nextroom.at

Artikel

26. April 2019 TEC21

Ein Wasserschloss mit «Trockenregionen»

Wie setzt der Klimawandel dem Wasserreichtum in der Schweiz zu? Zwar sprudeln Grundwasser und Quellen auch in Trockenzeiten munter weiter. Dennoch sind saisonale und regionale Engpässe zu erwarten. Die Infrastruktur und die Bewirtschaftung der öffentlichen Trinkwasserversorgung müssen zwingend verbessert werden.

Die Erinnerung an die letztjährige Hitzewelle treibt den Schweiss noch heute auf die Stirn: Das Thermometer kletterte wiederholt über 35  °C und sank in einigen Städten wochenlang selbst in der Nacht nicht unter 20  °C. Der nationale Wetterdienst registrierte 2018 den wärmsten je ge­messenen Sommer und den höchsten Jahresmittelwert. Das unmittelbare Empfinden, wie heiss es werden kann, stimmt mit den Messungen der Klimaforscher also überein. Nicht so einfach nachvollziehbar ist hingegen, wie sich der Treibhauseffekt auf den Niederschlag auswirkt. Von Januar bis Dezember 2018 schlug das Pendel heftig nach oben und ebenso stark nach unten aus.

Im Winter fiel Schnee in noch nie gemessener Menge auf die ­Walliser und Bündner Berge. Auch im Mittelland war es in der kalten Jahreszeit ausgesprochen nass. Viele Grundwasservorkommen waren reichlich gefüllt, als zur ­Hitzewelle eine monatelange Trockenheit dazu kam. In vielen Regionen sank der Grundwasserspiegel trotzdem auf ungewohnt tiefes Niveau. Am stärksten betroffen war die Ostschweiz: Hier sank die Niederschlagsmenge gegenüber einem Normaljahr um 40 %.

Die Schweiz ist das Wasserschloss Europas; der Regen sowie die Schnee- und Gletscherschmelze verteilen sich via Inn, Ticino, Rhone, Doubs und Rhein über den ganzen Kontinent. Der Abfluss ist derart üppig, dass auch die inländische Wasserversorgung ausreichend profitiert. Die zahlreichen Quellen, Grundwasserströme und Seen werden auch angesichts des Klimawandels kaum versiegen. Dennoch dürfte der Wassernutzungskreislauf ins Stocken geraten, weil Angebot und Nachfrage räumlich und zeitlich auseinanderdriften.

Reserven und Gewissheiten schwinden

Das Dargebot gleicht einem komfortablen Überfluss: Nur etwa 10 % des Grundwassers wird effektiv genutzt. Und die meisten Trinkwasserpumpen können bei Bedarf das Doppelte liefern. Allerdings sind diese Gewissheiten seit 2003, ebenso wie die tatsächlichen Reserven, zumindest temporär am Schwinden. Inzwischen bleibt der Regen jedes vierte Jahr in irgendeiner Region wochen- bis monatelang aus. An öffentliche Aufrufe zum sparsamen Umgang mit Wasser hat man sich bereits gewöhnt. Und dass die Trinkwasserversorgung einiger Gemeinden vorübergehend per Tankwagen sichergestellt wird, ist auch nicht mehr ungewöhnlich.

Hydrologen erwarten tatsächlich einen Rückgang der Reserven, unter anderem weil die Gletscher schrumpfen. Quellen im gebirgigen Karst und Grundwasser, das im Schotterbett unter den Tälern hindurchfliesst, werden in den folgenden Jahrzehnten bis zu 20 % Ergiebigkeit verlieren. Kommen längere Trockenzeiten hinzu, kann dies etlichen Regionen in den Voralpen oder im Jura prekäre Versorgungslagen bescheren. Dennoch wissen viele Gemeinden nicht, woher sie das Wasser beziehen sollen, wenn nicht aus den bislang sprudelnden Quellen. Die Bergkantone decken sich zu 80 % damit ein; ansonsten wird Trinkwasser mehrheitlich aus dem Grundwasser hochgepumpt. Als dritte Versorgungsvariante steht Seewasser zur Verfügung. Jeder fünfte Liter Trinkwasser wird in der Schweiz daraus aufbereitet. Die Bezugsquellen und das hydrologische Einzugsgebiet bestimmen deshalb, auf welche Dargebotsschwankungen man sich lokal und regional gefasst machen muss.

Nicht überall sind das Knappheitsrisiko und die gefährdeten Orte bekannt. Immer noch scheinen manche unvorbereitet auf die nächste Trockenphase zu warten. Weil die Trink- und Brauchwasserversorgung eine kommunale Aufgabe ist, fehlt eine generelle Übersicht. Der Wissensstand der Verantwortlichen, die in Gemeinden, Genossenschaften oder Korporationen arbeiten, ist höchst unterschiedlich. Auch darum fühlte sich der Bund berufen, auf abschätzbare Veränderungen in regionalen Wasserkreisläufen aufmerksam zu machen. Und siehe da: Einige Kantone haben potenzielle ­«Trockenregionen» entdeckt.

Überforderte Versorgungsinfrastruktur?

Eine Ersterkundung hat man inzwischen in der Urschweiz durchgeführt. Für die weitläufige Region rund um den Vierwaldstättersee hat ein nationales Pilot­projekt überprüft, wo Wasser knapp werden kann. Die Analyse der 59 Gemeinden – von der Stadt Luzern bis zum Urner Bergdorf Realp – liefert wenig Grund, Alarm zu schlagen. Doch periphere Lagen sollten aufhorchen: Weil entlegene Gemeinden wassertechnisch meistens autonom funktionieren, können lokale Versorgungsengpässe auftreten. Grund dafür sind aber nicht nur die Lage oder fehlende Ausweichvarianten, sondern auch eine steigende Wassernachfrage. Zwar zählen die Schweizer Haushalte zu den sparsamsten in Europa. Und zudem sinkt der Konsum kontinuierlich, wie der Schweizerische Verband des Gas- und Wasserfachs jährlich ausweist. Doch sobald es heiss wird und der Regen ausbleibt, steigt der Durchfluss in bestehenden Anschlüssen. Aber es kommen auch neue Ansprüche dazu: In Landwirtschaftsregionen sind Äcker, Wiesland, Obstplantagen und Rebberge zu bewässern. Und in wachsenden Agglomerationen nimmt mit der Bevölkerung auch der Grund- und Trinkwasserverbrauch zu. Erste Kantone wie Thurgau oder Luzern warnen aufgrund eigener quantitativer Abschätzungen: «Die Bevölkerungsentwicklung und das tendenziell rückläufige Dargebot werden potenzielle Engpässe zunehmend verschärfen.»[1]

Hat das Hitzejahr 2003 die Umweltbehörden erstmals aufgerüttelt, war die Überraschung über die letztjährige Trockenheit eigentlich unberechtigt. Zudem weiss man seit 2014, wie die «Zukunftsstrategie zur Sicherung der Ressource Wasser» in der Schweiz aussehen soll. Formuliert hat sie das Nationale Forschungsprogramm 61 «Nachhaltige Wassernutzung in der Schweiz». Die zentrale Erkenntnis ist wie so oft: Es gibt noch viel zu tun; auf fast alle Regionen kommen neue Aufgaben zur Vorsorge zu. Verknappt der Klimawandel die Wasserressourcen, verschärft der wachsende Nutzungsdruck das Versorgungsproblem. Einiges wirkt hausgemacht, etwa in Tourismusgebieten, deren Wasserbedarf für das Beschneien von Skipisten steigt. Oder überall dort, wo das Siedlungswachstum bestehende Trinkwasserfassungen verdrängt. Das NFP 61 schätzt, dass jede zweite Gemeinde bereits Schutzzonen überbauen liess, ohne die eine Grundwasserpumpstation rechtlich als nicht gesichert gilt. Solche Versäumnisse in der Siedlungsplanung sind aber schweizweit ein Problem (vgl. «Trinkwasser im Dichtestress», S. 27). Die Gefahr droht, dass sich Gemeinden selbst den sicheren Zugang zu den eigenen Wasserressourcen versperren.

Regionale Eingriffe in den Kreislauf

Auch anderswo greift der Mensch über Gebühr in den natürlichen Wasserkreislauf ein. Die Siedlungsentwässerung und die Abwasserreinigung beeinflussen die Hydrologie vieler Regionen. Im Basel­biet hat man untersucht, wie viel Wasser zur Speisung der natürlichen Reserve fehlt, weil es nicht mehr an Ort und Stelle versickern kann. Und eine regio­nale ARA stört das natürliche Einspeisen von Wasser in den Untergrund stärker als ein dezentrales Abwassersystem. Technische Massnahmen wie künstliche Filter für leicht verschmutztes Meteorwasser können durchaus Abhilfe schaffen. Doch damit sich Gemeinden überhaupt einen Überblick über die hydrologischen Verhältnisse ihrer Umgebung verschaffen können, braucht es übergeordnete Planungsinstrumente. Ein solches ist die Generelle Wasserversorgungsplanung (GWP); nur ist sie nicht überall bekannt. Einzelne Kantone vernachlässigen zudem ihre Aufsichtspflicht.[1] Auf der Strecke bleibt eine angemessene Vorsorge und die Gewähr einer jederzeit funktionierenden, flächendeckenden Versorgungssicherheit.

Nur: Fast 3000 Organisationen kümmern sich um die Trinkwasserversorgung der Haushalte und Gewerbebetriebe in der Schweiz, mehr als es Gemeinden gibt. Diese Verzettelung ist unproblematisch, solange jede auf Nachfrageschwankungen unmittelbar reagieren kann. Doch ein einziger Anschluss an das Grundwasser bedeutet in regenarmen Wochen: Es fehlen Ausweichvarianten. Gewässerexperten raten deshalb zur übergeordneten Vernetzung, die ganze Regionen mit neuen unterirdischen Trinkwasserleitungen verbinden soll. Grenzüberschreitende Wasseranschlüsse helfen, lokale Trockenperioden zu überbrücken. Denn die Wasserverknappung wird dort zum Verteilproblem, wo die Versorgungsinfrastruktur dezentral, isoliert und ohne Redundanz organisiert ist. Auf eine Verbesserung dieses strukturellen Handicaps zielt das Bundesprojekt «Sichere Wasserversorgung 2025» ab. Für das nachhaltige Wasserressourcenmanagement sind sowohl die Ressourcen als auch die Infrastruktur zu überprüfen.

Der Blick in die Landschaft beweist, dass es einen regen Zuwachs an Grundwasserpumpwerken für regionale Bedürfnisse gibt und einzelne Neubauten auch architektonischen Ansprüchen genügen können. Von den Vorteilen eines grossräumigen Verteilnetzes profitiert etwa die Agglomeration Zürich: Die angeschlossenen Gemeinden greifen bei zeitweise versiegenden Quellen gern auf das reichliche Wasserangebot der Stadt Zürich zurück. Denn deren Versorgungskapazität wird wesentlich vom Zürichsee bestimmt.

Seewasser als teure Alternative

Nicht nur die grösste Stadt der Schweiz, auch Luzern, Genf oder Neuchâtel decken weit über die Hälfte ihres Eigenbedarfs mit Wasser der angrenzenden Seen. Vor 80 Jahren entstanden die ersten Seewasserwerke zur Trinkwasseraufbereitung. Inzwischen ist der Anteil schweizweit auf 19 % gestiegen. Auch hier sind weitere Vorhaben in Planung, um saubere Oberflächengewässer als fast unerschöpfliche Trinkwasserreservoire zu erschliessen. Dennoch ist die hygienische Aufbereitung im Vergleich zu Grund- und Quellwasser bedeutend aufwendiger. Zudem hat der Hitzesommer 2003 auch die Seewasserversorger überrascht: Nicht die Menge war das Problem, sondern der Sauerstoffgehalt des ungewöhnlich warmen Wassers sank. Aus welcher Tiefe es abgepumpt wird, bestimmt daher die Qualität der Ressource wesentlich mit.

Die Schweiz bleibt trotz Klimawandel und Gletscherschmelze ein Wasserschloss; der nasse Rohstoff wird kaum versiegen. Trotzdem werden sich saisonale und regionale Wasserbilanzen stark verändern. Damit haben sich die Kantone und Gemeinden zwingend auseinanderzusetzen. Wenn der Regen über Tage, Wochen oder Monate ausbleiben sollte, darf dies mittelfristig keinen Trinkwasserverantwortlichen mehr ins Schwitzen bringen.


Quellen:
[01] Regierungsrat Kanton Luzern, Antwort auf parlamentarische Vorstösse Februar 2019.
[02] Nationales Forschungsprogramm 61 «Nachhaltige Wassernutzung in der Schweiz», SNF 2014 (www.nfp61.ch).
[03] Bundesamt für Umwelt: Wasserressourcenmanagement mit Fallstudien (www.bafu.admin.ch).

26. April 2019 TEC21

Trinkwasser im Dichtestress

Der Bund schlägt Alarm: Hunderte Grundwasserbrunnen sind von der Stilllegung bedroht, weil sie ungenügend geschützt sind. Die Raumplanung hat zu wenig aufgepasst. Der Kanton Solothurn will nun Gegensteuer geben.

Oensingen ist beileibe nicht der Motor der Schweiz, aber ein Zahnrad, das läuft und läuft. Im fleissigen Dorf, eingeklemmt zwischen Autobahn A2 und Jurahügeln, verkehren fast so viele Arbeiter wie ständige Einwohner. Auch deshalb übertrifft die 6000-Seelen-Gemeinde das nationale Bruttoinlandprodukt um 35 %. Für die «Hauptstadtregion Schweiz», die das westliche Mittelland umfasst, ist Oensingen ein «Top-Entwicklungsstandort». Dumm nur, dass man sich dort eben selbst das Wasser abzugraben scheint. Nicht, was die wirtschaftliche Leistung betrifft, sondern im wahrsten Sinn des Worts: Das Grundwasserpumpwerk Moos, das sämtliches Trink- und Brauchwasser für die Haus­halte und Firmen liefern muss, wird vor allem von ­Letzteren bedrohlich eingekreist. Es steht mitten in einem fast 1 km2 grossen Gewerbegebiet, was für Gewässerexperten eine Art Tabubruch ist. Vor 50 Jahren wurde die Pumpstation auf Ackerland weit ausserhalb des Siedlungsgebiets gebaut. Jetzt ist es eingekesselt: Die Anlage, die sauberes Grundwasser aus 30 m Tiefe an die Erdoberfläche holt, ist sogar akut bedroht. Das kantonale Amt für Umwelt verlangt von der Gemeinde inzwischen, die Wasserbeschaffung so schnell wie ­möglich besser abzusichern und nach Alternativen zu suchen. Wir befragten den kantonalen Experten.

TEC21: Herr Hug, warum darf das Pumpwerk Moos nicht weiterhin Grundwasser fördern?

Rainer Hug: Wasser liefert der Brunnen effektiv genug, und auch die Qualität ist bislang nicht zu beanstanden. Doch das Problem ist: Das Einzugsgebiet der Fassung ist zu wenig gut geschützt.

Warum nicht?

Die Fassung liegt mitten in einer Industriezone, und rundherum ist praktisch alles überbaut. Damit steigt das Risiko, dass das Grundwasser unmittelbar verunreinigt werden kann. Gefährlich sind etwa Heizöltanks oder Betriebs­tank­stellen; bei Lecks oder anderen Zwischenfällen kann Öl oder Benzin in den Untergrund versickern. Noch problematischer sind die benachbarten Abwasser­leitungen: Falls diese undicht werden, können sie das Grundwasser lange Zeit unbemerkt verschmutzen.

Werden gesetzliche Regeln nicht beachtet?

Die Gewässerschutzverordnung schreibt für jede Pumpstation einen Umkreis von mindestens 100 m vor, der frei von Bauten und Anlagen zu halten ist. Dieser Sicherheitsabstand wird mit den Grundwasserschutzzonen 1 und 2 festgelegt. Er muss noch grösser sein, wenn das Grundwasser nicht mindestens zehn Tage braucht, um vom Rand der Freihaltezone bis zur Pumpfassung zu fliessen. In dieser Zeit soll der Boden eventuelle Verunreinigungen filtern oder bakteriell abbauen können.

Was kann die Gemeinde jetzt tun?

Zum einen soll die Gemeinde künftig das Wasser in der Fassung und im nahen Einzugsgebiet kontinuierlich auf potenzielle Schadstoffe über­wachen. Zum anderen muss sie sich auf ein zweites Standbein für die Wasserbeschaffung abstützen können, etwa indem sie sich an einer bestehenden, gut geschützten Grundwasserfassung anschliesst. In der Nachbarschaft stehen beispielsweise leis­tungs­­fähige und nahezu konfliktfreie Fassungen mit Reserven für einen Anschluss bereit.

Muss die eigene Fassung nicht aufgehoben werden?

Oensingen hat eine Frist von zehn Jahren erhalten. Ab dann darf das Pumpwerk Moos nur noch reduziert benutzt werden. Und ab dann soll das Werk bei einer Verunreinigung vom Netz genommen werden können, ohne die Versorgung der Gemeinde einschränken zu müssen. Trotzdem muss die ­Ge­meinde die Grundwasserschutzzone nun so weit möglich an die gesetzlichen Vorgaben anpassen. Kann die 100-m-Regel nicht eingehalten werden, braucht es andere, verschärfte Schutzmassnahmen.

Warum muss das nicht schneller gehen?

Rechtlich ist die Situation sogar so: Die Konzession für die Grundwassernutzung läuft erst 2040 ab. Den Schutzstandard jetzt schon zu aktua­lisieren war das Resultat von Verhandlungen zwischen dem Kanton und der Gemeinde. Da nun die letzten Flächen in der Schutzzone S3 überbaut ­wer­den sollen, musste der Kanton intervenieren. Die hydrogeologischen Bedingungen an diesem Standort entschärfen das Problem aber ein wenig: Der Grundwasserträger befindet sich im Vergleich zu anderen Fassungen weit unten. Dank der mächtigen Schutzschicht ist das Grundwasser von Oensingen besser geschützt, was uns Zeit für die Umsetzung gibt.

Ist Oensingen ein Spezialfall?

Leider nein, sondern beispielhaft für ein halbes Dutzend Trinkwasserfassungen im Kanton Solothurn. Die Ausdehnung des Siedlungsraums und der Bau von Verkehrsinfrastruktur wie Strassen und Tunnels setzen den Schutz der bestehenden Versorgung unter grossen Druck. Dass eine Grundwasserschutzzone S2 überbaut ist oder sich mit rechtmässigen Bauzonen überlagert, trifft jedoch für viele Gemeinden im gesamten Schweizer Mittelland zu.

Jede fünfte Anlage ist in Gefahr

Mindestens so langsam, wie Wasser durch den Boden sickert, so viel Zeit braucht es, bis Warnungen vor steigendem Nutzungsdruck an die Öffentlichkeit dringen. Vor 20 Jah­ren trat die nationale Gewässerschutzverordnung in Kraft, die alle Pumpstandorte angemessen schützen und weiträumige Schutzzonen vorschreiben soll. Ende 2018 liess der Vollzugsbericht des Bundesamts für Umwelt (Bafu) aufhorchen. Die befragten ­kantonalen Fachstellen beklagten sich über «schwerwiegende Konflikte» und «unzulängliche Zonenausscheidungen» in den Gemeinden.[1] Die Angaben liefern weitere Details zu diesem Versäumnis: Mehr als ein Drittel der Trinkwasserfassungen hält die rechtlichen Vor­gaben nicht ein. Und mindestens jede fünfte Anlage braucht zusätzliche Schutzvorkehrungen, um von einer sicheren Versorgung sprechen zu dürfen.

Allein der Kanton Bern musste in den vergangenen Jahren über 100 Fassungsgebiete aufheben und 350 Einzelfassungen stilllegen. Der Konflikt mit der Raumplanung hat gemäss dem Fachverband SVGW dazu geführt, dass fast jeder dritte Wasserversorger in den letzten 20 Jahren ein Fassungsgebiet schliessen musste. Doch die Kantone sind weiterhin ratlos, wie sie von den Gemeinden rechtskonformen Zustand einfordern können. In der Umfrage teilen sie dem Bafu zudem mit: «In dicht besiedelten Regionen ist es äusserst schwierig, geeignete Ersatzstandorte zu finden.»

Herr Hug, wie sieht die Situation in Solothurn aus: Wie viele Reservestandorte stehen zur Verfügung?

Auch bei uns ist der Raum knapp. Der Kanton Solothurn verfügt über drei grosse Grundwasservorkommen, die zu den grössten im Mittelland gehören. Trotz Wasserreichtum wird es zunehmend schwierig, freie Räume für die Trinkwasserproduktion zu finden. Zwischen Olten und Aarau setzt der Kanton nun mit 20 Gemeinden einen regionalen Wasserversorgungsplan um. Dort werden über 60 000 Menschen aus zehn Grundwasserfassungen versorgt. Vier davon müssen stillgelegt werden. Wir konnten zwei Ersatzstandorte bestimmen. Auch in diesem Raum verunmöglichen bereits überbaute Flächen oder ein im Bau befindlicher Eisenbahntunnel weitere Optionen.

Kann dies Versorgungsengpässe verursachen?

Wir haben kein quantitatives Problem; nicht einmal im trockenen Sommer 2018. In vielen Fassungen werden jeweils nur 30 bis 40 % des Dargebots effektiv ausgeschöpft. Das Problem ist, zusätzliche freie Nutzungsräume zu finden und nachhaltig zu schützen. Die jetzige Infrastruktur hat genug Reserve; Anschlüsse für Nachbargemeinden sind an vielen Orten möglich. Wir empfehlen deshalb, eher neue Leitungen zu bauen als neue Fassungen. Aber wichtig ist, dass jede Gemeinde ein zweites Standbein in der Trinkwasserversorgung aufbauen kann.

Was heisst das?

Dazu werden zwei Anschlüsse benötigt, an jeweils hydrogeologisch möglichst voneinander getrennte Grundwasservorkommen. Eine sichere Versorgungsinfrastruktur besteht daher aus zwei unabhängigen Pumpwerken und Einspeiseorten. Diese Versicherungs- und Vorsorgelösung lässt sich oft mit einer Regionalisierung verbinden. Doch häufig bremsen politische Befindlichkeiten eine Vernetzung. Die Wasserversorgung ist historisch kleinräumig gewachsen. Eine übergeordnete Planung kann schnell Widerstände provozieren. Die Gründe, warum man sich vernetzen soll, verstehen nicht alle Gemeinden. Erwidert wird: Wir haben sauberes Wasser und bezahlen wenig dafür. Warum soll man daran etwas ändern?

Hat der Kanton keine hoheitlichen Befugnisse?

Konzessionserneuerungen sind wichtige Hebel, um den Ersatz von schlecht geschützte Fas­sun­gen voranzutreiben oder die Vernetzung zu ver­bessern. Der Kanton kann selbst zwar regionale Versorgungsplanungen durchführen. Diese sind aber nur Leitplanken für neue Grundwasserfassungen und Verbundsleitungen. Die Umsetzung ist Sache der Gemeinden oder anderer öffentlicher Versorger.

Und was kostet das? Die Antwort geben wir hier selbst. Tatsächlich wird die öffentliche Wasserversorgung verursachergerecht finanziert. Aufgrund von Schätzungen geht man davon aus, dass derzeit rund 100 Franken pro Einwohner für die Erneuerung und den Ausbau der Infrastruktur jährlich investiert werden; ebenso viel wie für Unterhalt und Betrieb. Man rechnet auch mit einer ­Verdoppelung des Mittelbedarfs: Mittelfristig ist über eine Milliarde Franken pro Jahr für die Netz­erweiterungen bereitzustellen. Oensingen rechnet selbst mit einem höheren Aufwand und hat die kommunalen Wasserzinsen bereits 2018 erhöht.


Anmerkung:
[01] Schutz der Grundwasserfassungen in der Schweiz – Stand des Vollzugs, Bafu 2018.

23. November 2018 Clementine Hegner-van Rooden
TEC21

Ein schmaler Pfad für mehr Natur

Das Naturschutzgebiet Hopfräben liegt am Ufer des Vierwaldstättersees, der Zugang zum Wasser ist teilweise verbaut. Die Renaturierung des Verlandungsbereichs wurde mit einer Schutzplanung für das dahinter liegende Flachmoor kombiniert.

Schwyz ist ein Voralpen- und Moorkanton. Wohl am bekanntesten ist Rothenthurm. Diese Hochmoorlandschaft hatte die Schweiz vor 31 Jahren zur Annahme des Moorschutzartikels verleitet. Seither sammelt die kantonale Umweltbehörde wichtige Erfahrungen, wie das strenge Gesetz für Eigen­tümer, Nutzer und Besucher verbindlich umgesetzt ­werden kann. Im Moor darf an sich nichts verändert werden, und auch die Zugänglichkeiten sind zu beschränken. Verbote funktionieren aber nicht immer. Gemäss Remo Bianchi vom Amt für Natur, Jagd und Fische­rei des Kantons Schwyz werden Lösungen häufig besser akzeptiert, wenn sie auch gegensätzliche Ansprüche verbinden. «Konkret heisst das: Zwischen Naturschutz und Naherholung gilt es einen Ausgleich zu finden.» Auch im Hopfräben direkt neben dem Siedlungsgebiet von Brunnen wird nun ein solcher Spagat geübt.

Grossräumlich ist der Standort eine der wenigen Flachuferzonen am Vierwaldstättersee. Im Kern enthält diese Landzunge ein Streuried als letzten Rest des Muota­deltas. Das Areal steht auf der Liste der Flachmoore von nationaler Bedeutung. Es ist bäuerliches Grundeigentum und wird standorttypisch genutzt und gepflegt. Die knapp sieben Fussballfelder grosse Fläche besticht durch ihre ökologische Qualität: Sauergräser, Schilfgürtel und Wasserpflanzen bilden die ökologisch wertvolle Vegetation; Fische, Wasservögel und Amphibien profitieren von der Verlandungszone, so gut es eben geht.

Denn wie der Augenschein vor Ort verrät, drängt der Mensch bis hart an den Rand. Das Feuchtbiotop wird von Gewerbe- und Erholungsinteressen in die Zange genommen. Im Norden und Süden steckt je ein Campingplatz den Schutzperimeter ab. Im Nordwesten bildet eine öffentliche Badeanstalt die künstliche Grenze. Und auch eine Kieswaschanlage gehört zur einengenden Nachbarschaft. Einen Puffer, der Raum für die natürliche Dynamik bieten würde, gibt es kaum. Doch auch für Wanderer, Biker und Hundefreunde ist das Muotadelta attraktiv. Örtliche Hängegleiterschulen peilen eine nahe gelegene Landewiese an. Fussgänger suchen derweil eine Abkürzung dem Vierwaldstättersee entlang. Misslungene Anflugmanöver und Trampelpfade hinterlassen mehr als nur temporäre Spuren im empfindlichen Feuchtgebiet.

Im Einzelnen und in der Summe sind die Störungen für die besondere Flora und Fauna uner­träglich und unkontrollierbar geworden. Um weitere Konflikte zu verhindern, hat die Kantonsbehörde vor zweieinhalb Jahren einen Schutzplan in Kraft gesetzt. Die einvernehmliche Lösung mit Grundeigentümern, Nachbarn und der Gemeinde wartet nun auf den Abschluss ihrer Umsetzung. Ausstehend ist die Bewilligung dreier Einzelprojekte, die gemeinsam der ökologi­schen Aufwertung von Uferzone und Flachmoor dienen.

