brücken­platte der Überhöhung und wurde in dieser vorgekrümmten Form mit dem Tragrahmen verbunden.

Am unteren Rand der Längsträger ist jeweils eine ­Carbonlamelle Sika Carbodur M 1014 als zusätzliche Bewehrung in einer eingefrästen Nut eingeklebt. Die Querstege weisen Ausnehmungen für die Werkleitungen auf. Die nutz­bare statische Höhe des Rahmens ergab sich direkt aus den bestehenden Höhenlagen der Auflager und der Steg­zufahrten, die unverändert blieben. Zur Entwässerung des Belags ist die Brücke in Längsrichtung etwa 35 mm überhöht. Eine umlaufend eingefräste Nut an der Unterseite dient als Wassernase.

Bemessung und Grossversuch

Die Bauingenieure richteten sich bei der Bemessung nach den Anforderungen gemäss den SIA-Normen 260:2013 und SIA 261:2014. Neue Kennwerte, die nicht in den Normen vorhanden sind, ermittelten sie anhand von Versuchen. An einem Grossversuch testeten sie das gesamte Zusammenwirken der einzelnen Elemente und überprüften die Belastungssituation experimentell. Die maximal eingeleitete Kraft betrug 88.56 kN, was einer Belastung von über 8.5 t entspricht. Das war rund 10 % mehr Last, als statisch berechnet worden war. Die neuartige Brückenkonstruktion konnte also gut mit den üblichen statischen Modellen beschrieben werden.

Mit Erfahrung weiter entwickeln

Die Staketen des Geländers aus gebürsteten Chromstahlrohren ROR 26.9 × 2.6 (1.4301) werden von einem mit der Brücke verklebten Randstreifen gehalten und tragen einen schlichten Handlauf. Beide Bauteile be­stehen ebenfalls aus carbonbewehrten cpc-Platten. Die Geländer der Zufahrten sind passend in der gleichen Weise ausgeführt und wurden erst montiert, nachdem die Brücke komplett auf einem Tieflader zum Bauplatz geliefert und mit einem leichten Pneukran auf den vorbereiteten Auflagern abgesetzt worden war.

Anhand des modularen Konzepts der Eulach­brücke konnten die Beteiligten wichtige Erfahrungen sammeln, um Brückenaufbauten zu verbessern und materialgerechte Details weiterzuentwickeln. Industriell herstell- und weiterverarbeitbar, robust und transportabel verfügen cpc-Platten über ein hohes Potenzial in der Baubranche. Aus finanzieller Sicht sind die cpc-Platten konkurrenzfähig. Im Fall der Eulachbrücke boten sie sogar die günstigere Variante als eine konventionelle Lösung. Die Kosten lagen im Rahmen eines vorgesehenen Bauprovisoriums. Die Betonplatten sind herkömmlichen korrosionsanfälligen Konstruktionen in Wirtschaftlichkeit und Tragfähigkeit mindestens ebenbürtig.

«Durch den deutlich reduzierten Material­einsatz», so Josef Kurath von Staubli, Kurath & Partner und Professor an der ZHAW, «sind sie aber im Ressourcenverbrauch und in der Nachhaltigkeit den kon­ven­tionellen überlegen.» Um die Nachhaltigkeit der neuen Carbonbetonbrücke beurteilen zu können, seien zwei Varianten einer Ortsbetonbrücke durchgerechnet worden. Vergleiche man die cpc-Modulbrücke mit konventionellen Stahlbetonbrücken in puncto Ökobilanz, erhalte man erstaunliche Werte, erläutert Kurath. Die berechneten Massivbrücken würden 11 800 kg respektive 14 700 kg Beton benötigen. An Stahl bräuchte es 525 kg beziehungsweise 385 kg.

Bei der gebauten cpc-Modulbrücke wurden hingegen nur 3200 kg Beton und 14.5 kg Carbonbewehrung verwendet. «Ausserdem ist kein Belag notwendig», ergänzt der Spezialist, «da der Carbonbeton resistent gegen Salzwasser ist.» Durch die umgesetzte cpc-Modulbrücke konnten deshalb etwa 75 % an Umweltbelastungspunkten eingespart werden. Ein enormes Potenzial, denn solche Kleinbrücken gibt es allein in der Schweiz tausendfach.

9. Februar 2018 TEC21

Wanne im Wasser

Das neue Hauptgebäude der Swiss Re am Zürichsee ist ein Skelettbau mit Stahlbetonverbunddecken – so weit Routine. Doch die Arbeit der Ingenieure von EBP war alles andere als alltäglich. Dem Tragwerk blieb wenig Platz, und der Ersatzneubau schwimmt regelrecht im Wasser.

Den Mythenquai am westlichen Ufer des Zürichsees gab es so nicht immer. Erst mit der Aufschüttung der Quaianlage in den 1880er-Jahren erschloss sich das unzugängliche Sumpfland am See­ufer. Die Stadtbewohner erhielten eine Flaniermeile vom Zürichhorn am östlichen bis hin zum Belvoirpark am westlichen Ufer.

Der Mythenquai entstand – und mit ihm eine prominente Bauzone. Den Wandel von der öffentlichen Promenade hin zum Geschäftsviertel leiteten drei Versicherungsgesellschaften ein, die am Mythen- und am damaligen Alpenquai ihre Hauptsitze erstellten: 1897 die Rentenanstalt, 1899 die Zürich-Versicherung und 1913 die Schweizer Rückversicherungs-Gesellschaft, die heutige Swiss Re.

Die Lage war zwar attraktiv, doch der Baugrund am Seeufer äusserst diffizil. Als aufgeschüttetes Sumpfland ist dieser ein von Grundwasser gesättigter und nur schlecht tragfähiger und setzungsempfindlicher Untergrund (künstliche Aufschüttungen gelagert auf Seeschlamm und Seekreide; erst in etwa 20 m Tiefe finden sich gut gelagerte Silte). R. Henauer & J. Lee Bauinge­nieure liessen Mitte der 1960er-Jahre für den Neubau der Schweizer Rückversicherungs-Gesellschaft von Werner Stücheli, den Vorgänger des aktuellen Gebäudes, ein dem Standort angepasstes Verfahren einsetzen.

Die Konstruktion wurde in Deckelbauweise erstellt – zuerst die Bodenplatte des Erdgeschosses und danach schrittweise die Untergeschosse ins Erdreich hinein. Der Aushub der Baugrube erfolgte dabei jeweils unter der bereits erstellten Decke, zuletzt wurde die Bodenplatte eingebracht. Umringt sind die Untergeschosse von einer 60 cm starken und 25 m in den Untergrund reichenden Schlitzwand, die als Baugrubenabschluss funktioniert. Zusammen mit der Bodenplatte bildet diese Schlitzwand eine Wanne – schwarz abgedichtet –, die regelrecht im wassergesättigten Uferbereich treibt.

Unter dem Grundwasserspiegel

Anfang der Nullerjahre war der Stücheli-Bau in die Jahre gekommen. Den Studienauftrag zum Ersatzneubau «Swiss Re Next» gewannen 2008 Diener & Diener Architekten. Der Bestand musste weichen, aber seine noch einwandfreie Schlitzwand war ein zentrales Element der aktuellen Arbeiten. Ein Rückbau ohne die Sicherung dieses bestehenden Baugrubenabschlusses hätte fatale Folgen gehabt, ebenso eine unbedachte Demontage der Untergeschosse.

Für Baustellen, die sich wie hier unterhalb des Grundwasserspiegels befinden, müssen sich die Ingenieure mit komplexen bodenmechanischen Begebenheiten auseinandersetzen. Die Gebäudewanne könnte aufschwimmen, wenn der Auftrieb plötzlich grösser ist als die Last. Ein Aushub kann nur trockenen Fusses geschehen, wenn der Wasserspiegel innerhalb der Schlitzwand abgesenkt wird. Eine Wasserhaltung mit Abpumpen und Wiedereinleiten ist notwendig.

Durch die Absenkung des Wasserspiegels entsteht in diesem wenig durchlässigen Boden ein hydrostatischer Druck von unten gegen die Sohle. Ihm entgegen wirkt einzig die vertikale Last, die innerhalb der Baugrube auf die Sohle wirkt. Ist sie zu klein, kann es zu einem verheerenden Sohlenaufbruch kommen.

Ausserdem wirken starke seitliche Kräfte auf den Baugrubenabschluss. Aktiver Erd- und Wasserdruck presst die Schlitzwand in die Baugrube hinein. Bliebe diese nicht durch die bestehenden Untergeschossdecken und die Bodenplatte gestützt – sie wirken wie Spriesse –, so würden die horizontalen Kräfte zum Kollaps des Baugrubenabschlusses führen, was drastische Konsequenzen für die direkte Umgebung hätte. Trotzdem musste auch der Bestand in den Untergeschossen ersetzt werden.

Stets im Kräftegleichgewicht

Aus diesem Grund entwickelten die Bauingenieure ein sorgfältiges Konzept für den Rückbau des Bestands. Statt der Decken übernahm eine temporäre Spriessplattform die Stützfunktion, und die Bodenplatte wurde in kleinen Teilen von 15–70 m² sukzessive ersetzt. Zudem liessen sie 20 Kleinfilterbrunnen bohren, durch die das Grundwasser stetig abgepumpt und der Wasserspiegel, der sich normalerweise etwa 1 bis 2 m unter dem Stras­senniveau am Mythenquai befindet, innerhalb der Baugrube sukzessive gesenkt wurde.

Der Porenwasserdruck unterhalb Unterkante Schlitzwand wurde mithilfe von Überlaufbrunnen entspannt, womit die Sicherheit gegen einen Sohlbruch gewährleistet war. Der Bau­prozess war minu­tiös und in klar abgestimmten Phasen auf dieses Konzept ausgelegt.

Zuerst erfolgte der Rückbau des Bestands in klassischer Weise bis hinunter ins erste Untergeschoss. Parallel dazu liessen die Ingenieure entlang der Schlitzwand vertikale Stahlträger und mit ihnen verbundene Longarinen einbauen.

Die Spriessplattform wurde direkt nach dem Rückbau des ersten Untergeschosses eingebaut. Sie ist eine tischartige Kon­struktion aus über 1000 t Stahl und besteht aus einem etwa 55 × 80 m grossen und 6.8 bis 8.8 m weit gerasterten Trägerrost aus HEB500-Profilen über den gesamten Baugrubengrundriss.

Dieser Rost lagerte auf HEB300-Stützen, die durch den Restbestand hindurch auf bereits neu betonierte Bodenplattenteilstücke platziert wurden. Sobald die Spriess­plattform fertiggestellt war, gaben hydraulische Pressen an allen vier Stirnseiten des Rosts Kräfte von 100 bis 200 t auf die vertikalen Stahlträger ab. Über die Longarinen wurden diese auf die Schlitzwand übertragen.

Ähnlich einem Tunnelschalwagen – aber horizontal angeordnet – übernahm ein Schild aus vertikalen Stahl­trägern und Longarinen die Stützfunktion des Baugrubenabschlusses und entlastete schliesslich die Decken des Bestands. Diese Kraftumlagerung ermöglichte den weiteren Rückbau ohne ungewollte Verformungen der Schlitzwand und damit ohne Setzungen des Baugrunds ausserhalb der Baugrube.

Zwischen dieser temporären Konstruktion konnten die Bauarbeiter unter stetiger Beobachtung und Messung der Baugrube die bestehende Altbau­substanz rückbauen, die zusätzlich notwendigen schwimmenden Pfähle für die Fundation setzen (900 Selbstbohrpfähle mit Mantelreibung), etappenweise die Bodenplatte ersetzen, Schutt abtransportieren und den neuen Beton für die drei wasserdichten Untergeschosse einbringen.

Der Wasserspiegel wurde den Rückbauarbeiten und der entsprechenden Last­reduktion folgend abgesenkt und danach wieder angehoben. Sobald die Decke über dem zweiten Untergeschoss vollständig eingebaut war, konnten die Spriessplattform insgesamt zurückgebaut und die verbliebenen Öffnungen in den neuen Decken zubetoniert werden. Ab diesem Zeitpunkt erst nahm man den Fortschritt des Ersatzneubaus wahr – nach fast eineinhalb Jahren.

Aus Betonwanne wächst Skelettbau

Im folgenden, für die notwendigen Arbeiten zeitlich knapp bemessenen Jahr schossen die weiteren sieben Geschosse als kompakter Quader mit einem Grundriss von 57 × 71 m regelrecht aus dem Boden in eine Höhe von 25 m. Auf dem Erdgeschoss mit dem Eingangsbereich stapeln sich fünf Obergeschosse, von denen vier als Grossraumbüros dienen und das oberste seeseitig für in­formellere Tätigkeiten konzipiert ist.

Der Bau unter Terrain ist statisch ein Massivbau mit Flachdecken auf vorfabrizierten Stützen und Wandscheiben. Die Decken funktionieren auch als Scheiben, die im Endzustand die bestehende Schlitzwand dauerhaft abstützen und horizontale Einwirkungen aus Wind- und Erdbebenlasten in den Baugrund ableiten. Das Bauwerk über Terrain ist hingegen ein Skelettbau mit vorfabrizierten Stahlstützen und gedrungenen Stahl-Beton-Verbunddecken. Die Stützen sind aus Vollstahlrohren mit einem ergänzenden Stahlmantel ge­fertigt, deren Zwischenraum aus brandschutzspezifischen Gründen vor Ort ausbetoniert wurde.

An den Fassaden stehen runde Profile mit einem von den oberen bis zu den unteren Geschossen von 250 bis 450 mm zunehmenden Durchmesser. Im Innern stehen auch Vierkantrohre. Generell spannen die Primärträger als geschweisste Blechträger senkrecht zur Strassenachse. Die grossen Spannweiten von bis zu 14 m ermöglichen flexibel nutzbare Grossraumbüroflächen.

Die Sekundärträger aus HEB550-Profilen, die als Verbundträger ausgebildet sind, verlaufen orthogonal dazu. Die Trägerunterkanten liegen in derselben Ebene, und die 18 cm starke Betonplatte auf Verbundblechen ist schubfest mit den Stahlträgern verbunden. Die gesamte Konstruktionshöhe inklusive der untergehängten Decke beträgt nur 75 cm.

Um die Medien und das Tragwerk in dieser reduzierten Konstruktions­­höhe unterbringen zu können, sind alle Träger systematisch für Medienleitungen perforiert. Nur bei den Kernzonen, wo HLKS-Leitungen aus den Erschliessungsschächten austreten, erleichtern 30 cm starke Flachdecken die Leitungsführung.

Zwei Atrien durchstossen den Quader vom Erdgeschoss bis zum Dach und belichten die inneren Flächen der 72 × 58 m grossen Grundrissfläche. Vier Betonkerne, die die Etagen erschliessen und im steifen Stahlbetonkasten des Untergeschosses eingespannt sind, steifen des Gebäude gegen horizontale Kräfte aus.

Vorhang vor Verbundbau

Umhüllt wird der kompakte Quader von einer zweischichtigen Glasfassade. Die äussere Haut ist gewellt und hängt als Vorhang an auskragenden Konsolen. 914 Glaswellen bringen es auf ein Gewicht von 377 t. Der obere, höher frequentiert gewellte Vorhang hängt über Chromstahlstangen am sechsten Obergeschoss, der untere, breiter gewellte Vorhang am vierten Obergeschoss. An den Anschlussstellen ergänzten die Bauingenieure den Trägerraster der Decken mit zu­sätzlichen Tertiär­trägern, um die Torsion des Fassaden­trägers auffangen zu können.

Der Ersatzneubau ist aus tragwerksspezifischer Sicht also ein Stahl-Beton-Verbundbau mit einem Skelettbau als Tragstruktur, kein Glasbau. Das Glas ist nur die Fassade – der Vorhang, der das Tragwerk transparent einhüllt. Es bildet die Schauseite, die das Gebäude nach aussen repräsentieren soll und damit auch den Zeitgeist widerspiegelt – so vergänglich dieser manchmal auch sein mag. Das Tragwerk dahinter bezeugt als solide Ausführung hingegen Beständigkeit.

3. November 2017 TEC21

Integral und überdimensional

Das Amager Ressource Center hat zwei Hauptmerkmale: die netzartig strukturierte Fassade aus Aluminiumkästen und die eingegliederte Tragkonstruktion aus Stahl. Die Ingenieure von Dr. Lüchinger Meyer und von MOE stärken mit ihrer Leistung den architektonischen Entwurf von BIG.

Das Amager Ressource Center ist wahrhaft gigantisch: Mit einer Grundfläche von 200 × 60 m und 90 m Höhe erhebt es sich wie ein Berg aus der flachen Landschaft und ist von weit her sichtbar (vgl. «Ernster Spass»). Dennoch sind die wahren Dimensionen des solitären, zu einer Rampe geformten Volumens aus der Distanz kaum abzuschätzen – ebensowenig wie die Funktionen, die sich hinter der einheitlichen Fassade aus massstabslos wirkenden, additiv aufeinander geschichteten Elementen verbergen.

Die Anlage besteht im Innern aus unterschiedlichen funktionellen Einheiten wie Müllbunker, Administrationshochhaus, Maschinen- und Anlieferungshalle, die sich alle in das zu einer Rampe geformte Volumen einfügen. Das Tragwerk gliedert sich in diese Form ein, wobei es entsprechend seiner raumbildenden Funktion aus der Basisstruktur aus Beton und der Superstruktur aus Stahl besteht.

Der Müllbunker ist als konventionelle Betonkonstruktion ausgeführt, und das Administrationshochhaus ist ein elfgeschossiges Gebäude, das aus einer Stahlverbundkonstruktion besteht. Über diese Basis stülpt sich die ganze Stahlrahmenkonstruktion aus vertikalen Hauptträgern (S355 und S460) und dazwischen spannenden Sekundärträgern (S235). Sie generiert einen überdimensionalen Innenraum, hüllt die Ma­schinen- und die Anlieferungshalle ein und gibt dem ­Bauwerk zugleich seine markante Form. Die Stahltrag­elemente bestehen hauptsächlich aus HEA-, Rohr-, Vierkantrohr- und Blechprofilen.

Über der Anlieferung spannt ein Fachwerk-Halbrahmen mit einer Spannweite von über 46 m und einer statischen Höhe von bis zu 5 m, über dem Bunker ein 40 m langer Fachwerk­träger und über der Prozesshalle wiederum ein 60 m weit gespannter, bis zu 4 m hoher Fach­werkträger, der auf Blechprofilstützen von 500 bzw. 750 mm × 1000 bzw. 1600 mm lagert. Die Stützen sind bis zu 61 m hoch und stehen alle 10 m in der Fassade. Sie sind die einzige Anknüpfstelle für horizontale und vertikale Lasten aus der Fassadenebene. Ein feingliedrigerer Stützenabstand war wegen der Leitungsführung in der Fassadenebene nicht möglich. Das Gebäudevolumen ist so weit optimiert, dass es genau über die Maschinerie passt und kaum noch ­ freien Raum lässt.

Integrale und homogene Hülle

Die komplexe Tragkonstruktion wird von der charakteristischen Fassade eingehüllt. Obwohl diese an verschiedenen Stellen verschiedene Funktionen erfüllt – an manchen Stellen verhüllt und schliesst sie nur, an anderen dämmt sie zusätzlich –, bildet sie über die gesamte 30 000 m² grosse Fläche eine einheitliche Haut. Sie erinnert an ein schachbrettartig perforiertes Mauerwerk oder eine widerstandsfähige Schutz­matte. Es scheint, als würden Stahlstifte breitbandige Laschen zu einem Geflecht zusammenfügen, das sich formbar und dennoch steif an das Volumen anschmiegt. Es ist indes der immense Massstab, der dieses fein­gliedrige Abbild trägt. Tatsächlich sind die Stahlstifte die grossen Blechprofilstützen und die Laschen grosse Hohlkästen, die als Pflanzenkörbe genutzt werden. ­Dazwischen bilden sich grosszügige Fensteröffnungen von 2.8 × 1 m.