Widerstand an den Grenzen

Die ersten Schritte zum Schutz des Feuchtstandorts unternahm die Gemeinde Ingenbohl vor fast einem halben Jahrhundert. Aber erst 2011 wurde die Dringlichkeit der Angelegenheit erhöht. Bis 2016 verhandelten die Behörden von Brunnen und des Kantons Schwyz mit Eigentümern und Nutzern über eine Neuordnung des räumlichen Geflechts. Eine ökologische Bewirtschaftung mit Düngerverbot wurde nie infrage gestellt. Die härteren Nüsse waren an den bisherigen Grenzen zu knacken: Weil die Schwyzer Behörde den Abstand zwischen Flachmoor und Erholungsnutzung vergrössern wollte, sprach man mit den Nachbarn über eine Umlegung der Campingplätze westlich und östlich des Biotops. Einer wehrte sich juristisch dagegen. Ohne Erfolg: Das Bundesgericht lehnte die Beschwerde ab.[1]

Anfang 2016 setzte der Kanton Schwyz den neuen Nutzungsplan Hopfräben in Kraft. Im Osten muss der Zeltplatz Flächen für eine Pufferzone freigeben. Im Gegenzug wird das davor liegende Seeufer zu einem attraktiven Badeplatz umgestaltet. Ein Sichtschutz und ein kleines Fliessgewässer sollen den öffentlichen Bereich vom Flachmoorperimeter abtrennen. Denn ennet dieser neuen Grenze erhält die Natur nun Vorrang. ­Dafür muss das harte Seeufer aber aufgeweicht werden.

Aktuell schützt ein künstlicher Damm aus Abbruchmaterial das natürliche Hinterland; dieser wird gemäss Renaturierungsprojekt durch einen Überflutungsbereich mit Graben und Teich ersetzt. Danach soll ein künstliches Unterwasserriff 25 m seeseitig der heutigen Uferkante den Wellenbelastungen standhalten und trotzdem dynamische Umlagerungsprozesse ermöglichen. Seine Oberkante liegt 20 cm unter dem Mittelwasserspiegel, sie soll die anlaufenden Wellen brechen und zugleich in der Flachwasserzone verhindern, dass das Moorufer erodiert. Je nach Wasserstand, Wellen- und Windsituation wirkt das Riff unterschiedlich. Die Ingenieure dimensionieren es mithilfe von Wellenmodellierungen und binden es im Untergrund ein, damit es selbst nicht erodiert oder von den Wellen zerstört wird.

Dank dem Dammrückbau wird die Verbindung zwischen Moor und See wiederhergestellt, und beide Ökosysteme werden vernetzt: Wasservögel, Fische und Amphibien finden im verzahnten Ufer zusätzliche Brut- und Laichplätze. Auf dem Wasser ist zudem ein 200 m breiter Streifen mit Bojen markiert; das Seeufer vor dem Hopfräben ist für Schwimmer und für das Befahren oder Ankern mit Booten neuerdings tabu.

Die Natur am Ufer gewinnt

Die Abflachung des Ufers wird auch in den Bereichen fortgesetzt, die als kommunale Badezone zugänglich sein werden. Hierfür werden massive Steinblöcke entfernt, um flache Strände und Kiesbuchten ausbilden zu können. Damit die uferparallele Strömung das Mate­rial des neugestalteten Abschnitts nicht verfrachtet und dieses den Einlauf des Hechtgrabens verstopft, werden Umlenkbuhnen rechtwinklig zum Ufer bis in eine Was­ser­tiefe von 2.5 m gezogen.

Während die Natur am Ufer gewinnt, steht am Nordrand der Flachmoorparzelle die Naherholung im Vordergrund. Die kantonale Schutzplanung sieht hier einen neuen Wanderweg vor, der mehrheitlich durch die Pufferzone und teilweise über den Rand des Streurieds führt. Den Hopfräbenweg hiess das Bundesgericht in Lausanne gut. In der Urteilsbegründung wurde die Strategie anerkannt, die sich die Schwyzer Planungsbehörde zur Entflechtung der Nutzungen ausgedacht hatte. Der schmale Moorpfad soll weitere Störungen vermeiden und eine «schutzverträgliche Besucherlenkung» ermöglichen. Vorgesehen ist ein Weg auf Holzprügeln und mit Kiesab­deckung, der höchstens 1.4 m breit ist. Als Sichtschutz für die Vögel auf der Riedfläche können halboffene Palisaden oder Sträucher dienen.

Aktive Beteiligung, hängige Beschwerde

Der Hopfräben hat eine lange Geschichte. Das bezieht sich auf die natürliche Entstehung und inzwischen auch auf die Anerkennung der ökologischen Werte: Bereits im frühen Mittelalter wird die Verlandungszone urkundlich erwähnt. Ab dem 16. Jahrhundert wird sie sogar zum Fischereischongebiet erklärt. Und Ende des letzten Jahrhunderts setzt sich die Besorgnis durch, dass der Rest der einstigen Moorfläche besseren Schutz verdiene.

Inzwischen beteiligen sich weitere Kreise aktiv an der Aufwertung des naturnahen Standorts: Das Elektrizitätswerk des Bezirks Schwyz will hier verfügbaren Raum nutzen für einen ökologischen Ausgleich zur Wasserkraftgewinnung an der benachbarten ­Muota. Eine zusätzliche Gewässerrinne in der Moorpufferzone soll dem seltenen Bachneunauge neue Laichplätze bieten.

Und am Ufer könnte eine Bucht dem Hecht als Rückzugsort dienen. Beide Eingriffe würden gleichzeitig eine Trennlinie zwischen öffentlichem Seeufer und Biotop bilden. Das Konglomerat an baulichen Massnahmen wird dazu führen, dass der Flora und Fauna sowie dem Menschen eigene Nutzungsräume zugewiesen werden.

Insofern scheint ein glückliches Ende vieler ­Bemühungen in Sicht; gut ist es, trotz ausdiskutierten Projekten und zur Genehmigung eingereichten Plänen, aber noch nicht. Abermals steht die Bereinigung eines juristischen Streits aus. Die Schwyzer Umweltorganisationen wehren sich gegen den Abbruch eines alten Badehauses am Aufwertungsufer; auch der Kanton rügt die Gemeinde deswegen. Ein gültiger Entscheid dazu steht aber noch aus, weswegen auch die Baubewilligung sistiert ist. Klarheit herrscht hingegen, was am Ufer vor dem Flachmoor geschehen darf: Um die Fauna vor äusseren, physischen und visuellen Störungen besser abzuschirmen, muss nun auch hier ein Sichtschutz erstellt werden, dessen Höhe sich an Standards in anderen Naturschutzgebieten orientiert. Diesen Vorschlag der Naturschutzorganisationen hat die kommunale Bewilligungsbehörde als Zusatzauflage akzeptiert. Somit stünde der baldigen Aufwertung des Flachmoors Hopfräben inklusive Ufer nichts mehr im Weg.


Anmerkung:
[01] Bundesgerichtsentscheid (BGer) 1C_222/2015 vom 26. Januar 2016.

23. November 2018 Clementine Hegner-van Rooden
TEC21

«Die Natur vor sich selber schützen»

Am Seeufer von Brunnen in der Gemeinde Ingenbohl wird geplant und gebaut. Die Projektbeteiligten tauschen sich aus über Ansprüche, die sie zu erfüllen, und über Interessen, die sie zu vertreten haben. Wo waren und sind die Hürden, was wünscht man sich am Seeufer, und was ist unmöglich zu realisieren?

TEC21: Sie haben am Seeufer des siedlungsdichten Raums von Brunnen gebaut (vgl. «Die Promenade am See»), und Sie planen bauliche Aufwertungsmassnahmen rund um ein benachbartes Naturschutz­gebiet, das Flachmoor Hopfräben (vgl. «Ein schmaler Pfad für mehr Natur»). Zwei sehr gegensätzliche Gebiete am Seeufer mit unterschiedlichen Anforderungen an die Eingriffskonzepte. Ohne ins Detail zu gehen, ist ihnen aber ein langjähriger Planungs­prozess gemeinsam.
Albert Auf der Maur: Das ist in der Tat so. Verbauungen am Seeufer dauern lang – in unserem Fall dauert die Planung bereits Jahrzehnte. Die erste Etappe in Brunnen ist nun aber umgesetzt. Beim Hopfräben sind wir noch in der Planung.
Beat Schuler: Kernelement ist der Zugang zum Wasser. Insgesamt sollen beide Orte an Attraktivität gewinnen und trotzdem den Sicherheits- und ökologischen Anforderungen entsprechen.
Richard Staubli: Wir sind oft bei Seeufer­planungen involviert und bemerken, dass nicht unbedingt der schlechte Zustand beispielsweise von ­Hafenmauern der Auslöser für eine Erneuerung ist, sondern im Siedlungsgebiet vielmehr der Nutzungs­druck durch die Bevölkerung. Um 1900 baute man an vielen städtischen Uferbereichen Prome­naden rund 2 m über dem Seespiegel. Man flanier­te, hatte aber keinen eigentlichen Bezug zum Wasser. Heute wird gerade dieser Punkt zum Thema. Die Be­völkerung möchte näher ans Wasser. Nicht nur an Seen, auch an Flüssen. Die Uferanlagen sind an schönen Tagen teilweise so rege genutzt, dass man sie erweitern und attraktiver gestalten möchte. Bei einem Eingriff ist man mit den bestehenden, 50 bis 100 Jahre alten Strukturen konfrontiert und ent­sprechend mit den Werten, die es zu erhalten gilt. Andererseits ist ein Grossteil der See- und Fluss­ufer in der Schweiz künstlich verbaut, und man ist bestrebt, solche Uferzonen wo möglich zu renaturieren.

TEC21: Steht die Zugänglichkeit zum Wasser denn nicht im Widerspruch zu Sicherheitsfragen?
Albert Auf der Maur: Das war in der Tat der grosse Dis­kussionspunkt für die lokale Bevölkerung. Die Ufer­promenade ist exponiert. Ein Föhnsturm am Quai bedeutet, alle Kursschiffe ­fahren in den Föhn­hafen, und die Wellen schwappen bis über die Kantons­strasse. Baumstämme und Holz werden in Massen an­geschwemmt. Die erste Erneuerungs­etappe der Ufer­zone im Siedlungsbereich von Brunnen aber schafft Zugänglichkeit und ist sicher zugleich. Die Sicher­heit von früher ist auch heute noch gewährleistet.
Richard Staubli: Es gibt verschiedene Arten von Sicherheit. Für den Ingenieur ist gewiss die Tragsicherheit der Bauwerke wichtig. Im Wasser sind Bauwerke über längere Zeiträume wenig belastet, doch plötzlich treten bei Sturm Spitzenbelastungen auf. Das Bauwerk sollte auf die­se Extreme ausgelegt sein und ­keinen Schaden nehmen. Welche Wellen kom­men mit welcher Jährlichkeit aus welcher Richtung? Wenn wir das Bauwerk entsprechend dimensionieren, müssen wir unter Umständen relativ harte Verbau­ungen einplanen. Das steht aber mit ökologischen As­pekten im Konflikt – insbesondere in einem ökologisch wertvollen Raum wie den Uferzonen. Zudem gilt es die Sicherheit der Bevölkerung zu beachten. Wie na­h darf der Mensch – insbesondere das Kind – ans Wasser? Braucht es ein Geländer? Die politische Behörde muss die verschiedenen Ansprüche abwägen und entscheiden, welche Risiken sie übernehmen kann.
Stephanie Matthias: Speziell die Frage, ob es ein Geländer benötigt, ist individuell zu beurteilen. Bei Rampenabgängen gewährleistet dieses die Absturzsicherheit. An der Uferkante von Brunnen ist die ­­Absturzhöhe allerdings so gering, dass man sich bewusst gegen ein Geländer entschieden hat.

TEC21: Wie werden die ökologischen Aspekte berücksichtigt?
Kuno von Wattenwyl: Die Fischereigesetzgebung ist besorgt um Fisch, Krebs und Fischnährtiere – also alles, was Fische fressen – und um deren Lebens­raum. Bei Verbauungen und auch bei der ­Neugestaltung von Verbauungen fordert sie eine ökologische Verbesserung dieses Lebensraums. Dabei weiss man: Kiesstrände oder Flachuferzonen, even­tuell mit Schilf bepflanzt, sind ökologisch viel wert­voller als ein harter Abschluss durch eine Mauer. Meine erste As­­so­ziation zum gestalterischen Plan, das Wasser am Ufer von Brunnen erlebbar zu machen, war daher ein Kies­strand. Man kann direkt ans Wasser gehen, sieht vielleicht einen Fisch, kann Steine ins Wasser werfen, zugleich wird aber auch der Fisch­lebensraum aufgewertet. Doch diese vielleicht naive Vorstellung stiess auf ­Widerstand. Daher war zu ­verhandeln, welche Aufwertungsmassnahmen den ökologischen Zustand tatsächlich verbessern können.

TEC21: Welche Aufwertungsmassnahmen sind das?
Kuno von Wattenwyl: Grundsätzlich können das unterschiedliche Massnahmen sein. Sie reichen vom totalen Rückbau der Ufermauer über die Schaffung neuer Laichplätze und einer neuen Uferbestockung bis zum Anlegen einzelner Fischunterstände. In Brunnen hat man sich für eine Treppe entschieden, die ins Wasser reicht und hohl ist. Der Hohlraum – ein ­Fischunterstand – ist für aquatische Lebewesen erreichbar. Das ist aber eine Kompromisslösung, weil damit der vorhandene aquatische Lebensraum nur minimal aufgewertet wird.
Richard Staubli: Die Schüttung eines grossflächigen Flachstrands wäre aufgrund des steil abfallenden Seegrunds nicht möglich gewesen, ohne die Stabilität des Geländes zu beeinträchtigen. Uferzonen in städtischen Gebieten bergen diesen typischen Konflikt zwischen verschiedensten Interessen. Einerseits haben wir den Menschen, der das Gebiet nutzen möchte und mit seinen Verbauungen und Nutzungen die Ökologie stört. Andererseits sollen wir die Öko­logie verbessern.
Stephanie Matthias: Auch an die Schifffahrt mussten wir denken. So wollte man auf keinen Fall badende Gäste in der Nähe des Anlegestegs. Ein Badeverbot ist aber schwierig umzusetzen, wenn der Strand zum Baden einlädt. Eine Badestelle ist nun etwas ausserhalb der Quaizone, im Umfeld des Naturschutzgebiets Hopf­räben, vorgesehen.
Kuno von Wattenwyl: Ein Knackpunkt ist auch, dass Flachuferverbauungen mehr Platz an Land ­benötigen. Und dieser war beim vorliegenden Projekt schlicht nicht vorhanden.

TEC21: Auf welche Variante konnte man sich einigen?
Kuno von Wattenwyl: Für die harte Verbauung im Siedlungsraum bediente man sich eines Kunst­griffs: Dem Projekt wurde eine nahe gelegene­ Aufwertungsmassnahme am See zugeschlagen. In der Bewilligungspraxis ist es nicht verboten, Aus­­gleichsmassnahmen ausserhalb des eigentlichen Projektperi­meters umzusetzen. Allerdings ist eine naturräumli­che Nähe zum Projekt sinnstiftender als eine weit entfernte Ausgleichsmassnahme.

TEC21: Oft wirken ökologische Massnahmen aufgesetzt ­beziehungsweise kommen zu einem späten Zeitpunkt hinzu. Sind sie denn nicht gestalterisch in die Architekturplanung eingebunden?
Richard Staubli: Bei Projekten dieser Grössenordnung werden Wettbewerbe für Architektur oder Landschaftsarchitektur durchgeführt. Im Siedlungsgebiet sind es städtebauliche und architektonische Überlegungen, die zur Gestaltung führen; das Projekt basiert weniger oder kaum auf ökologischen Aspekten. Erst nachträglich beginnt man örtliche Massnahmen wie Fischnischen oder Blocksteine anzuordnen. Der gestalterische Spielraum für solche späteren Einzelmassnahmen im Gesamtkonzept ist klein. Hier müss­te man ansetzen und die ökologischen Gesichtspunkte bereits frühzeitig in den Wettbewerb einbringen.
Kuno von Wattenwyl: Entwickelt man ein technisches Bauwerk und baut am Schluss die Ökologie ein, die ebenso notwendig ist, dann sieht das Projekt aus ökologischer Sicht ganz anders aus, als wenn man es als Ökologieprojekt beginnt und nachher die Hochwassersicherheit einbaut. Es war hier kein wirkliches Ökologie-, Renaturierungs- oder – was es eigentlich hätte sein sollen – Revitalisierungsprojekt.
Sandro Betschart: Aus Sicht des Gewässerschutzes war der erweiterte Perimeter durchaus ­zweckerfüllend. Denn es ist schwierig, den Raum in städtischen Gebieten so aufzuwerten, dass er der Natur stark dient. Es liegt an uns Verantwortlichen, sich auf einen Kompromiss einzulassen und zu ­schauen, wo es sich lohnt zu kämpfen. Die Seeufer­verbauungen im Zentrum von Brunnen und im ­naturnahen Gebiet Hopfräben bilden daher sich gut ergänzende Gegensätze.
Albert Auf der Maur: Diese Kombination wurde auch möglich, weil Gemeinde und Kanton eng zusammengearbeitet haben.
Stephanie Matthias: Allerdings war es Zufall, dass die jahrzehntelangen und aufwendigen Planungspro­zesse der beiden an und für sich getrennten Projekte zeitlich schliesslich zusammengefallen sind.

TEC21: Die Uferverbauung beim Flachmoor Hopfräben ist erst noch in Planung.
Stephanie Matthias: Das Projekt nahm seinen Anfang vor 40 Jahren. Wie die Uferzone in Brunnen ist auch die Landzunge vor dem Hopfräben künstlich aufgeschüttet worden. Dieses Gebiet war immer ein beliebter Rückzugsort für die Bevölkerung. Nun ist ­ge­plant, dass knapp 100 m des öffentlich zugänglichen Damms zurückgebaut werden, um das geschützte Flachmoor mit dem offenen Gewässer aquatisch wieder zu vernetzen. Für die Bevölkerung sollen Badebuchten erstellt werden, und zudem wird eine grössere Liegewiese geschaffen. Mit einer konsequenten Besucherlenkung trennt man Naturschutzgebiet und öffentliche Nutzung.
Albert Auf der Maur: Aber Nachbarn und Schutz­organisationen werden Einsprachen machen.
Stephanie Matthias: Wir führen bereits Einigungs­gespräche. Die Interessen des Menschen und der Ökologie widersprechen sich: Camping, Erschliessung der Ufer, Kieswerk, Kiesgewinnung bei der Muotamün­dung, Flachmoor und so weiter. Der bereits in Kraft gesetzte Teilzonenplan hilft, die Interessen gegeneinander abzuwägen. Zusammen mit dem Nutzungsplan und der Schutzverordnung ist es dieser Abwägung und einer guten Kommunikation zu verdanken, dass wir das Projekt überhaupt umsetzen können.

TEC21: Kann man trotz der künstlichen Verbauung an ­beiden Orten von guten ökologischen Beispielen ­sprechen?
Sandro Betschart: Durchaus. Wir haben die Situa­tion sicher nicht verschlechtert. Der Dialog fand statt, und die unterschiedlichen Disziplinen haben sich ausgetauscht. Früh miteinander reden heisst früh selber denken und eruieren, wie man die einzelnen Fach­aspekte in das Projekt konstruktiv einbinden kann.
Richard Staubli: Auch in der naturnahen Zone müssen wir verhindern, dass das Ufer durch Wellen weg­erodiert wird. Aus Sicht der Wellenbelastung finden wir beim Hopfräben eine ähnliche Ausgangslage vor wie am Quai von Brunnen. Es handelt sich um eine exponierte Lage mit einer starken Wellenbelastung bei Sturm. Aber während wir bei der Seeufer­gestaltung in Brunnen eine harte Kante dagegen ­setzen, nutzen wir im Hopfräben weichere und naturnähere Mittel. Mit einem vorgelagerten Riff werden ein Teil der Wellenenergie vernichtet und die Ufer­zone geschützt.
Kuno von Wattenwyl: Es ist eine schizophrene ­Situation. Man schützt die Natur vor sich selber, weil man sie vorher so eingeengt hat, dass sie sich nicht mehr ausbreiten kann. Wir haben der Natur die Dynamik weggenommen.

TEC21: Wie stehen die Erfolgsaussichten?
Kuno von Wattenwyl: Ob es ein Erfolg wird, ist gar nicht so einfach zu sagen. Beim Hopfräben besteht die Möglichkeit einer Erfolgskontrolle. Bei der Verbau­ung im Zentrum von Brunnen gibt es weder Vor- noch Nachaufnahmen – das war damals noch nicht not­wen­dig. Es wäre mir für weitere Projekte ein wichtiges Anliegen, dass das Ziel der ökologischen Aufwertung definiert wird. Dazu gehören entsprechende Massnahmen und messbare Indikatoren. Bei Aufwertungen ist es wichtig, kleine Strukturen für die Flora und Fauna zu schaffen.
Richard Staubli: Wir Ingenieure verfassen für unsere Projekte jeweils eine Nutzungsvereinbarung. Darin ist zum Beispiel festgehalten, wie weit das Seeufer erodieren darf. Auch in der Ökologie sind solche klaren Zielvereinbarungen wichtig; sie sollten dann mit einem Monitoring überprüft werden.

9. November 2018 TEC21

Energie- und Soziallabor Erlenmatt Ost

Im östlichen Teil des ehemaligen Güterbahnhofareals Erlenmatt in Basel Nord realisiert die Stiftung Habitat eine mehr­teilige Überbauung mit unterschiedlichen Wohnformen sowie Gewerbe- und Dienstleistungsflächen. Auf drei Bau­feldern mit einer Gesamtfläche von knapp 3 ha werden 13 Wohnhäuser für rund 630 Menschen erstellt. Ein Drittel der Neubauten ist inzwischen fertiggestellt und bewohnt.

Ausgehend von einem städtebaulichen Konzept für die keilförmige Fläche werden die Hausprojekte einzeln von jeweils ausgewählten Baugruppen, Genossenschaften und anderen selbst organisierten Körperschaften respektive verschiedenen Architekturbüros realisiert. Die Energieversorgung ist gemeinsam organisiert: Strom und Wärme werden aus lokalen Energiequellen gewonnen: die Sonne für die elektrische Energie und das Grundwasser als niederwertiger Wärmeträger.

Die Stiftung Habitat hat sich bei der sozialen Durchmischung und für die Nachhaltigkeit ebenfalls um einen verbindenden Rahmen bemüht; eine Zertifizierung mit einem Gebäude- oder Quartierlabel ist nicht im Gespräch. Die selbst formulierten Ziele werden aber bis 2019 im Rahmen eines Pilot- und Demonstrationsprojekts periodisch überprüft.

9. November 2018 TEC21

Der nächste Nachhaltigkeitshype?

Strom an Gebäuden zu produzieren und möglichst viel davon vor Ort selbst zu konsumieren ist ein häufig geäusserter Bauherrenwunsch. Die Planung solcher Projekte bietet Gelegenheiten zu flexiblen Lösungsansätzen. Doch das Eigenverbrauchsmodell birgt auch Risiken.

Seit Anfang Jahr hat der Bund einen Systemwechsel zur Förderung von Solarstrom vorgenommen: Die Energie soll lokal erzeugt und zu einem möglichst hohen Anteil auch vor Ort konsumiert werden. Der Eigenverbrauch ist als nächster Schritt zum dezentralen Energiesystem gedacht und funktioniert am besten im Siedlungsraum. Mit öffentlichen Subventionen darf nurmehr rechnen, wer den Ertrag seiner Solaranlagen selbst konsumiert oder ihn den unmittelbaren Nachbarn zum Bezug zur Verfügung stellen kann.

Was im Heer der Einfamilienhäuser seinen Anfang nahm, will der Staat verstärkt auf Wohnareale oder ganze Stadtquartiere übertragen. Die Bewohnerschaft und auch Gewerbemieter von Neubausiedlungen organisieren sich dafür zu Eigenverbrauchsgemeinschaften, aus eigenem Antrieb oder auf Veranlassung der Eigentümerschaft. Als Anreiz winkt nicht nur Fördergeld vom Staat, sondern auch ein lukratives Nebengeschäft: Der Zusammenschluss zum Eigenverbrauch (ZEV) bezahlt weniger für den eigenen Solarstrom als für den Bezug aus dem öffentlichen Netz.

Im Umkehrschluss ist dies die Grundvoraussetzung für den Erfolg der ZEV-Offensive: Nur wer auf den eigenen Dächern oder auch Fassaden Strom billiger produzieren kann als die Produkte von Stadt- und Regionalwerken, kommt mit den Mietenden ins Geschäft. Gewissermassen wird so das Geschäftsmodell «Eigenverbrauch» zu einer lokalen Konkurrenz für kommunale Energieversorgungsunternehmen.

Testfeld für dezentrales Energiesystem

Eine wichtige Frage ist, ob die Spiesse im neuen Markt um den Hausanschluss gleich lang sind. Denn ein Eigenverbrauchsanbieter muss kein Entgelt für die Netznutzung verlangen; im Vergleich dazu besteht der offizielle Stromtarif eines öffentlichen Versorgungsunternehmens aus gut einem Drittel Energiekosten und einem fast doppelt so hohen Netzanteil. Derzeit schätzen Branchenkenner, dass die Preislimite für den eigenen Solarstrom bei 15 Rp./kWh liegt. In der Schweiz liefern die lokalen Energiewerke den Haushaltsstrom aktuell für 18 bis 25 Rp./kWh an die Netzbezüger. Die Initianten junger ZEV-Projekte rechnen mit Amortisationszeiten von rund 20 Jahren.[1] Viel hängt davon ab, wie hoch der Eigenverbrauch effektiv ausfallen wird.

Auch hierzu gibt es erst Prognosen: Eine Mindestquote von 40 % dürfte in vielen Regionen ausreichen. Der Verband unabhängiger Energieerzeuger warnt aber davor, dass selbst ein 60%iger Eigenverbrauch nicht überall einen wirtschaftlichen ZEV-Betrieb garantiert. Ebenso wirken sich die Entwicklung der Strompreise und Tarifsysteme sowie die bevorstehende Marktliberalisierung auf die Wirtschaftlichkeit aus. Die staatliche Förderung des Eigenverbrauchsmodells soll diese Unsicherheiten jedoch überwinden helfen. Deshalb ist mit einer steigenden Zahl von ZEV-Gemeinschaften zu rechnen, vor allem im Zusammenhang mit grösseren Neubauvorhaben. Einige sind nun ein Testfeld für dezentrale Energiesysteme; auf Ebene Quartier, Gemeinde oder Stadt hat sich das Modell aber noch zu beweisen.
Höhere Gebäudevielfalt, flexible Bebauung

Wo immer ein derart lokal vernetzter Beitrag an die CO2-arme Stromversorgung gewünscht ist, werden sich auch die Bebauungs- und Planungsinhalte verändern. Zuallererst benötigt man Flächen für Photovoltaikmodule, nun aber auch eine interne Verteilnetz- und Speicherinfrastruktur, bestehend aus kleinen oder grossen Batterien. Weitere Zusatzkomponenten sind digitale Stromzähler, eventuell eine Trafostation und allfällige Ladestationen für E-Fahrzeuge. Demzufolge werden Elektro- und Energieingenieure, die sich mit solchen Schnittstellen auskennen, für jedes Planungsteam unverzichtbar.