Ursprünglich war ein additiver Fassadenaufbau von 1 m Tiefe geplant gewesen – ein in diesem Fall in­effizientes System. Dr. Lüchinger Meyer entwickelten ein Konstruktionsprinzip, das Synergien zwischen den Fassadenkomponenten und -schichten nutzt. Die Ingenieure wandten sich von der klassischen Bauweise ab, bei der das Fassadentragwerk von der Fassaden­verkleidung getrennt ist. Sie aktivierten die Verkleidung strukturell. Sie übernahmen die Abmessungen und ­Formen, die gestalterisch ohnehin gegeben waren, und nutzten sie statisch. Jeder einzelne Hohlkasten ist entsprechend seinen funktionellen Rahmenbedingungen geformt und torsionssteif zusammengeschweisst. Das zusätzliche Tragwerk, das ergänzend zum Haupttragwerk die Hohlkästen hätte tragen sollen, wurde obsolet.

Die Hohlkästen fügen sich präzise ineinander, und ihre Länge ist auf die Haupttragkonstruktion abgestimmt. Zwischen den Blechprofilstützen sind überlappend verschweisste oder verschraubte Hohlkastenpakete aufgespannt. Diese Pakete sind symmetrische Arrangements aus vier oder fünf Hohlkästen. Das Fünferelement bildet eine H-Form, das Gegenstück ist aus vier Steinen zusammengesetzt. Die so kombinierten Elemente bilden das statische System eines einfachen Balkens, der auf den flankieren­den Stützen lagert. Die Torsionskräfte, die infolge hori­zontaler Kräfte auf ein asymmetrisches Paket entstanden wären, heben sich auf.

Dünnwandige Hohlkästen aus Aluminium

Die Ingenieure führten mit den Architekten eine detaillierte Abklärung der Materialisierung und der Konstruktion der Fassade durch. An massstäblich gefertigten Musterelementen in Aluminium und Stahl untersuchten sie die Machbarkeit, die Oberflächenbeschaffenheit und -qualität, den Korrosionsschutz, die Toleranzen sowie den terminlichen Verzug durch das Verzinken. An einem finalen Mock-up prüften die Planenden das entwickelte System auf seinen Widerstand, die Windeinwirkung, die Luftdurchlässigkeit und die Wasserdichtigkeit.

Neben der Produktion und dem Transport standen bei der Dimensionierung und der Materialisierung vor allem die Optimierung des Materialverbrauchs im Vordergrund. Dass eine Reduktion der Blechstärke um lediglich 0,5 mm bereits zu einer Materialersparnis von 50 t Aluminium oder 140 t Stahl führte, zeigt die Effektivität einer präzisen Bemessung. Die Ingenieure erreichten denn auch eine signifikante Reduktion der Blechstärken von den ursprünglich ermittelten 7 mm bis auf 5.5 mm, an manchen Stellen sogar auf 4.5 mm Stärke.

Die Durchbiegung der Elemente blieb aufgrund der unveränderten statischen Höhe klein. Allerdings waren die Bleche aufgrund der ausgeprägten Schlankheit beulgefährdet. Mittels der versierten Anwendung von FE-Programmen und dem entsprechenden Hintergrundwissen zu nichtlinearen Berechnungen ermitteln die Ingenieure die optimierte Blechstärke und erreichten eine stabile und dennoch sehr schlanke Konstruktion. Die Rippen im Bereich der Krafteinleitung waren dabei Teil der Materialoptimierung.

Die Materialisierung der Hohlkästen blieb während der Planung bis zum Kostenvoranschlag offen, um den spezifischen Rahmenbedingungen optimal begegnen zu können. Aufgrund seiner strukturellen Effizienz favorisierten die Planer den Stahl. Eine entsprechende Kostenanalyse zeigte allerdings, dass bei roh belassenem Aluminium und unter Berücksichtigung aller wegfallenden Vor- und Nachbearbeitungen sowie Unterhaltsarbeiten Aluminium attraktiver wird.

Gelungene Synthese von Ingenieurwesen und Architektur

Die Weiterentwicklung des Fassadensystems vom additiven zum integralen System war aus architektonischer und statischer Sicht vorteilhaft. Mit der entworfenen Formgebung und der errechneten Materialstärke erreichten die Planenden ein in vielen Belangen effi­zientes Fassadenpaket – es integriert statische und ­architektonische Komponenten, es erfüllt montage- und transportspezifische Aspekte, indem es auf einen Sattel­schlepper passt und vor Ort auf nur wenige Millimeter genau in die Fassade eingesetzt werden kann, und es erfüllt neben den strukturellen und statischen Aspekten auch energetische Ansprüche, indem es beispielsweise im Bereich des Administrationshochhauses auch Fenster, Dämmung und Abdichtung aufnimmt.

Die Tragkonstruktion ist Teil der Architektur. Sie fügt sich passgenau in die komplexe Geometrie der Anlage und trägt die künftig begrünte Fassade sowie das Formdach. Damit wird einerseits der architektonische Entwurf gestärkt und andererseits die Konstruktion nicht nur auf tragwerksspezifischer Ebene, sondern ebenso mit visuellen, gestalterischen und technischen Aspekten begründet. Letztlich bedingen sich Archi­tektur und Tragwerk.

Wichtige Daten rund um das Projekt

Wettbewerb: Entscheid 2011
Teilnehmende:
Gottlieb Paludan Arkitekter, Kopenhagen;
Dominique Perrault Architecture, Paris;
Wilkinson Eyre Architects, London/Hongkong;
3XN, Kopenhagen/Stockholm/ Sydney/New York;
Lundgaard og Tranberg Arkitekter, Kopenhagen;
BIG, Kopenhagen/New York/London
Projektierung: 2011– 2014
Ausführung Rohbau: 2015–2016
Fertigstellung Rohbau: 2016
Start Testbetrieb: 2017
Offizielle Einweihung: Herbst 2018
Nutzung: Kehrichtverwertungsanlage, Sportanlage (Dach)
Volumen: 41 000 m³
Tragsystem: Binderunterstütztes Träger-Stützen-System mit unterschiedlichen Tragbalken im Dach
Konstruktionsart: Stahlrahmenkonstruktion
Tonnage: 7500 t Stahl, LEK 2015
Stahlsorten: S355 und S460 für das Haupttragwerk und S235 für das sekundäre Tragwerk
Fassadenkonstruktion: 25 000 m² Stahlsandwichpaneele ummantelt, Aluminiumhohlkästen
Brand- und Oberflächenschutz: Material roh
Energieeffizienz/Nachhaltigkeit: LEK 2015
Kosten: 530 Mio. Euro

Alle bisher erschienenen Beiträge zum Thema Stahlbau finden Sie in unserem digitalen Dossier «Stahl».

Teil eines Kontinuums

Die neue Aarebrücke, das Herzstück des Bypass Thun Nord, geht am 9. November 2017 in Betrieb. Der von Bänziger Partner Ingenieure gebaute, über 500 m lange Durchlaufträger überspannt Bahnlinie und Aare, verbindet den Entwicklungsschwerpunkt Thun Nord mit Steffisburg und soll zukünftig zur Entlastung der städtischen Brücken beitragen.

Die Bevölkerung und der Motorisierungsgrad in der Agglomeration Thun haben in den letzten Jahren überdurchschnittlich zugenommen. Obwohl bereits seit 1955 verschiedene Anläufe unternommen wurden, die Verkehrsprobleme zu lösen, blieb das Verkehrssystem in den letzten Jahrzehnten im Wesentlichen unverändert. Insbesondere die Innenstadt von Thun und die dorthin führenden Hauptachsen sind mittlerweile sehr stark belastet. Im Jahr 2002 erarbeitete daher der Oberingenieurkreis I des Tiefbau­amts des Kantons Bern im Rahmen eines Forumsprozesses mit rund 80 beteiligten Interes­senvertretern Lösungen für das Verkehrsproblem.

Die Ergebnisse flossen in die Gesamtverkehrsstudie Agglomeration Thun ein, deren Kernstück der Bypass Thun Nord mit einer neuen Querung der Aare und der Eisenbahn ist. Der Bypass sorgt nicht nur für eine bessere Anbindung Thuns an die Nachbargemeinden Steffisburg und Heimberg, auch der Entwicklungsschwerpunkt (ESP) Thun Nord – ein künftiger Wirtschaftspark, der auf nicht mehr militärisch genutzten Arealen entsteht – wird über die neue Aarebrücke an den Autobahnzubringer Thun Nord angeschlossen. Verkehrstechnisch und wirtschaftlich gilt der Bypass daher als Schlüsselprojekt für die Agglomeration Thun.

Studienaufträge für Schlüsselprojekt

In einem Studienauftrag im Jahr 2006 wurden Lösungsvorschläge für die Linienführung, den Betrieb und die Ausgestaltung der neuen Strassenanlage sowie deren Integration in das Siedlungsgefüge und den Landschaftsraum gesucht. Vier Ingenieurbüros mit Architekten als Fachspezialisten waren daraufhin eingeladen, im Rahmen eines weiteren Studienauftrags ein Projekt für eine neue Aarebrücke zu erarbeiten. Das Beurteilungsgremium entschied sich für das Projekt von Bänziger Partner mit der Architektin Corinna Menn. Der Vorschlag war eine schlichte, doch elegante und in den Details sorgfältig gestaltete Stahlbetonbrücke, die auf bewährte Brückenbautechniken zurückgreift und sich gut in das heterogene Siedlungsgefüge und den Landschaftsraum integriert.

Randbedingungen, ober- und unterirdisch

Die heterogene Abfolge von öffentlichem Raum, militärischer und gewerblicher Nutzung im direkten Umfeld, aber auch die weitere Umgebung mit den Berner Alpen verlangte ein schlichtes, harmonisches und präzise konstruiertes Brückenbauwerk. Massgebend für den Entwurf waren die Geometrien der zu überbrückenden Gebäude und Erschliessungsanlagen. Auch Fundationen einengende, unterirdische Anlagen wie Schiesskeller und Werkleitungen waren zu berücksichtigen. Ausserdem erwarteten die SBB und die BLS Eisenbahngesellschaft nach der Erstellung des Bauwerks Freiraum für zukünftige Erweiterungen. Die Strassen­achse war durch das übergeordnete Gesamtprojekt gegeben und konnte lediglich im Dezimeterbereich verschoben werden. Die aktuelle Nutzung der an die Brücke angrenzenden Areale musste auch während des Baus stets gewährleistet sein. Ausserdem sollte das Bauwerk eine geschlossene Konstruktion mit Lärmschutzelementen bis zu einer Höhe von 1.20 m aufweisen. Schliesslich war seitens der Bauherrschaft eine «Landmark»-Lösung unerwünscht.

Ellipsen, Parabeln und Rhomben

Aus städtebaulichen und gestalterischen Überlegungen heraus entschloss sich das Planerteam, das Bauwerk als homogene Einheit zu konzipieren. Die Ingenieure entschieden sich für einen kompakten Hohlkastenträger in Spannbetonbauweise mit konstantem Querschnitt im Vorlandbereich und einem gevouteten Abschnitt über der Aare.

Der Brückenüberbau mit trapezförmigem Hohlkastenquerschnitt zieht sich zwischen den Widerlager­achsen über die gesamte Brückenlänge von 541 m, wobei die Spannweiten der 14 Felder zwischen 25 und 68 m variieren. Bedingt durch die im rechten Aareufer liegenden Hauptkanäle der Abwasserentsorgung Thun ist die grösste Spannweite exzentrisch über dem Fluss­profil angeordnet. Die 12.5 m breite Brückenplatte kragt rund 3 m über den für den Unterhalt begehbaren und beleuchteten Hohlkasten aus.

Die Neigung der vorgespannten Hohlkasten­stege setzt sich in den 13 Pfeilern fort und geht fliessend in eine parabelförmige Verjüngung von 5 m (4.18 m bei den gevouteten Brückenträgern) auf 3 m über. Dies lässt das Bauwerk als Einheit erscheinen. Ab 8 m unterhalb der Fahrbahnachse bleibt der rhombusförmige Pfeilerquerschnitt bis zum Stützenfuss konstant. Die wohlproportionierte Pfeilerform gibt dem Bauwerk seine Stabilität in Längs- und Querrichtung.

Die sich ändernden Höhen der gevouteten Kastenträger an der Aare ziehen am Anschluss an die rhombischen Pfeilerquerschnitte elliptische Formen der Kastenunterseite nach sich. Zusammen mit der Brückenkrümmung im Grundriss erhält das Erscheinungsbild dadurch im Aarebereich eine zusätzliche formale und fliessende Dynamik.

Die Absturzsicherung besteht aus einer Stahlbetonbrüstung mit eingelassenen Lärmschutzelementen. Auf die Brüstungen, die auch Vorinstallationen für eine spätere Gehwegbeleuchtung enthalten, wird zusätzlich ein Überwurfschutz aus Glas montiert werden, der sich ohne ästhetische Nachteile in das Brückensystem integrieren soll.

Schwimmend gelagert

Das Tragwerk ist als Durchlaufträger konzipiert, wobei die Aarequerung mit der maximalen Spannweite von 68 m als Brückenzentrum betrachtet wird. Vom «Zentrum Aare», das zwar weder der geometrischen Mitte noch dem Scheitelpunkt entspricht, reduzieren sich die Spannweiten unter Berücksichtigung der Bestandsbauten kontinuierlich zu den Widerlagern hin.

Die tragfähige Fundationsschicht liegt rund 3 m unterhalb des heutigen Terrains. Aufgrund der Platzverhältnisse fundieren die Stützen auf Bohrpfählen. Nördlich der Aare (Seite Steffisburg) besteht eine Grundwasserschutzzone, in der die Pfeiler flach auf einem Materialersatz fundiert wurden. Ebenfalls flach gegründet sind die Widerlager, beide Rampen und die Fussgängerunterführung.

Die Brücke ist in Längsrichtung schwimmend gelagert, der Fixpunkt liegt beim linksufrigen Pfeiler an der Aare (P9). Bei den beiden Widerlagern und den Pfeilern P1 bis P5 sowie P12 und P13 sind Topfgleitlager eingebaut. Einzig bei den Widerlagern sind mechanische Fugenübergänge montiert. Damit die Widerlager – über die auch der Einstieg in den Hohlkasten erfolgt – mühe­los begehbar sind, sind sie mit einen minimalen Freiraum von 2 m Höhe unterhalb des Brückenträgers angeordnet.

Wasser im Kasten

Die Brücke liegt mit Ausnahme des Bereichs der Aare über genutztem Gelände. Eine konventionelle Belagsentwässerung mittels Entwässerungsröhren ist nicht möglich. Entlang dem Tiefpunkt der Fahrbahnplatten wurden deshalb gelochte, in Epoxid-Drainmörtel verlegte Hutprofile eingelegt, die über die Einlaufschächte die Belagsentwässerung sicherstellen. Die Oberflächenentwässerung erfolgt über Einlaufschächte in einem Abstand zwischen 25 und 40 m.

Die Schächte liegen am Gehwegrand und damit ausserhalb des Hohlkastenträgers. Aus ästhetischen Gründen sowie zu ihrem Schutz und Unterhalt sind die Entwässerungslängsleitungen allerdings im Hohlkasten aufgehängt. Für die von aussen nicht sichtbare Querung der Stege des Hohlkastens musste die Lage der Einlaufschächte auf die Spannkabelführung abgestimmt werden. Die Spülschächte sind in einem Abstand vom maximal 80 m angeordnet. Das Oberflächenwasser fliesst in den Längsleitungen bis zu den Widerlagern und wird mit dem Abwasser des übrigen Trassees in die Becken der Strassenabwasserbehandlungsanlage (SABA) geleitet. Diese befinden sich südlich der Aare unter den beiden ersten Vorlandfeldern, nördlich des Flusses am Kreisel Glattmüli.

Kontinuum durch städtisches Gebiet

Die konventionell mit einem Flächengerüst hergestellte Brücke ist aus dem Stadtgebiet heraus nur in Abschnitten und nie gesamthaft erfahrbar. Wegen ihrer gestalterischen Einheit bilden die Abschnitte dennoch ein Kontinuum. Das Planerteam teilte das Bauwerk gestalterisch und statisch nicht in Sektoren, sondern konzipierte es als Ganzes und schaffte dadurch eine zurückhaltende Selbstverständlichkeit. Die geraden Kanten am Brückenträger, die glatten, in der Fläche aber strukturierten Pfeiler und das bereits in der Submission vorgeschriebene Schalungsbild verstärken den formalen Ausdruck eines einheitlichen Bands, das die Ingenieure als Durchlaufträger statisch konsequent umgesetzt haben.

27. Oktober 2017 TEC21

In der Bautradition der Bündner Bogenbrücken

Seit Juni 2017 rollt der Verkehr ein Stück geradliniger in Richtung Oberalppass. Eine neue Bogenbrücke von Schnetzer Puskas Ingenieure begradigt eine Kurve bei Rabius und ist ein Beispiel für ein statisch effizientes Bauwerk mit gelungener Gestaltung.

Oberhalb des Vorderrheins schlängelt sich die Hauptstrasse 19 kurvenreich von Reichenau auf den Oberalppass. Eine neue Bogenbrücke überspannt nun die Val Mulinaun und begradigt den rund 1.3 km langen Strassenabschnitt zwischen Rabius und Sumvitg – folgte doch die bisherige instandsetzungsbedürftige Betonfahrbahn dem Geländeeinschnitt.

Effizienter Wettbewerb

Für den Brückenentwurf schrieb das Tiefbauamt Graubünden 2013 einen anonymen, zweistufigen Wettbewerb aus (vgl. TEC21 37/2014). In der ersten Phase waren nur eine Ideenskizze der Brücke und ein Kurzbeschrieb einzureichen. 37 Projektvorschläge gingen hierzu ein. Sechs Teams wurden daraufhin eingeladen, in einem reduzierten Vorprojekt ihren Brückenentwurf auszuarbeiten, die Hauptmassen zu ermitteln und die technische Machbarkeit und Wirtschaftlichkeit zu belegen. Aufgrund der überschaubaren Abgabeleistungen in der ersten Phase und danach erhöhter Gewinnchancen bei steigendem Aufwand ist ein solches zweistufiges Verfahren sowohl für die Projektverfasser als auch die Auslober effizient und vorteilhaft (vgl. Interview mit Christian Menn).

Bogen als Kernstück der Korrektion

Die Randbedingungen des Bauprojekts waren anspruchsvoll: Steile Talflanken und die anstehende Geologie bargen baugrundtechnische Risiken. Die Brücke musste der vorgegebenen, gekrümmten Linienführung der zukünftigen Strasse folgen, gleichzeitig war ein Lawinenzug in der Val Mulinaun zu berücksichtigen. Ausserdem stellte die landschaftlich exponierte Lage etwa 60 m über dem Bach trotz verdeckenden Waldhängen hohe Ansprüche an das Erscheinungsbild. Von drei vorgeschlagenen Bogenbrückenkonstruktionen kam nur der Entwurf von Schnetzer Puskas Ingenieure in die engere Auswahl und konnte letztlich den Wettbewerb für sich entscheiden.

Obwohl die gekrümmte Linienführung der Strasse für eine Bogenkonstruktion nicht optimal war, wählte der Projektverfasser Heinrich Schnetzer dieses Tragsystem aufgrund statischer, herstellungstechnischer und ästhetischer Gesichtspunkte. Ein Bogen füge sich optimal in die Umgebung ein und lasse sich an dieser Stelle mit dieser Spannweite in effizienter Weise umsetzen – so Schnetzer. Der Entwurf basiere auf statischen und kontextuellen Überlegungen zum Typus Bogen und leite sich grundsätzlich von der Strassengeometrie ab. Eine herkömmliche Bauweise mit teuren Lehrgerüsten habe er aber im Wettbewerbsentwurf mit modernen Herstellungsverfahren weiterentwickelt, wodurch der Bogen als statisches System wirtschaftlich noch interessanter würde (vgl. «Ursprüngliches Bauverfahren», Kasten unten).

Die ästhetische Bogenkonstruktion mit ihrem schlanken, sichelförmigen Bogen, der den Lawinenzug respektvoll überbrückt, dem ruhigen Rhythmus der Aufständerung und der bedachten Einbindung in die Umgebung überzeugte auch die Jury.

Inspiriert von Robert Maillart und Christian Menn

Die knapp 210 m lange Stahlbetonkonstruktion führt teilweise als Hangbrücke bis zu den Widerlagern. Die Spannweite des Bogens beträgt 97.8 m, der Stich 16.8 m, was ein statisch günstiges Verhältnis von 5.8 nach sich zieht. Die monolithische Konstruktion ist lediglich an den Widerlagern verschieblich gelagert. Der Bewegungsmittelpunkt befindet sich im Bogenscheitel, an dem Bogen und Fahrbahn miteinander verbunden sind.

Die Brückenansicht erinnert zwar an einen versteiften Stabbogen, wie ihn Robert Maillart in den 1930er-Jahren entwickelte, das statische System jedoch ist ein anderes: Bei der Punt Mulinaun ist der Bogen ausgesteift und der Fahrbahnträger vorgespannt. Eine solche Kombination setzte bereits Christian Menn bei Bogenbrücken um. Die einzelnen Tragelemente werden zu einem ganzheitlichen Tragkonzept zusammengefügt. Im Grundriss ist die Bogenbreite variabel.

Der kurvenaussenseitige Bogenrand gegen das Vorderrheintal hin ist gerade, der kurveninnenseitige ist gekrümmt ausgebildet. Der Bogen folgt im Grundriss also der vorgegebenen horizontalen Linienführung der Strasse und ist kein ebenes Tragwerk. Dies widerspricht grundsätzlich dem statisch idealen Konzept, wonach ein Bogen sich nur in der vertikalen Ebene entwickeln sollte. Die Krümmung des inneren Bogenrands führt zu einer im Grundriss gekrümmten Bogenachse.

Die Bogennormalkräfte verursachen deshalb horizontale Umlenkkräfte. Diese kompensieren die aus der gekrümmten Strassenführung entstehenden Torsions­kräfte zumindest teilweise. Um die verbleibenden Torsionskräfte aufnehmen zu können, ist der Bogen gegen die Kämpferfundamente hin relativ breit und mit stabi­lisierenden Rippen versehen.

Um die Wölbung des Bogens insgesamt zu minimieren, tarierten die Ingenieure die Bogenachse an der Strassenlinie aus – eine geometrisch diffizile Parallelverschiebung, da sich die Strassenlinie im Brückenperimeter aus einer Geraden, einer Klothoide und einem Radius zusammensetzt. Die Bogenachse positionierten die Ingenieure so, dass die positive Exzentrizität im Scheitel (Stütze 8) gleich gross wird wie die negativen Exzentrizitäten bei den ersten Bogenstützen (Stützen 6 und 10). Dadurch glichen sie die Exzentrizitäten zwischen den Bogenstützen aus und konnten die Torsion des Bogens trotz seiner räumlichen Geometrie begrenzen.

Schnittkräfte bestimmen die Form

In der Ansicht verläuft die 35 cm starke Bogenplatte polygonal entlang der Stützlinie (Spitzbogen mit höchstem Polygonpunkt im Scheitel). Die den Bogen stabilisierenden 40 cm breiten Rippen variieren in ihrer Höhe von 1.25 m im Viertelspunkt bis zu 1.65 m am Scheitel. Diese sichelförmige U-Form des Bogens leitet sich von der statischen Grenzwertbetrachtung der Momentenbeanspruchung ab. Wie schon bei Maillarts Brücken bestimmt die Schnittkraftlinie die Form des Haupttragelements.

Der vorgespannte, 1.20 m hohe Fahrbahnträger ist als Plattenbalken (d = 32 cm, verjüngend auf 26 cm am Kordon) mit zwei Längsträgern ausgestaltet, zwischen denen Werkleitungen nicht direkt sichtbar verlaufen. Die Breite der Längsträger nimmt von 1.20 m im Feld auf 1.82 m an den Auflagern zu. Der Fahrbahnträger ist auf Stützenscheiben mit einem Abstand von 16.30 m respektive 15 m an den Endfeldern aufgeständert. Über dem Bogen sind die Scheiben im Grundriss rechtwinklig zur Bogenachse ausgerichtet, in den Lehnenbrücken radial zur Fahrbahnachse.

Da der Bogen zum Scheitel hin schmaler wird, der Überbau gegenüber dem Bogen (im Grundriss) stärker gekrümmt ist und das Quergefälle von 7 % (Rabius) auf 3 % (Sumvitg) abnimmt, verändert sich der jeweilige Anzug der Stützen. Jede Stütze hat im Querprofil der Brücke gesehen eine eigene Ansicht. Die Kämpferstützen – sie stehen nicht auf dem Bogen selbst, sondern auf dem Kämpferfundament am Bogenansatz – sind 55 cm dick, die übrigen 40 und 30 cm. Alle Stützen sind grundsätzlich mit einem 10 cm weiten Versatz nach innen auf dem Bogen angeordnet, am Anschluss an den Fahrbahnträger beträgt dieser 20 cm gegenüber den Trägerkanten. Dies ergibt optisch eine klare Abgrenzung zwischen den Ständern und den längs laufenden Elementen wie Bogen und Fahrbahn.

Die Kämpfer stehen ausserhalb der Lawinenzone der Val Mulinaun und ruhen auf Schwerge­wichtsfundamenten. Die übrigen Tragelemente konnten auf Flachfundationen abgestellt werden, da die Lasten bei den Vorlandstützen und den Widerlagern dank den kurzen Spannweiten bescheiden sind. Die Widerlager sind konventionell ausgestaltet und weisen einen Kontrollgang auf. Der Fahrbahnträger ruht hier auf Topflagern und ist mit Fahrbahnübergängen dilatiert.

Brücke als Kunst des Ingenieurs

Die neue Überquerung widerspiegelt die statisch und gestalterisch sachverständige Leistung der Ingenieure. Schliesslich ist die statische Effizienz, die für eine qualitativ gut gestaltete Brücke unabdingbar ist, ein gewichtiges Kriterium des Entwurfs. Anders als rein auf gestalterische und geometrische Argumente ausgelegte Tragwerke entsprechen die Tragelemente hier der effektiven Beanspruchung. Mit dem dadurch gewon­nenen effizienten Tragverhalten erhält die Brücke ihre Wirtschaftlichkeit und fügt sich als exponiertes Bauwerk leicht und schwungvoll in die Landschaft der Surselva ein.

16. Juni 2017 TEC21

Durchdachte Gestaltung

Grosspeter Tower, Basel

Die Fassade des neu gebauten Grosspeter Towers in Basel ist komplett mit Solarmodulen bestückt. Technoid wirkt die Fassade trotzdem nicht. Voraussetzung war die Abstimmung der Disziplinen Architektur, Tragwerk und Solartechnik zu einem Gesamtsystem, das die Nutzung mit einbezieht.

Der 22-geschossige Grosspeter Tower steht am südöstlichen Eingang Basels unmittelbar beim Autobahnanschluss A2/A3 und in der Nähe des Basler SBB-Bahnhofs. Mit 78 m Höhe überragt er alle umliegenden Bauten. Einem Wahrzeichen gleich steht das Hochhaus für die Verknüpfung von Architektur, Nutzung, Tragwerk, ­Fas­sadenplanung und Solartechnik zu einem Gesamt­konzept. Das Tragwerk ist entsprechend dem Kräftefluss abgestuft und spiegelt sich in den Riegeln und Stegen der Fassade wider. Der Rhythmus der Fassadenele­­mente korrespondiert wiederum mit der Geschoss­nutzung und gibt dem Gebäude sein typisches Erscheinungsbild. Die Fassadenpaneele mit flächendeckenden Solarmodulen sind gänzlich in die Fassadengestaltung integriert. Es ist ein Projekt, in dem die verschiedenen Disziplinen am Bau sich nicht nur ergänzen, sondern einander bedingen.

Das Hochhaus steht auf einer trapezförmigen Parzelle. Diese ist Teil des Grosspeter-Bebauungsplans und das östlichste der sechs Baufelder. Auf dem Areal sollte der Dienstleistungsbereich um den Bahnhof SBB sinnvoll erweitert werden. Das in einem mehrstufigen Wettbewerbsverfahren entwickelte Bebauungskonzept gewannen 2002 Miller & Maranta Architekten. Zu berücksichtigen waren Optionen für geplante Verkehrs­bauten, das Nationalstrassen-Teilstück der A2 zwischen Bahnhof SBB und Gellert sowie ein fünftes Gleis der SBB. Im Osten sollte ein Hochhaus einen Akzent setzen, der stadtauswärts den Abschluss der Bebauung bildet. Die Projektierung dieses Hochhauses vergab die Bauherrschaft zunächst direkt dem Basler Büro Degelo Architekten. Nach dem Vorprojekt beauftragte die Bauherrschaft die Basler Architekten Burckhardt Partner. Zusammen mit den Basler Tragwerksplanern von ZPF Ingenieure und weiteren Fachplanern und Spezialisten sind sie für den Grosspeter Tower verantwortlich.

Tragstruktur widerspiegelt Nutzung

Das Gebäude mit Hotel- und Büronutzung setzt sich aus zwei ineinandergreifenden Volumen zusammen und hat von jeder Seite eine andere Form (Abb.). Im sechsgeschossigen Sockelbereich sind Büro­flächen und das Hotel angeordnet, und im 25 × 24 m grossen, im Grundriss also fast quadratischen Hochhaus mit zusätzlichen 16 Geschossen werden bis Mitte Sommer dieses Jahres weitere 11 000 m² Büroflächen realisiert. Der Mieterausbau ist im «Core and Shell»-Prinzip individuell konzipiert worden. Dabei werden sämtliche Mietflächen vorerst nur in einem Grund­ausbau ausgeführt. Dieser umfasst die Gebäudehülle (shell = Schale) und die zentrale Er­schlies­sung (core = Kern) wie Aufzüge, Treppen­häuser und Installationsschächte. Dadurch ermöglicht die Bauherrschaft unterschiedliche Mieteinheiten von 210 bis 880 m², die ­variabel ausgebaut, flexibel im Grundriss disponiert und über mehrere Geschosse ­zusammengelegt werden können.

Die Tragstruktur als Skelettbau mit Ortbetonflach­decken von 26 bis 30 cm Stärke ist die optimale Antwort auf diese Anforderungen. Beim Turm sind die Flach­decken mit einer Regelspannweite von bis zu 8 m auf einer Stahlrahmenkonstruktion (Vierendeelträger) in der Fassaden­ebene und auf tragenden Wänden im Kernbereich ge­lagert. Im Sockelbereich lagern die Flachdecken auf Stahlbetonwänden in der Fassadenebene, drei weiteren Kernen und Fertigbetonstützen im Geschoss­innern. Zwei zusätzliche Stahlkernstützen leiten die hohen Lasten aus dem Turm im Gebäudeinnern ab. Das betonierte Untergeschoss wirkt als steifer Kasten, in dem die Kerne und aussteifende Wände eingespannt sind.

Oberhalb des ersten Obergeschosses kragt das Hochhaus um rund 8.8 m aus – eine Vorgabe aus dem Bebauungsplan. Statt es auf seinem kompletten Fuss stehen zu lassen, wurde dem Volumen ein beträchtlicher Teil seiner Standfläche genommen. Unter der Auskragung verlaufen die neue Erschliessungsstrasse und unmittelbar daneben die Gleise der SBB-­Linie Basel–Zürich sowie ein Rad- und Fussweg (Abb.).

Die Ingenieure von ZPF aus Basel entwickelten ein Tragsystem, das diese statische Rahmenbedingung gezielt berücksichtigte und zugleich der architektonischen Intention des Basler Architekturbüros Burckhardt Partner entsprach. Die Architekten referenzieren das «Permanent Model» von Monadnock aus Rotterdam, wonach sich die in den unteren Geschossen noch als Lochfassade erscheinende Gebäudehülle mit steigender Gebäudehöhe zugunsten grösserer Fassadenöffnungen auflöst und oben im Turm zur leichten Pfosten-Riegel-Konstruktion wird. Ein nutzungsbezogenes Konzept, da die unteren Geschosse mit dem Hotel nach mehr Privatsphäre verlangen und in den Obergeschossen mit den Büros mehr Transparenz und Ausblick möglich ist.

Das Tragwerk ist ein Vierendeel-System aus Stahl in Form eines gebäudehohen Vierkantrohrs. Ohne störende Diagonalen leitet es die anfallenden vertikalen Lasten in den Baugrund ab. Seiner biegesteifen Rahmenkonstruktion entsprechend trägt es zudem ­horizontale Lasten ab und steift das Gebäude aus. Der zentrale Gebäudekern im Turm leistet dazu rechnerisch einen kleineren Beitrag, weil er für Installationen und Erschliessung perforiert ist.

Um den Innenraum im Hochhaus möglichst effizient und uneingeschränkt – das heisst stützenfrei – nutzen zu können, ist das Tragwerk in die Fassadenebene integriert. Die Planenden haben die Fassaden- und die Tragelemente entsprechend stark aufeinander abgestimmt. Die Fassadenelemente übernehmen die Abmessungen der Tragelemente, wodurch beide mit dem Kräftefluss korrespondieren und so gleichzeitig die Statik und das architektonische Konzept widerspiegeln.

Fassade integriert Solarmodule

In sämtliche Fassadenelemente sind flächendeckende Dünnfilm-Solarmodule integriert. Abgestimmt auf die Breite und Höhe der Fassadenpaneele wurden für alle Gebäudeseiten über 450 unterschiedliche PV-Fassaden­elementtypen auf Mass angefertigt. Doch anders als bei Standardprojekten entstand hier zugleich ein ­Demonstrations- und im besten Fall auch ein Nach­ahmungsprojekt. Denn die Module sind unabhängig von ihrer Ausrichtung, ihrer lokalen Beschattungssituation und der Grösse des Fassadenelements rund um das Gebäude und in unterschiedlichen Abmessungen angebracht. Dies ist nur möglich dank der ausgeklügelten elektrotechnischen Verschaltung und der Mass­anfertigung der Dünnfilm-Solarmodule (vgl. «Mass­geschneiderte Solartechnik», Kasten unten). Die unterschiedlich «ertragreichen» Fassadenseiten – ob Süd-, West-, Ost-, Nordseite oder auf dem Dach – konnten so miteinander verknüpft und ein einheitliches Fassadenbild erreicht werden. In der ausgeführten elektrotechnischen Anordnung lässt sich der Stromertrag unter den gegebenen Rahmenbedingungen optimieren.

Die rund 10 000 Fassaden-Solarmodule mit einer Leistung von 440 kWp generieren zusammen mit dem Dach-Solarkraftwerk (mit einer zusätzlichen Leistung von 100 kWp) eine erwartete Stromproduktion von rund 260 000 kWh/a; sie deckt einen grossen Teil des Grundstrombedarfs. Ein Erdwärmesondenfeld mit 52 Sonden, die 250 m in die Tiefe führen, versorgt zudem die Wärmepumpenheizung und die Kältemaschine mit geothermischer Energie. Während im Winter damit geheizt wird, kann gleichzeitig die Kälte zurückgeführt werden, um sie im Sommer zur Kühlung des Neubaus zu verwenden.

Technik folgt Architektur

Die Architekten haben die Solarmodule zusammen mit den Solarplanern des Zürcher «energiebüro» designt. Das Fassadenbild wird dadurch weniger von der Technik bestimmt, ohne dass energetische Ertragseinbussen hätten hingenommen werden müssen. Denn auch wenn die Dünnfilmzellen – im Gegensatz zu herkömmlichen kristallinen Solarzellen – ohne Siebdruck des Frontglases kaum als Solarmodule erkennbar sind, bleiben die fotoaktiven Solarpatches mit den typischen «Nadelstreifen» schwach sichtbar. Indem das Planerteam jeden einzelnen Solarmodultyp bewusst gestaltete, verhinderte es ein optisches Patchwork. Stattdessen ergab sich ein geordnetes Fassadenbild.

Die maximalen Abmessungen der Patches richten sich nach den produktionstechnischen Möglich­keiten. Da nur Solarmodule mit gleicher Spannung zu Strings verschaltet werden können (vgl. «Massgeschneiderte Solartechnik», Kasten unten), mussten die Zellabstände variieren. So kann die Spannung bei unterschiedlichen Modulgrössen ausgeglichen werden. Die Variation ist auf 10 % begrenzt, damit die Veränderung optisch nicht stört.

Gesamtsystem aus Technik, Architektur und Tragwerk

Vor allem aus elektrotechnischer Sicht wird deutlich, dass für ein solches rigoros durchdachtes Projekt neue planerische und produktspezifische Lösungen notwendig sind. Ein aufwendiger, aber aus architektonischen Gründen lohnenswerter Prozess. Denn durch die komplexe und projektspezifisch ausgearbeitete elektrotechnische Anlage und durch die gestalterisch hochwertige Integration der Solarmodule in die Gebäudefassade inklusive Tragwerk profitiert schliesslich das Gesamtkonzept aus Solartechnik, Architektur und Tragwerk. Durch statische und elektrotechnische Rahmenbedingungen ergibt sich aus der energetisch leistungsfähigen Fassade auch ein gestalterisch wirkungsvolles Er­scheinungsbild: Ohne technoid zu wirken, sind die Solarmodule integraler Bestandteil des architektonischen und statischen Gesamtkonzepts.

5. Mai 2017 TEC21

Korpus mit Durchblick

Verwaltungsgebäude, Barcelona 2017

An der Plaça d’Europa in Barcelona tummeln sich mehr oder minder gelungene Solitäre diverser Büros. Hier errichteten RCR Arquitectes und die Ingenieure von Blázquez Guanter 2011 ein Gebäude, das von einem fruchtbaren Dialog zwischen den Planenden zeugt. Tragwerk, Raum und Form bilden ein starkes Ganzes.

Das 2011 errichtete Verwaltungsgebäude Layetana steht an der Plaça d’Europa im Stadtgebiet L’Hospitalet de Llobregat. Es ist eine neu entwickelte, heterogene Umgebung: Kreisförmig um den Platz herum angeordnet stehen Hochhäuser verschiedener Architekturbüros und niedrigere, geknickte Zeilenbauten; die kürzeste von ihnen ist der Neubau, den RCR Arquitectes mit den in Girona ansässigen Tragwerksplanern Blázquez Guanter entworfen haben.

Die Lage, die Orientierung und das Volumen – insbesondere die Abtreppung der Nordfassade – waren weitgehend vom Masterplan vorgegeben. Die Entwerfer konzentrierten sich deshalb auf das Objekt selbst (vgl. Kasten unten: «Geschlossen? Offen? Anders!»). Dabei spielte die Gestaltung des Tragwerks eine zentrale ­Rolle, denn es sollte die architektonische Erscheinung prägen und die Gebäudeform definieren.

Haupttragwerk am Grundriss ausgerichtet

Der Neubau mit drei Untergeschossen, einem Erdgeschoss und fünf Ober­geschossen basiert auf einem trapezförmigen, sich zur Platzmitte hin keilförmig ver­schmälernden Grundriss. Das Tragwerk ist ober- und unterirdisch grundsätzlich unterschiedlich materialisiert. Einzig zwei Betonkerne, die der Erschliessung dienen, durchstossen das gesamte Gebäude vertikal und geben ihm die notwendige Gesamtstabilität. Die Untergeschosse sind in Stahlbeton auf einer 12 m tief liegenden Fundamentplatte errichtet, über dem Baugrund erhebt sich die markante Stahlkonstruktion. Die Schnittstelle der Materialien befindet sich beim ersten Untergeschoss, wo die Stahlkonstruktion im Stahlbeton verankert ist.