Doch das Eigenverbrauchsthema kann auch die architektonische Entwurfsstrategie prägen: Energetisch vernetzte Areale vergrössern den Spielraum für die Gebäudevielfalt und erhöhen die Flexibilität. Anstatt jedes einzelne Haus für die Energieproduktion zu optimieren respektive zur Energiemaschine zu trimmen, können die jeweiligen Möglichkeiten nutzungs- und standortbezogen sowie gestalterisch abgewogen werden. Auch städtebaulich darf das Gemeinschaftsthema inspirierend wirken. Ob das Geschäftsmodell «Eigenverbrauchsgemeinschaft» eventuell sogar den sozialen Zusammenhalt in einem vernetzten Energiequartier oder -dorf stärken wird?

Den ökologischen und unternehmerischen Chancen stehen allerdings Risiken gegenüber. Der Eigenverbrauchsmarkt lockt neue Anbieter und Dienstleister an, die sich noch zu bewähren haben.

Ebenso müssen die verfügbaren technischen Systeme erst den Dauerhaftigkeitsbeweis erbringen. Einheitliche Standards oder austauschbare Schnittstellen sind daher zwingend zu beachten. Und bei der Speichertechnologie interessiert ebenfalls, was die Anfangseuphorie hervorbringen kann.

Damit Eigenverbrauchsareale nachhaltig funktionieren, dürfen sie den Lebenszyklus neuer Komponenten nicht ignorieren. Marktübliche Batterien und Akkus leben, abhängig von der Ladehäufigkeit, bisher 10 bis 15 Jahre. Was danach mit den schädlichen Wertstoffen geschieht, ist ungeklärt. Ein Recyclingkonzept für Lithium wäre aber zwingend erforderlich. Denn der wachsende Abbau der endlichen Ressource belastet die Umwelt in Ländern wie Chile heute schon massiv. Insofern gilt: Das Eigenverbrauchskonzept ist ein Einstieg in die klimafreundliche, elektrisch betriebene Smart City. Zu dieser Intelligenz gehört aber auch, die nachhaltigen Prozesse zu definieren, bevor dem Hype ein Durchbruch gelingt.


Anmerkung:
[01] Eigenverbrauch von Solarstrom in der Wirtschaft, Hintergrundbericht als Grundlage zur Erarbeitung eines Leitfadens, Bundesamt für Energie 2017.

9. November 2018 Daniela Hochradl
TEC21

Wo die E-City gegründet wird

Wer bislang einfach Häuser bauen liess, kann sich nun auch um die Infrastruktur für die dezentrale Stromversorgung kümmern. Verdrängen Immobilieninvestoren die Energieversorger? Oder tauchen neue Intermediäre auf?

Im Basler Neubauquartier Erlenmatt Ost formiert sich die bislang grösste Solarstrom-Eigenverbrauchsgemeinschaft der Schweiz. Im Endausbau, in drei bis vier Jahren, sollen rund 630 Bewohner einen grossen Teil ihres Energiebedarfs direkt von den eigenen Dächern beziehen. Auf insgesamt zwölf Mehrfamilienhäusern, die verschiedenen Stiftungen, Genossen­schaften und Hausgemeinschaften gehören (vgl. «Energie- und Soziallabor Erlenmatt Ost»), erzeugen Photovoltaikanlagen den dafür erforderlichen Solarstrom. Letzten Sommer begann der Bezug des östlichen Erlenmatt-Areals; inzwischen ist ein Drittel des Gesamtvolumens realisiert.

Im Gleichschritt wird die interne Energieversorgung auf maximale Leistung (750 kWp) und auf künftige Jahreserträge von etwa 750 000 kWh Strom ausgebaut. Über ein Jahr bilanziert soll die Produk­tionsmenge etwa 40 % des Bedarfs vor Ort abdecken; möglichst viel des eigenen Ertrags ist selbst zu konsumieren, ohne Lieferumweg über das öffentliche Stromnetz (vgl. «ZEV: Eigenverbrauch oder Selbstversorgung?», Kasten unten).

Bisher lassen sich Produk­tion und Konsum von Solarstrom in Erlenmatt Ost zeitlich gut aufeinander abstimmen: Aktuell werden nur knapp 20 % exportiert; mit dem weiteren Ausbau der Überbauung und der Solaranlagen wird sich dieser Exportanteil aber wohl verdoppeln. Das ist die Krux für viele Eigenverbrauchsgemeinschaften: Allein mit der Erhöhung des selbst erzeugten Stromertrags schwindet der Anteil des Selbstkonsums, ausser man ergänzt das lokale ­Versorgungssystem mit einem Speicher, entweder in einzelnen Gebäuden oder durch ein Andocken an die Elektro­mobilität (vgl. «Geteilte E-Mobilität»).

Bei PV-Anlagen in Einfamilienhäusern, die tagsüber wenig Strom verbrauchen, lassen sich in der Regel Eigenverbrauchsquoten unter 30 % erreichen. Wird zusätzlich eine Wärmepumpe als Heizsystem betrieben, lässt sich dieser Anteil auf etwa 50 % steigern. Zur weitergehenden Optimierung sind Batteriespeicher erforderlich, die den Tagesertrag für den Konsum am Abend und in der Nacht verfügbar machen.

Netztechnisch und wirtschaftlich sinnvoller wäre aber eine zeitgleiche Stromlieferung an Nachbarn, die allenfalls derselben ZEV-Gemeinschaft angeschlossen sind. In gemischt genutzten Arealen lässt sich die Eigenverbrauchsquote durchaus auf 100 % erhöhen, wenn Wohnsiedlungen mit Gewerbebetrieben energetisch zusammengeschlossen sind. Deren jeweilige Verbrauchsprofile sollten sich dabei zeitlich ergänzen. Ideal sind Abnehmer in unmittelbarer Nachbarschaft, die die selbst erzeugte Energie jeweils in der Überschussperiode verbrauchen können.

Erproben von Komponenten und Systemen

Sowohl die angewandte Energie- und Bauforschung als auch Energieversorger haben in Pilot- und Demonstrationsprojekten begonnen, die dafür benötigten Komponenten, Technologien und Systeme auf der Ebene einzelner Gebäude oder Quartiere zu erproben. Absehbar ist auch, dass neue Marktteilnehmer auftreten und sich neue Wertschöpfungsketten um solche Energiehubs bilden werden. Sie fordern das bisherige Businessmodell der zentral organisierten Energieversorger heraus.

Erkennbar wird dies auch an der Organisation des Eigenverbrauchsmodells in Erlenmatt Ost: Anstelle des städtischen Energieversorgers beliefert eine externe Energiegenossenschaft die Erlenmatt-Bewohner mit Strom. Sie realisiert und betreibt die Solaranlage auf eigenes unternehmerisches Risiko; zudem ist sie auch der lokale Wärmeproduzent, der das gesamte Ostareal mit Energie für die Gebäudeheizung und das Warmwasser versorgt. Daher fliesst der Grossteil des vor Ort erzeugten Solarstroms in deren Wärmezentrale, damit dort die Wärmepumpen angetrieben werden. Die Stromüberschüsse werden an die Bewohner und die Gewerbemieter der Basler Arealüberbauung zu einem günstigen Preis verkauft.

Das Eigenverbrauchsmodell beruht auf einem Gegengeschäft: Weil die Arealgemeinschaft für den Eigenstrom nicht mehr oder sogar weniger bezahlt als für importierten Netzstrom, steht dem Anbieter eine Anschlusspflicht zu. In Erlenmatt Ost lauten die Zahlen: Die Stromlieferantin, die ADEV-Energiegenossenschaft, verrechnete der Eigenverbrauchsgemeinschaft anfangs rund 18 Rp./kWh, was dem Haushaltstarif in der Stadt Basel entspricht. Aber bereits für das laufende Jahr hat der Intermediär den Tarif gesenkt. Um wie viel, kann er erst nach Ablauf des Produktionsjahrs 2018 sagen. Doch die aktuelle Benchmark für dezentral erzeugten Solarstrom liegt schweizweit bei rund 15 Rp./kWh (vgl. «Der nächste Nachhaltigkeitshype?»). Die Bewohner von Erlenmatt Ost konsumieren daher nicht nur klimafreundlichere, sondern auch preisgünstigere Energie als der Durchschnitt der Schweizer Bevölkerung.

Eigenverbrauch bei 100 %

Im Zürcher Stadtkreis 6, beim Schaffhauserplatz, ist eine vergleichbare, etwas kleinere Solarzelle aktiv. Das vom Architekturbüro Viridén + Partner sanierte Mehrfamilienhaus (vgl. «Es blinkt in alle vier Himmelsrichtungen», TEC21 48/2017) ist ebenfalls eine Eigenver­brauchsgemeinschaft. Der eigene Strom wird auf dem Dach und an den vier Gebäudefassaden produziert. Der Anlagenbetreiber ist hier gleichzeitig der Immobilien­investor.

Das städtische Elektrizitätswerk begleitet dieses Demonstrationsprojekt mit Fokus auf Technik und ­Netzstabilität. Zu untersuchen ist, wie sich Ertrags- und Einspeiseschwankungen sowie Leistungsspitzen auf die Spannung im Stromnetz des Quartiers auswirken werden. Die Hypothese lautet: Lassen sich die lokalen Einspeise-Peaks im dezentralen Energiesystem optimal steuern, kann auf einen Ausbau der Anschlusskapazitäten verzichtet werden. Die gebäudeintegrierte PV-Anlage im Zürcher Wohnhaus ist für solche Analysen besonders interessant: Die Leistungsgrösse ist im ­städtischen Umfeld bisher einmalig.

Das Elektrizitätswerk der Stadt Zürich (ewz) will weitere Erfahrungen sammeln; für die Betriebsperiode 2017/2018 liegt bereits eine Zwischenbilanz vor: Seit Anfang Jahr wird ein 150-kWh-Akkumulator eingesetzt; das Vorjahr liefert die Vergleichswerte ohne Batterie. Dank dem Speicher wurde im Sommer eine Eigenverbrauchsquote von ­fast 100 % erreicht; im Herbst sank sie auf etwa 60 %. Mit dem Speicher lässt sich der Stromkonsum auf die Nachtstunden für die Warmwasseraufbereitung ­verschieben. Als Jahresdurchschnitt prognostiziert das ewz etwa 70 %.

Eine weitere Erkenntnis ist: Der Produktionsverlauf am Zürcher Sonnenkraftwerk unterscheidet sich von Gebäuden, die nur auf dem Dach mit Solaranlagen versehen sind. Im Vergleich zur ausschliesslichen ­Produktion auf dem Dach verschiebt sich die Strom­produktion dank der PV-Fassade um 5 bis 7 % ins Winterhalbjahr. Dies kann den Eigenverbrauch erhöhen. Aber ebenso wäre dann ein Einspeisen der Energie in lokale Verteilnetze interessant. In der kalten Saison wird generell Strom in die Schweiz importiert.

Auch anderenorts führen regionale und kommu­nale Stromversorger Tests mit Speichersystemen (vgl. TEC21 14–15/2017 «Elektrische Energie speichern») in unterschiedlichen Grössenordnungen durch. Batterien können einem einzelnen Gebäude zugeordnet werden oder einer kleineren Einheit im öffentlichen Verteilnetz, einer ZEV-Gemeinschaft oder einem Quartier. Eine andere Skala hat das Elektrizitätswerk des Kantons Zürich gewählt. Ein 18-MW-Speicher, die grösste Batterie der Schweiz, stabilisiert die Netzspannung und könnte zwei sparsame Haushalte ein Jahr lang mit Strom beliefern.

Eine interessante Speichervariante ist die Kopplung von Gebäude und Elektromobilität (vgl. «Geteilte E-Mobilität»). Sie wird auch im Basler ZEV-Verbund erprobt. Ein Forschungsprojekt, gemeinsam mit Hochschulen, soll zeigen, inwieweit der in Autobatterien gespeicherte Solarstrom nicht nur zum Fahren am Tag eingesetzt werden, sondern auch den Eigenverbrauch der Siedlung abends und in der Nacht erhöhen kann.

28. September 2018 Viola John
TEC21

«Eine Kultur des Abwägens»

Architektur und Städtebau erhalten erstmals Nachhaltigkeitsnoten. Eine externe Fachjury nimmt dazu eine unabhängige Bewertung von SNBS-Projekten vor. Raphael Frei, Mitglied von pool Architekten, war an der Entwicklung beteiligt und erklärt das neuartige Verfahren.

TEC21: Herr Frei, zertifizierte Ökobauten werden oft als unschön beurteilt. Kann der Standard nachhaltiges Bauen Schweiz zur Verbesserung architektonischer Qualitäten (vgl. TEC21 43/2016) beitragen?
Raphael Frei: Das zentrale Anliegen des ­Nachhaltigkeitsstandards SNBS ist, neben den klassischen ökologischen Kriterien nun auch soziale und baukulturelle Aspekte zu berücksichtigen und sie in die Beurteilung eines Gebäudekonzepts zu integrieren. In diesem Sinn ist der Beurteilungsraster um­fassend: Er erkennt und erfasst auch nicht messbare Aspekte, unter anderem soziale und städtebauliche Qualitäten eines Projekts.

TEC21: Was muss ein Projekt leisten, um gute Architektur­noten zu bekommen?
Raphael Frei: Die städtebaulichen und architektonischen Aspekte sind unmittelbarer Teil der gesellschaft­lichen Nachhaltigkeitsdimension: Wie lebendig ist ein Quartier? Wie sind die Gebäude genutzt? Wie ­robust sind die bestehenden Strukturen? Lassen Sie mich dies anhand der geplanten Erneuerung der Grosssiedlung Telli in Aarau erklären, für die der SNBS angewandt werden soll. Um das charakteristische Aussenbild oder die passenden Wohnungsgrundrisse nicht allzu sehr zu verändern, hält man sich bei der Eingriffstiefe zurück. Energetische Verbesserungen an der Gebäudehülle lassen sich gleichwohl er­zielen. Die Beurteilung der bestehenden, gemischten Sockelnutzung und des grosszügigen grünen Aussenraums fällt ebenfalls positiv aus.[1] Für die Erneuerung heisst das: Die positiven Bestandseigenschaften sind zu erhalten und allenfalls zu stärken.

TEC21: Aber verspielt man so nicht die Option, verfügbare Raumreserven zu nutzen und Erneuerungsstandorte bei Bedarf zu verdichten?
Raphael Frei: Die Beurteilung nach den SNBS-Kriterien führt eben dazu, dass ein Verdichtungsvorhaben nicht nur quantitativ, sondern vor allem auch quali­tativ diskutiert wird. Dies entspricht der Strategie des Bundes zur Nachhaltigen Entwicklung, die ein wei­test­mögliches Erhalten des baukulturellen Erbes und seine qualitativ hochstehende Erneuerung ­fordert. Die SNBS-Zertifizierung weitet deshalb den Projek­t­fokus aus, etwa von einer klassischen Energieoptimierung zu anderen sozialen und architek­tonischen Aspekten. Das macht diese Nachhaltigkeitsbewertung für Architekten erst interessant: Sie pflegt die Kultur des Abwägens und fördert das ­Bewusstsein, dass unterschiedliche Aspekte miteinander zu ­verknüpfen sind.

TEC21: Die spezifische Beurteilung der architektonischen und städtebaulichen Qualitäten ist ein neuartiger Bestandteil der Zertifizierung. Wie funktioniert ­dieses Verfahren, zumal es sich um eine Bewertung von schlecht messbaren Eigenschaften handelt?
Raphael Frei: Ein Projekt, das in einem Wettbewerb nach SIA-Regeln ausgewählt worden ist, benötigt kein weiteres Urteil für das Zertifikat. Auch ein vergleichbares Gutachterverfahren ohne SIA-Kriterien wird anerkannt; allerdings werden die Qualität und Unabhängigkeit der Fachjury geprüft. Nur für den Fall eines Direktauftrags findet eine nachträg­liche Begutachtung durch SNBS-Experten statt, die ihrerseits Architekten sind. Die Kriterien sind mehr oder weniger dieselben wie bei Wettbewerbs­jurierungen. Die Bewertung wird schriftlich dokumentiert und mit punktuellen Verbesserungsempfehlungen ergänzt. Sie stellt somit eine unabhängige Qua­litätsbeurteilung und kein Gefälligkeitsgutachten dar.

TEC21: Sind die Experten speziell ausgebildet?
Raphael Frei: Die Zertifizierungsstelle bietet nur Architekten auf, die Erfahrungen als Jurymitglied oder ­Wettbewerbsteilnehmer besitzen. Weitere Kriterien sind eine Mitgliedschaft beim Bund Schweizer Architekten (BSA) oder Bund Schweizer Landschaftsarchitekten (BSLA). Ein Begutachter darf nicht we­niger erfahren sein als die zu beurteilenden Projektverfasser. Erwartet wird auch, dass er sich bei Bedarf einen eigenen Eindruck vor Ort verschaffen kann.

TEC21: Wie gut funktioniert das neue Bewertungssystem?
Raphael Frei: Bei Projekten aus einem Direktauftrag ist die Architektur oft das Resultat von Zwängen und Entscheidungen, die aus dem Prozess heraus begründet sind. Da eine architektonische Beurteilung explizit fehlt, sind hohe Qualitäten nicht zwingend vorauszusetzen. Die bisherigen Einblicke bestätigen dies; ungenügende Noten sind in der ersten Zertifizierungs­runde nicht selten. Die Begutachtung ist zwar sehr streng. Aber Projektverfasser sollen dies nicht so verstehen, dass sie schlechte Arbeit abgeliefert hätten. Die Kritikpunkte setzen vor allem dort an, wo die Pro­jektschwerpunkte das gestalterische Element ver­missen und sich somit verbessern lassen.

TEC21: Wie gehen Projektverfasser damit um?
Raphael Frei: Wir stecken in der Anfangsphase und sammeln weitere Erfahrungen. Eine Schwierigkeit ist, die Dokumentation der Projekte analog zum Wettbewerbs­verfahren mit Plänen und Modellen einzufordern. Unter den Beteiligten ist man jedoch sehr offen, auch für Kritik, zumal sie die Position des Projektverfassers oft stärken kann. Es geht meistens um eine gestal­terische Integration von technischen Konzepten, die Verknüpfung mit sozialen Themen oder schlicht um die räumliche, typologische Qualität von Grundrissen.

TEC21: Wie ist das Echo unter Architekten?
Raphael Frei: Der BSA rührt die Werbetrommel für die Zertifizierung und hofft, dass sich gute und renommierte Architektinnen und Architekten damit aus­einandersetzen. Ein erstes Stimmungsbild ist: ­Der Standard ist eine sinnvolle Alternative zu Gebäude­labels, die nur eindimensional auf energetische Themen ausgerichtet sind. Der erweiterte Be­urteilungsraster führt solche Einzelaspekte zu einem Ganzen zusammen und ermöglicht ein umfassendes Bild über mögliche Zielkonflikte. Das ist ein willkommener Gegentrend zur aktuellen Fragmentierung: Architekten fällt es schwer, im wachsenden Dschungel aus baulichen Anforderungen und Normen überhaupt noch konsistente Lösungen zu finden.

TEC21: Der Standard will besser sein als die Gesetze. Wie kann er trotzdem zur Verbesserung der Entwurfs­arbeit beitragen?
Raphael Frei: Gegenwärtig verdammen die vielen Anforderungen die Architekten zum Reagieren. In der Pro­jektierung suchen sie oft den jeweils kleinsten gemeinsamen Nenner des Machbaren und stellen am Ende fest, dass die Kosten steigen. Besser ist aber, die unterschiedlichen Umsetzungsthemen und An­forderungen frühzeitig zusammenzuführen. Der Zertifizierungsprozess und der Bewertungsraster können Ordnung schaffen. So lassen sich Zielkonflikte, Zusammenhänge und Spielräume erkennen, die man sonst nicht entdeckt hätte. Zu Beginn einer Zertifizierung muss daher – aus formalen Gründen – ein Pflichtenheft mit Projektzielen formuliert werden.

TEC21: Stärkt der Standard die Position des Architekten?
Raphael Frei: Das ist eigentlich unser Ziel. Der Architekt kann seine Kompetenzen mithilfe des Bewertungs­rasters erhöhen. Er muss das Wissen zurückholen und darf es nicht vollumfänglich an Spezialisten delegieren. Allein der Informationsgewinn aus einer engen Zusammenarbeit mit andern Fachdisziplinen verbessert seine Verhandlungsbasis gegenüber der Bauträgerschaft und der Behörde. Ohne diesen Wissensvorsprung kann man eigentlich nirgends bauen.


Anmerkung:
[01] Muster oder Komposition? Sanierung Telli-Hoch­häuser, wbw 1/2 2018.

24. August 2018 TEC21

«Lüftungskonzepte als Architekturaufgabe»

Der mechanische Luftwechsel hat im Wohnungsbau eine gut 20 Jahre alte Geschichte. Ist der Einbau heutzutage zwingend? Welche Optionen vereinfachen das Planen? Zwei Fachpersonen betonen, dass die Wohnungslüftung nicht einfach den Spezialisten zu überlassen ist.

Die Gesprächspartner:
Franz Sprecher, Leiter Fachstelle Gebäudetechnik und Energie, Amt für Hochbauten Stadt Zürich.
Heinrich Huber, Autor mehrerer Lüftungsfachbücher; Leiter Prüfstelle Gebäudetechnik, Hochschule Luzern HSLU.

TEC21: Herr Sprecher, die Erneuerung der Wohnsiedlung Paradies in der Stadt Zürich wurde auf das Wesentliche reduziert. Warum gehört der Einbau einer Lüftungsanlage dennoch dazu?
Franz Sprecher: Die Anforderung ist klar: Je weniger Raumvolumen pro Person zur Verfügung steht, umso wichtiger ist ein Lüftungskonzept. Dicht belegte Wohnungen benötigen einen wesentlich höheren und zuverlässigeren Luftwechsel als ein Loft, das nur von einer Person bewohnt ist. Je kleiner das Luftreservoir pro Person, umso grösser ist das Risiko für Feuchtigkeitsschäden, Pilzbefall und schlechte Luftqualität in einer Wohnung.

TEC21: Baulich und technisch war das Notwendigste opportun. Wie wirkt sich das auf das Lüftungssystem aus?
Franz Sprecher: Für eine konventionelle Verteilung der Zuluft gab es keinen Platz. Daher haben wir uns in der Planung vom Konzept verabschiedet, jedes einzelne Zimmer bei geschlossenem Fenster oder geschlossener Tür mit so viel Luft versorgen zu wollen, dass zwei Erwachsene acht Stunden bei einigermassen akzeptabler Luftqualität schlafen können. Die Alternative ist nun: Bleiben die Zimmertüren offen, sorgt die natürliche Raumluftströmung für ausreichend gute Luft in der ganzen Wohnung, eben auch im Schlafzimmer. Ob die Türen offen oder geschlossen sind, überlassen wir den Bewohnerinnen und Bewohnern. Für das Lüftungskonzept bringt dies den Vorteil, dass man die frische Luft nicht in jedes Zimmer bringen muss, sondern zentral in die Wohnung einführen kann. Die interne Luftverteilung hätte man zusätzlich mit einem Verbundlüfter unterstützen können. Weil die Technik damals wenig ausgereift war, haben wir in der Wohnsiedlung Paradies darauf verzichtet.

TEC21: Was sind und leisten solche Verbundlüfter?
Heinrich Huber: Verbundlüfter sind im Prinzip sehr kleine Ventilatoren, die den Luftstrom von Raum zu Raum organisieren. Sie lassen sich in Türen, Türrahmen oder Wände einbauen. Einige sind sogar so dezent designt, dass sie kaum auffallen. Ein Synonym dafür ist der «aktive Überströmer».
Franz Sprecher: Die Prototypen solcher Mini-Lüfter sind mir an zwei Orten positiv aufgefallen. Um diese einleuchtende Idee weiterzubringen, hat das Amt für Hochbauten der Stadt Zürich vor wenigen Jahren einen Wettbewerb «Aktive Überströmer» durchgeführt. In der Jury waren die Hochschule Luzern, der Verein Minergie vertreten, und dabei war auch Architekt Andreas Galli, der für die Instandsetzung der Wohnsiedlung Paradies verantwortlich war. Der «aktive Überströmer» heisst inzwischen «Verbundlüfter», weil er zwei Räume lüftungs- oder strömungstechnisch miteinander verbindet.

TEC21: Hat man schon praktische Erfahrungen gesammelt?
Franz Sprecher: Ja, es gibt gute Beispiele im Büro- und Wohnungsbau. Bereits vor fünf Jahren hat man den Verbundlüfter bei der Erneuerung einer städtischen Siedlung eingesetzt; auch dort stand eine kostenbewusste Lüftungsvariante im Vordergrund.
Heinrich Huber: Technisch sind diese Komponenten inzwischen ausgereift und bewähren sich. Der Vorteil ist: Der Erschliessungsaufwand und der Raumbedarf für die interne Luftverteilung reduzieren sich. Eine kontrollierte Wohnungslüftung kann in abgespeckter Form auf periphere Räume erweitert werden.
Franz Sprecher: Er ermöglicht zudem einen bedarfsorientierten Betrieb. Ist die Zimmertür geschlossen, dreht sich der Lüftungsventilator. Ein Kontaktsensor genügt, um die Zirkulation der gesamten Luftmenge in der Wohnung zu steuern.

TEC21: Wie wichtig ist es, dass der Nutzer bei Wohnungslüftungen selbst eingreifen kann?
Franz Sprecher: Das ist ein fundamentales Anliegen, dass Bewohner vieles selber einstellen können …
Heinrich Huber: Man darf aber niemanden überfordern. Ideal sind zwei bis drei unterschiedliche Betriebsstufen zusätzlich zur On-/Off-Funktion. Das ist für Laien schnell verständlich. Schwierig wird es, wenn die Leute selbst ausprobieren müssen, bis sie passende Einstellungen finden.
Franz Sprecher: Die Nutzerakzeptanz hängt jedoch wesentlich von der Qualität der Lüftungsanlage ab: Wenn die Luftmenge nicht stimmt, Geräusche wahrnehmbar sind oder es zieht, verstehe ich, wenn die Nutzer unzufrieden sind und beispielsweise die Durchlässe in der Wohnung abkleben.