Rahmen aus Stahl bilden das Haupt­tragwerk. Sie richten sich nach den Grundrisslinien und reihen sich im Abstand von 1.6 m aneinander – fast parallel, alle leicht gegen die Plaça-Mitte hin verdreht gefächert.

Die Stahlrahmenkonstruktion bildet das Skelett und damit das Rückgrat des Baus. An der Südfassade sind die Stützen von Traufe bis Fuss vertikal angeordnet, an der nördlichen Fassade sind sie – gemäss den städtebaulichen Vorgaben des Masterplans – zwei Mal abgestuft. An der Aussenseite der Fassadenebene angeordnet, definieren die Rahmen das Gebäudevolumen mit seiner markanten Form und seiner gewollten Transparenz.

Biegesteife und schlanke Tragelemente

Die schmalen, lamellenartigen Rahmenstützen mit einer Abmessung von 100 cm × 14 cm sind vor allem aus gestalterischen Gründen so nah aneinandergereiht und so schlank ausgebildet. Neben viel Transparenz er­möglichen sie zugleich viel Privatsphäre. Der Knick­bemessung und der Verformungsanalyse hatten die Ingenieure deshalb besondere Aufmerksamkeit zu schenken – sie modellierten das statische Verhalten der Tragelemente mit iterativen Verfahren II. Ordnung und berücksichtigten das nicht lineare Verhalten des Materials.

Ausgebildet wurden die Rahmenquerschnitte als verschweisste Blechprofile mit einem eingeschweissten Vierkantrohr, welches das Profil versteift und die Seitenbleche gegen Beulen stabilisiert. Die Rahmen wurden für eine effiziente Herstellung, für einen reibungslosen Transport und für eine zweckmässige Montage in Einzelteilen fabriziert und erst vor Ort auf der Baustelle biegesteif verschweisst. Praktisch alle anderen Verbindungen wurden verschraubt, um Schweissarbeiten auf der Baustelle zu reduzieren.

Mehr Rahmen als statisch notwendig

Strebenfachwerke aus Stahl zwischen jedem zweiten Rahmen bilden im Gebäudeinnern das sekundäre Tragwerk. Sie sind durchlässig für Installa­tionen auf Konstruktionshöhe und über Konsolen am Stahlrahmen des Haupttragwerks angehängt. Die Geschossdecken aus Wabenblechen mit Überbeton liegen auf den Trägern auf. Sie wirken als Scheiben und geben neben den vertikalen auch die horizontalen Lasten an die Stahlbetonkerne ab. Zwei Innenhöfe, die Licht ins Gebäudevolumen ­bringen, durchtrennen die Geschossdecken und damit die Scheibenwirkung. Eine entsprechende Dimensionierung und Bewehrungszulagen leiten den Kraftfluss um.

Durch den Verbund der Decken mit den Stahlträgern erhielt die leichte, schwingungsanfällige Konstruktion die notwendige Steifigkeit. Die Stahlträger des vertikalen Tragwerks wurden nur bei jeder zweiten Rahmenstütze montiert, die Spannweite von 3.2 m war für die Deckenverbundkonstruktion effizienter. Die übersprungenen Rahmenstützen verband man in der Fassadenebene jeweils über einen Vierendeelträger mit ­den Konsolen. Dieser Lastabtrag ermöglichte in allen Geschossen stützenfreie, flexibel nutzbare Innenräume.

Wertvolles Zusammenspiel

Die Abmessungen der Tragelemente hingen also nicht nur von den statischen Anforderungen ab, die grundsätzlich eine konventionellere Bauweise ermöglicht hätten, sondern waren auch stark vom Gestaltungswillen der Architekten geprägt. Diese Verknüpfung des Tragwerkkonzepts mit dem architektonischen Entwurf erhöhte zwar die konstruktiven Anforderungen, doch das Ergebnis zeigt eindrücklich: Erst durch die Synthese von Raum, Tragwerk, Material und Konstruktion konnte ein ruhiges, starkes und in sich stimmiges Ganzes entstehen, das in der unterkühlten Umgebung der Plaça d’Europa neben seinen dominanten Nachbarn zu bestehen vermag.

Weitere technische Informationen zum Verwaltungsgebäude Layetana finden Sie in steeldoc 2/2017 (erscheint am 30.6.2017), www.szs.ch/steeldoc

24. März 2017 Heinrich Schnetzer
TEC21

Kraftfluss für die Musik

Der Entwurf der Architekten Herzog & de Meuron ist spektakulär und die Aufstockung auf dem bestehenden Kaispeicher ein Ingenieurbauwerk sondergleichen. Im wahrsten Sinn des Wortes zum Tragen gebracht haben es Schnetzer Puskas Ingenieure.

Einer gläsernen Krone gleich erhebt sich die 19-geschossige Aufstockung auf dem bestehenden Kaispeicher A im Hamburger Hafen. Sie bildet einen eigenständigen Körper auf dem siebengeschossigen Backsteinvolumen (vgl. «Fuss gefasst und abgehoben»). Nicht nur die Materialisierung gliedert Alt und Neu, auch die geschosshohe Fuge dazwischen trennt das unterschiedliche Paar optisch in Bestand und Erweiterung. Dank ihr scheint die Auf­stockung über dem historischen Sockel zu schweben. Dennoch haben die beiden Körper einen engen Bezug zueinander. Ihre trapezförmigen Grundrisse stehen exakt übereinander, und hinter der Backsteinfassade ist ebenfalls alles neu. Die neue Tragkonstruktion erschliesst sich aus der bestehenden; zumindest aus dem, was davon geblieben ist – nämlich der Fundation und der teils tragenden Fassade.

Reserven waren das Potenzial

Der Kaispeicher mit einer praktisch geschlossenen Backsteinfassade bestand aus einem Stahlbetonskelett, das auf eine Nutzlast von 2 t/m2 im oberen und 3 t/m2 im unteren Bereich ausgelegt war. Das Stützenraster von 4.30 auf 5.00 m war orthogonal ausgelegt, allerdings in zwei Bereichen zueinander verdreht, sodass dazwischen eine «Naht» bestand. Die Lasten wurden über Betonrammpfähle mit entsprechendem Raster in den Baugrund geleitet. Insgesamt waren für den 1963 gebauten Kaispeicher 1111 Pfähle in den sandigen und durch­nässten Boden eingerammt worden. Sie bestehen heute noch. Dazwischen befinden sich zudem Holzpfähle des 1875 gebauten Kaiserspeichers – der vorangehende Bau. Das beachtliche Pfahlvolumen verdichtete den Sand, was die Tragfähigkeit der Pfähle wiederum erhöhte. Der Tidehub schwemmte zudem die Grenzschicht der Pfahloberflächen über Jahrzehnte ein – Boden und Pfahl sind regelrecht miteinander «verwachsen». Deswegen können die Pfähle gegenwärtig sogar 40 % mehr Lasten tragen als zur Bauzeit in den 1960er-Jahren. Dies trifft allerdings nicht auf die Senkkästen entlang der Längsfassaden zu. Eine erhöhte Traglast war bei dieser Fundationsart weniger feststellbar.

Die zu Beginn der Planungsarbeiten durchgeführte Analyse des Kaispeichers zeigte, dass mit dieser Nutzlastauslegung des Tragwerks und den Traglast­reserven der Pfähle ein beträchtliches Potenzial für ein aufgesetztes Bauvolumen vorhanden war. Auf dieser Grundlage wurde ein Erweiterungsbau auf dem alten Speicher erst möglich.

Getrennt und doch darauf aufbauend

Grundsätzlich besteht die Aufstockung aus einem ­Stahlbetonskelettbau, der sich an der Pfahlfundation bzw. am innerhalb der Backsteinfassade neu erstellten Stahlbetonskelett orientiert. Einzelne hoch belastete Tragelemente sind aus Stahl.

Um die verschiedenen Nutzungen wie den Grossen und den Kleinen Saal, einen dritten Saal, das Hotel, die Wohnungen, die sich teilweise über den Grossen Saal schieben, das Parking, den Backstage- und den Konferenzbereich, die Gastronomie und die Wellnessanlage überhaupt aufnehmen zu können, wird das Stahlbetonskelett in der Aufstockung durchwegs von Unregelmässigkeiten durchbrochen. Von einem kontinuierlichen und einheitlich materialisierten Tragwerksraster blieb nicht mehr viel übrig.

Infolge des grossen Konzertsaals beispielsweise ergeben sich inmitten des Aufbaus Spannweiten, die die Dimensionen des Rasters bei Weitem sprengen. Er erstreckt sich umgeben von den Hotelgeschossen im Osten und den Wohngeschossen im Westen vom 11. bis hinauf ins 22. Obergeschoss. Sein ovaler Grundriss weist Hauptspannweiten von 50 bzw. 55 m auf und nimmt so teilweise rund ein Drittel einer Geschossfläche auf. Die Ingenieure konzipierten den Grossen Saal daher als statisch eigenständigen Baukörper, der punktuell gestützt ist. Acht grosse Stahleinbauteile sammeln die Kräfte und geben sie an Schrägstützen ab. Diese leiten die Lasten geneigt weiter, bis sie an das Stahlbetonraster anknüpfen. Die relativ wenigen Lagerungen des in sich stabilen Saals ermöglichen es, die Erschliessung und Teile der Plaza unter dem Saal praktisch stützenfrei auszubilden und das Foyer entlang dieses Körpers kaskadenartig hochzuschrauben. Nur wenige schräge Stützen durchstossen diese terrassenartige Decken- und Treppenlandschaft.

Der Grosse Saal als Box-in-Box-System

Der eiförmige Saalkörper ist ein in sich komplexes Tragwerk. Um ihn vom Umgebungslärm der Stadt und des Hafens akustisch abzukoppeln, forderte der japanische Akustiker Yasuhisa Toyota ein Box-in-Box-System – einen Körper aus zwei unabhängigen Schalen. Die äussere Box ist eine Stahlbetonkonstruktion, die fest mit dem Tragwerk des Gesamtgebäudes verbunden ist. Sie besteht aus einem Wandring und einem Boden mit auf­gesetzten Rippen. Während die 20 bis 40 cm dicken Wände parallel zu den Fassaden angeordnet sind, verlaufen die 21 innenliegenden Rippen orthogonal dazu zur Saalmitte hin. Der trapezförmige Gebäudegrundriss führt zu einer Nahtstelle in der Saalmitte bzw. auf der Winkelhalbierenden des Gebäudegrundrisses. Dort treffen sich die Rippen und werden – ähnlich wie die Spanten und der Kiel bei einem Schiffsrumpf – mit einer Längsrippe gefasst. In den Querfassaden im Osten und Westen sind die Rippen ausgehend vom Kiel gefächert angeordnet, und wenn sie nicht ausnahmsweise direkt auf Stützen gelagert sind, hängen sie am 6 bis 10 m hohen Wandring der äusseren Betonschale, in dem die Stahleinbauteile eingelassen sind.

Ab den obersten Tribünen geht die äussere Schale in die Saaldach-Aussenschale über, einer Stahlverbundkonstruktion, die gleichzeitig den Deckel für die äussere Box bildet. Das Saaldach besteht aus einer räumlichen Stahlfachwerkkonstruktion, die statisch im Verbund mit der darübergelegten Betonschale funktioniert. Diese Konstruktion liegt auf dem Wandring auf und kragt bis zur Fassade aus, wo die Deckenränder der Foyergänge hochgehängt sind. Die 21 Stahlträger sind als ebene Fachwerkträger konzipiert und verlaufen analog zu den Betonrippen der Aussenschale sternförmig zum Längsträger in der Saaldachmitte. Durch die zuerst nur leicht und dann steiler ansteigende Querschnittsgeometrie ähnelt die Saaldachkonstruktion einem spitzen Hut mit umlaufender Krempe.

Diese Tragwerkskonzeption war anspruchsvoll und hat zu Diskussionen mit Hochtief Solutions als Generalunternehmer und mit namhaften deutschen Professoren geführt, obwohl der Prüfingenieur Dr.-Ing. Rainer Grzeschkowitz die Saaldachkonstruktion geprüft und freigegeben hatte. Die Skeptiker fanden die Tragwirkung nicht vollumfänglich in den DIN-Normen abgebildet. Sie lässt sich mit einem Speichenrad vergleichen: Die annähernd radial angeordneten Stahlfachwerke (Speichen) werden durch ein Zugband (Felge) zusammengehalten. Als Zugband dienen das stehende umlaufende Stahlfachwerk und der Betonzugring in Form der Krempe des Huts. Der innere, zur Spitze aufsteigende Hutteil dient wegen seiner facettierten Geometrie einzig der Stabilisierung der auf Druck belasteten Fachwerkobergurte. Die Krempe erhält infolge der radialen Kräfte eine grosse Zugbeanspruchung und wegen des eiförmigen Saalgrundrisses zusätzlich grosse Biegebeanspruchungen. Damit sie als Zug- und Biegeelement wirken kann, gaben die Ingenieure ihr die geometrische Form eines flachen Kegelstumpfs. Die Konstruktion überspannt so die gesamte Saalfläche und trägt ein Gesamtgewicht von rund 2000 t.

In die Aussenschale, die während des Bau­zustands noch ohne Topfdeckel wie ein riesiger Betonkessel erschien, montierte man die Innenschale mit ihrer ­räumlichen Stahlkonstruktion. Sie ist über 342 Federpakete auf den Betonrippen der äusseren Schale gelagert. So dringen weder tieffrequente Schiffsgeräusche, die unter Wasser übertragen werden, oder Lärm von der öffentlich zugänglichen Plaza in den Konzertsaal noch Musikklänge vom Konzertsaal nach aussen, etwa in die Schlafräume des Hotelbereichs. Die Akustik des Saals verlangt eine Frequenzabstimmung des Systems von etwa 4.5 Hz – eine herausfordernde Aufgabe mit den weit auskragenden Balkonen, mit einer Anregungsfrequenz durch die Konzertbesucher von rund 2 Hz und mit der ersten Oberfrequenz von 4 Hz – insbesondere da Normwerte für die Anregung und Überprüfung nicht vorhanden waren. Die innere Box wurde aussenseitig umlaufend mit einer 20 cm dicken Betonhaut und die Saalinnenseite mit einer schallstreuenden und -reflektierenden weissen Haut aus tausenden individuell gefrästen Gipsfaserplatten von 150 kg/m2 überzogen ­(vgl. «Von Welle und Klang»).

Das Saaldach steigt bis unter das zeltartig geformte Gebäudedach auf, wo es als Auflager für eben dieses funktioniert. Das Gebäudedach ist statisch weniger anspruchsvoll, geometrisch aber umso mehr. Seine Geometrie entsteht aus acht wellenförmig angeordneten Kugelteilflächen, wobei sich die Hochpunkte – bis auf die Spitze des Grossen Saals inmitten der Dach­fläche – ausschliesslich an den Fassaden befinden. Das Dachtragwerk setzt sich aus 1000 ungleichen und gekrümmten Trägern mit einem aufgeschossenen ­Trapezblech zusammen. Das Gewicht beträgt etwa 800 t. Die horizontalen Lasten werden über drei Erschliessungskerne abgetragen, die vertikalen Lasten zusätzlich über unregelmässig verteilte Innenstützen und regelmässig im Abstand von 4.30 bis 5.00 m angeordnete Randstützen in der Fassadenebene.
Spalt in der Fassade

Die Fassaden und die raumbegrenzenden Oberflächen verdecken die gesamte Tragkonstruktion, die das ­charakteristische Bauwerk erst ermöglicht. Ausge­rechnet dort, wo sich die Fassade wie ein Spalt zwischen Alt und Neu öffnet und sich das Tragwerk zeigen könnte, weicht es zurück. Mit dem Wegfall der Fassadenstützen erreichen die Planenden die optische Trennung von Neu und Alt. Die Kräfte entlang der Fassade werden drei Geschosse über der Plaza mittels Schrägstützen auf die zweite Stützenreihe geführt. Die darunter­liegenden beiden Stockwerke sind über Zugstützen ­aufgehängt. An der schmalen Westseite ist diese Konzeption geo­met­risch nicht möglich, daher sammelt ein über der Plaza liegendes und über die beiden Gebäudeecken umlaufendes Fachwerk als Abfangträger die ­Stützenlasten.

Über Zugstützen gelangen die Kräfte drei Stockwerke darüber zu Schrägstützen, diese wiederum leiten die Lasten auf die zweite Stützenreihe.

Die indirekte Lagerung führt bei diesem 110 m hohen Gebäude zu grösseren lastabhängigen ­Verformungen. Hinzu kommen die Lasten der Fassaden­elemente, die möglichst früh angeschlagen werden mussten, um bereits während des Rohbaus in den ­darunterliegenden Geschossen mit dem Innenausbau beginnen zu können. Ausserdem wurde die spezielle Glasfassade für den Endzustand mit kleinen Deckenverformungen konzipiert. Unter den Rohbauverformungen wären die Gläser deshalb gebrochen. Um die Verformungen während des Rohbaus regulieren zu können, entwickelten die Ingenieure ein konstruktives Konzept: Massgebende Diagonalen des Fachwerks wurden dem Baufortschritt folgend mithilfe von hydraulischen ­Pressen verkürzt und im Endzustand fest verschweisst.

Dadurch wurden das Fachwerk schrittweise vorgespannt und die Verformungen sukzessive ausgeglichen.

Zäsur im Meisterstück

Die hohen Fassadenlasten von bis zu 101 kN/m konnten bei den Längsfassaden nicht gesamthaft in die vorhandenen Senkkästen fundiert werden, weil diese weniger Lastreserven als die bestehende Pfahlfundation aufwiesen. Die Ingenieure mussten die zusätzlichen Lasten an dieser Stelle entsprechend reduzieren. Diese «Entlastung» erfolgte am wirtschaftlichsten mit einer Umlagerung der grossen Saaldachlasten. Dazu wurden ausgewählte Auflagerpunkte des etwa 1800 t schweren Saaldachs entlang der Längsfassaden erhöht eingebaut und nach der Fertigstellung der Stahlkonstruktion und der darüber im Verbund wirkenden Betonschale mit hydraulischen Pressen in die Endlage abgesenkt. Dadurch erfolgte die notwendige Umverteilung der Lasten hin zur Mitte des Gebäudegrundrisses, wo Tragreserven in der Pfahlfundation vorhanden sind.

Dieser konstruktiv ingeniöse Umgang mit den Kräften zeigt, welche aussergewöhnliche Leistung die Ingenieure hier vollbracht haben. Dass die Aufstockung heute so selbstverständlich auf dem historischen Sockel aus Backstein steht und die Stadt mit einer unvergleichbaren Ausstrahlung überragt, ist ein planerisches und kreatives Meisterstück und verdient eine Atempause – eine musikalische Zäsur in der Tonfolge sozusagen. Wenn perfekt ausgeführt, ist sie kaum hörbar und verlangsamt das Tempo des Stücks nicht. Ohne sie – die präzise gesetzte Zäsur oder die sorgsam durchdachte Ingenieurleistung – wäre ein Musikwerk bzw. ein solcher architektonischer Entwurf mit seinem einverleibten Tragwerk nicht umsetzbar.

17. März 2017 TEC21

Gefalteter Monolith

Der Erweiterungsbau des Landesmuseums Zürich ist gewagt und im ingenieurspezifischen Sinn alles andere als sperrig. Schnetzer Puskas Ingenieure liessen sich auf die architektonische Intention ein und schufen ein räumliches Tragwerk für den expressiven Baukörper. Möglich machte dies der Werkstoff Beton.

Die Umbauarbeiten am Landesmuseum Zürich auf der Halbinsel zwischen Limmat und Sihl hinter dem Hauptbahnhof haben einen Meilenstein erreicht: Nach 15 Jahren Ausschreibung, Wettbewerb[1], Planung, Vor- und Bauprojekt sowie Ausführung ist der fünfgeschossige Erweiterungsbau von Christ & Gantenbein Architekten seit Juli 2016 eröffnet. Die in Grund- und Aufriss mehrfach geknickte Erweiterung dockt an den Bestand von 1898 an und schliesst den U-förmigen Haupttrakt des Altbaus von Gustav Gull. Sie behebt den Platzmangel des Museums – Ausstellungsflächen, eine Bibliothek und ein Auditorium für öffentliche Veranstaltungen finden darin Platz – und ermöglicht erstmals einen Rundlauf durch alle Ausstellungsräume.

Fugenloses Fassadenkonzept

Während den Altbau eine historistische, feingliedrige Fassade auszeichnet, prägen grossflächige, wuchtig anmutende und schlichte Sichtbetonfassaden den Neubau. Diese sind weitgehend geschlossen, denn die Ausstellungsräume gegenwärtiger Museen benötigen kaum natürliches Licht. Einzig Bandfenster in der nordöstlichen Gebäudeecke und 69 Rundfenster, die einzeln und gruppiert in allen Ansichten angeordnet sind, durchbrechen die Fassade. Die Bandfenster zeigen, wo die Bibliothek platziert ist. Als Einschnitte in den geschlossenen Kubus sind sie vorab als Aussparungen in die Schalung eingelegt worden. Die Rundfenster lassen erahnen, wo sich der Neubau im Innern erschliesst. Sie wurden nachträglich als Kernbohrungen in die Fassade gebohrt und lassen punktuell die Sicht von innen nach aussen – weniger von aussen nach innen – zu.

Die Fassaden sind monolithisch und damit fugenlos erstellt. Um eine solche Wandfläche mit einer abgewickelten Länge von 103 m (Seite Landesmuseum) bzw. 162 m (Seite Park) erstellen zu können, ist ein ausgeklügeltes konstruktives Prinzip erforderlich. Normalerweise nehmen in regelmässigen Abständen angeordnete Dilatationsfugen die Verformungen der Wände auf. Die Bewegungen werden auf diese Weise klein gehalten. Allerdings bedingen direkt bewitterte Fugen einen hohen Unterhaltsaufwand und sind ein ästhetischer ­Störfaktor. Deswegen ist die selbsttragende, 21 cm dicke Aussenhaut der zweischaligen Aussenwand durch die 33 cm dicke Isolationsschicht hindurch an die tragende 25–40 cm starke Innenwand rückverankert.

Die Verformungen, die aus relativ hohen Temperaturschwankungen von –10 bis 30 °C entstehen, werden mit geschaffe­nen Bewegungsfreiräumen aufgefangen. Die Aussenhaut verschiebt sich horizontal auf Gleitlagern. Nur lokal sind Fixpunkte platziert (vgl. Abb.). Die gegen innen oder gegen aussen springenden Fassadenecken sind nicht verankert. Hier «pumpt» die Aussenhaut, da sie sich beidseitig der Ecken infolge Temperaturschwankungen, Schwinden und Kriechen ausdehnt und zusammenzieht. Um diese Bewegungsfreiheit zu gewährleisten, ist die Isolationsschicht an den Gebäudeecken 6 cm dünner ausgeführt. Im Freiraum zwischen Betonwand und Dämmung bewegt sich die Fassade.

Spezieller Beton – eigene Verantwortung

Aus dem Fassadenkonzept erschliesst sich die Betonrezeptur, denn die entstehenden Zwängungen und Verformungen bedingen bestimmte Betoneigenschaften, wie beispielsweise einen Wasser/Zement-Wert von < 0.45 bzw. ein Schwindmass von < 0.4 0/00. Daneben musste mit der Betonrezeptur auch eine konkrete Farbe erreicht werden, denn so sehr sich die historische Bruchsteinfassade und die neue Fassade strukturell voneinander unterscheiden, verbindet vor allem ihre Farbgebung und eine gewisse Rauheit in der Oberfläche die beiden Gebäudeteile miteinander. Der Tuffstein des historischen Bruchsteinmauerwerks findet sich deshalb in der neuen Fassade wieder. Er wurde dem Beton zusammen mit Kalk beigemischt, um ihm die Farbe der historischen Bausubstanz zu geben.

Allerdings war die Beimengung nicht ohne Weiteres möglich. Aufgrund der vulkanischen Gaseinschlüsse ist Tuff häufig porös und saugt Wasser. «Es ist daher schwierig», so Heinrich Schnetzer von Schnetzer Puskas Ingenieure aus Basel, «mit einem solchen Zuschlag Beton herzustellen, denn er hat für die Betonher­stellung ungeeignete Eigenschaften.» Tuff entzieht dem Beton vor und während dem Abbinden Wasser. Dadurch ist die Betonmischung schlecht verarbeitbar, und der Wasser/Zement-Wert und damit das Schwindmass werden unkontrollierbar. Ausserdem schleifen sich die weichen Gesteinskörner beim Mischen ab und verändern ihre Korngrösse – ein gut abgestuftes Korngerüst für ein kompaktes Volumen wird unmöglich.

Für eine monolithische Fassadenkonstruktion wie die am Erweiterungsbau des Landesmuseums sind diese Aspek­te aber ­zentral. Erst ein eineinhalb Jahre andauernder Entwick­lungs­prozess inklusive Prüfungen und Fassadenmuster auf der Baustelle ergab die richtige Rezep­tur (Tuff­stein-Beton C 25/30 nach Zusammen­setzung). Der Clou war vor allem, den Tuff vorab zu nässen und ihn wassergesättigt in die Betonmischung einzubringen. Für diesen Beton nach Zusammensetzung trugen die Ingenieure die volle Verantwortung, denn die Ausschreibung konnte nicht wie gewohnt mit Expositionsklassen, sondern musste wie früher nach Rezeptur erfolgen. Dank seiner jahrelangen Erfahrung in der Baupraxis und in der Beton-Werkstoffforschung an der ETH Zürich konnte Heinrich Schnetzer diese Verantwortung übernehmen.

Die Betonrezeptur musste noch vor der Ausschreibung – bevor der ausführende Baumeister bestimmt war – mit einem Betonlieferanten definiert werden. Dass dieser den Auftrag nicht erhalten könnte, war ein reales Risiko, das in diesem Fall tatsächlich eintraf. Mit dem neuen Lieferanten wurde der Wasser/Zement-­Wert bei jeder Lieferung überprüft. Für die richtige Konsistenz zum Einbringen und Vibrieren sorgten wie üblich und je nach Bedarf Verzögerer, Stabilisatoren, Luftporenbildner und Verflüssiger.

Grundwasser, Schotter und Moräne

Besondere Anforderungen an den Beton waren im Untergeschoss erforderlich, da es sich grösstenteils im Grundwasser befindet (die Gründungssohle liegt etwa 2.5 m im Grundwasser) und als weisse Wanne ausgeführt wurde. Geplant und umgesetzt wurde nur ein Untergeschoss, da die Baukosten so vor allem bezüglich Baugrubensicherung und Auftriebssicherheit während der Bauphase reduziert werden konnten. Der Baugrubenabschluss bildete eine rückverankerte Spundwand mit einer Länge von etwa 16 bis 20 m. Sie durchstösst im oberflächennahen Bereich den sehr durchlässigen Schotter und darunter, in einer Tiefe von etwa 12 bis 16 m, die mässig durchlässigen Seeablagerungen, die wiederum auf den Moränen der letzten Eiszeit liegen. Die Spundwand wurde in die Seeablagerung und teilweise in die Moräne eingebunden.

Das funktionale statische System erkennen

Der architektonische Ausdruck und das Tragwerk der Erweiterung bedingen sich grundsätzlich gegen­seitig: Der räumliche Körper setzt somit auch ein ­räumliches Tragwerk voraus. Schnetzer Puskas Ingenieure stiessen erst während des Vorprojekts zum ­Planungsteam hinzu. Sie verstanden es, für den mäand­rierenden Bau das zweckmässige und angemessene statische System festzulegen. Gerade in einem solchen Fall ist die Analyse, das heisst das gedankliche – nicht digitale – Zerlegen des Tragwerks in seine wesentlichen Komponenten unter Berücksichtigung des gegenseitigen Zusammenwirkens, unentbehrlich.

Heinrich Schnetzer betont denn auch: «Das richtige statische System für einen Bau zu finden setzt voraus, dass der Ingenieur ganzheitlich Bescheid weiss über das räumliche Zu­sammenwirken von einzelnen Tragelementen und über den tragwerkspezifischen Kraftfluss. Nur mithilfe ­dieses analytischen Vorgangs lassen sich die wesent­lichen bauwerksspezifischen Eigenschaften der Tragwerkselemente erarbeiten und für die Konzeption des Tragwerks optimal verwenden.» Nach der Analyse kann das Bauwerk im Sinn einer Synthese als Ganzes betrachtet und auch mit den digitalen Hilfsmitteln ­berechnet werden.

Die Leistungsfähigkeit einer einfachen, aber das Wesentliche erfassenden Tragwerksanalyse lässt sich am Beispiel der Verbindung vom bestehenden Hof in den Park aufschlussreich zeigen. Der brückenartig ausgebildete Neubaukörper mit der torförmigen Öffnung ermöglicht diese Verbindung und ist ein zentrales Element des architektonischen Entwurfs. Seine Tragwirkung zu definieren und seine Tragelemente zu dimensionieren waren wesentliche Ingenieuraufgaben.

Die Wirkungsweise der 46 m weit spannenden Brückenkonstruktion lässt sich auf zwei substanzielle Elemente abstrahieren: eine gefaltete Platte als stützen­der Sockel – der eigentliche «Torbogen» – und die Wandscheiben (vgl. Abb.). Die beiden 45 und 27 Grad geneigten Druckplatten des «Torbogens» sind an ihren Füssen über die Decke des Untergeschosses miteinander verbunden. Diese Untergeschossdecke als Bodenplatte in der Verbindung zum Park ist vorgespannt und funktioniert statisch als Zugband. Die Decke ist somit Raum­abschluss und Tragelement zugleich.

Die Druckplatten bilden zusammen mit dem Zugband ein Dreieck, das ein Kräftegleichgewicht herstellt und die Fassadenscheiben stützt. Gleichzeitig steifen die hohen Scheiben die Druckplatten aus, sodass diese relativ dünn ausgebildet werden können. Die Firstlinie bzw. der Stützpunkt der beiden Druckplatten reduziert die Spannweiten der Fassadenscheiben um etwa die Hälfte und damit die Schnittkräfte auf ein Viertel. Dadurch können auch die Wandscheiben relativ schlank ausgebildet und trotz scheibenartiger Träger teilweise aufgelöst bzw. perforiert werden.

Anschluss ohne Kraftübertragung

Nicht ganz offensichtlich ist auch die Tragwirkung des Erweiterungsbaus an seinen Enden bzw. seinen Anschlussstellen an die bestehende historische Substanz. An dieser Stelle treffen markant unterschiedliche Gebäudeteile aufeinander – hier die einheitliche und grossflächige neue Wand, dort die feingliedrige historische Altbaufassade.

Beidseitig dockt die Erweiterung zwar wie eine Landungsbrücke am West- und Ostflügel des bestehenden Baus an. Doch weil die bestehende Bausubstanz und ihre Fundation nicht für zusätzliche Lasten ausgelegt sind und um aufwendige Verstärkungsmassnahmen im Altbau zu verhindern, überträgt der Neubau keine Lasten: Der flach mit partiellen Vertiefungen fundierte Massivbau, der durch die Betonscheiben der Aussen-, Treppen- und Liftwände horizontal ausgesteift ist, steht grundsätzlich nur auf zwei Füssen und kragt gegen den Altbau beidseitig aus – am einen Ende mit einer Auskragung, die einen zweiten Durchgang kreiert, am anderen Ende – weil so kurz – nur im statischen System sichtbar.

Aus ingenieurkon­struktiver Sicht schmiegt sich der Neubau also behutsam an den Bestand. Und ebenso bedacht werden die Kräfte aus der Auskragung in die dahinterliegenden Tragelemente weitergeleitet: Die Gebäudeform des Neubaus mäandriert. Einzelne Gebäudevolumen reihen sich abgewinkelt aneinander. Auch die auskragenden Enden sind über die Fassadenscheiben abgewinkelt am folgenden Gebäudeteil eingespannt. Der Knick verursacht im Zug- und im Druckbereich der vertikalen Scheiben Ablenkkräfte. Es ist nicht sinnvoll, diese Kräfte über Biegung abzutragen. Effizienter ist die Rückverankerung des Knicks bzw. die Kraftumlenkung mittels horizontaler Scheiben. Dazu dient im Zugbereich die Dachscheibe und im Druckbereich eine Deckenscheibe. Die horizontalen Kräfte bzw. das Kräftepaar in den Scheiben ist zugleich die Torsionseinspannung des abgeknickten und auskragenden Gebäudeteils. Es wird über Wandscheiben oder Kerne gekoppelt und schliesst so den Kräftefluss zu einem Gleichgewicht.

Intention verwirklichen

Mit diesem gekonnten Umgang der Kräfte zeigt sich die Effizienz des Tragwerks, das zugleich Teil der Architektur ist. Die Ingenieure bedienen sich der architek­tonisch ohnehin vorhandenen Elemente und dimen­sionieren sie statisch effizient. Ob Flaggschiff oder Felsenriff, reizvoll oder brachial – das Landesmuseum ist aus ingenieurspezifischer Sicht eine besondere, behutsame und vor allem auch kreative Ingenieurarbeit. Aus ihr entwickelte sich eine Beton-Tragkonstruktion, die zusammen mit der Betonrezeptur die architektonische Intention verwirklicht.


Anmerkung:
[01] TEC21 33-34/2002, S. 44–45.

Weiterführende Literatur (Auswahl):
«Einweihung des Schweiz. Landesmuseums. Rede des Herrn Stadtpräsidenten Pestalozzi», in: Schweizerische Bauzeitung, 2. Juli 1898, S. 1–2.
«Der Entwurf von Architekt Gustav Gull für ein Schwei­zerisches Landesmuseum in Zürich», in: Schweizerische Bauzeitung, 6. Dezember 1890, S. 142–144.
Sanierung Altbau: TEC21-Dossier «Sanierung Landesmuseum», Dezember 2008.
Roman Hollenstein, «Ein graues Felsenriff. Kritische Anmerkungen zur Erweiterung des Landes­museums», in: Neue Zürcher Zeitung, 24. 9. 2016.

4. November 2016 TEC21

Aus dem Bestand heraus

Die Erweiterung der Tate Modern steht auf dem bestehenden Betonsockel der drei Öltanks, die 2012 rückgebaut wurden. Der kleeblattförmige Grundriss der rund 30 m weit spannenden und 9 m tief in den Untergrund reichenden Tanks ist an den Brüstungen der vorgelagerten Terrasse noch ablesbar. Regelrecht erlebbar ist die alte Trag­konstruktion des Tanksockels, ein Betontragwerk aus massiven Stützen, Unterzügen und Betonscheiben, das die Räumlichkeiten im Untergeschoss prägt.

Die Tragelemente sind heute gekennzeichnet von Kernbohrungen und Frässchnitten, die das Tragwerk auf das tragwerkspezifisch Notwendigste reduzieren und Durchgänge von und zur Turbinenhalle schaffen. Die Planenden beliessen die erhaltene Tragkonstruk­tion roh, sie zeigen die Eingriffe, die angeschnittenen Bewehrungseisen und das getrocknete Spritzwasser vom Fräsen. Aus diesem – bildhaft und im wahrsten Sinn des Wortes – kraftvollen Raum erstreckt sich die Tragstruktur der Erweiterung; sinngemäss als Skelettbau. Die neuen Betontragelemente verflechten sich hier optisch und statisch mit der bestehenden Tragkonstruktion.

Dabei leitet sich die Lage der neuen Tragelemente von den örtlichen Bedingungen des Bauplatzes bzw. von den Rahmenbedingungen der bestehenden Bausubstanz im Sockel ab. Betonbalken innerhalb des Gebäudegrundrisses und am Perimeter fangen die Lasten im EG ab und bilden die Basis für die empor­ragende komplexe Gebäudeform. Die abfallenden Fassadenflächen bilden in jedem Geschoss neue Grundrisse ohne rechte Winkel – vom Tragwerk geprägte, grosszügige Räumlichkeiten entstehen. Allerdings generiert die Form auch viele Tragelemente in unterschiedlichen Abmessungen; vorfabriziert erreichen sie eine hohe Präzision.

Die primäre Tragkonstruktion, die diese Grundrisswechsel statisch ermöglicht, besteht aus Stahlbeton. Sekundär, wie beispielsweise im Dachbereich, kommen auch Stahlkonstruktionen zum Einsatz. Zudem sind Fassadenstützen dort als Stahlverbundstützen ausgeführt, wo die Tragsicherheit oder die Stabilität bzw. die Schlankheit es erfordert. Sie sind mit Konsolen versehen, die wie Arme die unterschiedlichen Ausfachungen tragen und die Kräfte in die Hauptstützen leiten. Neben den markanten Fassadenstützen tragen im Innern des Grundrisses maximal sechs zusätzliche Stützen vertikale Lasten ab. Die gross­zügigen Spannweiten stehen für die grossflächigen und flexibel nutzbaren Räume.

Der Witterungsschutz aus perforiertem Mauerwerk prägt das Erscheinungsbild des Switch House. Es ist wahrlich eine ingeniöse Leistung, die die Ingenieure von Ramboll hier konstruktiv erbracht haben. Total 336»000 Steine in 212 unterschiedlichen Formen wurden zwischen August 2014 und Februar 2016 bei jeder Witterung montiert. Dabei liessen die Ingenieure die Mauerwerksfläche ohne Dilatationsfugen erstellen. Die Mauerwerkssteine funktionieren zusammen als seriell «geschaltete» Bögen, die der Konstruktion horizontale und vertikale Bewegungen erlaubt. Die gesamte Fläche ist über 11 500 Konsolen in 400 verschiedenen Ausführungstypen an die Gebäudefassade rückverankert.

12. August 2016 TEC21

Keine Illusion

Die Fassade der Erweiterung des Kunstmuseums in Basel ist gemauert, riesig und ohne Dilatationsfugen erstellt – mit ein Grund, weshalb sich der Neubau geglückt in den Kontext eingliedert. ZPF Ingenieure aus Basel konzipierten die Fassadenkonstruktion, ohne ein Trugbild zu erstellen.

Als grauer, präzise geformter Körper bettet sich die Erweiterung in den städtischen Kontext mit dem monumentalen Hauptbau gegenüber und der St. Alban-Vorstadt daneben, einer der historisch wertvollen Altstadtgassen Basels (vgl. «Eigenständig, aber eng verbunden»). Der aus einem strukturellen Entwurf von den Architekten Christ & Gantenbein entwickelte Kubus hat gegenüber den Häuserzeilen in seiner Umgebung eine auffallende Proportion und Dimension.

Mit seiner Form und Grösse kontrastiert er das Massintervall im direkten Umfeld, gleichzeitig orientiert er sich auch an ihm: Der vertikale Farbverlauf von dunklem zu hellem Grau nimmt Bezug zum Hauptbau und den umliegenden Gebäuden. Ausserdem betten sich die kolossalen Wandflächen aus Sichtmauerwerk von bis zu knapp 28 m Höhe nuanciert und erstaunlich konform in den Kontext. Erstaunlich deshalb, weil historische und moderne Fassaden vor allem aus technischer Sicht so unterschiedlich sind.