TEC21: Energieverbrauch und Akzeptanz sind wichtige Aspekte in der Lüftungsdebatte. Der Praxistest auf dem Hunziker-Areal (vgl. «Wie gut sind die Wohnungen im Hunziker-Areal belüftet?») stellt den Lüftungssystemen unterschiedliche Zeugnisse aus. Die sogenannte Komfortlüftung schneidet bei der Differenz zwischen Erwartung und effektiver Performance schlechter ab als Abluftanlagen. Welche Schlüsse sind daraus zu ziehen?
Franz Sprecher: Einblick in die Detailberechnungen, etwa in der Planung, hatte ich keine und kann deshalb über die Unterschiede zwischen Theorie und Praxis nichts Ursächliches sagen. Aufgefallen ist mir aber, dass die Planungswerte bei den Abluftanlagen um bis zu 60 % variieren, allein weil für die einzelnen Häuser unterschiedliche Annahmen getroffen wurden. Allerdings hüte ich mich davor, von den Messwerten zum Heizenergieverbrauch auf die Effizienz der Lüftungssysteme zu schliessen. Ein solcher Zusammenhang ist wissenschaftlich alles andere als trivial herzustellen. Für den Klimaschutz ist aber nicht die Abweichung zwischen Theorie und Praxis relevant, sondern der effektive Energiekonsum. Dabei schneiden Lüftungsanlagen mit Wärmerückgewinnung besser ab als Abluftanlagen. Und wie die Analyse zeigt, sind auch die Nutzer damit zufriedener als bei alternativen Lüftungssystemen.
Heinrich Huber: Grundsätzlich überraschen mich die Monitoringresultate, weil der Stromverbrauch der Lüftungsanlagen so hoch ist. In den letzten Jahren sind Ventilatoren nämlich deutlich sparsamer geworden. In Minergiehäusern hat man ähnliche Analysen durchgeführt: Die gemessene Wärmebilanz lag ebenfalls, wie auf dem Hunziker-Areal, über dem Planungswert. Doch der Stromverbrauch für die mechanische Belüftung stimmte mit dem Planungswert ziemlich gut überein.
Franz Sprecher: Auf dem Hunziker-Areal werden lediglich vier der insgesamt 13 Häuser analysiert, sodass die Bilanz pro unterschiedliches Lüftungssystem erhoben werden kann. Darunter befinden sich auch Spezialfälle, etwas das zentral belüftete Haus mit Clusterwohnungen. Allein das Wohnzimmer muss mit rund 250 m³/h Luft versorgt werden; zwei- bis dreimal so viel Luft wie sonst für eine ganze Wohnung. Trotzdem stimmt die Gesamtbilanz auf dem Hunziker-Areal: Die Gebäudewerte erreichen ein sehr vorbildliches Niveau, was auch mit einem positiven Bewohnerverhalten zu tun hat. Ich meine daher: Ein Fenster soll man vorbehaltlos öffnen dürfen. Wir wissen aus städtischen Wohnsiedlungen: Die Fenster bleiben meistens geschlossen, wenn man mit der Luftqualität zufrieden ist.

TEC21: Ist nicht eine positive Erkenntnis aus der Studie: Abluftanlagen bieten eine Alternative zur kontrollierten Wohnungslüftung mit Wärmerückgewinnung?
Franz Sprecher: Ich stimme dem nicht zu. Positiv erscheint mir einzig, dass die Abweichung zwischen Planung und Messwert bei Abluftanlagen geringer ist und dass Abluftanlagen wenig Platz brauchen.
Heinrich Huber: Abluftanlagen verbrauchen grundsätzlich weniger Strom. Dagegen ist der Betrieb sensibler, wobei die Planung darauf nur beschränkt Einfluss nehmen kann: Abluftanlagen sind in der Regel auf Volumenströme von 20 bis 25 m³/h pro Zimmer ausgelegt. Die knappen Aussenluftdurchlässe lassen sich gar nicht anders dimensionieren.
Franz Sprecher: Ein Systementscheid soll nicht nur vom Stromverbrauch abhängig gemacht werden. Ebenso sind bauliche Aspekte, Kosten oder Komfort in Betracht zu ziehen. Deshalb darf der Fingerzeig nicht übersehen werden, der sich aus der Befragung der Hunziker-Bewohner ergibt: 40 % der Personen, die in einer Wohnung mit Abluftsystem leben, nehmen immer oder häufig einen Luftzug wahr. Im Vergleich dazu bemängeln dies nur 10 % an einer kontrollierten Wohnungslüftung.
Heinrich Huber: Abluftanlagen haben speziell bei einer Gebäudesanierung ihre Berechtigung. Gleichzeitig muss man sich bewusst sein, dass die interne Luftverteilung deutlich weniger stabil funktioniert als bei einer kontrollierten Wohnungslüftung. Ein weiterer Komfort- und Qualitätsunterschied ist, dass Zuluft mit kalter Aussentemperatur in den Raum einströmt.
Franz Sprecher: Die Planung von Abluftanlagen darf auf keinen Fall unterschätzt werden. So belüftete Wohnungen stehen unter einem gewissen Unterdruck, was zu unkontrollierten Ausbreitungswegen führen kann. Dabei besteht die Gefahr darin, dass die Zuluft nicht über die eigentliche Fassung in der Aussenwand in die Wohnung einströmt, sondern via offenes Fenster des Nachbarn und Heizungs- oder Sanitär-Steigzone. Bei der Instandsetzung von Gebäuden muss deshalb die bauliche Dichtigkeit beachtet werden. Macht die Luft nicht das, was der Planer denkt, breiten sich Fremdgerüche aus.
Heinrich Huber: Beim einem Systemvergleich sind auch die Kosten relevant. Oft werden nur die Investitionen gewichtet; der Betrieb wird dagegen vernachlässigt. Kontrolle und Wartung der Aussenluftdurchlässe bei Abluftanlagen, etwa der Filteraustausch, können allerdings einen beachtlichen Aufwand verursachen.

TEC21: Setzen sich kontrollierte Abluftanlagen dennoch durch?
Heinrich Huber: Im Wohnungsbau nimmt die Nachfrage nach Abluftanlagen mit definierter Nachströmung oder auch nach Einzelraumlüftungsgeräten anteilsmässig zu. Nach der manuellen Fensterlüftung ist die kontrollierte Wohnungslüftung mit Wärmerückgewinnung, eben die Komfortlüftung, weiterhin das verbreitetste System.
Franz Sprecher: Man kann den Wohnungsbau in der Schweiz und Europa in zwei Lager aufteilen: In der Westschweiz und in südlichen Ländern werden Abluftanlagen bevorzugt. Im Norden ist die kontrollierte Lüftung mit Wärmerückgewinnung populärer.
Heinrich Huber: Das beginnt sich zu vermischen. Vor allem die Wärmerückgewinnung findet in Frankreich immer mehr Anhänger. Gleichzeitig wächst das Interesse in Deutschland an Abluftanlagen mit kontrollierter Luftzufuhr.

TEC21: Hat sich in der Baubranche herumgesprochen, dass es zumindest ein begrenztes Spektrum an Lüftungsvarianten gibt? Und wird das auch bei der Zertifizierung von Gebäudelabels berücksichtigt?
Heinrich Huber: Das ist tatsächlich ein langsamer Prozess. Aber es wird allmählich verstanden, dass Abluftanlagen oder Einzelraumanlagen für ein gültiges Lüftungskonzept verwendet werden dürfen. Auch bei den Labels hat dieses Bewusstsein stark zugenommen, wobei der Anteil der kontrollierten Wohnungslüftung bei 95 % liegt. Die Erweiterung der Möglichkeiten ist generell zu begrüssen. Vor allem bei Erneuerungen kann dies helfen, gute und preiswerte Lösungen zu finden.
Franz Sprecher: Für das Minergie-Zertifikat wurden schon immer Abluftanlagen und sogar automatisierte Fensterlüfter akzeptiert. Solche Systeme werden beispielsweise in Schulhäusern eingesetzt.

TEC21: Aber braucht ein Einfamilienhaus im Grünen wirklich eine mechanische Lüftung, damit eine energiesparende Nutzung möglich wird?
Heinrich Huber: Diese Frage darf man sich bei der Planung solcher Häuser auf jeden Fall stellen. Reduzierte Lüftungsvarianten, die auf einem Einzelraumsystem beruhen und nur für die Nacht in Betrieb zu setzen sind, genügen für die kontrollierte Lüftung. Es stimmt schon: Minergie und die mechanische Belüftung haben im Einfamilienhaus begonnen; also in einem Bereich, in dem die Luftqualität weniger sensibel reagiert als in Geschosswohnungen.
Franz Sprecher: Eine Wärmerückgewinnung in der Lüftung hat dieselbe Aufgabe wie eine Dämmung: den Wärmeabfluss im Winter zu unterbinden respektive den Hitzeeintrag im Sommer zu verhindern. Aus energetischer Sicht kann die Lüftung ausserhalb der Heiz- und Kühlperiode eigentlich abgestellt werden. Doch ein Lüftungskonzept hat auch einen Zielkonflikt zwischen Energieverbrauch und Hygiene zu meistern. Tendenziell wird allerdings zu viel Luft umgewälzt.

TEC21: Aber an der technischen Vielfalt scheint es nicht zu mangeln, dass man gute Lösungen finden kann. Was haben Markt und Industrie an Lüftungssystemen derzeit zu bieten?
Heinrich Huber: Technisch funktioniert vieles und auch die Zahl der Produkte nimmt zu. Dennoch ist einschränkend zu sagen: Leider ist die Auswahl noch nicht derart gross, wie sie sein könnte. Bei innovativen Erweiterungsvarianten halten
sich Lieferanten oft zurück. So ist der Verbundlüfter zum Beispiel in Österreich und Deutschland am Markt viel stärker präsent als in der Schweiz. Der Planer muss auf jeden Fall einige Zeit investieren, umpassende Lüftungssysteme zu finden.

TEC21: Wie gehen Architekten und Fachplaner dabei vor?
Franz Sprecher: Konzeptphase ist ein Austausch zwischen Architekten, Nutzern und Fachplanern wichtig. Im städtischen Erneuerungsprojekt Paradies hat man unter­einander viel über den Luftbedarf gesprochen.
Heinrich Huber: Es gilt ein interdisziplinäres Grundverständnis über das Gesamtsystem Luftaustausch zu entwickeln. Selbstverständlich liefert der Fachplaner Grundlagen wie die Luftaustauschrate, und der Architekt kümmert sich um die konstruktive und räumliche Umsetzung der Steigschächte, der internen Verteilkanäle und so weiter. Doch was gelingen soll, braucht Teamarbeit und viel Liebe zum Detail.
Franz Sprecher: Mein Gesprächspartner hat an einem anderen Anlass passend formuliert: Es ist nicht Aufgabe der Spezialisten, die Belegungsform von Wohnungen mit einer Anlagendimensionierung zu definieren. Das Lüftungskonzept und die Dimensionierung sind primär architektonische Aufgaben, weil es die Nutzung wesentlich betrifft. Wenn die Architektur jedem Bewohner genügend Raumvolumen zur Verfügung stellt, braucht es aus hygienischer Sicht keine mechanische Lüftung. Die Räume sind geometrisch so zu entwerfen, dass die gesamte Luftmenge mit sinnvollen Lüftungsintervallen erneuert werden kann.

TEC21: Aber die Lüftungsnorm gibt doch vor, wie viel Frischluft zu organisieren ist?
Franz Sprecher: Die Norm beruht auf korrekten Annahmen. Demnach können zwei Personen in einem Zimmer mit geschlossenen Türen und Fenstern bei dauerhaft guter Luft übernachten. Doch gemäss eigener Erfahrung ist die Realität im Wohnalltag anders und weicht davon meistens ab. Sehr viele Lüftungsanlagen werden daher auf einer zu hohen Stufe betrieben. Die Luftaustauschrate ist zu hoch.

TEC21: Läuft in der Planung etwas falsch?
Heinrich Huber: Eigentlich nicht, die Normen lassen eine Auslegungsfreiheit zu. Nur entscheiden diese Vorgaben nicht, wann welcher Belegungsfall und Luftmengenbedarf eintreten wird.
Franz Sprecher: Eine weitere Ursache von überdimensionierten Lüftungssystemen ist: Nicht alle Planer setzen sich mit der Kaskadenlüftung ausreichend auseinander.
Heinrich Huber: Zu oft wird ein gleichzeitiges Belüften verschiedener Wohnräume eingeplant, ohne dass es in der Realität beansprucht wird. Setzt man dagegen ein Kaskadensystem ein, lässt sich dieselbe Luft wohnungsintern quasi mehrfach nutzen. Ich muss die Planer aber in Schutz nehmen. Das Dimensionierungsdilemma ist allgemein bekannt. Dennoch wählt man einen «Angstzuschlag»: Um auf der sicheren Seite zu stehen, erhält jeder Raum eine eigene Luftzufuhr. Folge ist: Man baut zu komplizierte Systeme ein; nachträgliche Optimierungen sind kaum möglich.
Franz Sprecher: Obwohl der Nutzer die Luftmenge pro Wohnung verändern kann, lässt sich der Gesamtbedarf in einem Mehrfamilienhaus zusätzlich reduzieren. Es darf davon ausgegangen werden, dass nicht alle Nutzer gleichzeitig die maximale Luftmenge anfordern. Dies reduziert den Stromverbrauch der Ventilatoren. Überdimensionierte Anlagen ziehen oft einen Rattenschwanz an Zusatzaufwand hinter sich her, der bis zu den Steigzonen zurückzuverfolgen ist. Im Gegenzug darf nicht der Eindruck entstehen, dass die Leistungsoptimierung von Lüftungsanlagen eine Budgetvariante ist. Optimierungen wie eine Leistungsreduktion oder variable Betriebseinstellungen bedeuten mehr Technik und Aufwand.

TEC21: Spricht nicht vieles dafür, die Vorgaben anzupassen?
Franz Sprecher: Effektiv wird das gemacht. Die Revision der Lüftungsnorm SIA 382/5 ist noch nicht abgeschlossen, sie soll aber den Luftvolumenaustausch in kleinen Wohnungen deutlich reduzieren. Im Vergleich zur bisherigen Praxis kann der Umsatz der Luftmenge um etwa 20 % reduziert werden. Ebenso soll das Kaskadenprinzip stärker beachtet werden, wofür weniger Verteilkanäle nötig sind. Damit werden Lüftungsanlagen vereinfacht, und die Betriebskosten sinken um 15 %.

TEC21: Warum funktioniert der Luftaustausch auch mit weniger Volumen?
Franz Sprecher: Im Wesentlichen sollen die Vorgaben für die Abluftmenge, in den Nasszellen und der Küche, gesenkt werden. Zudem wird im SIA-Merkblatt 2023 und in einer Minergie-Zertifizierung schon lang empfohlen: Nutzer sollen die Luftmenge pro Wohnung einstellen können. Oft wird aus Kostengründen darauf verzichtet und die Austauschrate nach SIA-Normwert eingestellt. Das führt zu trockener Luft im Winter und zu unnötigem Stromkonsum. Die Luftmengen in den Schlafzimmern generell zu senken wäre aber nicht zielführend. Es soll weiterhin möglich sein, in einem Zimmer mit geschlossenen Fenstern und Türen zu zweit übernachten zu können.

TEC21: Herr Huber, die Lüftungstechnik im Wohnungsbau ist eigentlich ein junges Gewerk. Sie selbst waren an der Planung eines der ersten Projekte in der Schweiz Mitte der 1990er-Jahre an einer Genossenschaftssiedlung in Riehen beteiligt. Funktioniert die Pionieranlage in Basel eigentlich noch?
Heinrich Huber: Soweit mir bekannt ist, hat man die Lüftungsgeräte inzwischen ersetzt; ihre Lebensdauer ist einem Haushaltsgerät vergleichbar. Ansonsten funktioniert die Anlage inklusive Luftverteilung problemlos. Das Konzept entspricht dem aktuellen Stand der Praxis. Zu den damaligen Errungenschaften gehörte bereits, auf gewellte Rohre für die Luftverteilung zu aus hygienischen Gründen verzichten. Auch das Lufterdregister funktioniert weiterhin einwandfrei. Seit Einführung der kontrollierten Wohnungslüftung in der Schweiz vor rund 25 Jahren haben sich die Geräte vor allem energetisch, akustisch und hygienisch verbessert.
Franz Sprecher: Auf dem Wohnungsmarkt gehört eine mechanische Belüftung inzwischen zum Standard. Die Stadt Zürich hat eine Marktanalyse für die Jahre 2015 bis 2017 durchgeführt: In neun von zehn Neubauten wird unabhängig vom Energiestandard ein mechanisches Lüftungssystem eingebaut.
Heinrich Huber: Das Zusammenspiel zwischen Markt und Technik ist interessant: Die anfänglichen Lösungen sind heute noch tauglich. Und es gibt immer noch Systeme mit bekannten Mängeln wie die trockene Luft. Das ist ein gewisser Fluch, den man nicht aus der Branche bringt. Das darf auch nicht mehr als Kinderkrankheit bezeichnet werden.

TEC21: Warum halten sich die qualitativen Mängel derart hartnäckig?
Heinrich Huber: Ein Beispiel dafür sind hygienisch problematische Fälle wie die falsche Platzierung von Aussenluftfassungen. Diese werden aber nicht von Lüftungsfachleuten verursacht, sondern sind meistens eine Folge ihrer Absenz: Man hat es unterlassen, diese beizuziehen. Andere systematische Fehler haben sich jedoch eingeschlichen, weil die klassische Lüftungsplanung zu wenig auf den Wohnungsbau eingehen kann. Die Fachleute, die an der Hochschule, etwa bei uns in Luzern ausgebildet werden, arbeiten meistens in anderen Segmenten und beschäftigen sich mit der Belüftung von Spitälern, Altersheimen, Geschäftshäusern und anderen Zweckbauten. Die grossen Ingenieurbüros ziehen sich sogar eher aus dem Wohnungsbau zurück, weil sie dem Termindruck und den geringen ökonomischen Margen ausweichen wollen.

TEC21: Worin bestehen die Differenzen bei der Lüftungsplanung von Zweckbauten respektive Wohnhäusern?
Heinrich Huber: Gewerbliche Lüftungskonzepte folgen der Logik, jeder Raum braucht eine eigene Zuluft. Der Luftbedarf in einem Büro ist fünfmal höher als im Wohnraum mit identischer Fläche. Werden diese Qualitätsunterschiede stärker als bisher in Betracht gezogen, wirkt allein dies der Tendenz entgegen, die Anlagen in Wohnungsbauten überdimensioniert auszulegen.
Franz Sprecher: Die Komfortansprüche und der Luftmengenbedarf sind sehr unterschiedlich. Lüftungsgeräusche im Schlafzimmer werden viel negativer wahrgenommen als im Büro. Eine weitere Differenz ist der Einfluss des Menschen: Seine Abwärme erzeugt selbst eine thermischen Strömung. Im Büro spielt dieser Faktor nur eine untergeordnete Rolle für die Luftverteilung.
Heinrich Huber: Das meist genannte Problem ist trockene Raumluft in beheizten Gebäuden. Eine Ursache ist, dass Planer und Installateure häufig zu hohe Luftaustauschraten bestimmen, weil sie glauben: Mehr Frischluft sei besser. Im Gegenzug ist die Hygiene, früher ein problematisches Thema, inzwischen qualitativ gleichwertig wie bei Gewerbe-, Büro- oder Wohnbauten gelöst.

TEC21: Wie innovativ sind die Hersteller und entwickeln neue Varianten und Geräte für die Lüftungstechnik?
Heinrich Huber: Zu erwarten sind Vereinfachungen bei der Regelung des Luftvolumens, die sich am Bedarf einer Wohnung oder sogar eines Zimmers orientieren. Aktuell liegt der Trend sowieso bei dezentralen Lüftungsanlagen, wobei die Technik etwa alle fünf Jahre zwischen zentralen und dezentralen Systemen hin und her pendelt. Die Ecodesign-Vorschriften der EU haben einiges ausgelöst: In den letzten vier Jahren ist der Stromverbrauch neuer Lüftungsgeräte um 20 % gesunken. Daneben erreicht die neuste Generation auch bei akustischen Kennwerten ein sehr gutes Niveau.
Franz Sprecher: Leider kümmert sich die Industrie vornehmlich um den Neubau. Daher fehlen Systemvarianten, die zu den spezifischen Gegebenheiten einer Instandsetzung passen. Denn in alten, auch sanierten Gebäuden erhöht sich die energetische Wirkung einer Lüftung mit Wärmerückgewinnung; etwa weil die Heizperiode länger ist als bei Neubauten. Auch ist das Risiko von Schimmelpilz bei Hüllen mit vielen Wärmebrücken grösser. Ebenso würde ich mir kostengünstigere Systeme wünschen.

TEC21: Wie lässt sich die technische Weiterentwicklung fördern?
Heinrich Huber: In der Schweiz wird schon seit vielen Jahren ein reger Austausch zwischen Industrie und Hochschulen gepflegt. Verbundlüfter oder die Kaskadenlüftung sind Systeme, die im Wesentlichen daraus entstanden sind und nun in ganz Europa bekannt sind. Doch allmählich wird das Marktangebot stärker von ausländischen Herstellern geprägt.
Franz Sprecher: Etwas Ähnliches ist mit dem Enthalpietauscher passiert, der zur Rückgewinnung von Feuchtigkeit in der Raumluft dient. Diese Geräte sind in Kanada entwickelt worden und haben zuerst in der Schweiz und danach in Europa Fuss gefasst.
Heinrich Huber: Auf dem internationalen Herstellermarkt ist eine Industrialisierung zu beobachten: Die Lüftungsprodukte werden standardisiert und die Systeme vorfabriziert. So wird in den Niederlanden vermehrt mit Lüftungsmodulen gearbeitet, die als Komponente einer ebenfalls vorfabrizierten Nasszelle geliefert werden.

TEC21: Das Aufkommen der Lüftungstechnik ist eng mit der Förderung einer energieeffizienten Bauweise verbunden. Die Kritik am technischen Aufwand ist seither ein steter Begleiter. Werden die übrigen haustechnischen Gewerke zu Recht davon ausgenommen?
Heinrich Huber: Eigentlich nicht, aber die Lüftungstechnik scheint grössere Debatten auszulösen. Auf Unzulänglichkeiten bei der Luftqualität reagieren die Menschen offenbar sensibler als bei der Heizwärme.
Franz Sprecher: Im Unterschied zur Raumtemperatur verfügt der Mensch über kein zuverlässiges Organ zur Beurteilung der Luftqualität. Wir merken kaum, wie die Luftqualität langsam schlechter wird. Nur wer nachträglich ein zuvor benutztes Sitzungszimmer betritt, erkennt den Unterschied. Erst dann erkennt man die Notwendigkeit eines Lüftungskonzepts. Erschwerend kommt hinzu, dass eine einzelne schlechte Lüftungsanlage in der Meinungsbildung höher gewichtet wird als viele, die gut funktionieren. Die Lüftung ist relativ neu und wird für nicht Erklärbares schnell verantwortlich gemacht. Viele Mängeldiskussionen sind aber berechtigt. Fast immer geht es dabei um die Überdimensionierung, die nicht nur Lüftungs-, sondern auch Heizungsanlagen betrifft.
Heinrich Huber: Mängel treten regelmässig auch in der übrigen Gebäudetechnik wie Heizung oder Sanitär­anlagen auf. Ein wesentlicher Grund dafür ist, dass die Übergabe der installierten Gebäudetechnik ungenügend organisiert ist. Oft fehlt eine Qualitätskontrolle der installierten Gebäudetechniksysteme.
Franz Sprecher: Es ist auch an uns Bauherrschaften, die Qualitätsstandards durch Inspektionen oder bei der Inbetriebsetzung verbindlich einzufordern.

24. August 2018 TEC21

Alternativen zum Standard gesucht

Gute Luft wollen alle. Doch uneinig ist man sich, wie und mit welchem Aufwand der systematische Austausch organisiert werden soll. Die Stadt Bern stellt nun zwei Lüftungsvarianten auf die Praxisprobe.

Die Luft darf es sich einfach machen: Sie flüchtet dorthin, wo es am wärmsten ist. Die Anziehungskraft der Wärme besteht aber nicht aus ihrer Behaglichkeit, sondern liegt darin, dass sie die physikalische Dichte geringer macht. Auch der Ausbreitungspfad ist vordefiniert; die Luft wählt immer den Weg des geringsten Widerstands. Will man der Strömung jedoch eine bestimmte Richtung geben oder sie anderweitig konditionieren, wird es schnell kompliziert.

Die Kontrolle des Luftwechsels ist allerdings ein Qualitätsmerkmal für hohe Energieeffizienz im Wohnungsbau. Ein regelmässiger Austausch, eine optimale Zirkulation in der Wohnung und ein Recycling der Wärme in der ausströmenden Abluft sind zentrale Anforderungselemente für das umsetzbare Lüftungskonzept. Weder die Thermodynamik noch der Nutzer sollen dem Ziel, so viel Wärme wie möglich in einem Baukörper zu halten, in die Quere kommen.

Überflüssig oder bauphysikalisches Muss?

Kontrollierte Wohnungslüftungsanlagen sind längst Marktstandard, dennoch werden sie in Bauherren- und Architekturkreisen und sogar unter Fachplanern ­häufig als notwendiges Übel wahrgenommen. Den einen ist der technische Installationsaufwand zu gross, andere kritisieren das bevormundende Funktionsprinzip. Doch so hartnäckig sich die Skepsis hält, so erfinderisch gehen Lüftungsspezialisten mittlerweile ans Werk. Immer häufiger werden vereinfachte Varianten eingebaut, weil man die Dynamik der Luft endlich besser versteht.

Eine zentrale Erkenntnis ist dabei nicht mehr ganz jung, und gleichwohl beherzigen sie erst wenige: Die Luft strömt meistens von allein durch die Wohnung. Selbst grosse und verwinkelte Räume lassen sich fast ohne aktives Zutun ausreichend durchlüften. Die Wirksamkeit einer selbstständigen «Kaskadenlüftung» wurde wiederholt wissenschaftlich erforscht.[1] Die Quintessenz dabei ist: Der technische Belüftungsaufwand lässt sich reduzieren. Antriebe oder Rohre an der Decke für die interne Verteilung braucht es ebenso wenig wie jeweils eine Frischluftzufuhr für jeden einzelnen Raum. Ein Lüftungseinlass pro Wohnung genügt, damit die Raumluft nicht übermässig mit CO2 belastet wird.

Dasselbe thermisch angeregte Kaskaden­prin­zip wird auch im Bürobau, mit der sogenannten «Raumlunge», genutzt: Ein mehrgeschossiges Atrium erlaubt der Luft eine weitgehend natürliche interne Zirkula­tion. Der Aufwand zur mechanischen Kontrolle wird dadurch deutlich reduziert.

Verzicht auf Mechanik möglich

Zurück zum Wohnungsbau: Das Spektrum der Lüftungsvarianten reicht vom automatisch gesteuerten All-in-one-Zirkulationssystem bis zum Handgriff am Fensterflügel. Innerhalb dieses Spektrums lassen sich unterschiedliche, mechanische Lüftungsanlagen individuell aus Einzelkomponenten für die Zu- und Abflüsse und die interne Luftverteilung zusammenstellen. Derzeit sehr beliebt scheinen er­wei­terte Abluftanlagen, weil auf Mechanik und viel Platz verzichtet werden kann.

In der neuen Siedlung Stöckacker Süd am Ostrand von Bern werden nun unterschiedliche Lüftungskonzepte auf die Vergleichsprobe im Wohnalltag gestellt. Die Immobilienabteilung der Stadt Bern konnte letzten Herbst die Mieter von 146 Wohnungen in der «2000-Watt-Siedlung» begrüssen (vgl. «Aufwertung mit 2000 Watt», Kasten unten). Zwei Gebäudezeilen sind mit einer kontrollierten Wohnungslüftungsanlage ausgestattet; der dritte Komplex verfügt über eine abgespeckte Anlage mit «Zuluftautomat». Die Erfahrungen aus dem Wohnalltag und dem Energiemonitoring will man für weitere öffentliche Neu- und Umbauprojekte nutzen.

Kaskadenartige Luftverteilung für alle

Die klassische, kontrollierte Lüftungsvariante ist in die Häuser «B» und «C» eingebaut; diese liegen am nächsten zur Eisenbahnlinie und sind daher besonders lärm­exponiert. Die Baukörper sind schmale Zweispänner und fast ausschliesslich als Durchschusswohnungen organisiert. Der viergeschossige Gebäudekomplex «C» am Ostrand gleicht einer Reihenhauszeile; die 5-½- bis 6-½-Zimmer-Wohnungen belegen jeweils zwei Geschosse.

Für die mechanische Belüftung ist das einerlei: Sämtliche Wohneinheiten werden zentral mit Frischluft versorgt. Die Steigschächte führen an den gefangenen Nasszellen vorbei; von dort wird die frische Luft unter der abgehängten Decke in die Wohnung geleitet. Die Zirkulation erfolgt danach frei und erreicht kaskadenartig die übrigen Räume; zusätzlich werden periphere Schlafzimmer mit einem in der Betondecke eingelegten Kanal belüftet. Die belastete Luft strömt über die Badezimmer via Steigschacht nach aussen ab. Mit einem Wärmetauscher zwischen Ab- und Zuluft können etwa 80 % der Energie zurückgewonnen werden, mit dem zusätzlichen Komforteffekt, dass die Frischluft vorgewärmt in die Wohnung einströmt. Der kontrol­lierte Luftaustausch variiert zwischen 24 und 30 m³/h. Letzterer bildet die maximale Strömungsrate, wie sie im Wohnungsbau sonst üblich ist.

Ein «Zuluftautomat» reicht aus

Das Lüftungssystem im südlichen, lang gezogenen Siedlungskomplex «A» besitzt demgegenüber nur eine aktive Komponente, auf die man sowieso nicht verzichten kann. Die Wohnungsabluft wird über die übliche Ventilations­anlage in der Nasszelle abgeführt. Zeitgleich strömt die Zuluft jeweils über eigene Fassadendurchlässe in ein Schlaf- und/oder Nebenzimmer ein. Dieser «Zuluftauto­mat» ist mit Ventil, Schalldämpfer und Filter ausgestattet, sodass die Nachströmung bei Bedarf ­kon­trolliert erfolgt. Die Luft tauscht sich ebenfalls kaskadenartig in der gesamten Wohnung aus.

Ein wesentlicher Unterschied zum konventionellen System ist: Die Luft zirkuliert stossweise, sobald die Nasszellenabluft in Betrieb genommen wird. Ein Schlitz unten an der Badezimmertür synchronisiert den Luftaustausch, wobei die Abflussrate mit 60 m³/h wesentlich höher ist als beim kontrollierten System. Eine Zeitschaltuhr sorgt für den regelmässigen Lüftungsrhythmus. Alternativ lässt sich der Abluftbetrieb über einen CO2-Sensor steuern. Entsprechende Vorgaben sind unter anderem bei Gebäudezertifizierungen zu erfüllen.

Abluftsysteme vereinfachen zwar den Installationsaufwand, sind aber im Wohnalltag durchaus störungsanfällig. Das Hauptproblem: Sie erzeugen in den Wohnräumen einen chronischen Unterdruck. Der Luftwechsel kann daher unkontrollierbare Ab- oder Zuluftströme auslösen. Ein offenes Fenster oder der Dampf­abzug in der Küche genügt, um eine unerwünschte Kon­kurrenzsituation zu verursachen. Auch im Stöck­acker macht der Luftwechsel ab und zu nicht, was von ihm erwartet wird. Weil die Ventilatoren in der Dampfhaube einen stärkeren Sog als die Nasszellenabluft erzeugen, strömt Wohnungsluft in die Küche anstatt ins Bad. Weder für die Fachplaner noch für die städtische Liegenschaftsverwaltung war dies eine Überraschung: Beim Bezug der Wohnungen wurde der Mieterschaft deshalb empfohlen, jeweils beim Kochen ein Küchenfenster zu kippen, damit die Aussenluft direkt nachströmen kann.

Neuland für Planer und Bauherrschaften

Ungeachtet des Optimierungsbedarfs im Betrieb scheint das Nachströmsystem Freunde zu finden. Im Stöckacker geht die Bestellung auf die Bauherrschaft zurück. Das beteiligte Planungsbüro hat nun selbst ein ähnliches Konzept für eine 2000-Watt-taugliche Neubausiedlung mitten in Bern vorgeschlagen. Nicht zuletzt überzeugt der reduzierte Installations- und Investitionsaufwand: «Rund ein Drittel kann gegenüber einer kontrollierten Anlage eingespart werden», sagt Marc Wüthrich, Geschäftsleiter von Gruner Roschi.

Gemäss Architekt Michael Meier darf der konstruktive und planerische Aufwand trotzdem nicht unterschätzt werden. Zum einen «beanspruchen Steigschächte immer viel Fläche, unabhängig davon, ob die Zuluft zentral erschlossen ist». Zum anderen betrat die Planergemeinschaft auch Neuland; die Planung der «2000-Watt-Siedlung Stöckacker Süd» beinhaltete eine Ökobilanzierung der technischen Installationen und der konstruktiven Bauteile. Die horizontale Luftverteilung wurde mithilfe eines Variantenstudiums bestimmt. Zur Auswahl standen unterschiedliche Deckenkon­struktionen aus Beton oder Holz. Am besten bezüglich der grauen Energie schnitt überraschenderweise der massive Vorschlag ab: eine Ortbetondecke mit reduzierter Mächtigkeit und minimiertem Bewehrungsanteil. Anstelle der sonst üblichen 24 cm genügen 18 re­spektive 20 cm dünne Schichten. Obwohl man auch hier eine technische Vereinfachung realisiert hat, haben es sich die Bauherrschaft und das Planungsteam in der Konzeptphase alles andere als einfach gemacht.


Anmerkung:
[01] Luftbewegungen in frei durchströmten Wohnräumen; AWEL Kanton Zürich 2014.

24. August 2018 TEC21

Genug Luft trotz wenig Budget

Die Stadt Zürich ist Pionierin des nachhaltigen Bauens und um den ökologischen Zustand der eigenen Bauten vorbildlich besorgt. Bei der Erneuerung einer städtischen Wohnsiedlung war kein ideologischer Imperativ, sondern ein pragmatischer Ansatz gefragt.

Wie das Paradies aussehen soll, entspringt der persönlichen Vorstellungskraft: Der Zürcher Künstler Karim Noureldin bleibt zwar im Vagen, legt aber mit seiner Wandskulptur «Up» immerhin eine Spur, wo die Suche beginnen kann. Sein Kunst-am-Bau-Projekt strebt offensichtlich nach Höherem; die fein verästelte Keramikgravur ziert seit Kurzem eine Grosssiedlung namens «Paradies» im Zürcher Stadtteil Wollishofen. Eigentümerin der erneuerten Wohnblöcke ist die Stadt, die ihrerseits klare Vorstellungen von einem besseren Leben hegt: Die 2000-Watt-Gesellschaft und ein nachhaltiger Ressourcenkonsum sind wesentliche Aspekte für den urbanen Service public; eine Steigerung der Energieperformance von älteren Immobilien wird zur unbedingten Pflicht. Aber auch die Paradies-Bewohner suchen ihren individuellen Weg ins Glück. Wohnungsgrösse und Mietzinse spielen darin wohl eine wesentlichere Rolle als die Architektur oder der ökologische Fussabdruck.

Dass das wahre Paradies nirgends existiert und die irdische Variante nur über den Kompromiss zu finden ist, dürfte sich allerdings herumgesprochen haben. Im Quartier Wollishofen gelang es jedenfalls, die unterschiedlichen Ansprüche und gegensätzlichen Vorstellungen bei der Erneuerung der städtischen Wohnsiedlung Paradies unter einen Hut zu bringen. Insofern hat sich die grosse Mehrheit der Bewohnerschaft für den Verbleib entschieden. Nach zweijährigem Umbau im bewohnten Zustand musste nur ein Drittel der Wohnungen neu vermietet werden, wobei eine Vielzahl zuvor nurmehr temporär vergeben worden war.

Doch ist die Ökologie nicht ein Kostentreiber und eigentlich unkompatibel mit sozialem Wohnungsbau? Nicht generell, bestätigt der Abschluss der Erneuerung. Die Wohnungspreise haben sich zwar fast verdoppelt: Für eine 4-½-Zi­mmer-Wohnung verlangt die Liegenschaftsverwaltung nun 1600 Franken; zuvor waren es knapp 900 Franken. Doch das ist immer noch weniger, als was für neue Genossenschaftswohnungen im selben Quartier zu bezahlen ist.
Klagen über Zugluft verstummt

Die Grosssiedlung auf dem Entlisberg wurde 1972 realisiert; die fünf Gebäudekörper, zwischen vier und acht Etagen hoch mit Blick auf die schon damals eröffnete Zürichsee-Autobahn, ist nach Plänen des Architekten Erwin Müller erbaut worden. (Besser bekannt ist die von ihm kurz danach realisierte Erweiterung am Kunsthaus Zürich.) Die erstmalige Erneuerung nach 45 Betriebsjahren packte man budgetbewusst an. Die Stadtbehörde bewilligte einen Kredit von 51 Mio. Franken zur Sanierung der knapp 200 Wohnungen, wobei die Interventionen auf konstruktive, bauphysikalische und technische Instandsetzungsarbeiten zu beschränken waren.

Trotzdem gelang auch eine punktuelle Erweiterung des Wohnraums: Auf insgesamt 26 Etagen hat man jeweils zwei Kleinwohnungen zu 4-½- oder 5-½-Zimmer-Einheiten zusammengelegt. Zudem befolgt man die Logik einer energetischen Erneuerung vorbildlich: Gelingt es, den Wärmebedarf konstruktiv zu reduzieren, lässt sich der Einsatz von erneuer­baren Energiequellen optimieren. Auf die zuvor undichte Gebäudehülle – ein einschaliges, 32 cm tiefes Mauerwerk – ist daher eine 14 cm dünne Dämmschicht aus EPS-Hartschaumplatten aufgetragen worden. Und dank der neuen, dreifach verglasten Wärmeschutzfenster beklagt sich kein Bewohner mehr über unerwünschte Zugluft.

Doch der Abdichtung nicht genug: Die Kompaktfassaden sind neuerdings begradigt und ihre hauptsächlichen Wärmebrücken losgeworden. Insbesondere die Aussenfronten haben nun keine Küchenbalkone mehr. Eine Instandsetzung der vorgehängten, korrodierten und teilweise abgekippten Konstruktionselemente wäre baulich äusserst aufwendig gewesen. Im Gegenzug sind die Fensterflächen grösser; die technisch erneuerten Küchen erhalten mehr Licht.

Dem Sparzwang waren auch die Projektverfasser, als Gewinner einer Präqualifikationsrunde, ausgesetzt. So haben Galli Rudolf Architekten ihre Pläne für die Fassadenneugestaltung mehrfach angepasst. Ursprünglich wäre eine vorgehängte Variante vorgesehen gewesen. Nun wurde eine konventionelle Kompaktfassade realisiert. Ein Deckputz schützt die dichten und gut gedämmten Aussenwände vor der Witterung. Seine raue Oberfläche tut dem ansonsten ausgeglätteten Ausdruck an den erneuerten Fassaden gut.

Weiterhin Bestand hat die abgestufte Struktur der Gebäudezeilen, die sich dem Siedlungsinnern zuwenden. Die zueinander verschobenen Quader und die loggiaartigen Balkonschichten bilden wie im Originalzustand den Rahmen für den grosszügigen grünen Innenhof. Auch die grossen Bäume und Sträucher blieben stehen. Wie von der Anwohnerschaft gewünscht, kam einzig ein grosszügiger Kinderspielplatz dazu.

Kompromiss mit Zu- und Abluftsystem

Inwendig konnten die Räumlichkeiten ebenfalls aufgewertet und die Grundrisse teilweise reorganisiert werden. In den übrigen Wohnungen hat man zumindest die Küchen und Nasszellen erneuert. Zudem sind nun alle Wohnungen mit mechanischen Lüftungsanlagen bestückt. Der Luftaustausch wird kontrolliert durch eine im Vergleich zu Standardsystemen abgespeckte Variante.

Ein zentrales Lüftungsgerät zieht frische Zuluft von aussen an; sie wird danach via Wärmetauscher und Filter in die Wohnungen gebracht. In den meisten Gebäudeeinheiten steht das zentrale Lüftungsgerät im Keller; wo die Tragstruktur keine Durchbrüche im UG erlaubte, wich man auf das Flachdach aus. Für die Organisation der Zu- respektive Abluft von oben oder unten: Die Steigleitung führt mit möglichst schlankem Querschnitt mitten durch das Haus. Über die Nasszellen wird die erwärmte und gefilterte Frischluft in den Wohnungen verteilt. Die Kanäle verstecken sich in den abgehängten Badezimmerdecken. Über einen Durchlass strömt die Luft in den Korridor ein, von wo aus sie sich thermisch bedingt in die benachbarten Räume verteilt.

Die belastete Raumluft gelangt ihrerseits über die Nasszellen und die Steigschächte nach aussen. Die Volumenstromregler sind die einzigen aktiven Lüftungskomponenten in jeder Wohnung; Abluftventilator, Wärmetauscher und Filter sind im zentralen Monobloc platziert. Der Dunstabzug in der Küche darf diesen derart kontrollierten Luftaustausch nicht stören: Der Dampf über dem Kochherd wird abgesaugt, gefiltert und bleibt in der Wohnung, dank einem marktüblichen Umluftsystem. Entwicklung und Umsetzung des Lüftungskonzepts ist dagegen das Gemeinschaftswerk von Bauherrschaft, Architekturbüro und Fachplaner.

Die gewählte Variante entspricht einem Kompromiss: Ursprünglich beabsichtigte das Amt für Hochbauten, nur den lärmbelasteten Teil der Siedlung Paradies mit einem kontrollierten System zu belüften. Der Architekt machte sich derweil dafür stark, alle Wohnungen gleich zu behandeln. Und der Lüftungsplaner schliesslich entwickelte aus diesen Ansprüchen und passend zu den räumlichen Limiten eine «kontrollierte Nasszellenlüftung». Die Raumhöhe in den Wohnungen verunmöglichte die Montage der sonst üblichen, internen Lüftungskanäle. Stattdessen wird auf das «Kaskadenprinzip» vertraut (vgl. «Alternativen zum Standard gesucht»): Die Raumluft tauscht sich von allein in den Wohnungen, mit unverändertem oder zusammengelegtem Grundriss, aus. Weder im offenen Wohn- und Essbereich noch in den übrigen Zimmern ist mit Einbussen in der Luftqualität zu rechnen. Vorausgesetzt, die Türen stehen offen. Auf Spezialdurchlässe ist bewusst verzichtet worden (vgl. «‹Lüftungskonzepte als Architekturaufgabe›»).

Mit CO2-freier Wärmequelle

Nicht nur die Bewohnerschaft, auch die Umwelt kann von der Gesamterneuerung profitieren. Der bessere Wärmeschutz wird mit einem weitgehenden Verzicht auf fossile Energieträger kombiniert. Die primäre Energiequelle ist CO2-frei; für die Heizung und die Wasser­erwärmung wird Abwärme einer benachbarten Seewasseraufbereitungsanlage genutzt. Der Spitzenbedarf wird mit einer Ölheizung abgedeckt, was einem Konsum­anteil von rund 10 % entspricht. Das hybride Versorgungssystem wird vom städtischen Elektrizitätswerk ewz betrieben. Ein lokaler Wärmebezug aus dem Untergrund wurde vorgängig geprüft. Doch für Sonden zur Gewinnung von Erdwärme war kaum Platz: Der Eisenbahntunnel zwischen Zürich und Thalwil unterquert den Siedlungsstandort.

An der Medienorientierung nach dem Bauabschluss wurde das hohe Energiesparpotenzial betont. In den 1970er-Jahren wurde der Ausgangswert auf 170 kWh/m2 gesetzt. Die baulichen und energetischen Massnahmen sollen den Konsum nun um rund zwei Drittel senken. Der rechnerische Energiekennwert für die Erneuerung von 45 kWh/m2 entspricht dem Neubau­standard. Doch wie man weiss, sind Planungsdaten mit Unsicherheiten versehen.

An anderen städtischen Liegenschaf­ten wurden nach der Erneuerung Abweichungen von +/– 30 % gemessen. In Wohnungen, die mit einem reduzierten Lüftungssystem versorgt sind, werden die normierten Energieeffizienzwerte oft deutlicher verfehlt als in solchen mit kontrollierter Wohnungslüftung.[1] Andererseits zeigt sich, dass die Fenster in mechanisch belüfteten Wohnungen grundsätzlich weniger häufig offen stehen, was die Energieverluste also reduziert.

Wie gut fällt die Gesamtbilanz der Siedlungserneuerung in Wollishofen nun effektiv aus? Als paradiesisch darf sie zwar nicht bezeichnet werden. Dennoch lassen sich deutliche Verbesserungen mit pragmatischen Mitteln und wenig Technik erreichen. Der individuelle Energieumsatz sollte sogar auf ein Viertel des Ausgangswerts sinken. Zuletzt lebten rund 400 Menschen im «Paradies»; nun sind es über 570 Bewohnerinnen und Bewohner.


Anmerkung:
[01] Reales Lüftungsverhalten in Wohnungen mit unterschiedlichen Lüftungssystemen, Amt für Hochbauten Stadt Zürich, 2012.

10. August 2018 Tina Cieslik
TEC21

«Lieber freiwillig als mit Zwang»

1998 wurde das erste Haus in der Schweiz mit dem Energiestandard Minergie ausgezeichnet. 20 Jahre später sind es über 46 000 Minergie-Gebäude. Was hinter dem Erfolg steht, erklären zwei Vertreter des nationalen Trägervereins.

TEC21: Wir gratulieren dem Verein Minergie zum 20. Geburtstag. Was wünscht sich der Jubilar?
Andreas Meyer Primavesi: Qualität und Einfachheit. Die letzten Jahre waren für die Bau- und Immobilienbranche ziemlich turbulent und unter anderem von der Energiestrategie 2050, der Digitalisierung und den tiefen Zinsen geprägt. Wir wünschen uns darum nicht etwas für uns selbst, sondern für die ganze Branche: dass man die Kräfte bündelt und sich aufs Wesentliche besinnt.

TEC21: Auch für den Verein Minergie haben die letzten Jahre einige Veränderungen gebracht; 2017 hat man erstmals substanzielle Korrekturen am Gebäude­standard vorgenommen. Was zeichnet diesen heute aus?
Andreas Meyer Primavesi: Ein Minergie-Haus ist etwa ein Viertel besser in der Energie- und CO2-Bilanz als ein konventioneller Neubau. Berücksichtigt man die niedrigen Betriebs- und Nebenkosten, die günstigeren Hypothekarzinsen oder den Mehrwert einer Minergie-Liegenschaft, dann lohnt sich der Aufwand auch wirtschaftlich. Minergie ist nur unwesentlich teurer und aufwendiger zu realisieren als der Mainstream. Denn ein zentrales Anliegen ist, dass wir möglichst viele Bauträger ansprechen können. Darum ist Minergie das erfolgreichste Gebäudelabel auf dem Markt. Man hat bereits vor 20 Jahren ein Gespür für das Mach­bare entwickelt, sonst hätte es kaum überlebt.

TEC21: Wenn Sie zurückblicken: Wie hat der Verein dies erreicht?
Milton Generelli: Mit Mut zur Innovation: Vor 20 Jahren hat der Standard erstmals eine thermische Bilanz eingefordert; gesetzlich erforderlich war einzig der Qualitätsnachweis für eine gut gedämmte Gebäudehülle. Dennoch war das primäre inhaltliche Anliegen nicht die Energieetikette, sondern die Steigerung des Komforts. Dies hat damals die Akzeptanz erhöht. Energiesparen war nicht populär und wurde eher mit Verzicht in Verbindung gebracht. Darum der Claim «mehr Komfort, mehr Energieeffizienz»: Dieser war den Endkunden einfach zu vermitteln. Doch es ist mehr als nur Mar­keting. Dahinter steckt ein fachlich fundiertes Konzept, das die Anforderungen zur Nutzerbehaglichkeit und qualitativen Gebäudesubstanz kombiniert.
Andreas Meyer Primavesi: Die sportliche Vorgabe bestand darin, das energetische Niveau von Neubauten um den Faktor zwei bis drei zu unterbieten; der Standard verlangte damals einen jährlichen Heizwärmebedarf von 42 kWh/m2 für neue Wohnbauten anstelle der gesetzlich erlaubten 120 kWh/m2. Erstaunlich ist si­cher, dass trotzdem eine solche Breitenwirkung entfaltet werden konnte.
Milton Generelli: Die Messlatte war weder zu tief noch zu hoch. Es hätte strengere Lösungen gegeben, aber die wären nicht derart breitenwirksam gewesen. Es war eben nie die Absicht von Minergie, nur vorbildliche Leuchttürme zu präsentieren, die zwar alles richtig machen, aber keine Verbreitung finden.

TEC21: Welche Rolle spielen die Kantone, die wesentlich zur Gründung des Vereins beigetragen haben?
Andreas Meyer Primavesi: Das enge Zusammenspiel mit den Behörden war sogar sehr wichtig und ist ein zentraler Erfolgsaspekt. Der Standard Minergie wäre ein Nischenprodukt geblieben, hätten sich die Erfinder und die Kantone nicht einigen können. Da waren anfänglich auch Hürden zu überwinden. Richtig vorwärts ging es, als die Kantone und anschliessend auch der Bund den Standard in ihre Energiepolitik integrierten. Dadurch hat sich die Sichtbarkeit wesentlich erhöht. Inzwischen ist Minergie ein Part­nerprojekt zwischen der öffentlichen Hand und der Privatwirtschaft. Es geht darum, dass wir freiwillig etwas leisten, was sonst mit Zwang realisiert werden müsste.

TEC21: Die Zertifizierungsregeln sind im letzten Jahr erneuert worden. Nun darf ein Neubau nicht mehr fossil beheizt werden. Ist das ein Versuchsballon für die Kantone, ihre Gesetze künftig darauf auszurichten?
Andreas Meyer Primavesi: Der Verein ist sich bewusst, dass diese Vorgabe aneckt und im Markt umstritten ist. Dennoch glauben wir nicht, dass die Versorgung mit fossiler Energie Bestandteil des zukunftsfähigen Gebäudestandards sein darf. Nicht nur bei Neubauten, auch bei Sanierungen ist dies zu hinterfragen. Was die Absichten der Kantone diesbezüglich betrifft, bin ich nicht die richtige Ansprechperson. Doch was der Verein tut, ist sicher kein Zufall. Unsere Vision tra­­gen die Kantone massgeblich mit, respektive sie haben bereits bei der Formulierung mitgewirkt. Ein Zweck des Standards ist: Wir sollen nachweisen, dass ein innovatives Baukonzept technisch und ökonomisch machbar ist. Der Gesetzgeber kann dann übernehmen, was er seinerseits für machbar und nachfrageorientiert hält.
Milton Generelli: Wichtig ist, dass wir – wie schon vor 20 Jahren – mutige Impulse setzen. Die neuen Vorgaben sind darum eine logische Fortsetzung. Zentral ist, dabei die Gesamtenergieeffizienz zu betrachten, ebenso wie die Verpflichtung, die Eigenversorgung etwa mit Photovoltaik anzu­streben. Die Technik, die es dazu braucht, gibt es heute schon.

TEC21: Nicht nur die Wärme, neuerdings wird auch der Stromkonsum bei Minergie mitgezählt. Warum hat man diesen Schritt, die Gesamtenergieeffizienz zu betrachten, nicht mit weniger Vorgaben verknüpft?
Andreas Meyer Primavesi: Hätte man zum Beispiel die Anforderungen an die Gebäudehülle komplett fallen gelassen und nur noch auf die Gesamtenergiebilanz gesetzt, hätten das sicher einige als grossen Wurf wahrgenom­men. Aber daraus wären Konflikte mit den kantonalen Gesetzen und den Baunormen entstanden. Das Bewertungssystem ist jedoch so aufgebaut, dass der Zielwert für die Gesamtenergieeffizienz auf unter­schiedliche Weise erreicht werden kann. Die Qualität der Gebäudehülle, der Eigenversorgungsgrad und die gebäudetechnischen Massnahmen können unter­­einan­­der abgestimmt werden. Den zwingenden Rahmen aber setzen die gesetzlichen Anforderungen an die Gebäudehülle und den Mindestanteil an erneuerbarer Energie. Das ist ein weiterer Mehrwert unseres frei­willigen Gebäudestandards: Ein Bauträger erhält mit der Zertifizierung die Sicherheit, dass er sämtliche Vorgaben für eine Baubewilligung erfüllen kann.
Milton Generelli: Wir dürfen nicht vergessen, dass sich der Standard weitgehend auf gültige SIA-Normen abstützt und eine Absicherung bietet, dass diese Grundlagen berücksichtigt werden. Allerdings wird das Bauen immer komplizierter; zusätzliche Qualitäts­aspekte kommen dazu. Den generellen Anstieg der Komplexität darf man Minergie aber nicht zum Vorwurf machen.
Andreas Meyer Primavesi: Ein Übermass an Anforderungen wird uns immer wieder vorgeworfen. Oder es wird wiederholt kritisiert, wie wenig Freiheiten das Konzept bietet. Aber wenn wir nicht genau hinschauen, wie gut die realisierte Bauqualität und der Komfort sind, würden uns substanzielle Baumängel vorgehalten. Nur darum müssen wir jetzt zum Beispiel nicht über Schimmel in Minergie-Häusern sprechen; den gibt es nicht. Auch die Abweichungen in der Energieperformance zwischen Planung und Alltag wären weitaus grösser, als sie sind. Die erfassten Differenzen sind nüchtern betrachtet nicht so riesig. Ein Erfolgsprinzip des Gebäudestandards steckt auch in der Planungssicherheit und im Investitionsschutz.

TEC21: Vereinfachungen waren also bei der letzten Erneuerungsrunde kein Thema?
Andreas Meyer Primavesi: Selbstverständlich hinterfragen wir selbst einiges. Aktuell ist die Belüftung von sanierten Gebäuden ein internes Diskussionsthema. Auf ein Lüftungssystem verzichten oder die Anforderungen fallen lassen werden wir bestimmt nicht. Die Lüftung ist für uns immer noch das richtige Mittel zum Zweck. Aber wir denken an eine flexiblere Beurteilung und schauen, welche neuen Technologien für Anpassungen oder Vereinfachungen genutzt werden können. Wir nehmen Kritik ernst, aber wir hören lieber auf konstruktive, lösungsorientierte Beiträge als auf laute Vorwürfe.

TEC21: Wie tauscht sich der Verein mit der Fachwelt aus, um Probleme aus der Praxis in Erfahrung zu bringen?
Andreas Meyer Primavesi: Wir sind am Erfahrungsaustausch interessiert und führen in allen Regionen regelmässige Treffen mit Architekten und Fachplanern durch. Aktuelle Themen neben der Lüftung sind der sommerliche Wärmeschutz und das Monitoring des Energieverbrauchs. Wir sind uns bewusst, dass es die Balance zwischen zu detaillierten und zu vagen Anforderungen zu halten gilt.
Milton Generelli: Die Neuerungen für die Zertifizierung sind nicht im stillen Kämmerlein entwickelt worden, sondern waren Teil eines zweijährigen Vernehmlassungs- und Bereinigungsprozesses.
Andreas Meyer Primavesi: Das hilft uns. Nach den ersten zwölf Monaten und den Erfahrungen, die wir mit den neuen Zielen und Kenngrössen sammeln konnten, kann ich sagen: Sie kommen gut an.