Gerade das Fassadenbild des Neubaus ermöglicht die geglückte Eingliederung in den städtischen Kontext. Es oszilliert zwischen einer hellen, einheitlichen Fläche aus der Weite und einer rauen, handgefertigten Anmutung aus der Nähe. Damit öffnet sich ein Spannungsfeld zwischen detaillierter Feinheit und oberflächlicher Einfachheit – ein Effekt, wie ihn Fassaden vor allem historischer Häuserzeilen bewirken können.

Das durchdachte Konstruktionsprinzip der Basler ZPF Ingenieure ermöglichte diese Wirkung – keine einfache Aufgabe, denn aktuelle Dämmanforderungen verhindern heute oft die in europäischen Altstädten so prägenden monolithischen Fassaden von Massivbauten.

Fassade und Massivität

Bevor Wärmedämmanforderungen an Gebäude gestellt wurden, waren Wände vergleichsweise homogene Gebilde, die durchgängig gemauert werden konnten. Infolge der Ansprüche an den Energieverbrauch von Gebäuden ist eine solche Bauweise heute nur noch selten möglich. Die erforderliche Dämmschicht bricht die Wand als kompaktes Tragwerk auf, den Abschluss zum Stadtraum bilden meist leichte Schichten wie Verputz, Plättchen, Glasplatten oder Blech, die vor der Dämm­ebene aufgebracht werden.

Die äussere Wandschicht ist zudem von der Tragkonstruktion thermisch entkoppelt und hohen Temperaturschwankungen ausgesetzt. Aussenhaut und Innenkonstruktion sind somit infolge unterschiedlicher Temperaturen differenziellen Bewegungen ausgesetzt. Vor allem auch deshalb sind Mauer­werksfassaden – vor allem solche in der schieren Grösse des Erweiterungsbaus – zu komplexen Ingenieurtragwerken geworden.

Bei bisherigen Standardlösungen wird die äus­sere Wandschicht als Mauerwerksimitat an die Dämmung geklebt oder als Vormauerung an die innenliegende Tragkonstruktion gehängt und mit horizontalen und vertikalen Bewegungsfugen versehen. Solche Bewegungsfugen sind zwar klein und kaum wahrnehmbar, trotzdem prägen sie das Erscheinungsbild einer neu erstellten Fassade markant.

Die jüngeren Konstruktionen unterschieden sich dadurch von den monolithischen (ohne Dilatationsfugen = fugenlos) Fassadenwänden. Das Konstruktionsprinzip Ersterer widerspricht zudem dem Baumaterial Mauerwerk – dessen Eigen­schaften werden nicht ausgeschöpft, nicht einmal mehr vertikale Lasten werden übernommen. Die Standardlösungen erzeugen folglich ein illusionäres, irreführendes Bild der Fassade. Die wahre Massivität der Mauerwerks­fassade geht verloren – aus konstruktiver, aber auch aus gestalterischer und oft auch optischer Sicht.

Um die architektonische Massivität im Sinn einer ­kompromisslosen Klarheit des Fassadenentwurfs trotz aktuellen Ansprüchen zu bewahren, liessen sich die ­Ingenieure von ZPF auf einen herausfordernden ­Planungsprozess ein. Sie fanden einen ingeniösen Weg, die monolithischen Fassaden wiederzubeleben, ohne die diversen Anforderungen einzuschränken und insbesondere ohne dabei ein Trugbild zu erstellen. Sie konstruierten eine selbsttragende und durchgehend fugenlose Aussenhaut.

Handwerk und Simulationen

Die zehn Wandabschnitte des polygonalen Baus sind 9.4 m bis 32.4 m lang und insgesamt 75 bis 85 cm dick. Auf der inneren, 30 bis 40 cm dicken Betonwand klebt die 24 cm starke Dämmschicht, und zwischen der Isolation und der Fassade ist ein rund 4 cm breiter Luftraum angeordnet. Die äussere etwa 172 bis 197 mm starke Schale aus dänischen Vollziegeln (228 × 108 × 40 mm) ist frei stehend, in sich bewehrt und an die innere Betonwand rückverankert.

Die Bewegungen der Fassade werden von Lagern, Ankern und den Mörtelfugen aufgenommen. Dabei handelt es sich um konstruktive Elemente, die mit Forschungsarbeit, Versuchen und Computersimulationen entwickelt und geprüft wurden, weil dieses Konstruktionskonzept in der Schweiz für Grossprojekte bislang noch nicht angewendet wurde.

Nach dem Vorprojekt beauftragten die Ingenieure den dänischen Experten Hans Bendix Pedersen von Grontmij A/S in Glostrup mit einer unabhängigen Überprüfung des Konzepts. Eine zweite Prüfung erfolgte auf Wunsch der Bauherrschaft durch Dr. Hans Rudolf Ganz der Ganz Consulting in Bösingen.

Im Anschluss an die positiven Rückmeldungen erfolgten experimentelle Untersuchungen der einzusetzenden Ziegelsteine, des Mörtels und der Verankerung. Das Fassaden-Mock-up wurde mit Sensoren bestückt und die Temperatur im Innern der Mauer über einen halben Jahreszyklus gemessen und aufgezeichnet. Die Messungen bestätigten den Entscheid der Ingenieure, die rechnerisch ein­zusetzende Temperaturdifferenz von ±15 °C nach SIA 261:2003 auf projektspezifische ±25 °C zu erhöhen.

Unter der Leitung von Prof. Dr. Harald Schuler führte die Fachhochschule Nordwestschweiz zudem eine aufwendige Versuchsreihe im Zusammenhang mit Mauerwerk und Verankerung durch.

Drei Druck- und 25 Ausziehversuche der Verankerung an 29 cm hohen, 1.5 Ziegelsteine tiefen und 46 cm breiten Mauerstücken – eigens dafür erstellte Probekörper in zwei Grautönen (ganz hell und ganz dunkel, um die Unterschiede der Herstellung auszuschliessen) – übertrafen die statisch notwendigen Widerstände nach Abminderung durch die Sicherheitsbeiwerte. Zusätzliche experimentelle Prüfungen erörterten die Frost-Tau-Beständigkeit des Baustoffs. Auch diese Versuche fielen für die vorgesehenen Steine positiv aus.

Die Erstellung der Fassade und die Produktion der Ziegel erforderten viel handwerkliches Know-how und Geschick. Die Produktion erfolgte maschinell, jedoch bewusst nicht wie bei herkömmlichen Backsteinen im Strangpressverfahren. Stattdessen presste man einen nassen Lehmklumpen in einen Holzrost und strich den überflüssigen Lehm ab. Die Steine werden weniger homogen, sie unterscheiden sich in Textur und Form leicht voneinander und geben der Fassade eine handwerkliche, vorindustriell gefertigte Komponente.

Gemauert wurden die Fassadenwände schliesslich in reiner Handarbeit. Auf knapp 4000 m² Fassadenfläche (inkl. Öffnungen) verlegten die Maurer anderthalb Steine in der Tiefe pro Lage und damit rund 550 000 Ziegel in 399 (strassenseitig) bis 528 (hofseitig) Lagen – jede Steinlage mit individuellen Anforderungen und Detaillösungen: drei ineinander laufende Grautöne, vier Mauerwerksarten (liniertes Relief 2 cm, liniertes Relief 1 cm, LED-Fries, glattes Mauerwerk), vier Mörtel (einer für unter Terrain plus drei Lagen über Terrain, drei für über Terrain in verschiedenen Farbtönen), 18 Öffnungen (12 Fenster in sechs verschiedenen Geometrien, sechs Türen in sechs verschiedenen Geo­metrien und Ausführungen) sowie diverse integrierte Spezialelemente wie Überwachungskameras, Aussenwasserhahn, Badge-Leser, Schlüsseltresor, Wandleuchte, Mauerringe und Mauerbolzen zur Befestigung von Strassenbeleuchtung und Tramfahrleitungen.

Konstruktive Einfachheit

Hinter der schlichten und doch prägnanten Aussenhaut steckt differenzierte, anspruchsvolle und profunde Konstruktionsarbeit. Es entstand eine Mauerwerks­fassade, die den aktuellen energetischen Anforderungen zu entsprechen vermag und zugleich die architektonischen Ansprüche erfüllen kann.

Ermöglicht haben es die Ingenieure, die eine Konstruktion entwickelten, die dem Mauerwerk gerecht wird. Dabei bleiben sie der ingenieurspezifischen Terminologie treu, wonach mit Massivität nicht nur die Masse, sondern in gewissem Sinn auch der Massivbau angesprochen ist. Sie erstellten eine Fassade, die als raumabschliessendes Element mit der vertikalen Lastabtragung zumindest teilweise auch eine statische Funktion übernimmt und die ohne störende Dilata­tionsfugen sowie selbsttragend tatsächlich einen massiven Körper darstellt. Diesem konstruktiven Kunstgriff und dieser konstruktiven Einfachheit liegt das Potenzial inne, die herkömmliche Massivität eines städtischen Fassadenbilds zu erhalten.

30. Januar 2016 TEC21

Die Narben der Baugeschichte

Unverputzte, roh belassene Betonflächen prägen den gestalterischen Ausdruck eines Bauwerks. In die Jahre gekommen und der Witterung ausgesetzt, zeigen sie aber oft Schäden auf: Abgeplatzte Betonüberdeckungen und freigelegte rostende Bewehrungseisen lassen solche Flächen unansehnlich werden. Ihre Instandsetzung ist anspruchsvoll – umso mehr, wenn neben technischen auch denkmalpflegerische Aspekte zu berücksichtigen sind.

Am Goetheanum in Dornach SO ist die neulich abgeschlossene Instandsetzung der 1928 erstellten, kunstvoll geformten Sichtbetonfassade geglückt. Zusammen mit dem Amt für Denkmalpflege und Archäologie des Kantons Solothurn und mit Prof. Dr. Eugen Brühwiler, Konsulent des Bundesamts für Kultur, hat das Planungsbüro Gruner die Gratwanderung zwischen den Anforderungen gemeistert.

Ein Unikat – einzigartig und eigenständig

Das Goetheanum ist das internationale Zentrum der Anthroposophen. Es ist zugleich Verwaltungsgebäude, Sitz und Tagungsort der freien Hochschule für Geis­teswissenschaft. Insbesondere ist es aber auch ein ­Theaterbau (vgl. «Sichtbar geformter Beton», TEC21 44/2004). Neben den Mysterien­dramen Rudolf Steiners – des Begründers der Anthropo­sophie – ist Goethes «Faust» das zentrale Bühnenstück am Goetheanum. Die Uraufführung des ungekürzten «Faust I und II» fand 1938 hier statt. Seither hat das Goetheanum 74 Mal zu den ungekürzten Theateraufführungen eingeladen – die nächste findet an Ostern 2016 statt. Mit ein Grund, um das ins Alter gekommene und instandsetzungsbedürftige Gebäude wieder von seiner schönsten Seite zu zeigen.

Als markantes, plastisch geformtes Bauwerk aus Sichtbeton steht das Goetheanum auf dem westlichen Ende des Dornacher Hügels, direkt an der Kantonsgrenze zum Kanton Basel-Landschaft auf solothurnischem Gebiet. Das Goetheanum wurde von 1925 bis 1928 nach dem Entwurf Steiners gebaut und ersetzte das gleichnamige, aus Holz konstruierte Vorgängergebäude, das in der Neujahrsnacht am 1. Januar 1923 niedergebrannt war. Steiner liess den Bau in der neuartigen «Eisenbetonbauweise» errichten. Ihn überzeugten die Vorteile des Baustoffs bezüglich Feuersicherheit und Kosten. Angetan war er insbesondere von seiner freien Formbarkeit, die er hier konsequent nutzte – so, wie dies weltweit bis heute nur wenige Architekten und Ingenieure tun.

Der Sichtbetonbau erscheint als ein massiver Block mit windschief gekrümmten und gewölbten, monolithisch verwachsenen Wand- und Dachflächen sowie mit scharfkantigen Graten. Details wie in die Fassaden eingelassene, abgekantete Pfeiler, abgeschrägte Fenster­öffnungen und mehrfach geknickte Dachplatten charak­terisieren das Bauwerk, das mit seinen expressiven und plastischen Formen organisch wirkt. Diese Formen soll­ten ein Ausdruck des kreativen und freien Gestaltungsprozesses Steiners sein, der allerdings kurz nach Baubeginn, am 30. März 1925, starb.

Die Schweizer Hermann Ranzenberger und Otto Moser, der Deutsche Ernst Aisen­preis und der Österreicher Albert von Baravalle setzten den Entwurf als ausführende Architekten um; erstere drei waren bereits an der Errichtung des ersten Goetheanums beteiligt gewesen. Für die Tragkonstruktion aus Eisenbeton war das Basler Ingenieurbüro Leup­recht & Ebbell verantwortlich. Die aufwendigen Schalungen erstellte die Schreinerei des Anthroposophen-Zentrums unter der Leitung von Heinrich Liedvogel, einem gelernten Zimmermann mit Schiffbauerfahrung. Sie stellen in sich eine aussergewöhnliche Bauleistung dar.

Die aus der Schalung hervorgegangene Brettstruktur der Betonflächen ist entsprechend wertvoll und trägt massgeblich zum Meisterwerk bei. Die einzigartige Formgebung und die frühe Anwendung des Sichtbetons machen das Goetheanum zu einer der Pio­nierleistungen der frühen Betonbauweise weltweit. Es steht unter Denkmalschutz und bildet zusammen mit den stilis­tisch ähnlichen Wohn- und Zweckbauten in der näheren Umgebung ein Ensemble. Dieses zählt zu den Kulturgütern von nationaler Bedeutung im Kanton Solothurn.

Massiv und doch filigran

Der Sockelunterbau mit einer Grundfläche von 3200 m² erstreckt sich in Ost-West-Richtung über 90 m und in Nord-Süd-Richtung über 85 m. Der Oberbau ist 72 m lang und 64 m breit, er ragt 37 m in die Höhe. Der umbaute Raum beträgt 110 000 m³, wobei 15 000 m³ Beton mit 990 t Stahlbewehrung verbaut wurden. Dennoch ist die Massivität nur vorgetäuscht. Vielmehr besteht das Bauwerk aus einer filigranen, ungedämmten Betonrippenkonstruktion (einzelne Räume wurden von innen nachgedämmt). Eisenbetonstützen und -träger sind in grossen Bereichen mit nur etwa 8 cm dicken Betonscheiben aus­gefacht. Einzig die Erdgeschosswände beim Westeingang weisen eine durchgehende Stärke von 50 cm auf.

Die sichtbaren massiven Säulen sind teilweise nicht einmal tragend, sondern erheben einzig den Anspruch, das Gebäude «zu erden», wie etwa die wuchtigen Stützen im zentralen Theatersaal. Über der abgehängten Saaldecke befindet sich ein Hohlraum, der bis zu 7 m hoch wird. Fachwerkbinder aus Eisenbeton tragen das Dach und führen die Lasten zu den Aussenwänden.

Zustandsentwicklung und bisherige Erhaltungsmassnahmen

Trotz ihrer Filigranität ist die Tragkonstruktion, die zugleich Hülle ist, äusserst dauerhaft. Während der ersten 50 Jahre Nutzungsdauer kam die Sichtbeton­fassade ohne Erhaltungsmassnahmen aus. Erste kleinflächige Reparaturarbeiten an der Dachauskragung im Nordwesten und an Teilen der Westfassade wurden 1972 vorgenommen. Im Zeitraum von 1984 bis 1988 reprofilierte man die Brüstung des Terrassengeschosses im Süden und Südwesten. Das Sockelgeschoss wurde gestrichen, wobei das Ergebnis visuell bis heute nicht zu überzeugen vermag.

Der Frischbeton aus den 1920er-Jahren wurde mit relativ viel Wasser hergestellt und durch Stampfen verdichtet. Die so erhöhte Porosität begünstigte die Karbonatisierung. In den 1980er-Jahren liess die Bauherrschaft die Eindringtiefen der Karbonatisierung messen (vgl. Kasten am Ende des Artikels). Es stellte sich heraus, dass bei 90 % der untersuchten Fläche die Eindringtiefe 30 mm und mehr betrug, womit die äussere Eisenlage im karbonatisierten Beton lag. Man ging davon aus, dass diese Bewehrung bei genügender Feuchtigkeit korrodieren würde. Es bestand also Handlungsbedarf.

Von 1993 bis 1996 liess die Bauherrschaft deshalb tief greifende und flächendeckende Massnahmen ausführen. Wandflächen der Fassaden des rückwärtigen Bühnentrakts (Nordostseite, Ostseite und Südostseite) wurden bis zu 4 cm tief abgetragen, um danach neuen Beton von 7 cm Stärke vorzubetonieren. In die Schalung setzte man Silikonmatrizen mit Kopie der originalen Betontextur ein, die die ursprüngliche Oberflächenbeschaffenheit imitieren sollte – ein radikales Verfahren, das jedoch damals üblich war und von der Denkmalpflege unterstützt wurde.

Die aus bautechnischer Sicht qualitativ einwandfreie Umsetzung führte aber zu einem Ergebnis, das aus formalen Gründen nicht überzeugt. Die Stösse der einzelnen Matrizen und ­Schalbretter zeichnen sich zu stark an der Oberfläche ab und wirken gegenüber der ursprünglichen Beschaffenheit fremd und störend. Es entstand eine neuzeitliche Textur, die nicht mehr an die Bauzeit der 1920er-Jahre erinnert. Aus heutiger Sicht war diese kostenintensive «Beton­sanierung» unverhältnismässig.

Auch weitere Instandsetzungsmassnahmen von geringem Ausmass im Jahr 2000 blieben ästhetisch unzureichend. Spritzbeton ersetzte den karbonatisierten Beton, wobei man eine rekonstruierte Holzschalung verwendete und die Oberfläche stockte. Versuchsflächen mit filmbildenden Oberflächenschutzsystemen wurden angelegt. Erst mit den Hydrophobierungsversuchen in den Jahren 2000, 2005 und 2008 zeichnete sich eine geeignete Methode für den Schutz des Sichtbetons ab.

Erhaltung der originalen Substanz

2013 fragte die Denkmalpflege des Kantons Solothurn Eugen Brühwiler als Bundesexperten an, den aktuellen Zustand der Gebäudehülle nochmals zu beurteilen. Neue Instandsetzungsarbeiten sollten die Dauerhaftigkeit gewährleisten und den ursprünglichen Ausdruck der noch originalen Bausubstanz erhalten. Die Kosten für die Arbeiten sollten für die Bauherrschaft auch inklusive der finanziellen Unterstützung von kantonaler und eidgenössischer Denkmalpflege verhältnismässig ausfallen.

«Die Fragestellung lautete, ob und wie die noch originalen Sichtbetonflächen mit einem geeigneten zerstörungsfreien Verfahren instandgesetzt und geschützt werden konnten», so Brühwiler. «Wichtig war dabei, dass das originale Erscheinungsbild so weit wie ­möglich bestehen bleibt und künftig notwendige Instand­setzungen anwendbar bleiben.»

Die äussere Erscheinung des Sichtbetons war bis auf wenige Stellen, wo der Überdeckungsbeton abgeplatzt war, in gutem Zustand; auch die bis dahin nicht behandelten Sichtbetonflächen. Abgesehen davon, dass sich die Eisenbewehrung weitgehend im karbonatisierten Beton befindet, waren keine anderen Schädigungsmechanismen wie zum Beispiel infolge einer Alkali-­Aggregat-Reaktion, durch Chloride oder Frost sichtbar. Dennoch war es wichtig, da kosteneffizient und vorausschauend, umgehend Erhaltungsmassnahmen für den Sichtbeton vorzusehen.

Es genügte ein sanftes Verfahren. Brühwiler empfahl, einerseits einzelne, lokale Betoninstandsetzungen der Zonen mit sichtbaren Korrosionsschäden auszuführen und andererseits die gesamten Sichtbetonflächen mit einer Tiefenhydrophobierung zu behandeln (vgl. Kasten am Ende des Artikels). Deren Wirkstoffe stossen in den Beton eindringendes Wasser ab und halten so die Betonfeuchtigkeit tief, was die Korrosion stark eindämmt. Zudem ist die Tiefen­hydrophobierung nicht filmbildend, sodass eine allfällig ­vorhandene hohe ­Betonfeuchtigkeit nach aussen austrocknen kann.

Es war nicht erforderlich, den oberflächennahen karbonatisierten Beton vollflächig zu ersetzen. Die bestehende Oberfläche konnte in Textur und Farbe weitestmöglich erhalten und geschützt werden. Die Evaluation dieser Arbeit war wenig aufwendig. Der Auftrag auf den vorab schonend gereinigten Betonoberflächen sollte nicht glänzen und die Eindringtiefe im Standardbeton mindestens 10 mm betragen. Dafür wurden vorab Proben genommen und verschiedene ausführende Fachfirmen beigezogen.

Aufwendiger waren die Vorversuche, die das Instandsetzungsverfahren präzisieren sollten. Das eingesetzte Material sollte sich hinsichtlich Farbgebung an die vorliegende helle, aber auch stark variierende Oberfläche angleichen. Standardmässige Reprofiliermörtel haben den Nachteil, dass sie häufig zu dunkel sind und Kunststoffzusätze enthalten, die in diesem Fall nicht eingesetzt werden durften. Auch die Haft­brücken für die Reprofilierungen sollten nicht aus kunststoffmodifiziertem Material bestehen, sondern aus Zementmilch (Bojacke).

Im Archiv über die Baugeschichte des Goetheanums befand sich ein Beschrieb der ursprünglichen Betonmischung: Die Rezeptur aus dem Jahr 1924 bestand aus 750 kg Kies und Sand pro 100 kg Zement. Dieser Zement wurde vermutlich aus einem mittlerweile geschlossenen Werk in Münchenstein bezogen, das das Ausgangsmaterial aus dem nahe gelegenen Kalk­steinbruch bezogen hatte. Versuche am Altbeton zeigten Mittlerwerte der Druckfestigkeit von 47.3 N/mm2, des E-Moduls von 23 000 N/mm2 und der Haftzugfestigkeit von 2.8 N/mm2.

Aufgrund dieser Nachforschungen und Testergebnisse wurden Betonrezepturen erstellt und vor Ort bemustert – ein Findungsprozess, der beinahe ein halbes Jahr in Anspruch nahm. Ab März 2014 erstellte der Bauunternehmer schliesslich das Fassadengerüst für die ebenfalls notwendigen Instandsetzungsarbeiten am Dach. Darauf abgestimmt erfolgten die Arbeiten an den West- und Südfassaden Ende 2014 sowie der Nord- und Ostfassaden im 2015.

«Lebendige» Betonfassade

Die Stellen der neuesten lokalen Betoninstandsetzungen sind heute vor allem in der Südfassade zu erkennen. Die Reprofilierungen heben sich vom Altbeton ab, weil dieser bewusst nicht abrasiv gereinigt wurde und deshalb im Unterschied zu den Reprofilierungen dunkle Verschmutzungen aufweist.

Martin Zweifel vom Baubüro des Goetheanums, somit Vertreter der Bauherrschaft, meint pragmatisch: «Die Dringlichkeit der Instandsetzungsmassnahmen war gegeben, und wir haben nach bestem Gewissen den Stand der Technik von heute angewendet.» Eine Erhaltung und Instandsetzung basiere auf immer wieder neuen Technologien. Offensichtlich sei es schwierig, ein perfektes Abbild der historischen Betonsubstanz anzufertigen. «Aber», so Zweifel weiter, «ich gehe ohnehin davon aus, dass Steiner das Goetheanum dunkelrot verputzt hätte. Allerdings habe ich dafür nur Indizien, ich kann es noch nicht beweisen.»

Nach dem Tod Steiners lag die Ausführung bei den Architekten und Mitarbeitern des Baubüros, die bemüht waren, seine Intentionen minuziös umzusetzen. Ob der Sichtbeton tatsächlich Steiners Absicht war oder ob er aus dem Bauprozess und den knappen finanziellen Mitteln heraus entstand, lässt sich bis heute nicht belegen. Womöglich ging der damals auf einer Betonfassade übliche Verputz vergessen, zumal der Sichtbeton einfach Gefallen fand? Zweifel, der sich des Denkmalwerts bewusst ist, betont indes, «dass dieser Gedanke die Sorgfaltspflicht der Instandsetzungsarbeiten keineswegs schmälern soll».

Auch die zurückhaltenden Bedenken, die der Projektleiter der Gruner-Gruppe, Roland Marty, äusserte, sollen nicht über die gelungene Instandsetzung hinwegtäuschen: «Ich hatte mir erhofft, noch näher an die bestehende Farbgebung zu gelangen. Denn wir ermittelten die Betonrezeptur für die Reprofilierung in einem langwierigen und aufwendigen Prozess, und die Versuche und die Bemusterungen waren grundsätzlich vielversprechend.» Dennoch sehen die bearbeiteten Stellen mit den «Schnäuzen», der Holzbrettstruktur der Schalung und den Lunkern ähnlich aus wie die bestehenden Flächen. Die lokalen helleren Flächen werden zudem aufgrund der Luftverschmutzung mit der Zeit nachdunkeln.

Eine Anforderung, die lokalen Betoninstandsetzungen unsichtbar zu halten, wäre aus technischer Sicht ohnehin nicht oder kaum realisierbar. Farbe und Oberflächenbeschaffenheit des Sichtbetons variieren infolge seines Herstellungsprozesses und der unterschiedlichen Exposition gegenüber Umwelteinflüssen. Dies ist ein positiver Charakterzug des Betons, der gegenwärtig nur allzu oft verschmäht wird und den man häufig durch ein monotones, nicht materialgerechtes Erscheinungsbild ersetzt haben möchte.

Die Variation führt dazu, dass die Sichtbetonfassaden «leben», ganz im Gegensatz zur komplett ersetzten «leblosen» Fassade, die vor 20 Jahren «saniert» wurde. Ein Aspekt, den es gerade bei diesem Bauwerk hoch zu gewichten gilt. Brühwiler betont denn auch: «Die lokalen Betoninstandsetzungen sind ‹Narben› auf der origi­nalen Bausubstanz, die durchaus diskret sicht- und erkennbar sein sollen. Sie lassen die Baugeschichte und das Alter des Bauwerks ablesen.»


[Die Gesellschaft für Ingenieurbaukunst veranstaltet im Herbst 2016 eine Exkursion zum Goetheanum. Details auf www.ingbaukunst.ch]


Karbonatisierung

Durch den Kontakt mit dem Kohlendioxid aus der Luft und durch die Einwirkung von Feuchtigkeit karbonatisiert der oberflächennahe Beton. Anders ­ausgedrückt: Das Kalziumhydroxid im ­Porenwasser des Betons wird chemisch in Kalkstein umgewandelt. Erreicht die Karbonatisierungsfront den Bewehrungsstahl, so verliert dieser seinen Schutzfilm, der im basischen Milieu des Porenwassers des (nicht karbonatisierten) Betons stabil ist und den Bewehrungsstahl vor Korrosion schützt.

Dass sich der Bewehrungsstahl in karbonatisiertem Beton befindet, ist allein noch keine hinreichende Bedingung, damit der Stahl zu korrodieren beginnt. Es muss Sauerstoff vorhanden sein – was praktisch immer der Fall ist –, und im Beton muss eine gewisse Feuchtigkeit vorherrschen. Bei einer relativen Betonfeuchtigkeit zwischen 85 und 95 % läuft die Bewehrungskorrosion schneller ab als bei einer solchen von 60 bis 80 %; bei weniger als 60 % findet praktisch keine Bewehrungskorrosion mehr statt.

Die Feuchtigkeit im Beton ist somit der wesentliche Parameter, der je nach Exposition des Bauteils variabel ist. Diese Erkenntnis ist bei der Beurteilung des Korrosionsrisikos und der Wahl der Instandsetzungsmethode entscheidend.

Tiefen­hydrophobierung

Die Tiefenhydrophobierung oder hydrophobierende Imprägnierung ist eine technische Oberflächenbehandlung von Sichtbeton, um die kapillare Aufnahme von Wasser und aggressiven Lösungen zu unterbinden. Sie funktioniert rein physikalisch: Die Wasser abstossenden (hydrophobierenden) Wirkstoffe treten infolge Kapillarwirkung in den Beton ein und lagern sich an den Porenflächen an. Dabei erfolgt keine chemische Re­aktion mit dem Zementstein oder den Zuschlagstoffen. Es handelt sich also um eine Wasser abweisende Imprägnierung des mineralischen Baustoffs Beton.

Die Betonfeuchtigkeit wird reduziert und der elektrische Widerstand erhöht, womit eine Korrosionsaktivität gebremst oder gestoppt wird. Die Dauer der Wirksamkeit einer Tiefenhydrophobierung hängt von der Eindringtiefe und -menge in die oberflächennahe Betonschicht ab, denn die Wirkstoffe werden vor allem durch die UV-Strahlen des Sonnenlichts zersetzt. Ab einer Tiefe von etwa 1 mm sind die Wirkstoffe vor den UV-Strahlen geschützt.

Eine genügende Konzentration bei gegebener Eindringtiefe ist die massgebende Kenngrösse einer Tiefenhydrophobierung. Die heutigen Produkte mit Molekülgrössen im Nanobereich können Eindringtiefen von 4 bis 6 mm ohne Weiteres erreichen und damit auch in der Ausschreibung gefordert werden. In einem solchen Fall hält die hydrophobierende Wirkung wahrscheinlich mehr als 25 Jahre lang an.

Die Qualität einer Tiefenhydrophobierung wird am Bauwerk zerstörungsfrei anhand von Wassereindringversuchen und im Labor anhand von Aufsaugversuchen an Bohrkernen bestimmt. Die Bauunternehmung muss die Imprägnierung nötigenfalls weitere Male applizieren, bis die geforderte Eindringtiefe und Konzentration der Wirkstoffe und damit die Schutzwirkung erreicht sind.

Unter den Bezeichnungen «hydrophobierende Imprägnierung» und «Tiefenhydrophobierung» gibt es verschiedene Produkte auf dem Markt, deren Eignung am konkreten Bauwerk mittels Eignungsprüfungen nachgewiesen werden muss. Angaben und Zertifikate der Produktelieferanten allein genügen nicht, da der jeweils zu behandelnde Beton einen Einfluss auf das Ergebnis hat. Produkte, die an der Oberfläche zu einer Glanzbildung führen, sind zu vermeiden.

27. November 2015 TEC21

Brücken am vereinigten Fluss

Wo Hinter- und Vorderrhein zusammen fliessen, prägen Brücken den Weiler Reichenau. Seit dem 14. Jahrhundert sind sie Teil des Landschaftbilds. Nun kommt eine neue hinzu.

Die Rhätische Bahn (RhB) ist bekannt für ihr meterspuriges Netz mit Infrastrukturbauten von historischem Wert. Die berühmtesten RhB-Strecken sind die Bernina- und die Albulalinie, die seit Juli 2008 zum UNESCO-Welterbe zählen. Die RhB ist sensibilisiert für einen pfleglichen Umgang mit ihren Bauwerken. Dafür hat sie Experten, Planer und Unternehmer um sich scharen können. Nun ist sie erstmals in ihrer 125-jährigen Geschichte noch einen Schritt weiter gegangen und hat den ersten formellen Wettbewerb im Sinn des SIA ausgeschrieben: für eine zweite Hinterrheinbrücke in Reichenau. Seit Ende September ist bekannt, wie diese Brücke aussehen soll.

Reichenau[1] ist topografisch und historisch ein aussergewöhnlicher Ort. Hier fliessen Hinter- und Vorderrhein zusammen. Am Zugang der beiden Täler führen von alters her wichtige Wegverbindungen durch. Waren diese historischen Wege ursprünglich eher den Hangfüssen gefolgt und hatten den Rhein andernorts überquert, wurde der Brückenkopf in Reichenau spätestens im 14. Jahrhundert zu einer Schlüsselstelle im bündnerischen Verkehrsnetz und später mit der Bernardino-Passstrasse ein bedeutender Streckenabschnitt des europaweiten Transitverkehrsnetzes.

Bemerkenswerte Topografie

Die Topografie im Bereich des Zusammenflusses ist einzigartig. Der Felskopf des Schlosses Reichenau im Norden und die Ausläufer der Anhöhen Ils Aults im Süden formen eine markante Talenge, die die beiden Flüsse frontal aufeinander zufliessen lässt, bevor sie als vereinigter Rhein nach Osten abdrehen. Dieses Engnis ist auch für die Lage der alten Brücken über den Rhein zum Schloss Reichenau verantwortlich. Beim Bau der Eisenbahn wurde der südliche Sporn erstmals angeschnitten, dann weitere Male 1962 bei der Erweiterung des Bahnhofs Reichenau-Tamins im Zug des Doppelspurausbaus ab Chur und 1963 beim Bau der Autobahn A13. Bei Letzterem sind die engen Platzverhältnisse zwischen Berg und bestehenden Brückenbauten offensichtlich.

Jürg Conzett, Bauingenieur und Mitglied der Wettbewerbsjury, bedauert, dass die neueren Strassenbrücken eine Art «Anti-Ensemble» zu den alten Fachwerkbrücken bilden: «Obwohl von bedeutenden Brückenbauern konzipiert, sind sie Entwürfe, die eine in sich stimmige und kohärente Brückenlandschaft gesprengt haben.» Trotzdem bleibt Reichenau eine von zahlreichen wertvollen Zeitzeugen geprägte Landschaftskammer.

«Auf dem linken Felssporn soll nur ein Zollhaus ge­standen haben, bis Anfang des 17. Jahrhunderts herrschaftliche Gebäude errichtet wurden, aus denen sich die heutige Schlossanlage entwickelt hat», weiss Johannes Florin, Architekt, Berater der kantonalen Denkmalpflege Graubünden und ebenfalls Mitglied der Wettbewerbsjury. Das Schloss mit seinen umliegenden Bauten ist heute die einzige grössere klassizistische Anlage der Region, und der ihm vorgelagerte, bis zum Rhein hinab­reichende Garten ist weitgehend im ursprünglichen Zustand erhalten.

Der Dorfkern von Tamins und das Schloss Reichenau sind je im Bundesinventar der schützenswerten Ortsbilder der Schweiz von nationaler Bedeutung (ISOS) aufgeführt. Weiter ist die südlich der Bahnlinie respektive der A13 liegende Flusslandschaft des Hinterrheins mit der östlichen Talflanke Teil des Bundesinventars der Landschaften und Naturdenkmäler von nationaler Bedeutung (BLN). Das Inventar der historischen Verkehrswege der Schweiz (IVS) nennt als Strassenabschnitte von nationaler Bedeutung die Kantonsstrassen Chur–Reichenau-Tamins/Thusis (GR 13 und GR 9) und Reichenau–Ilanz (GR 71).

Bedeutende Brücken en masse

Der Ort ist auch kunstbaugeschichtlich interessant: Zwei Brücken, eine über den Vorderrhein und eine über den vereinigten Rhein, gestatteten hier seit Anfang des 16 Jahrhunderts[2] eine effiziente Wegführung der «Unteren Strasse» (Chur–Splügen-/Bernardinopass) und verknüpften diese mit der Verbindung Richtung Oberland/Lukmanier- und Oberalppass. Heute nutzt der Strassenverkehr die 1963 gebaute A13, die vormaligen Brücken wurden ersetzt.

Über den vereinigten Rhein spannt sich seit 1881 eine eiserne Fachwerkbrücke, die die Eisengiesserei- und Façonschmiede Mertin, Crétin, Borner & Cie. in Romanshorn erstellte. Die 70 m weit gespannte Brücke wird zurzeit instand gesetzt. Etwa an derselben Stelle standen von 1757 bis 1799 eine der damals am weitesten gespannten Holzbrücken von Johannes und Hans-Ulrich Grubenmann (vgl. TEC21 42-43/2009) und von 1814 bis 1881 eine Holzbrücke von Johann Stiefenhofer.

Weitere bedeutende Brücken vor Ort sind die Rheinbrücke Tamins von Christian Menn von 1963 mit einer Spannweite von 100 m, die Lavoitobelbrücke mit einer Spannweite von 106 m, die Mirko Robin Roš mit Max Bill 1967 projektierte und die gegenwärtig instand gestellt wird, und schliesslich die Hinterrheinbrücke, die die RhB 1895 von den Firmen Buss AG, Basel (Fundamente und Pfeiler), und Bell AG, Kriens (eiserne Träger), ausführen liess (vgl. Situationskarte).

Die dreifeldrige eiserne Fachwerkbrücke mit parallelen Gurten und vierfachem Strebenzug ist eine Flussüberquerung nach klassischem Muster. Ihre Spannweiten betragen 44.10 63.00 44.10 m. Sie ist ein Beispiel für den hohen Stand der schweizerischen Brückenbautechnik der vorletzten Jahrhundertwende. Ihre präzise gemauerten Pfeiler und der filigrane genietete Fachwerkträger zeugen von den handwerklichen Fertigkeiten ihrer Erbauer. Der engmaschige Fachwerkträger gehört zu den letzten seiner Art, die für Eisenbahnen noch voll in Betrieb stehen.[3]

Entsprechend hoch ist der denkmalpflegerische Wert dieses Bauwerks. Conzett präzisiert: «Die historische Hinterrheinbrücke ist bis heute Teil des Rests eines starken Brückenensembles mit der erhaltenen ‹Schlossbrücke› von 1881 über den vereinigten Rhein. Zudem ist sie Teil einer nicht direkt sichtbaren geschichtlichen Entwicklung. Die räumliche und die zeitliche Dimen­sion belegen ihre hohe Bedeutung als Baudenkmal.»

Die Suche nach einer Neuen

Nun hat die RhB im Hinblick auf die Stabilisierung des Verkehrsnetzes und auf den Ausbau des Angebots eine Verlängerung der Doppelspur in Reichenau projektiert. Das Nadelöhr Hinterrheinbrücke verschwindet, und die Surselva- und die Albulalinie erhalten bereits vor der Flussüberquerung je ihre eigene Linie. Um dem wertvollen Umfeld und insbesondere der historischen Brücke Rechnung zu tragen, soll für die Doppelspur eine neue, unabhängige einspurige Brücke gebaut werden.

Für den Bau dieser zweiten Hinterrheinbrücke inklusive des Baus der zweiten und des Ersatzes der bestehenden Überführung über die Nationalstrasse A13 sowie der Neugestaltung der landschaftlichen Umgebung hat die RhB einen Projektwettbewerb im anonymen, einstufigen und offenen Verfahren lanciert. Das Siegerprojekt soll das Umfeld ebenbürtig ergänzen und es um ein heutiges Bauwerk bereichern.

Christian Florin, Leiter Infrastruktur bei der RhB und Präsident der Wettbewerbsjury, bezeichnete die Aufgabe als ungewöhnlich: «Es galt, eine wertvolle eiserne Bahnbrücke aus dem 19. Jahrhundert mit einer neuen in unmittelbarer Nähe zu ergänzen, erschwert durch die Sachzwänge der Querung der Nationalstrasse.»

Mit dem Siegerprojekt «Sora Giuvna», «junge Schwester» (vgl. «Brückenduett»), erhalte die RhB eine Brücke, die durch ihre Konzeption besteche, freut sich Conzett und ergänzt: «Das Projekt schafft Ordnung, indem es die Vielfalt der Eisenbahnbrücken reduziert.» Das Siegerteam weiss die «Serienschaltung» von vier aneinandergereihten Eisenbahnbrücken auf eine «Parallelschaltung» von zwei Brücken zu reduzieren (vgl. Grafiken).