TEC21: Aber die Pflicht zur Eigenerzeugung von Strom ist kostenrelevant. Wie viel mehr ist für ein Minergie-Haus zu investieren im Vergleich zum konventionellen Niveau?
Andreas Meyer Primavesi: Früher hat der Verein kommuniziert, dass mit Mehrkosten von rund 5 % zu rechnen sei. Doch diese Analysen treffen heute nicht mehr zu, und aktualisierte Angaben gibt es nicht. Ich gehe aber davon aus, dass sich der Mehraufwand für die Ener­gie­erzeugung positiv auf die Lebenszyklus- und Betriebskosten auswirken wird. Zudem wird der Zusatz­aufwand für die Technik entschärft, weil die Dämmanforderungen dieselben wie beim Gesetzesstandard sind. Hier ist nicht mehr zu leisten als bei allen anderen auch.
Milton Generelli: Darum setzt der Verein auf den Markt. Bei der Solartechnologie sind heute schon günstige Lösungen verfügbar. Zudem glaube ich, dass ein Minergie-Haus nicht teurer sein muss als ein konventionelles Gebäude, wenn das Gesamtkonzept von Anfang an darauf ausgerichtet ist.

TEC21: Der Standard Minergie hat sich regional unterschiedlich verbreitet. An Orten mit hoher Baudynamik wie im Raum Zürich ist der Standard ausserordentlich gut vertreten. Warum funktioniert das etwa im Tessin weniger gut?
Milton Generelli: Der Kanton hat kein generelles Problem, sondern ist nur zeitlich verzögert unterwegs. Der Gesetzgeber war beim Vollzug der Energieziele etwas im Verzug. Erst vor etwa 15 Jahren wurde die SIA Norm 380/1 für die Baubewilligung verbindlich gemacht. Mittlerweile wird auf Sensibilisierung und Weiterbildung gesetzt. Öffentliche Bauten müssen nach Minergie zertifiziert werden, und das Bauen nach Minergie wird finanziell gefördert. Zudem hat die Einführung des Standards Minergie-A, der die Stromerzeugung ins Zentrum stellt, bei den Zertifizierungen im Tessin einen eigentlichen Aufschwung gebracht.
Andreas Meyer Primavesi: Sich in der ganzen Schweiz und in allen drei Landesteilen aktiv zu bemühen, ist für den Verein Minergie sicher ein Kraftakt. Unsere Ressourcen für das Marketing sind beschränkt. Gleichzeitig können wir von der Vernetzung und den regionalen oder klimatischen Unterschieden fachlich profitieren. So kümmert sich die Agentur im Tessin in Zusammenarbeit mit der Scuola universitaria professionale della Svizzera italiana (Supsi) um die angewandte Forschung, wie wir mit dem steigenden Kühlbedarf umzugehen haben. Auch bei den Vorgaben für den sommerlichen Wärmeschutz können wir so voneinander lernen.
Milton Generelli: Effektiv können wir klimatisch bedingte Einflüsse einbringen. So wissen wir, dass Minergie-Häuser im Tessin vergleichsweise weniger gut gedämmt werden müssen, im Gegenzug aber mehr Energie produzieren. Zudem bereitet uns der Sommer mit dem steigenden Kühlbedarf mehr Mühe. Wir müssen kluge Ansätze entwickeln, damit man Wohnhäuser nicht nachträglich mit Kühlaggregaten ausstatten muss.

TEC21: Einem Jubilar wünscht man immer auch ein langes Leben. Wie lang wird es Minergie noch geben?
Milton Generelli: Solange wir Innovationen setzen und die Wirtschaft antreiben können, braucht es uns.
Andreas Meyer Primavesi: Sobald die Energiestrategie 2050 erreicht ist, braucht es uns nicht mehr. Oder wenn jedes Gebäude plus/minus eine Nullbilanz besitzt. Aber die Bauwirtschaft ist träge. Darum wird es den Verein in 20 Jahren sicher noch geben.

10. August 2018 TEC21

Die steile Lernkurve der Energieeffizienz

Das «Haus ohne Heizung» war die Vision. Nun ist das «Haus ohne Kamin» salonfähig geworden. Ein Essay über die Annäherung zwischen Architektur und thermischer Transmission.

Frankfurt am Main ist die deutsche Finanzmetropole schlechthin – und ihre Skyline mit Dutzenden Hochhäusern aus Stahl und Glas der glitzernde Beweis dafür. Einige der fast 50 Wolkenkratzer werden als Banken­zentrale, Hotel oder Wohnsitz der Reichen genutzt. Der älteste Turm gehört zum Dom, ist ziemlich genau 500 Jahre alt und 95 m hoch; der höchste, der «Commerzbank-Tower», endet erst bei 260 m. Die postmoderne Vertikale ist aber nicht die einzige städtebauliche Attraktion von «Mainhattan».

In der Altstadt wird das Mittelalter wieder zur Schau gestellt: Zwischen Dom und Römerberg ist das histo­rische Zentrum auferstanden, als hätte man das Rad der Zeit um Jahrhunderte zurückgedreht. Ein klobiger Verwaltungskomplex aus den Nachkriegsjahren musste einer Rekonstruktion des Vorkriegszustands weichen (vgl. «Zeitgemäss historisch»). Das Altstadtareal mit dem sperrigen Namen «DomRömer-Quartier» besteht nun wieder aus akkuraten Spitzgiebelhäusern und bunten Fachwerk-, Schiefer- oder Renaissancefassaden.

Die fünftgrösste Stadt Deutschlands vereint deshalb Gegensätzliches in Raum und Zeit: filigrane Himmelsstürmer im Banken- und Europaviertel sowie handwerklich solide, schnittige Retro-Architektur im Stadtzentrum. Jedes einzelne Format beeindruckt mit einer unübersehbaren Präsenz. Doch neben Lob gibt es dafür, kaum über­raschend, auch Kritik. Die hohen Kosten und die Verschleierungsarchitektur sind Aspekte, die nicht allen Urbanisten gefallen.

Frankfurt setzt aber nicht nur städtebauliche Trends, sondern fühlt sich auch dem ökologischen Zeitgeist verpflichtet. In der Energieszene ist die Metropole als inoffizielle Passivhaus-Hauptstadt Deutschlands bekannt. Die in jüngster Zeit erstellten öffentlichen Bauten erfüllen ebenso wie viele private Wohnsiedlungen allesamt höchste Vorgaben beim Energiestandard. Auch unter den Hochhäusern befinden sich qualifi­zierte Vertreter grüner Architektur.

Und sogar das neo­mittelalterliche DomRömer-Quartier ist hinter der ­Fassadenzier energetisch optimiert: Der Heizwärmebedarf der 13 Rekonstruktionshäuser variiert zwischen 13 kWh/m2 und 40 kWh/m2. Im besten Fall entspricht dies dem Niveau von Passivhäusern; im ungünstigsten wird ein Niedrigenergiestandard erreicht, vergleichbar einem Schweizer Minergie-Haus. So frei man Städtebau und Baukultur in Frankfurt inter­pretiert, so sehr beeindruckt das Selbstverständnis, wie vielfältig man selbst überdurchschnittlich spar­same Gebäude konstruieren und welch ästhetisch variable Energiehüllen man darüberstülpen kann.

Die Wahrnehmung: ein trojanisches Pferd

Eine Frankfurt wesensverwandte Stadt ist Zürich: An der Limmat wird ebenfalls mit Geld und Geist gehandelt, und auch hier mag man nicht mehr Energie verschwenden als zwingend nötig. Der Schweizer Banken­platz ist wie der deutsche ein Pionier und eine Hochburg des energieeffizienten Bauens. Anfang 1990er-Jahre hat man sich in der Innenstadt, in einem kantonalen Amtshaus, das Minergie-Label ausgedacht. Inzwischen treibt nicht nur die Stadtverwaltung ein ökologisches Bauen für die 2000-Watt-Gesellschaft voran.

Doch wäre Zürich Frankfurt, würden viele Debatten hierzulande ganz anders geführt. Denn während im Norden ein Energiesparhaus als Mittel zum Zweck dient, endliche Ressourcen einzusparen, leidet es bei uns unter einem schlechten Ruf. Die Wahrnehmung ist: Das Zertifikat wird eher als Stigma denn als gefälliges Ökodesign interpretiert. Ein Minergie-Haus gilt hierzulande schnell als architektonischer Sündenfall oder zumindest als baukultureller Sonderling.

«Zürich will Modellstadt für ökologisches Bauen werden. Bleibt die Ästhetik dabei auf der Strecke?», fragte die deutsche Wochenzeitung «Die Zeit» vor einigen Jahren. Und die NZZ wunderte sich dieses Frühjahr nach einem Besuch des Ökoquartiers «Greencity» am Südrand der Stadt: «Wollen wir so leben?» Das Bestreben, den Energieverbrauch der Bewohner und Nutzer zu senken, zwinge die Architektur in die Knie. Zwar kann der «nachhaltigste Standort der Stadt Zürich» fast sämtliche Energie- und 2000-Watt-Zertifikate vorweisen, die man erwerben kann. Dennoch gewinnt die kunsthistorisch ausgerichtete NZZ-Kritik seiner Erscheinung – massive und massige Baukörper – wenig Gutes ab.

Warum funktioniert Niedrigenergie in Frankfurt, in nostalgischer Form von Altstadthäusern oder als emporragender Protz? Und warum erkennt ein Zürcher die Ökologie in gebauter Form scheinbar nur als stylisierten Klotz? Ist das wirklich so: Verformt das ökologische Gewissen die bisherige Architektur? Oder benutzt man die Ökoetikette nicht gerne auch als faule Ausrede für mässige ästhetische Qualitäten?

Tatsächlich wird die Energieeffizienz dort zum trojanischen Pferd, wo immer sie als Alibi für rationelle, rendite­orientierte Baukonzepte herhalten muss. Denn viele Zürcher Neubauten, wie in der «Greencity» oder an der Europaallee, sind nicht nur ökobilanziert und zertifiziert, sondern mindestens ebenso akribisch auf Ökonomie getrimmte, kompakte Klumpen.

Energiestandards: objektivierbare Qualität

45 Jahre nach der Erdölkrise kämpft das energieeffiziente und klimafreundliche Bauen immer noch um seine Anerkennung. Wie die Abbildungen auf diesen Seiten zeigen, lassen sich zwar schöne Gebäude auf der Minergie-Liste finden. Trotzdem erhalten die Wegbereiter und ihre Nachfolger bis heute schlechte Stilnoten. In der Zwischenzeit ist aber einiges passiert: In 20 Jahren hat sich der Standard Minergie von einer Marketingidee zum erfolgreichsten Gebäudelabel der Schweiz entwickelt (vgl. «Lieber freiwillig als mit Zwang»).

Jeder achte Neubau ist inzwischen zertifiziert. Nicht nur in Zürich werden ganze Stadtquartiere mit Niedrig­energiestandard aus dem Boden gestampft (vgl. TEC21 14–15/2015). Die «Green Building»-Welle ist für die ­Baubranche von einem Nischenprodukt zum Wachstumstreiber geworden. Stehen aber nicht Zahlen im Vordergrund, schwindet die breite Akzeptanz. Nochmals: Sind sich der hohe Energiestandard und ein vorzeigbares Aussehen spinnefeind?

In der Beurteilung, wie gutes Ökodesign wirkt, steckt allerdings ein grosses Missverständnis. Ein Streit über Ästhetik lässt sich kontrovers, aber meistens nur subjektiv führen. Andere Aspekte der Architektur, wie der Umgang mit Ressourcen, sind dagegen objektiv nachweisbar. In der Betrachtung ambitionierter Wohnsiedlungen und Geschäftspassagen kommen sich die unterschiedlichen Perspektiven deshalb häufig in die Quere: Während Energiefachleute die Vorzüge eines Gebäudes nach Kilowattstunden und CO2-Emissionen qualifizieren, sprechen Architekten und Städtebauer lieber über Struktur, Tektonik und Form.

Eine gemeinsame Bewunderung für das Energiesparhaus scheint an den Grenzen der eigenen Disziplin zu scheitern. Bis heute versucht man vergeblich, sich gegenseitig an­zuerkennen. Es wirkt so, als habe man sich im Dämmperimeter verfangen, obwohl die ersten Exoten bereits über 30 Jahre alt sind.

Die Bauphysik: solar oder polar?

Der Graben der Unvereinbarkeit rührt auch von den Anfängen her, als Erforschung und Erprobung unkonventioneller ökologischer Baukonzepte überhaupt begannen. Die Idee, ein «Haus ohne Heizung» zu realisieren, stammt aus Nordamerika; ab den 1960er-Jahren verfolgte man sie in Skandinavien und Deutschland weiter.[1] Die ersten Solarhäuser der Schweiz folgten wenig später; sie sind nun fast 40 Jahre alt.

Anfang der 1980er-Jahre führten die Kantone erstmals Wärmedämmvorschriften ein und offizialisierten die zuvor definierten bauphysikalischen Normen. Die neuen Vorgaben stellten den damaligen Stand der Erkenntnisse allerdings auf den Kopf. Mit der Sonne zu bauen, anstatt sich gegen die Kälte abzuschirmen, war das Credo der nordamerikanischen Solararchitektur. Ein Sonnenhaus gewinnt die Strahlungsenergie passiv mit vollflächig verglasten Südfassaden und aktiv mit Luftkollektoren auf dem Dach oder an der Hauswand. Riesige Wassertanks im Keller sollten die Wärme saisonal speichern.

Das solare Bauen ist eine Antithese zur dicken Ver­packung. Dennoch spurten der Gesetzgeber und die Bürokratie auf den polaren Energiesparpfad ein.
Nicht zu vernachlässigen ist, dass die junge Geschichte des energieeffizienten Bauens eigentlich auf einer disruptiven Entwicklung beruht. Der Gebäudetyp «Solarhaus» wurde ausserhalb staatlicher Architekturakademien und öffentlicher Bauforschungsinstitute entworfen.

Stattdessen waren vielerorts Idealisten am Werk; darunter bis heute rund um die heutigen Hochburgen Zürich und Frankfurt aktive und erfolgreiche Architekten und Energieingenieure. Ihnen war jedoch bewusst, dass das Gebäude der Zukunft eine heikle Gratwanderung zu bewältigen hat. Teilweise gegensätzliche und sogar widersprüchliche Experimente, von solar zu polar, wurden vor rund zwei Jahrzehnten dazu präsentiert. Daraus entstand ein Wettstreit zwischen extrovertierten Sonnenfängern und introvertierten Verpackungskünstlern, der einige Architekturrepräsentanten irritierte. Die Zeitschrift Hochparterre berichtete eher skeptisch über die «solaren Urhütten».

Derweil beklagte man auf akademischer Ebene das «Splitting der Fassade»: Die Aussenwand wurde zur thermischen Zwiebel und die ungewohnte Dämmschicht sogar mächtiger als die massive Tragstruktur. Derweil schrumpfte die dünne Fassadenhaut zum Dekor. Die populäre monolithische Bauweise, vom Gründerhaus mit Sandstein bis zum modernistischen Betonbau, schien plötzlich der neuen Qualitätsgrösse «Wärmedämmperimeter» zum Opfer zu fallen.

Der Erfolg: ein Beitrag zur Klimapolitik

Aber worum geht es denn eigentlich? An sich darum, dass man in der Gebäudenutzung viel Energie einsparen kann. Damit ausreichend Warmwasser und angenehme Raumtemperaturen zur Verfügung stehen, kann der spezifische Wärmebedarf mehr als 20, knapp 5 oder nur 1 ½ Liter Heizöläquivalent pro m2 betragen. Ein Gebäude, kurz vor der Erdölkrise in den 1970er-Jahren erstellt, verbraucht viermal mehr als ein aktueller Neubau.

In weniger als zwei Generationen ist aus der Energieschleuder Haus – mit 22 Liter Heizöläquivalent – ein Spitzenreiter auf der Effizienzskala geworden. Das Gesetz erlaubt aktuell nur noch 4.8 l. Beim Minergie-­Zertifikat sind es 3.5 l; für den Passivhausstandard nochmals 2 l weniger. Würde ein Autohersteller dieselben Erfolge vorweisen wollen, dürfte ein Mittelklassewagen nurmehr 3 Liter Benzin pro 100 km verbrauchen. Neue Autos schlucken durchschnittlich dreimal so viel.

Als vor über 40 Jahren das Erdöl verknappt wurde, sorgte man sich zuerst um den freien Verkehr. 1973 waren die Autobahnen auf Anordnung des Bundes an drei Sonntagen gesperrt. Danach hat sich der Gesetzgeber stärker auf den baulichen Wärmeschutz konzentriert; dessen Fortschritte haben die motorisierte Mobilität inzwischen weit überholt. Entsprechend positiv meldet sich der Kanton Zürich zu Wort: «Der gesamte Wärmebedarf geht seit zehn Jahren stetig zurück.»[2]

Und auch für die nationale Treibhausbilanz ist die Energieeffizienz beim Bau eine seltene Erfolgsgeschichte. «Obwohl die beheizte Fläche zwischen 1990 und 2016 um 39 % zugenommen hat, sanken die Emissionen aus Heizung und Warmwasseraufbereitung in Wohn- und Gewerbegebäuden um etwa ein Viertel», lobt das Bundesamt für Umwelt den Gebäudesektor im aktuellen Klimabericht. Diese Bilanz bietet sowohl dem Wachstum der Energiebezugsfläche als auch der Marktdynamik überraschenderweise die Stirn. Die Preise für fossile Brennstoffe haben sich in den letzten 20 Jahren nur geringfügig erhöht, weit weniger als prognostiziert.

Die Transmission: wie dicht und kompakt?

Den grossen Fortschritten der letzten Jahrzehnte zum Trotz: Das Haus ohne Heizung erweist sich als Illusion. Während die Pioniersolarhäuser in Nordamerika selbst im Winter reichlich besonnt werden, ist das Klima Mitteleuropas dafür an kalten Tagen zu düster. So wurde an Testobjekten in Skandinavien und Deutschland erstmals ein Mittelweg zwischen Gewinnmaximierung und Verlustminimierung erprobt. Die Schnittmenge aus «solar» und «polar» war das Resultat dieser thermischen Mengenlehre. Die Fensterfront nach Süden blieb offen, wurde aber durch eine Hülle aus drei gut gedämmten, massiven Fassaden ergänzt.

Diesen Ausgleich verbinden das Minergie-Konzept und andere Energiesparhäuser bis heute: möglichst viel Sonneneinstrahlung für den passiven Energie­gewinn und eine gute Dämmung gegen unnötige Wärmeabflüsse. Mit zusätzlichen geometrischen Interventionen schraubt man den Energiebedarf weiter zurück: Der Würfel ist nach der Kugel die zweitbeste thermodynamische Form, um einen Baukörper mit so wenig Energie wie möglich zu beheizen.

Das kompakte Gebäude, mit minimaler Hüllfläche im Verhältnis zum Volumen, ist das architektonische Pendant. In den meisten Lehrbüchern zum energieeffizienten Bauen wird beschrieben, dass das Haus, das ohne Kamin auskommen soll, auch auf die bisherige Vielfalt an Konstruktionsformen verzichten muss. Denn erst kompakte, gut gedämmte Hüllen bieten Gewähr, dass erneuerbare Energieträger mit geringer Leistungskraft die fossilen Brennstoffe verdrängen können. Das kistenförmige Gebäude ist so zum Bild für die gestalterische Auszehrung durch das klimafreundliche Bauen geworden.

Die Assemblage: Die Architektur lernt

Der konstruktive Gewinner des energieeffizienten Bauens ist das additive Bauen, namentlich Wärmedämmverbundsysteme oder ähnliche Kompaktfassaden­varianten. Begradigte Fassaden und ultraschlanke ­Hartschaumdämmschichten sind darum bei energie­effizienten Häusern sehr häufig anzutreffen – aber ebenso oft bei kostenreduzierten, rationellen Bauten.

Manches erinnert allerdings an die Wegwerfmentalität: Hochleistungsdämmprodukte und andere Bauteile aus dem Hightechlabor enthalten kritische Substanzen; ihre energetische Wirkung interessiert mehr als umfassende ökologische Betrachtungen. Doch viele erstaunliche Produkte der Energie- und Materialforschung sind weder länger erprobt, noch weiss man über die Umwelteinflüsse im Lebenszyklus Bescheid. Und werden heute keine neuen Recyclingmethoden erforscht, hat man gegen die Abfallberge von morgen nicht vorgesorgt.

Am erfolgversprechendsten und nachhaltigsten funktionieren konstruktive Ansätze, die den Wärmedämmperimeter im Sandwichprinzip eingrenzen und dazu traditionelle Baustoffe und reversible Konstruktionsformen verwenden. Die Architektur hat einiges dazugelernt; umfassend und auch ästhetisch nachhaltig stellt man sich inzwischen der Wärmeschutzherausforderung. Sichtbar wird dieser Wandel überall dort, wo der Lebenszyklus nicht als Dekoration verstanden, sondern das additive Core-and-Shell-Prinzip durch eine versierte Assemblage von Materialien und Bauteilen abgelöst wird.

Charakteristisch für die jüngste Generation von energiesparenden Wohn- und Geschäftshäusern ist daher eine pragmatische Mixtur mit wiederentdecktem Gestaltungsanspruch: die Tragstruktur ein Skelettbau, der passive Wärme speichert, und die Hülle eine selbsttragende Holzrahmenkonstruktion, deren Ausfachung neben der Dämmung auch zur Profilierung der Aussenfassaden benutzt werden kann.

Die Reliefs tauchen ebenso wieder auf wie die Ecken und Kanten früherer Bauperioden. Allerdings gelingen «wärmebrückenfreie» Bauteilübergänge nur dank thermischen Speziallösungen. Auf Balkone will man nicht mehr verzichten; diese sind nun Teil eines selbsttragenden Anbaus und vom Hauptgebäude statisch und thermisch entkoppelt.

Dennoch setzt sich das Dilemma zwischen offener und geschlossener Bauweise ungeachtet der besseren Materialien fort. Sinnbildlich dafür steht das Fenster, das wohl am stärksten vom technischen Fortschritt profitiert: Die Fenster der ersten Minergie-Häuser haben mit den heutigen Produkten wenig gemein. Damals waren sie zweifach verglast; heute ist Dreifachverglasung mit Neongasfüllung der übliche Minimalstandard. Der Wärmedurchlass dieser transparenten Bauteile hat sich in den letzten zwanzig Jahren halbiert.

Zwar ist dieser Qualitätssprung auch ein Gewinn für die architektonische Freiheit beim Entwerfen energieeffizienter Häuser; zudem erlauben grössere Fensterflächen ein Plus beim Tageslichtkomfort. Aber dadurch wird ein Teil des energetischen Gewinns mit dem Wärmeschutzfenster wieder zunichtegemacht; in ähnlichen Fällen spricht man vom Reboundeffekt: Bessere Technologien sind zwar effizienter, verführen aber meistens zur Ausweitung des absoluten Nutzungsumfangs.

Und ein zu unbedarfter Zuwachs des Glasanteils an einer Gebäudefassade birgt weitere, energetisch schwer abschätzbare Unsicherheiten: Wenn das Klima, wie in den nächsten Jahrzehnten erwartet, wärmer wird, bieten die heute derart transparent konzipierten Gebäudehüllen, trotz beeindruckend niedriger U-Werte, dereinst wenig Schutz vor sommerlicher Überhitzung.

Die Komfortfrage: zu viel oder zu wenig?

Die Lernkurve des energieeffizienten Bauens ist weit vorangekommen; doch der einfach gestrickte Wärmeschutzpullover erfüllt die Anforderungen längst nicht mehr: Das Gebäude ist nicht nur sparsamer, sondern auch zu einer leistungsfähigen, aber fragilen Klimakapsel geworden. Jedes Wohn- oder Geschäftshaus hat den wechselhaften äusseren Witterungsbedingungen ein stabiles internes Behaglichkeitsniveau gegenüberzustellen.

Die staatliche Regulierung des Wärmedämmperimeters hat nun ein komplexes Deklarationssystem, bestehend aus vielfältigen energetischen Wechselwirkungen hervorgebracht. Im verbindlichen Energienachweis spielen geografische Ausrichtung, Beschattung, Sonnenschutz, Fassadenabwicklung, Dämmung der Aussenwand, Speichermasse der Gebäudestruktur, Fensteranteil oder U- respektive g-Werte von Fensterglas eine wichtige Rolle. Und auch die Nutzungsphase muss in abstrahierter Form, etwa im SIA-Normenwerk, abgebildet werden können.[3]

Trotzdem darf nicht vergessen gehen: Man kann weder alles im Voraus definieren, noch lassen sich sämtliche Probleme, Unsicher­heiten oder Risiken im Hochbau den verschärften Energiestandards in die Schuhe schieben. Auch die vielen Revisionsrunden beim Brand- und Lärmschutz stellen jedes Mal neue Herausforderungen dar, die untereinander sogar neue Zielkonflikte verursachen können.

Umso dringender ist zu überlegen, welche Leistungen ein standortgebundenes Gebäude überhaupt erbringen kann. Da die früheren Minergie-Sonderregeln inzwischen gesetzlicher Minimalstandard sind, wäre eine interne Koordination der vielen Einzelanforderungen zwingend angebracht. Die Zeit dafür drängt: Bis 2020 wollen die Kantone ihre eigenen Energievorschriften den aktuellen Minergie-Werten anpassen, zumindest was den Wärmeschutz betrifft.

Dessen ungeachtet sind weitere Pendenzen zu erledigen, will man die Gesamtenergieeffizienz eines Gebäudes verbessern. Seinerseits hat der Trägerverein letztes Jahr den Kurs bereits korrigiert. Der neue Fokus richtet sich auf eine (auch selbstverschuldete) Hypothek: Während der Konsum von Wärme sinkt, steigt derjenige von elektrischer Energie. Denn auf eine Heizung oder einen Kamin möchte man im Prinzip verzichten; aber umso wichtiger wird der Stromanschluss.

Mechanisch belüftet ist zum Beispiel jedes Minergie-Haus; auch der Anteil der Wärmepumpen ist in zertifizierten Objekten besonders hoch. Der erneuerte Minergie-Standard bezieht sich deshalb nicht länger auf den Konsum von Wärmeenergie für Heizung und Warmwasser, sondern zählt nun auch den Elektrizitätsverbrauch der Haushalte mit. Ungelöst sind jedoch auch hier zentrale Fragen zum Verhalten und zu den Ansprüchen der Benutzer respektive der Transfer solcher Informationen in normierte Planungsdaten.

Ein Minergie-Haus steht für die Option, ein ausgeglichenes Temperaturniveau im Sommer und Winter sowie einen stets kontrollierten Luftwechsel mit limitiertem Betriebsenergieaufwand anbieten zu können. Allerdings weiss man inzwischen, dass sich dasselbe Behaglichkeitsniveau auf unterschiedliche Weise, mit hohem technischem Aufwand oder mit ressourcenschonenden Low-Tech-Konzepten erreichen lässt.

Wo liegt nun aber der goldene Mittelweg, der die gegensätzlichen Strategien verbinden kann? Abermals sieht sich die Bauforschung mit Grundsatzfragen konfrontiert. Lau­teten sie vor 30 Jahren: Hat es zu viel oder zu wenig Energie, müssen wir sie einfangen oder einsperren?, so heisst es nun: Funktioniert es besser mit mehr oder mit weniger Komfort? Der Energieeffizienztest ist für die Architektur also noch nicht ausgestanden.

Die Prüf­kriterien sind aber nicht mehr die Bauphysik, der Dämmperimeter oder die Gebäudehülle, sondern der Zielkonflikt zwischen Ressourcenaufwand und Nutzungskomfort. Das Problem mit der Ökoverpackung reduziert sich inzwischen auf die Gestaltungsfrage: Gefällt sie, oder befindet man sie als unpassend? Aber der Inhalt, der zur nachhaltigen Nutzung passt, ist nun zu definieren.


Anmerkungen:
[01] Eine Geschichte der Niedrigenergiehäuser bis zum Passivhaus. Institut Wohnen und Umwelt 1996.
[02] Energieplanungsbericht 2017. Regierungsrat Kanton Zürich.
[03] Grundlagen zur Wirkungsabschätzung der Energiepolitik der Kantone im Gebäudebereich. CEPE ETH Zürich 2008.

27. April 2018 TEC21

Die Bieler Baulandrochade

Biel hat seit letztem Jahr ein Reglement für den Mehrwertausgleich. Bereits davor gelang es der Planungsbehörde, mit Grundeigentümern die Aufwertung eines Siedlungsraums einvernehmlich zu vereinbaren.

Biel baut und Biel wächst, so wie fast alle anderen Städte. Die Bevölkerungszahl steigt jährlich um rund 1 %, was genau dem Mittel der urbanen Schweiz entspricht. Dazu macht Biel, was andere ebenso sollten: sich im Innern verdichten. Und vor allem hat die Uhrenstadt etwas, was andere Städte ebenfalls gern möchten: eigenes Bauland, das zum wichtigen Pfand für eine qualitativ hochstehende, urbane Entwicklung geworden ist.

Nicht zuletzt darum kann, was im Wohnquartier Biel-Mett realisiert wird, den Neid aussenstehender Siedlungsplaner und Urbanisten wecken. Auf einer knapp 7 ha grossen Brache, direkt neben dem Güterbahnhof, ist es gelungen, unterschiedlichste, private und öffentliche Anliegen flächenschonend, grosszügig und hochwertig unterzubringen. Die westliche Arealhälfte gehört dem Uhrenkonzern Swatch, der hier bis im Herbst seine repräsentative Firmenzentrale, das schlangenförmige Holzgebäude des japanischen Ar­chitekten Shigeru Ban, fertigstellt. Im Osten folgt der «Jardin de Paradis»; seit letzten Sommer wohnen über 500 Personen in dieser urbanen Neubausiedlung (kpa architectes Freiburg). Der eigentliche Garten liegt im Süden: Ein grosszügiger, öffentlicher Park (Fontana Landschaftsarchitektur) rundet den Entwicklungsraum, knapp ausserhalb des Stadtzentrums von Biel, ab.

Der Standort markiert einen städtebaulichen Übergang; hier grenzen die Uhrenwerke an ein locker bebautes Wohngebiet. Bis vor Kurzem belegten eine Grossgärtnerei sowie Fussball- und Tennisfelder das offene Gurzelengelände. Nun drängen sich voluminöse Baukörper bis an die erste Reihe des für Biels Westen typischen Ein- und Mehrfamilienhausquartiers.

Die bauliche Verdichtung wird jedoch mit ausreichendem Ausgleich realisiert. Direkt daneben ist nämlich ein Park entstanden, «eine grüne Lunge für die Stadtbevölkerung». Die Schüssinsel nimmt fast einen Drittel des Neubauareals ein. «Die Idee existierte von Anfang an; der Entwicklungsschwerpunkt benötigt grosszügigen Freiraum», sagt Florence Schmoll, Abteilungsleiterin der Stadtplanung Biel.

Mehrfach ausgezeichneter Stadtpark

Das neue Naherholungsgebiet ist eine künstliche Insel, die sich mit naturnahem Charakter dem Lauf der Schüss entlang zieht. Schon wenige Tage nach Eröffnung im letzten Sommer war der Standort gut besucht. Und auch die Fachwelt war unmittelbar davon angetan: Der lang gezogene Inselpark erhielt letztes Jahr den goldenen Hasen für die schönste Landschaftsarchitektur sowie den Flâneur d’Or für die attraktivste Fussverkehrsverbindung in der Schweiz. Gäbe es eine Auszeichnung für die cleverste Städteplanung, die Bieler Stadtinsel wäre auch dafür aussichtsreiche Kandidatin.

Der offizielle Startschuss fiel vor zehn Jahren, als die Bevölkerung ihre Zustimmung für ein kompliziertes, aber profitables Liegenschaftsgeschäft gab. Zuvor sass die Stadtbehörde mit zwei weiteren Grundeigentümern am Verhandlungstisch: Der erste war der Uhrenkonzern, der für die Erweiterung des Produktionsareals warb, der zweite ein institutioneller Investor, der die ehemalige Gärtnerei überbauen wollte. Und die Stadt selbst war Eigentümerin der Sportanlagen, die in der Folge zum wichtigsten Pfand im Entwicklungspoker wurden. Alle Parteien besassen zu Beginn fast identisch grosse Parzellen von jeweils 3 ha Fläche, aber mit unterschiedlicher Baureserve. In der Folge sprachen sich die Verhandlungspartner so lang untereinander ab, bis eine zweifache Grundstückrochade die individuellen Ansprüche «im gegenseitigen Einverständnis» unter einen Hut bringen konnte, bestätigt Schmoll.

Trotz weniger Fläche sind alle zufrieden

Die Kohärenz der Interessen schaffte eigentlich Unmögliches: Der interne Grundstückhandel brachte nur Gewinner hervor. Swatch erwarb 2 ha Land dazu, als Standort für den Prunkbau aus Holz. Die Anlagestiftung gab sich mit kleinerer Fläche zufrieden, durfte aber darauf höher und dichter bauen. Die Stadt Biel gab ebenfalls einen Drittel der Fläche ab und war am Schluss auch damit mehr als zufrieden: Der öffentliche Haupt­erlös aus dem Abtauschgeschäft lag bei rund 17 Mio. Franken, wobei damit der Ersatz der Sportanlagen am westlichen Stadtrand finanziert werden konnte.

Damit der finanziellen und sachlichen Gegenleistung aber nicht genug: Das Ausgleichspaket umfasste substanzielle Vereinbarungen mit beiden Landeigentümern. Der Uhrenkonzern gestattet einen öffentlichen Uferweg auf der eigenen Parzelle. Der Wohninvestor wiederum bezahlte der Stadt Biel eine Mehrwertabgabe von 1 Mio. Franken. Zwar reicht dieser Zustupf bei Weitem nicht aus. Das Budget für den Park lag bei 14 Mio. Franken. Da es jedoch gelang, weiteres Geld aufzutreiben, etwa für die Verbesserung des Hochwasserschutzes, konnte die Schüssinsel in dieser Form rea­li­siert werden. Neben Verhandlungsgeschick und pla­ne­rischer Weitsicht der Stadt ist dies dem kreativen Wage­mut der Landschaftsarchitekten und dem interdisziplinären Engagement kantonaler Amtsstellen zu verdanken.

Ein Auge auf den Entwicklungsraum hatte die Behörde bereits 1999 geworfen, obwohl dieser noch in drei Einzelparzellen unterteilt war. Die damalige Änderung des kommunalen Zonenplans spurte die baurechtlichen Rahmenbedingungen für die nun vollzogene Arrondierung vor. Unter anderem ist die städtische Liegenschaft, die im Wesentlichen das ehemalige Gärtnereiareal umfassste, als öffentliche Nutzungszone festgesetzt worden. 2008 folgte ein städtebaulicher Studienwettbewerb, der den ersten Teil des Gesamt­areals umfasste; das Bieler Büro :mlzd Architekten siegte mit einem Vorschlag, der erstmals die Idee von mehreren kleinen Parkinseln skizzierte, aber den Planungsperimeter sprengte. Für das Gesamtprojekt war die Ausweitung der Grenzen jedoch ein Gewinn, sodass die weitere Planung angepasst wurde.

In der landschaftsarchitektonischen ­Über­arbeitung war zusätzlich der Hochwasserschutz zu berücksichtigen. Die drei auf dem Plan entworfenen Inseln hängte man tatsächlich zu einer einzigen zusammen; das Gelände wurde zudem so weit erhöht, dass die Insel selbst zum Damm wird. Und schliesslich konnte auch die Archäologie als letzte Hürde gemeistert werden: Man war auf prähistorische Funde aus der Bronze- und Römerzeit gestossen, weshalb ein kurzzeitiger Projektstopp in Kauf zu nehmen war.

Zusatzansprüche geschickt integriert

Die Schüssinsel bietet nun mitten in der Uhrenstadt einen Raum für Mensch und Natur. Die Gestaltung schliesst möglichst wenig aus und versucht, anfänglich gegensätzliche Zusatzansprüche zu integrieren. Der positive Effekt dabei ist: Das Projektbudget konnte auf verschiedene Kassen aufgeteilt werden. Für die Flussrevitalisierung haben Bund, Kanton und der Ökofonds des regionalen Energieversorgers rund 80 % der Kosten übernommen. Die Fuss- und Radwege wurden als Bestandteil des Agglomerationsprogramms von Bund und Kanton mitbezahlt. Die Stadt Biel musste nur knapp die Hälfte des Budgets selbst finanzieren; dank Mehrwertabgabe und Landerlös war auch dies beinahe ein Nullsummenspiel.

Biel hat, was andere gern hätten: viel eigenes Land. Ein Viertel der Gemeindefläche sind Eigentum der Stadt. Entsprechend aktiv und umfassend lässt sich die eigene räumliche Entwicklung beeinflussen. Aber demnächst haben die anderen Schweizer Städte, worüber Biel seit zwei Jahren verfügt: die Mehrwert­abgabe zum Ausgleich der internen Siedlungsverdichtung. Die Stadt im Seeland hat 2016 eine Richtlinie eingeführt, wonach 40 % des Planungsmehrwerts einge­fordert werden dürfen. Die Gurzelen fiel jedoch unter ein früheres Ausgleichsregime, mit dem der Kanton Bern seinen Gemeinden mehr Flexibilität zugestanden hatte. Damals wurde weniger Geld eingenommen. Umso willkommener ist nun die verbindliche, erhöhte Abgaberegel. Als wichtige Hilfestellung wird sie von der Planungsbehörden sowieso empfunden. Florence Schmoll hält ein solches Förderinstrument für öffentliche Räume sogar für unerlässlich: «Der Bedarf in wachsenden Städten nimmt zu; ohne zusätzliche Mittel aus dieser Spezialfinanzierung kann die Qualität der baulichen Entwicklung nicht erhöht werden.» Deshalb ist nicht nur für Biel zu hoffen, dass Ausgleichsvorhaben wie die Schüssinsel weiterhin Raum finden und derart gut gelingen.

27. April 2018 TEC21

Das Basler Begrünungsmodell

Als erste Stadt der Schweiz verlangt Basel seit über 30 Jahren einen Mehrwertausgleich. Am Rheinknie zahlen Investoren, die höher und dichter bauen, jeweils in den städtischen Grünfonds ein. Die Reserve zur Aufwertung von Freiräumen liegt bei rund 50 Millionen Franken.

Basel baut und Basel spriesst. Mittler­weile steht das höchste Gebäude der Schweiz am Rhein. Vor drei Jahren hat der Pharma­konzern Roche seinen 178 m hohen Büroturm mit schräger Fassadenrampe gebaut. In Bälde wird der Zwilling gleich daneben noch höher gezogen; «Bau 2» soll sogar 50 Stockwerke und 205 m hoch in den Basler Himmel ragen. Aber nicht nur die Skyline, auch der Stadtkörper verändert sein traditionelles Gesicht: Wo früher kleine und grosse Gewerbebauten oder Güterumschlagplätze das Stadtbild prägten, entstehen nun weitläufige Neubauareale, volu­mi­nöse Wohnsiedlungen und protzige Geschäfts­kom­ple­xe. Die «Weltstadt im Taschen­format», so die Eigenwerbung, will sich erweitern: Die Bevölkerung soll bis 2035 um 10 % zulegen.

Basel baut, Basel entwickelt sich und Basel zwängt sich in ein enges Korsett: Der Siedlungsraum ist begrenzt, die Fläche der Bauzonen zuletzt sogar leicht geschrumpft. Die drittgrösste Stadt der Schweiz wird sich weiter wandeln, sie kann aber nicht in die Breite, sondern nur nach oben und nach innen wachsen. Wo und wie der Stadtraum baulich verdichtet werden kann, zeichnet mittelfristig der Richtplan des Halbkantons vor. Baustellen, Kräne und Planungsworkshops deuten schon jetzt darauf hin, dass das Wachstum von vielen Orten ausgehen soll. Sowohl in den Aussenquartieren als auch an zentralen Lagen sind freie Bauplätze in überraschend reichlicher Anzahl verfügbar.

Drei Dutzend Aufwertungsstandorte

Weit gediehen ist die Verwandlung der Erlenmatt, eines knapp 20 ha grossen, ehemaligen Eisenbahngeländes an der Nordtangente. Zwei Drittel des neuen Basler Stadtquartiers für etwa 1200 Personen sind inzwischen bewohnt. Von hier aus zum Rhein ist der Umbau einer weit umfangreicheren Fläche angedacht; das heutige Industrieviertel Klybeck soll mittelfristig ein durchmischter Wohn- und Arbeitsstandort werden und zusätzlichen Lebensraum für 10 000 Personen bieten. Aber auch zentrumsnahe Quartiere entwickeln sich weiter: So haben das Gellertquartier und Kleinbasel eben erst Zuwachs durch neue Wohnsiedlungen erhalten. Teilweise müssen dafür urbane Grünflächen weichen.

Städte und Gemeinden rätseln, wie die Schweiz verdichtet werden kann – und vor allem, wie dies hochwertig gelingen soll. Am Rhein ist die Siedlungsentwicklung nach innen heute schon ein Standardfall. Und auch die Qualität des Wohnumfelds darf dabei nicht vernachlässigt werden. Die Stadtgärtnerei Basel führt eine lange Pendenzenliste, worauf jeder Eintrag besagt, wo dichter städtischer Aussenraum mittelfristig aufgewertet werden muss. An über drei Dutzend Stand­orten sind demnach zusätzliche Grünanlagen und ­Stadtparks zu realisieren. Beeindruckend ist aber auch der Mittelbedarf für diese Ausbauwünsche: Knapp 100 Mio. Fr. sollen in den nächsten acht Jahren zur Stadtbegrünung investiert werden. Zwar muss die Regierung den Kredit für jedes einzelne Vorhaben erst noch bewilligen. Aber im Prinzip ist das Geld bereits reserviert: Die erwarteten Einnahmen des Mehrwertabgabefonds sollen die geplanten Ausgaben decken.

Basel baut und Basel zahlt: Werden Bauflächen um- oder aufgezont, gibt der Grundeigentümer die Hälfte des Mehrwerts in den «Grünfonds» ab. Der Basler Verdichtungszyklus nährt deshalb einen eigenen Finanzkreislauf. Das Bauen boomt und füllt den Fonds mit beeindruckenden Mitteln: Allein der Roche-Turm I hat 12 Mio. Franken eingebracht. Beim Zwilling, Turm II, wird fast ein doppelt so hoher Betrag als Mehrwert­abgabe erwartet. Die Bebauung weiterer Grossareale zahlt sich ebenso aus. Zuletzt nahm das kantonale Baudepartement jährlich rund 10 Mio. Fr. als Mehrwert ein. Seit Einführung sind über 120 Mio. Fr. in den Basler Grünfonds geflossen. Ein derart reich dotiertes Ausgleichssystem kennt kein anderes Gemeinwesen in der Schweiz.

Ein Berner Vorort und ein Wunderkässeli

Die Stadt Basel hat die Mehrwertabschöpfung nicht erfunden. Nationaler Pionier war die Berner Vorortgemeinde Ittigen. Vor 50 Jahren wurde dort die Grossüberbauung Kappelisacker realisiert; etwa 10 Mio. Franken flossen damals in die kommunale Steuerkasse. Die Stadt Basel führte Ende der 1970er-Jahre eine Abgaberegelung ein, 1999 wurde sogar eine Zweckbindung gesetzlich definiert. Seither ist die Basler Mehrwert­abgabe nur zur Aufwertung des öffentlichen Aussenraums reserviert. Mit dem jüngsten Bauboom hat sich die finanzielle Ausgangslage verbessert. Derzeit liegen rund 50 Mio. Franken für neue Grünanlagen bereit.

Was man sich zur Kompensation der städtebaulichen Verdichtung wünscht, kann sich die Stadt Basel leisten. «Selbst Grosses wie zum Beispiel den Erlenmattpark», sagt Christiane Dannenberger, stellvertretende Amts­chefin der Stadtgärtnerei Basel. Die Grünanlage im nördlichen Stadtteil entsteht seit 2010 etappenweise. Der Abschluss ist auf 2025 programmiert. Für Erwerb und Umgestaltung der 8 ha grossen Brache sind 20 Mio. Fr. budgetiert. Der offene Stadtpark, mitten im ebenfalls noch nicht fertiggestellten Neubauareal, ist gemäss Dannenberger nicht nur der Grösse wegen ein Vorzeigefall: «Das Grün war da, bevor die ersten Bewohner eingezogen sind.» Die Akzeptanz einer baulichen Verdichtung wird auf jeden Fall erhöht, wenn zusätzliche Freiräume ebenso fix entstehen.

Die Krux beim Städtebau ist: Die öffentliche Infrastruktur hinkt der realen Entwicklung oft hinterher. Daher sind Vorleistungen gefragt, wofür ein kommunaler Planungsträger jedoch gewisse Risiken in Kauf zu nehmen hat. Der Mehrwertabgabefonds ist ein Instrument, das nicht nur eine nachträgliche, sondern auch eine vorsorgliche Aufwertung des Aussenraums ermöglichen kann. Der Bedarf ist auch im bestehenden Umfeld nachgewiesen. Immer häufiger stellt die Wohnbevölkerung eigene Begehren: «Quartiervereine und Anwohner erhalten ebenfalls eine Unterstützung aus dem Grünfonds, sofern deren Projekte die Kriterien der Zweckbindung erfüllen», so Dannenberger. Kinderspielplätze, Pocket-Parks, BMX-Parcours oder ein Naturschutzteich gehören deshalb auch zum Spektrum der aus dem Grünfonds finanzierten Aufwertungsmassnahmen.

Ein selbst drehender Verdichtungszyklus

Ebendieser Bedarf an städtebaulicher Kompensation hat in den 1970er-Jahren die Basler Mehrwertabgabe hervorgebracht. Anlass war eine Quartierplanung in unmittelbarer Nähe zum Bahnhof SBB. Beabsichtigt war der Umbau des Gebiets rund um die Gartenstrasse zum zentrumsnahen Geschäftsviertel, ergänzt mit qualitativ hochstehender Wohnlage. Einerseits wurde eine kompakte und dichte Bebauungsstruktur (Ausnützungsziffer: 2.5) angestrebt; andererseits sollte der bestehende Rosenfeldpark zur grünen Zentralachse erweitert werden. Das Verdichtungsvorhaben in diesem Quartier stiess damals auf öffentlichen Widerstand, und weil auch die Nachfrage nach Büroflächen sank, konnte die Planungsidee nie vollständig verwirklicht werden. Einzig die Basler Versicherung baute hier den Geschäftssitz und hatte dafür eine Mehrwertabgabe zu entrichten. Die Parkerweiterung wurde dagegen fallen gelassen.

Am selben Standort, am Aeschengraben, geht der Verdichtungszyklus nun in die nächste Runde: Die Versicherungszentrale wird durch den «Bâloise Park» ersetzt. Den Hochhauskomplex realisieren Architekturgrössen wie Diener & Diener, Valerio Olgiati und Miller & Maranta. Auch dieser Bebauungsplan ist mit einem Ausgleichsmodell versehen. Die Stadtgärtnerei will die Abgabe in den Grünfonds von rund 6 Mio. Fr. teilweise vor Ort reinvestieren.

Eine Kehrseite hat das Allerheilmittel gegen das Zubauen auch: Die Finanzen fliessen nur, wenn gebaut wird. Die Ausgleichserträge sind mittelfristig schlecht planbar. Zudem darf nur Neues erstellt werden. Unterhalt und Pflege der Grünanlagen sind Teil des ordentlichen Budgets, betont Christiane Dannenberger.

Basler Modell findet kaum Nachahmer

Basel baut und Basel investiert in öffentlichen, urbanen Grünraum. Die am dichtesten besiedelte Stadt der Deutschschweiz macht seit 40 Jahren vor, was nun für alle Gemeinden eine Verpflichtung in der weiteren Siedlungsentwicklung ist: die Planungsmehrwerte privater Investoren abzuschöpfen. Fast die Hälfte der Kantone hat bereits eigene Regeln eingeführt; das Basler Erfolgsmodell findet jedoch fast keine Nachahmer. Schweizweit begnügt man sich mehrheitlich mit dem gesetzlichen Minimum: ein Abgabesatz von 20 %, wobei das Bundesgericht bis 60 % als rechtmässig erachtet.

Viele Kantone scheuen sich zudem, den Verwendungszweck allzu sehr zu definieren. Mit wenigen Ausnahmen wird die offizielle, aber nichtssagende Sprachregelung «raumplanerische Massnahmen» übernommen. Für Kantone mit einem Übermass an Bauzonen gehört jedoch deren Redimensionierung in die Pendenzenliste. Das Geld aus der Mehrwertabgabe soll prinzipiell für Entschädigungen verwendet werden, auf die ein Grundeigentümer bei Rückzonung prinzipiell Anspruch erhält.

Basel baut und Basel verdichtet. Allerdings ist absehbar, dass Basel demnächst zanken wird. Die laufende Gesetzesrevision stösst auf Kritik: Wirtschaftsnahe Kreise stören sich daran, dass der Abgabesatz von 50 % das nationale Mittel deutlich übertrifft und daher zu einem Standortnachteil werden könnte. Ebenso umstritten sind Ideen der Behörde, die bisherige Zweckbindung zu lockern. Befürchtet wird, dass sich das Geld für bisherige Aufwertungsprojekte verknappt. Die Regierung will noch in diesem Jahr einen Kompromiss präsen­tieren. Zu hoffen ist, dass Basel der übrigen Schweiz weiterhin beweisen darf, wie Siedlungsentwicklung nach innen am besten gelingt.

12. Januar 2018 TEC21

Ein Zacken mehr auf der Bergkrone

Die Reaktivierung des Bürgenstocks bedarf einer gewaltigen und ­risikoreichen Investition. Damit das neu dimensionierte Luxusresort weiterhin in die Landschaft passt, hat sich der Standortkanton Nidwalden um planerische und gestalterische Leitplanken bemüht.

Viele Wege führen auf den Bürgenstock; fast nach Belieben sind auch Gefährt, Preisklasse oder Erlebniswert wählbar. Exklusiv und schnell geht es durch die Luft. Vor dem Historic-Hotel Honegg im Osten der Halbinsel wartet der offizielle Helikopterlandeplatz. Kurvenreich und häufig verstopft ist die Budgetvariante mit Pkw, Reisecar oder Postauto. Die 5 km lange Bürgenstockstrasse ab Stansstad endet aber direkt vor dem Eingangstor zum Wellness-Resort. Idyllisch, geruhsam und wie vor hundert Jahren reist man dagegen über den Vierwaldstättersee an: von Luzern nach Kehrsiten mit einem Kursschiff und von dort mit der Standseilbahn fast direkt an die Hotelrezeption.

Auch nach dem Grossumbau ist das Bürgenstock Resort öffentlich zugänglich. Und obwohl nun ein diversifiziertes Unterkunfts-, Residenz- und Erholungsangebot zusätzliche Gäste, Ausflügler und Teilzeitbewohner auf den Nidwaldner Hügelzug locken soll, ist die Erschliessung mit Ausnahme des abgehobenen Anflugs auf bereits vorhandenen Pfaden gebündelt. Mit höheren Frequenzen ist zu rechnen, denn nicht nur das Resort selbst, auch die landschaftliche Umgebung ist äusserst attraktiv. Die Insellage im Grünen, der unverbaubare Blick auf die innerschweizerische Seen- und Alpenlandschaft sowie die Inszenierung eines Hoteldorfs sind die lokalen Vorzüge, die der Bürgenstock seit jeher geschickt kombiniert.

Vor 150 Jahren begann die touristische Eroberung im Umfeld der populären Feriendestination Luzern. Im Sommer 1873 wurde ein Kurhaus auf der «Alp Tritt» oberhalb von Stansstad gebaut. Bis Anfang des 20. Jahrhunderts wurde daraus das Grand Hotel; bald krönten zwei weitere Belle-Epoque-Bauten den Bürgenstock (vgl. Kasten unten «Von der Belle Epoque in die touristische Neuzeit»). Die dreifach gezackte Krone auf dem Berggrat wurde im Lauf der Jahrzehnte zum Erkennungsmerkmal. Beim Blick über das Luzerner Seebecken auf das Alpenpanorama ist der Hotelberg besonders gut sichtbar.

Schonende und kohärente Einbettung

Das Resort erstreckt sich über 1.2 km der Hügelkrete entlang und umfasst eine dorfähnliche Bebauung mit drei Dutzend kleinen und grossen Gebäuden, von der Wetterstation über den Boutiquenpavillon bis zum Wellness-Komplex. Intern wurde die Nutzung verdichtet und räumlich umorganisiert: Hotellerie an der Hauptachse; Ferien- und Eigentumswohnungen an der Peripherie. Gleichzeitig ist die nutzbare, bebaute Fläche um das Sechsfache gestiegen. Die Weiterentwicklung der sechs Hektar grossen Erholungszone ist raumplanerisch koordiniert und im kantonalen Richtplan ausdrücklich erlaubt.

Da die steile Halbinsel zwischen Rigi und Pilatus aber mitten in einer Landschaft von nationaler Bedeutung liegt (BLN-Objekt Nr. 1606 «Vierwaldstättersee mit Kernwald, Bürgenstock und Rigi»), sind auch kleinste Veränderungen im Orts- und Landschaftsbild zu beachten. Die insgesamt acht Ersatz- und Ergänzungsbauwerke für das neue Resort wurden sowohl denkmalpflegerisch (vgl. «Alt und Neu, Gross und Klein im Wechselspiel») als auch hinsichtlich des Natur- und Landschaftsschutzes eingehend begutachtet. Der Kanton Nidwalden und die Standortgemeinden Stansstad und Ennetbürgen haben dazu ein Regelwerk entworfen[1], damit das Gebaute die landschaftliche Umgebung nicht stärker als bisher dominiert.

Zum einen präzisieren der vorgängig erstellte Gestaltungsplan und die ergänzenden Sonderbauvorschriften, wie die einzelnen baulichen Eingriffe landschaftsschonend einzubetten sind. Zum anderen bemühte sich die Behörde darum, einer Zerstückelung des Ensembles und des gestalterischen Zusammenhangs zwischen Promenade, Hotelpark und Aussenraum entgegenzutreten. Wesentlich ist auch, dass der kurz vor dem Abschluss stehende Ausbau fast vollständig auf bereits überbauten Parzellen stattfindet und das Gesamtareal räumlich nur geringfügig erweitert wurde.

Die von Norden gut einsehbare Silhouette hat sich dennoch verändert; die vertraute Krone hat einen Zacken zugelegt: Das Bürgenstock Hotel mit Bahnstation im Sockel und SpaBereich daneben markiert nun die neue Mitte. Etwas unterhalb haben drei massige Baukörper, Wohnresidenzen mit Blick auf den Vierwaldstättersee (Stücheli Architekten), drei kleinere Baukörper ersetzt.