Die neue Brücke wird flussaufwärts (südlich) der historischen stehen. Diese Linienführung tangiert die Flussufer am wenigsten und belässt das Ensemble von Schloss Reichenau und den beiden Fachwerkbrücken räumlich intakt. Künftig fahren die Züge der stärker frequentierten Albulalinie über die neue Brücke. Dadurch verlängert sich die Lebensdauer der bestehenden, weil die Materialermüdung reduziert wird.

Zwischen den Überführungen über die A13 und dem Bahnhof Reichenau-Tamins soll die heute auf kurze Distanz mehrfach gekrümmte Linienführung begradigt werden. Der Hangabschluss südlich der Gleise wird bergwärts versetzt. Der parallel zur Bahn höher verlaufende Polenweg[4] muss in diesem Bereich neu angelegt werden.

Die RhB schlug drei mögliche Linienführungen A, B und C vor, die bahnbetrieblich gleichwertig sind. Die Wahl der Linienführung und der Entscheid für einen bestimmten Brückentyp standen in einem engen Zusammenhang – so stand A für eine räumliche Kompaktheit und Bündelung, C für eine stärkere Absetzung des neuen Projekts von der bestehenden Brücke, und B wurde als Mittelweg aus A und C in den Wettbewerb aufgenommen. Die Wettbewerbsteilnehmer konnten eine der drei vorgeschlagenen Linienführungen wählen.

Paarbildung bei hohem Altersunterschied

Die Haltung der teilnehmenden Projektteams, wie das Brückenduett zueinanderfinden soll, widerspiegelt sich in den Eingaben. Analogien und modernisierte Kopien wurden bei der Wettbewerbseingabe ebenso eingereicht wie Neuinterpretationen und Weiterführungen bis hin zu völlig losgelösten Konstruktionen. Die Paarbildungen waren nachvollziehbar, erzwungen oder selbstverständlich. Die Konstruktionen wurden in Form von Stahl- oder Betonfachwerken, Balken-, ­Vouten- oder Vollwandträgern, Trögen oder V-Stiel-­Brücken ausgearbeitet. Einen der sechs Entwürfe mit V-Stielen empfand die Jury schliesslich als die richtige Antwort auf die komplexe Aufgabenstellung (vgl. «Brückenduett»).


Anmerkungen

[01] Der Name Reichenau geht vermutlich auf Besitzungen des Klosters Reichenau auf der Bodenseeinsel zurück.
[02] Ab 1522 sind beide Zollbrüchen schriftlich bezeugt; Quelle: IVS (GA Trin, Urkunde 14).
[03] Aus dem Wettbewerbsprogramm zweite Hinterrheinbrücke Reichenau.
[04] Als Polenweg werden in der Schweiz Waldwege, Feldwege und Strassen bezeichnet, die während des Zweiten Weltkriegs von internierten Soldaten der 2. polnischen Schützendivision angelegt oder ausgebaut wurden.

27. November 2015 TEC21

«Ein Anstoss von aussen»

Was motivierte die Rhätische Bahn, einen Wettbewerb zu lancieren? Hält die historische Hinterrheinbrücke den künftigen Belastungen stand? Karl Baumann, Leiter Kunstbauten der RhB Infrastruktur, nimmt Stellung.

TEC21: Herr Baumann, Reichenau ist topografisch und baugeschichtlich eine aussergewöhnliche Landschaft (vgl. «Brücken am vereinigten Fluss»). Die Stahlbrücke der Rhätischen Bahn (RhB) ist als Teil des Ensembles zu erhalten. Woran orientieren Sie sich?

Karl Baumann: Die RhB hat vor einigen Jahren zusammen mit der Denkmalpflege Graubünden und Jürg Conzett das Dokument «Umgang mit bestehenden Brücken» erarbeitet. Dieses Dokument dient uns als Leitfaden für alle Massnahmen bei Instandsetzungen oder beim Ersatz von Brückenbauwerken. Die Hinterrheinbrücke Reichenau wird in diesem Dokument als eine Rarität von sehr hohem denkmalpflegerischem Wert bezeichnet. Es war somit von Anfang an klar, dass sie nach Möglichkeit zu erhalten ist. Die RhB hat deshalb 2010 die Durchführung einer Sonderinspektion mit einer statischen Nachrechnung der Hinterrheinbrücke in Auftrag gegeben.

Mit welchem Ergebnis?

Die 120 Jahre alte Brücke soll für insgesamt rund 5 Millionen Franken instand gesetzt und mit einem neuen Korrosionsschutzsystem versehen werden. Die In­standsetzungsarbeiten beinhalten den Ersatz der sekundären Stahlkonstruktion, was in diesem Umfang nur während eines mehrmonatigen Betriebsunterbruchs realisierbar ist.

Die historische Brücke rückzubauen war nie ein Thema?

Nicht, seit wir ihren immateriellen Wert kennen. So steht auch die Frage eines späteren Abbruchs im Moment nicht zur Diskussion. Mit entsprechenden Massnahmen lässt sich ein solches Bauwerk auch noch länger als 70 Jahre in Betrieb halten. Zum Beispiel wäre es heute undenkbar, den Eiffelturm oder die Golden-Gate-Brücke abzubrechen.

Was hat die RhB dazu bewogen, erstmals in ihrer Geschichte einen formellen Wettbewerb zu lancieren?

Die Projektierung einer zweiten Bahnbrücke neben der bestehenden Fachwerkbrücke in der historisch bedeutenden Umgebung von Reichenau, genau beim Zusammenfluss von Vorder- und Hinterrhein, ist nach Beurteilung der RhB eine äusserst anspruchsvolle Planerarbeit. Für solche Aufgaben eignet sich das Werkzeug eines Wettbewerbs.

Im Wettbewerbsprogramm wurden drei betrieblich gleichwertige Linienführungen vorgeschlagen. Wie begründen Sie deren Lage?

Ursprünglich war die RhB davon ausgegangen, dass die zweite Hinterrheinbrücke auf der Nordseite liegen müsse, da das bestehende Bauwerk in der Ansicht fast ausschliesslich von Süden wahrgenommen wird. Während der Vorbereitung der Grundlagen für den Projektwettbewerb mussten wir unsere Meinung aber revidieren. Wasserbauliche, denkmalpflegerische und betriebliche Gründe sprechen eindeutig für eine Lage auf der Südseite. Die geschwungene Linienführung C war ursprünglich die einzige Linienführung, vorrangig um aus bautech­nischen Gründen einen genügend grossen Abstand zwischen neuen und alten Pfeilern bzw. Widerlagern zu schaffen.

Die gerade Linienführung A parallel zur bestehenden Brücke kam später hinzu. Wir beliessen beide Varianten, weil wir zum damaligen Zeitpunkt keine schlüssigen Gründe für den Ausschluss der einen oder anderen Variante hatten. Unsere Unschlüssigkeit widerspiegelt die Linienführung B. Sie ist ein Kompromiss zwischen A und C und ist als solcher auch in den Eingaben zu erkennen.

Aus den Eingaben ging hervor, dass die Linienführung A nach einer konstruktiven Annäherung und C nach einer gewissen Eigenständigkeit der neuen Brücke «verlangt». Die Linienführung B wurde selten eingegeben. Das Siegerprojekt zeichnet sich durch eine Eigenständigkeit auf der Linienführung C aus, wobei das Siegerteam betont, dass die beiden Brücken dennoch ein Ensemble bilden (vgl. «Das Siegerteam und sein Vorschlag», Kasten unten). Sehen Sie als Bauherrschaft das neue Brückenduo ebenfalls als Ensemble?

Die RhB ist der Meinung, dass das neue Bauwerk «Sora Giuvna» klar Bezug auf die bestehende Fachwerkbrücke nimmt. Natürlich reagiert das Projekt nicht spezifisch auf ein eigentliches Brückenduo. Dies ist mit der 1963 dazugekommenen Über­führung über die A13 nicht mehr möglich. Vielmehr besticht das Projekt mit einem einheitlichen Tragwerkskonzept, das sowohl die grosse Spannweite über den Hinterrhein als auch das etwas kleinere, aber in der Bauwerkshöhe stark eingeschränkte Feld über der A13 überbrückt. Diese Eigenheit ist nur bei ganz wenigen Projekten vorhanden.

Mit der schlanken Trägerhöhe von 1.70 m und der Ausbildung eines leicht nach oben versetzten Trogquerschnitts gelingt es ausserdem, die bestehende Fachwerkbrücke fast vollständig frei sichtbar zu belassen. Das ist schliesslich das gewünschte Zusammenspiel, das die beiden Brücken zum Ensemble werden lässt.

Ich persönlich begrüsse die Linienführung C zudem noch wegen zweier weiterer Aspekte: Sie bewirkt eine leichte Entflechtung der engen Platzverhältnisse im Bereich der A13-Überführung, und der Respektabstand zum bestehenden Bauwerk ermöglicht unseren Fahrgästen bei der Überfahrt über die neue Brücke einen Blick auf das alte Tragwerk. Schliesslich nutzen viele Touristen unsere Bahn.

Das Siegerprojekt stammt von einem internationalen Team. Die RhB gilt als regional verortet. Ist das ein Widerspruch?

Ich habe mich während der Jurierung immer wieder gefragt: Wer könnte der RhB eine solche Stahlbrücke mit V-Stielen anbieten? Und im ersten Moment nach der Couvertöffnung war ich überrascht, dass es ein internationales Team ist. Wir haben – das darf ich ehrlich sagen – mit Bedauern zur Kenntnis genommen, dass unter den preisgekrönten Projekten keine einheimische Firma ist. Dies, obwohl im Kanton Graubünden mehrere gute Firmen vertreten sind, die ihre Kompetenz bei verschiedenen Projekten immer wieder beweisen.

Es stellen sich Fragen, die ich so (noch) nicht beantworten kann: Zeigt dieses Resultat nicht auch auf, dass manchmal eine etwas grössere Weitsicht sinnvoll und nötig ist? Hat die Wettbewerbs­auf­gabe dazu geführt, dass neue Ideen angeboten wurden – V-Stiel-Brücken, Stahllösungen, integrale Brückenprojekte? Haben sich die lokalen Anbieter nicht getraut, bisher wenig bekannte Konzepte anzubieten? Ist der Markt Graubünden zu stark abgeschottet und demzufolge weniger offen?

Vermutlich hat die Offenheit, die wir mit dem Wettbewerb sichergestellt haben, dazu geführt, dass wir nun andere Lösungen präsentiert erhielten, als wir das im Bündnerland gewohnt sind. Es könnte durchaus sein, dass regional verankerte Firmen in erster Linie auf eine gute technische Qualität und auf gut funktionierende Bauvorgänge achteten. Hingegen fehlten leider wirklich gute Lösungen, die der Erwartungshaltung der RhB standhielten.

Ein Anstoss von aussen dürfte nicht schaden. Zumal es sich beim Siegerprojekt nicht einfach nur um eine gute Idee handelt. Das Projekt ist durchdacht und zeigt, dass es von erfahrenen Stahlbauern erarbeitet wurde. Man spürt die Sicht des Ingenieurs und die Sicht des Architekten. Beides vereint sich zu einem einheitlichen Gesamtbauwerk.

Wir sind als Bauherrschaft mit den eingereichten Projekten sehr zufrieden und anerkennen den grossen Einsatz aller Teilnehmenden. Die Wertschätzung möchten wir auch mit dem ausführlichen Jurybericht äussern. Wir hoffen, damit etwas zur künftigen Entwicklung im regionalen und nationalen Ingenieurbau beigetragen zu haben.

27. November 2015 TEC21

Brückenduett

Die zweite Hinterrheinbrücke ist eine Stahltrogkonstruktion mit V-Stielen, die die historische Fachwerkbrücke gut sichtbar belässt. Auszüge aus dem Jurybericht zeigen, dass sie dem Bestand mit Respekt begegnet.

Der rätoromanische Name «Sora Giuvna» steht für das Siegerprojekt der zweiten Hinterrheinbrücke Reichenau. Mit ihm werden künftig inklusive der A13-Überführungen nur zwei Hinterrheinbrücken stehen: die heutige und ihre «junge Schwester», die den Rhein einspurig und die A13 doppelspurig überquert. Diese starke Konzeption bestimmt das ganze Projekt.

Stahlkasten auf V-Stielen

Das Siegerteam schlägt für die neue Brücke eine Stahlkasten-Trogkonstruktion über Rhein und A13 vor, die von V-Stielen getragen wird. Zwei seitlich der Gleise angeordnete dickwandige, steifenlose Stahlkästen tragen eine halb versenkte orthotrope Fahrbahnplatte. Ihre Höhe ist konstant über die ganze Brückenlänge. Über den Hauptpfeilern sind sie mit ebenfalls stählernen V-Stielen unterstützt – diese ragen jeweils wie vier Finger aus den Betonpfeilern. Die Schlankheit der Hauptträger ist so gewählt, dass die im Lichtraumprofil eingeschränkte Überquerung der A13 gut möglich ist, die Träger die bestehende Brücke jedoch kaum überragen.

Die jeweils vier Stiele treffen sich auf einer Auflagerplatte auf den Köpfen der beiden Hauptpfeiler. Diese Pfeiler korrespondieren in Form, Lage und Ausrichtung mit den Natursteinpfeilern der historischen Brücke. Das Siegerteam setzt die neuen Hauptpfeiler östlich und westlich des Hinterrheins flussaufwärts in die Flucht der bestehenden Pfeiler, wie in den Rahmenbedingungen gefordert. Der Übergang von den Stahl-V-Stielen zum Betonpfeiler wiederum nimmt die untere Kante des Stahlfachwerks der historischen Brücke auf.

Die neue Brücke besitzt zwischen Rhein und A13 kein Widerlager, sondern einen weiteren Pfeiler. Wegen der engen Platzverhältnisse ist er als V-Stiel parallel zur A13 gedreht. Eine – gemäss Jurybericht – reizvolle Idee, die das Platzproblem elegant löst, dem Grundkonzept der V-Stiel-Stützung treu bleibt und den Blick von der Autobahn auf das bestehende Widerlager frei lässt. Ausserdem wird die neue Hinterrheinbrücke über die A13 so erweitert, dass sie beide Gleisstränge umfasst. Sechs Felder der insgesamt siebenfeldrigen neuen Brückenkonstruktion dienen der Südspur der Rhätischen Bahn (RhB), und ein Feld ist für die Nordspur vorgesehen.

Aus einem Brückentrio oder gar -quartett wird so ein übersichtliches und reduziertes Duett. «Die bestehende Betonbrücke und die Stützmauer östlich des Widerlagers der alten Stahlfachwerkbrücke werden zurückgebaut. Damit definiert sich die historische Stahlbrücke als die zuerst gebaute, und die Vielfalt der Brückenlandschaft wird reduziert», bekräftigt das Siegerteam.

Bezug zwischen Alt und Neu

Mit der gewählten leicht geschwungenen Linienführung C erhält die neue Brücke den grösstmöglichen Abstand zur bestehenden, was ihre Eigenständigkeit betont. Dennoch nimmt sie Bezug auf die historische Konstruktion (vgl. «Das Siegerteam und sein Vorschlag», Kasten unten). Zudem lässt «Sora Giuvna» mit ihrer transparenten Konstruktion – dem schlanken parallelgurtigen Balken und den relativ schmalen V-Stielen – ­einen weitgehend freien Blick auf die bestehende Brücke zu. Schliesslich verweist die neue auch durch die Wahl des Materials Stahl auf die alte. Sämtliche Stahlteile sind in heller Farbe im Ton der bestehenden Fachwerkbrücke lackiert.

Da die beiden Brücken ein Ensemble bilden, trotzdem aber klar eigenständige Bauwerke sind, ist gemäss den Projektierenden keine farbliche Differenzierung nötig. Die Betonelemente sollen analog zum umgebenden Gesteinsmaterial eine hellgraue Farbe und eine glatte Oberfläche erhalten.

Landschaftliche Eingriffe

Heute dominieren massive, mehrere Meter hohe Stützmauern den östlichen Hang zum Plong Vaschnaus über dem Bahnhof Reichenau-Tamins. Darin eingeschnitten verlaufen auf unterschiedlichen Niveaus Strasse, Bahnlinie und Fussweg. Der Entwurf ersetzt die obere Stützmauer und sieht stattdessen eine bepflanzte Steil­böschung der Neigung 1 : 1 unter und über dem Polenweg vor. Der notwendige Hangabtrag von 31 000 m³ – etwa die Hälfte des jährlichen Abbaus im Steinbruch Plong Vaschnaus nebenan – soll für die Rekultivierung ebendieser Kiesgrube verwendet werden.

Auf der Südwestseite ist eine Verbreiterung des Damms unvermeidlich. Sie nimmt Richtung Rhein kontinuierlich zu. Der parallel zum Damm führende Fahrweg wird verlegt und die dort bestehende Wildhecke längs der Böschung ersetzt.

Die markante, geneigte Natursteinmauer auf der Ostseite der A13 wird heute durch den hohen, vertikalen Betoneinsatz abrupt unterbrochen. Das Siegerprojekt sieht deshalb vor, das Brückenende der Churer Seite auf einen knapp in die bestehende Natursteinmauer eingelassenen Auflagerkörper zu legen. Die Mauer läuft künftig ungestört unter der neuen Brücke durch.

Auf der Westseite der Nationalstrasse soll eine Betonmauer das Auflagerbauwerk zwischen bestehender Fachwerkbrücke und A13-Überführung begrenzen. Beide Mauern entlang der Strasse fügen sich an den durch die A13 vorgenommenen Hangdurchschnitt. Gleichzeitig bilden sie zusammen mit der V-förmigen Stütze parallel zur Strasse einen sich weitenden Trichter, der den Verkehr zielgerichtet durch das Strassenengnis führt.

Beruhigte Situation

«Sora Giuvna» schaffe Ordnung, schreibt die Jury in ihrem Bericht. Sie tut dies sowohl bezüglich konstruktiver als auch landschaftlicher Aspekte. Die Massnahmen beruhigen die Landschaft oberhalb der Bahngleise, und weil unterhalb der Bahnlinie so viel passiert, wirkt sich der Effekt positiv auf das gesamte Landschaftsbild aus. Jürg Conzett, Bauingenieur und Mitglied der Wettbewerbsjury, verdeutlicht: «Ganz allgemein sind bergseitige Stützmauern heiklere Elemente als talseitige Mauern, weil sie eine ‹Wunde› in der Hügel­land­schaft bedecken.»

Zwar habe der Schweizer Architekt Rino Tami (1908–1994) bei der Planung versucht, die Stützmauer als «Gebäude» erscheinen zu lassen, indem er die Oberkante parallel zum Verkehrsweg führte. Doch dies bedinge eine gewisse Länge der Mauer im Verhältnis zur Höhe. Die gegenwärtige, eher kurze und hohe Mauer zeige den Schnitt in die Landschaft etwas zu deutlich auf, gibt Conzett zu bedenken. «Hingegen wird die Landschaft ohne Mauer so erscheinen, als hätte man die Bahnlinie an eine bestehende Felswand herangebaut.»

Andreas Galmarini von WaltGalmarini, Mitglied des Siegerteams, betont wiederum: «Vom ingenieurspezifischen Standpunkt her haben wir versucht, die Tragkonstruktion schlicht zu halten, um der Dauerhaftigkeit und der Unterhaltsfreundlichkeit gerecht zu werden und um eine ausgewogene Balance zwischen Neu und Alt zu finden.»

Die Auslegungen im ausführlichen Jurybericht überzeugen (vgl. «Jurybericht», Kasten unten). Die Argumente des Preisgerichts sind gerade auch deshalb plausibel, weil sich die Jurymitglieder nicht durch Visualisierungen beeinflussen liessen. Sie stützten ihre Beurteilung auf Gipsmodelle, die aus allen Blickwinkeln begutachtet werden konnten.