Die Neubauten im Wahrnehmungsfeld der exponierten Krete haben jedoch strenge geometrische und gestalterische Regeln einzuhalten: Höhe und Breite waren definiert. Und auch Materialisierung, Struktur und Farbe wurden für jede Aussichtsfassade eingehend programmiert, damit das Neue nicht blendet, sondern die klassizistische Historie respektiert. Eine ad hoc gebildete Ortsbildkommission besuchte mit Architekturteams sogar Steinbrüche, um die bestverträgliche Erscheinung für den Blick aus der Ferne zu bestimmen. Die Wahl fiel auf dunklen Naturstein, der dem ortstypischen Schrattenkalk ähnlich ist und nicht mit der hellen Oberfläche der Gründerbauten konkurriert.

Das Waldhotel (Architektur: Matteo Thun) am Südhang soll sich dereinst mit begrünter Hauptfront in die bewaldete Umgebung einbetten. Das Hotel wird Anfang 2018 eröffnet.

Fühler in die Landschaft

Der landschaftliche Charakter am Bürgenstock ist eine kleinräumige Kombination aus gebauter Tourismusinfrastruktur und naturnaher Kulisse. Nordwestlich fallen die Flanken steil zum Vierwaldstättersee ab; das karstige Waldreservat ist nur auf wenigen Pfaden begehbar. Mittendurch führen die Standseilbahn und eine Druckwasserleitung für die Energieversorgung (vgl. «Aus Hotel- werden Energiepioniere»); Letztere ist nach der Erneuerung grün angestrichen worden, um das Landschaftsbild auch hier zu schonen. Im Süden und Osten grenzt das Resort an eine landwirtschaftlich genutzte Mulde und an ein Naherholungs- und Wandergebiet. Bereits die früheren Hotelbesitzer streckten die Fühler hierhin aus: Felsenweg und Hammetschwand-Lift (vgl. «Fachwerk vor Steilwand») laden zum spektakulären Flanieren über dem See. In Fussdistanz liegen Golfplatz und Hotel Honegg, die gemäss den Erfordernissen einer Luxusdestination dezent ausgebaut worden sind.

Der Erholungs-, Ausflugs- und Residenzstandort ist aber nicht nur Aussichtsbühne für den Blick in die Alpen. Die Promenade will den Gästen aus aller Welt auch kleinräumig eine wohlgeordnete, wirkungsvoll inszenierte, alpine Atmosphäre vermitteln. Der jüngsten Reaktivierung sind zwar Laubengänge und Parkflächen zum Opfer gefallen. Im Gegenzug sind jedoch andere Attraktionen wie eine Hängebrücke oder die Verkehrsberuhigung der Promenade geschaffen worden.

Die Kantonsbehörde gab nicht nur für die Hotelbauten, sondern auch den Landschaftsarchitekten einen verbindlichen übergeordneten Gestaltungsraster vor. Dieser beruht auf Bestandsaufnahmen, die 2008 in Angriff genommen worden sind. Damals wurde der historische, dramaturgisch aufgebaute Landschaftspark inventarisiert und ein Pflegekonzept formuliert. Die Fachstellen haben diese Grundlagen nun dazu genutzt, die Anlage als ein zusammenhängendes Ganzes zu wahren und die aufparzellierten Bebauungsprojekte gestalterisch miteinander zu verbinden. «Das Fünf-Sterne-Resort verdient einen ebenso hochwertigen Aussenraum», sagt Felix Omlin, Leiter der Natur- und Landschaftsschutzfachstelle Nidwalden.

Bäume und Felsen als Standortmerkmale

Zwar sind schützenswerte Naturelemente und Biotope spärlich vertreten. Zur Verbesserung der Standortökologie wurde mit den Hotelgärtnern aber vereinbart, eine blumenreiche Trockenwiese anzulegen sowie wuchernde, invasive Neophyten rund um die Hotels zu vernichten. Derweil galt es, typische Flanier- und Parkelemente vor einem undifferenzierten Redesign zu retten. Lärchen, Zedern, Schwarzföhren und Blutbuchen sind an sich standortfremd; die teilweise über 100 Jahre alten Bäume bleiben aber, ebenso wie einzelne Felsblöcke, als Zeugen der historischen Parkanlage weiterhin sichtbar.

Besonders die Geologie, ein Mix aus schroffen Abbruchstellen und geschliffenen Felsplatten mit hellem bis dunklem Kalk, trägt viel zur alpinen Lokalszenerie bei. Die meisten Neubauten sind deshalb thematisch passend mit Natursteinfassaden eingekleidet. Auch zur Hangsicherung und Abdeckung von Stützmauern wurde lokales Ausbruchmaterial verwendet.

Ein zusätzliches Anliegen in der Gestaltungsbegleitung war, Baumgruppen und Sträucher direkt neben den Grossbauten stehen zu lassen. Zwar schränken sie die Aussicht der Hotelgäste ein; sie sind aber Teil des charakteristischen Landschaftsbilds und wirken als eine naturnahe, halboffene Trennlinie am Siedlungsrand. Dahinter verbirgt sich auch die neue Servicestrasse. Noch eine klaffende Leerstelle ist dagegen der Platz unterhalb des Parkhotels; das darin vorgesehene Kongresszentrum wird vorerst nicht gebaut.

Kritik der Heimatschutzkommission

Die baulichen Veränderungen, die landschaftliche Einbettung und das planerische Vorgehen werden als schonend und angemessen anerkannt. Weder ist die übergeordnete Vorarbeit der Ämter und Gemeinden auf grundsätzliche Opposition gestossen, noch haben einzelne Baugesuche Einsprachen provoziert. Die Verhandlung zwischen Investoren und Behörde begannen vor rund zehn Jahren; während des Planungsverfahrens wechselte die Eigentümerschaft. Lokale und nationale Schutzorganisationen wurden vom neuen Besitzer frühzeitig informiert und regelmässig zu Aussprachen eingeladen.

Im Nachgang loben Hotelbetreiber, Behörde und Landschaftsschutzkreise den offenen Dialog. Öffentliche Kritik äusserte zwischenzeitlich die eidgenössische Natur- und Heimatschutzkommission (ENHK). Sie war nicht immer aus erster Hand informiert und beklagte sich bei der Nidwaldner Kantonsregierung, ihre Empfehlungen würden ignoriert. Unter anderem wollte die ENHK die Tennisplätze erhalten und Eingriffe in historische Hotelbauten einschränken.

Dass der Investor das Vorhaben möglichst als Ganzes realisieren wollte, bezeichnet Natur- und Landschaftsschutz-Fachstellenleiter Omlin eher als Vorteil, weil die gestalterischen Qualitäten so einfacher optimiert und vereinheitlicht werden können. Allerdings stieg dadurch das Abhängigkeitsrisiko: Hätte sich der Geldgeber aufgrund einer globalen Finanzkrise zurückgezogen, wären brachiale Spuren in der Landschaft sichtbar geblieben. Über Monate war der Bürgenstock eine riesige Baustelle mit abgeräumten Hotels und tiefen Löchern im Fels. Der Kanton empfahl den Gemeinden daher, eine Bürgschaft einzufordern.

Nun ist aber der Plan aufgegangen und das mondäne Hoteldorf erneuert auferstanden. Als landschaftsverträglich darf dabei bezeichnet werden, dass sich selbst die Neubauten nicht allzusehr und, wenn überhaupt, nur aus der Nähe in den Vordergrund drängen. Dass die bestehenden Baugrenzen belassen wurden und eine Verdichtung nach innen bevorzugt wurde, trägt ebenso viel zur entspannten Wirkung des Bürgenstock Resorts auf die landschaftliche Umgebung bei.


Anmerkungen:
[01] Umweltverträglichkeitsbericht zum Gestaltungsplanverfahren (Gebietsabschnitte II und III); Kt. Nidwalden, Gden. Stansstad, Ennetbürgen 2013.

22. Dezember 2017 TEC21

«Ein Meister darf Normen brechen»

Für den deutschen Architekten und Ingenieur Werner Sobek sind Häuser nicht bloss autonome Systeme. Er macht sich ebenso Gedanken über die wahrnehmbaren Qualitäten und über den zu hohen Materialaufwand.

Der Gründer der Werner Sobek Group, eines Verbunds von Planungsbüros für Architektur, Tragwerksplanung, Fassadenplanung, Nachhaltigkeitsberatung und Design, trat am Gebäudetechnik-Kongress in Luzern auf. Sein Referat war ein Plädoyer dafür, die Fehler der Vergangenheit nicht zu wiederholen. Bis heute werden weltweit derart hohe Materialmengen verbaut, dass einige endliche Ressourcenreservoirs zu versiegen drohen. Dennoch sind die Weichen weiterhin auf Wachstum gestellt: Die Weltbevölkerung wächst, und Entwicklungsländer pochen auf einen Lebensstandard, gleichberechtigt demjenigen einer industrialisierten Region. Im folgenden Gespräch erläutert Werner Sobek, wie die am Bau beteiligten Fachpersonen Gegensteuer geben können.


TEC21: Herr Sobek, was gehört zu den Grundvoraussetzungen für das Bauen von morgen?
Werner Sobek: Wenn wir weiter bauen wie bisher, verschärfen wir das globale Ressourcenproblem enorm. Der Nettozuwachs der Weltbevölkerung liegt bei 2.6 Menschen pro Sekunde. Wollten wir jedem dieser neuen Erdenbürger eine gebaute Umwelt nach deutschem Standard bieten, müssten wir pro Sekunde weltweit 1300 t Baumaterial extrahieren, verarbeiten und verbauen. In Deutschland ist das verbaute Materiallager, das sich aus Gebäude und öffentlicher Infrastruktur zusammensetzt, auf eine Menge von 490 t pro Kopf angewachsen. Früher oder später wird das zu Abfall. Dabei haben wir heute schon damit ein Problem. Setzen wir nicht mehr Recyclingmaterial ein, gehen die Baustoffe aus. Laut offiziellen Prognosen werden Kupfer, Zink oder Zinn bereits im nächsten Jahrzehnt knapp. Das hat uns beim Bauen heute viel mehr zu denken zu geben. Darum müssen wir mit weniger Material für mehr Menschen bauen.

TEC21: Ihre Analyse trifft nicht nur für Deutschland zu. Die Stoffflussbilanz beim Bauen widerspricht ­weltweit und regional dem Kreislaufprinzip. Aber wie geht der Architekt damit um? Sie selbst beschäftigen sich vor allem mit Leichtbau. Wie vereinbar ist dieses Bauprinzip mit dem angesprochenen Ressourcenproblem?
Werner Sobek: Das Vorteilhafte am Leichtbau ist die deut­liche Reduktion des Materialaufwands. Häufig wird Leichtbau allerdings mit Verbundwerkstoffen wie kohlefaserverstärkten Epoxidharzen und ähnlichem assoziiert. Dies entspricht nicht unserem Anliegen, denn je stärker unterschiedliche Materialien miteinander verbunden sind, desto schwerer können sie wieder in den Stoffkreislauf zurückgeführt werden.

TEC21: Wie kann man solche Probleme umgehen?
Werner Sobek: Der Leichtbau ist eine zukunftsgerichtete Technologie, die dringend weitere Verbreitung erfahren muss. Wichtig ist hierbei allerdings, dass wir den Leichtbau immer zusammen mit dem Gedanken des recyclinggerechten Bauens denken. Verbundwerkstoffe sollten also nur dann eingesetzt werden, wenn es eine nachgewiesene Möglichkeit gibt, sie am Ende des Lebenszyklus ressourcengerecht in den Stoffkreislauf zurückzuführen. Am Gebäude selbst geht es um eine deutliche Reduktion der Masse, die perfekte Beherrschung von einfachen Geometrien und eine Homo­genisierung der strukturellen Beanspruchung.

TEC21: Sie sind an einem Projekt am Empa NEST beteiligt, das sich mit Baustoffrecycling und Urban Mining beschäftigt. Worum geht es da?
Werner Sobek: Zusammen mit Dirk Hebel, vormals an der ETH-Architekturabteilung und nun am Karlsruher Institut für Technologie tätig, bauen wir ein Wohnmodul, das mit minimalem Material- und Energie­einsatz auskommt. Im Mittelpunkt stand bei der Planung immer die Frage, wie die einzelnen Materialien so miteinander verbunden werden können, dass sie allen bauphysikalischen Anforderungen entsprechen, aber dennoch sehr leicht sortenrein zurückgebaut werden können. Die eingesetzten Materialien stammen zu einem grossen Teil aus Recyclingprozessen; und sämtliche Bauteile können zu 100 % in technische oder biologische Kreisläufe zurückgeführt werden.

TEC21: Welche Wertstoffe verwenden Sie?
Werner Sobek: Wir benutzen beispielsweise Kupferbleche, die bereits einen Kirchturm geschützt haben oder als Fassade einer Shoppingmall eingesetzt worden sind. Wir nehmen diese Teile, schneiden sie neu zu und bauen daraus die Frontseite. Dabei achten wir darauf, dass die Verschnittanteile möglichst gering bleiben.

TEC21: Am Kongress forderten Sie das Publikum, mehrheitlich Gebäudetechniker und wenige Architekten, auf, nachhaltige Gebäude zu entwerfen. Allerdings gebe es dazu keine bewährten Rezepte. Vielmehr hätten die Fachleute weitgehend unbekanntes Land zu erforschen. Wo liegt die Terra incognita im Bauwesen?
Werner Sobek: Dass wir für mehr Menschen mit weniger Material bauen sollten, habe ich schon erwähnt. Wie genau dies geschieht, hängt stark vom lokalen und regionalen Kontext ab. Wir müssen dazu das Problem genauer analysieren. Das Bauen selbst muss sich verändern, um inter- und transdisziplinäres Denken in die Planungsarbeit und die Kommunikation aufzunehmen. Im Bauwesen sind viele Disziplinen beteiligt. Häufig genug bringen sie aber kein gegenseitiges Verständnis füreinander auf, haben keine gemeinsame Sprache, keine gemeinsamen Wertvorstellungen. Anstatt sich gemeinsame Ziele zu geben, werden die Friktionen aus ökonomischen oder rechtlichen Gründen teilweise sogar verstärkt. Viele Hochschulen zementieren diese Probleme geradezu, indem sie ihre Ausbildung immer noch streng disziplinär einordnen. Interdisziplinarität wird kaum gefördert.

TEC21: Wo beginnt die Zusammenarbeit unter den Disziplinen?
Werner Sobek: Man muss sich klarmachen: Ein Gebäude ist Teil einer Umgebung und selbst ein komplexes System aus Tragwerk, Fassade, Heizung, Lüftung, Sanitär und Kommunikation. Diese Teilsysteme sind von unterschiedlicher Lebensdauer und unterschiedlicher Materialität; sie bestehen aus unterschiedlichen Technologien und verfügen über unterschiedliche Toleranzen. Und sie werden von verschiedenen Leuten geplant. In Umbauphasen oder am sogenannten End-of-Life-Punkt, bevor ein Gebäude zu Abfall wird, spitzt sich dies konzeptionell zu: Die Komponenten müssen ersetz- und austauschbar oder so aus dem Gebäude entnehmbar sein, damit sie einem perfekten Recyclingprozess zugeführt werden können. Ziel muss ein ressourcenschonendes Haus sein, das hinsichtlich seiner technischen Komposition – und nur so verstehe ich das – einer Maschine vergleichbar einfach zusammen- und auseinandergebaut werden kann. So weit sind wir im Bauwesen noch lang nicht.

TEC21: Sie sind selber Ingenieur und Architekt und kennen sich daher in mindestens zwei Disziplinen aus. Fühlen Sie sich selbst dazu gezwungen, die Rolle je nach Anspruch gegeneinander auszuspielen?
Werner Sobek: Nein, diese beiden Fachdisziplinen kann man gut miteinander vereinen. Man darf aber nicht davon ausgehen, dass ein Einzelner alles kann. Es gibt Kollegen, die planen heute ein Krankenhaus und morgen eine Oper und übermorgen eine Wohnanlage. Doch die Ansprüche für jedes einzelne Objekt haben sich in der Vergangenheit immer mehr ausdifferenziert, sind äusserst komplex geworden; auch das Nutzerempfinden wird anspruchsvoller. Und was die technischen und umweltrelevanten Anforderungen betrifft, lässt sich vieles nicht einmal mehr im kleinen Team bewältigen. Das Denken wird sich auch hier verändern müssen: Der grosse Baumeister, der sich als Dirigent versteht und von allem ein bisschen, aber eigentlich nichts richtig weiss, ist nicht mehr gefragt.

TEC21: Ein weiteres Anliegen neben der Reduktion des Materialaufwands und der grauen Energie ist die klimafreundlichere Energiebilanz von Gebäuden. Sie haben vor drei Jahren ein Aktivhaus als Prototyp realisiert. Es handelt sich um ein Einfami­lienhaus, das selbst mehr Energie erzeugt, als es verbraucht. Und es steht an einem prominenten Ort, in der Weissenhofsiedlung in Stuttgart. Welche Absicht steckt dahinter, diese Umgebung mit einer solchen Art Energiemotor zu ergänzen?
Werner Sobek: Ich will Gebäude entwerfen, die mehr tun als nur rechtliche Vorgaben zum Energiesparen einhalten. Warum soll ein Haus überhaupt Energie einsparen? Die Sonne strahlt zehntausend Mal mehr Energie auf die Erde, als die Menschen für alle ihre Funktiona­litäten benötigen. Erneuerbare Energien lassen sich auch aus anderen völlig ungefährlichen Quellen be­ziehen. Damit meine ich: Die alleinige Fokussierung auf das Energiesparen ist eine schwere Irreführung der Bevölkerung. Anstatt ein Wärmedämm­verbundsystem an die Hauswand zu kleben, könnte man ja auch eine Photovoltaikanlage auf das Dach und eine Batterie in den Keller stellen. So vermeidet man die Produktion von Sondermüll und reduziert seine Emissionen noch besser, als dies mit einem Wärmedämmverbundsystem allein möglich ist.

TEC21: Alte Gebäude sind aber als Energieschleudern in Verruf geraten. Nun will man es besser machen und verwendet neue Bautechnologien. Was macht dies aus der Baukultur?
Werner Sobek: Ein solches Bewertungsraster akzeptiere ich nur bedingt; ich selbst spreche lieber nicht von guten oder schlechten Gebäuden, auch nicht im ausschliesslich technischen Sinn. Jedes Objekt hat seine Zeit. Anstatt die Gebäude zu klassifizieren und dann mit umständlichen, häufig genug sinnlosen Massnahmen zu überziehen, plädiere ich für eine Aufhebung der Systemgrenze: Wir dürfen nicht jedes Gebäude denselben Anforderungen an sein energetisches Verhalten unterwerfen, sondern wir müssen die eigentlich wichtigen Fragen stellen. Weder ist es die Energieeffizienz noch der Wärmedämmstandard, sondern einzig und allein die gesamtgesellschaftliche Forderung nach dem vollständigen Ausstieg aus der Nutzung fossil basierter Energie.

TEC21: Wie geht man da vor?
Werner Sobek: Die verwendete Energie muss lediglich nichtfossil sein. Das ist meines Erachtens der einzig richtige Ansatz. Ob ein einzelnes Gebäude mehr oder weniger Energie benötigt, ist völlig egal. Am Ende wird dies dazu führen, dass, vereinfacht dargestellt, der eine Mitbürger sich im Winter wärmer anzieht, der andere sich eine PV-Anlage kauft und der nächste sein Gebäude mit dem Nachbargebäude verbindet, das mehr Energie erzeugt, als es benötigt. Die grosse Fehlorientierung unserer Zeit entsteht im Vergleich dazu durch die Energieeffizienz respektive durch Dämmstandards und Luftdichtigkeitsanforderungen. Auf Basis einer Planung prognostizieren die Planer dann eine mögliche Energieeinsparung. Mehr nicht. Ob die Prognose der Planer eintrifft, hängt vom späteren Nutzerverhalten ab. Oft genug trifft sie nicht ein. Wenn die Gesellschaft von jedem einzelnen ihrer Mitglieder fordert, auf fossil basierte Energie zu verzichten, dann geht man den richtigen Weg. Politisch gesehen erscheint dieser Weg einigen als zu schwierig: Im Grunde genommen müsste man das Individuum und sein Verhalten kontrollieren.

TEC21: Sie wollen Häuser bauen, die die Atmosphäre nicht weiter aufheizen und an denen Leute Freude finden. Wie lässt sich das kombinieren: Spass haben und ein schlechtes Gewissen vermeiden?
Werner Sobek: Durch das Prinzip der Schwesterlichkeit. Die alten und die neuen Häuser, die guten und die schlechten: Nicht alle Häuser müssen die gesamt­gesellschaftlichen Vorgaben gleichermassen erfüllen. Manche sind dafür besser geeignet, weil sie besser in der Sonne stehen und mehr Energie gewinnen. Andere haben dagegen einen grossen Keller anzubieten, in dem man gut Batterien platzieren könnte. Und nochmals andere werden Teil eines vernetzten Energiemanagements im Quartier oder in einer Stadt. Dazu braucht es ein kluges Verfahren aus Energie­gewinnung, -speicherung und -konsum, idealerweise kombiniert mit Elektromobilität.

TEC21: Und wo kommt der Spass ins Spiel?
Werner Sobek: Das Gebäude trägt einiges zum Glücksemp­finden des Menschen bei. Der Komfort ist zentral; die Wahrnehmung wird aber unterschiedlich interpretiert. Komfort meint zunächst einmal ein behagliches Gefühl, ein angenehmes Empfinden. Für die plane­rische Umsetzung werden deshalb Raumklimavorgaben wie Luftaustauschrate, Innentemperatur, Luftfeuchte oder Wärmeabstrahlung definiert. Dies allein reicht aber nicht. Mir ist wichtig, dass ein Haus sogar mit geschlossenen Augen erkennbar ist. Häuser müssen darum akustische, thermische, odorische und taktile Qualitäten ausstrahlen – das lässt sich nicht immer präzise mit Normen erfassen, aber die Menschen erkennen es instinktiv. Die taktile und handschmeichlerische Qualität von Oberflächen darf ruhig so intensiv sein, dass sich Menschen davon angesprochen fühlen und sie als schön empfinden.

TEC21: Beziehen sich solche positiven Reaktionen auch auf den Leichtbau, dem Sie sich ja besonders widmen?
Werner Sobek: Auf jeden Fall. Leichtbau muss nicht technoid wirken. Eine Wohnung muss nicht wie eine Auto­karrosserie aussehen. Konsequenter Leichtbau und handschmeichlerische Oberflächen schliessen ­ein­ander nicht aus. Dafür sind die dem Material ­innewohnenden Qualitäten herauszulocken. Den technischen Anspruch zu erhöhen muss aber nicht zwingend die Qualität der Oberflächen bestimmen. Wenn die taktile Qualität gefragt ist, muss man es mit den Händen spüren können, etwa am Handlauf: Daran hält man sich gern fest, hier muss die Hand «laufen» können. Ein normengerechter Handlauf an deutschen Brücken bietet diese Qualität allerdings nicht. Bereits nach wenigen Metern würde man die eigene Hand wegziehen, da die feuerverzinkte Metall­oberfläche viel zu rau ist.

TEC21: Wie gehen Sie selbst mit Normen um?
Werner Sobek: Über Normen wird immer viel geklagt, doch sie beinhalten den Grundkonsens zum technischen Stand und bilden die Grundlage für das gemeinsame Verständnis zwischen Architekt, Bauherr und ausführenden Firmen. Ingenieure tendieren dazu, das, was sie eben entwickelt haben, in Normen festzuschreiben. Daraus entsteht eine Normenvielfalt, die schwer durchschaubar ist und sich teilweise selbst widerspricht. Gegen eine Standardisierung habe ich vom Prinzip her keine Einwände. Doch ich halte mich an die Handwerkerregel: Der Lehrling muss die Norm lernen, der Geselle muss die Norm einhalten – aber der Meister darf sie brechen. Seine Qualitätsstandards dürfen Grenzen ausloten. Er muss erkennen, ob Bewährtes wirklich das Richtige für die Zukunft ist. Darum sind Mittel und Wege zu finden, etwas Besseres abzuliefern und die Normen weiterzuentwickeln.

TEC21: Die Digitalisierung ist für die Planungsbranche eine grosse Herausforderung; sie befürchtet daher eine Überforderung. Ist das so, weil bewährte Traditionen und Praktiken in der täglichen Arbeit aufzugeben sind?
Werner Sobek: Ich denke, das ist nur teilweise so. Wir können weiterhin auf Traditionen zurückgreifen. Denn die Aufgabe bleibt: Architekten müssen eine vernünftige Qualität für viele Menschen bauen. Dazu zähle ich die Energieversorgung und sanitäre Einrichtungen. Es ist eine akademische Marotte, den Menschen irgendwo in Zentralafrika erklären zu wollen, wie man aus leeren Cola- oder PET-Flaschen eine Hütte bauen kann. Solche Studentenarbeiten negieren die eigentlichen Probleme. An diesen Orten fehlt es nicht an Baumaterial, sondern an sanitärer Infrastruktur und funktionierender Wasseraufbereitung. Nach meinem Dafürhalten braucht es dazu industriellen Input, aber keine Architekten aus einem entwickelten Land. Damit will ich sagen: Wir haben beim Entwerfen und Bauen die relevanten Gelegenheiten zu finden, damit etwas für viele realisiert werden kann, das ohne unseren Input nicht funktioniert.

TEC21: Hierzulande nehmen die Anforderungen an Planungs- und Baufachleute zu. Die Besteller neuer Gebäude erwarten das Tollste und Beste …
Werner Sobek: Wir müssen davon abkommen, immer nur den letzten Trend bauen zu wollen. Dies geschieht etwa in der Signature Architecture, wobei die Dinge häufig genug nicht funktionieren, wie sie sollten. Für viel Geld und wenig Gegenleistung entsteht nichts anderes als Las-Vegas-Architektur. Das Haus wird zum Emblem, oft mit Label. Die Qualität in den Details und die Substanz, die darin stecken könnte, gehen aber verloren. Oft muss eine schriftliche Anleitung oder eine Homepage dem Menschen erklären, wie man in solchen Häusern leben soll.

TEC21: Welche Architektur braucht es dann?
Werner Sobek: Das langfristige menschliche Interesse weckt man nicht mit Rekorden, sondern indem man etwas Schönes baut und anbietet. Zur Baukunst wird ein Gebäude erst, wenn das Gebäude selbst eine Antwort darauf geben kann, warum es so ist, wie es ist. Was häufig zur Eigenschönheit führt, ist eine den Dingen inhärente Logik und Verständlichkeit. Solche Objekte und Gebäude laden zu einer anderen Art der Handhabung ein.

1. Dezember 2017 TEC21

Wer hat Angst vor Solarfassaden?

Forschungs- und Werkplatz

Die Photovoltaik legt ihren bisher unvermeidlichen Nadelstreifenanzug ab und zeigt eine zunehmende Farb- und Formenvielfalt. TEC21 besucht Labors, Werkhallen und Demonstrationsbauten, um sich einen Eindruck von der gestalterischen Annäherung zwischen Architektur und Photovoltaikindustrie zu verschaffen.

Nordeuropa ist eine von der Sonne häufig vernachlässigte Zone. Umso kreativer kümmern sich Architekturbüros vor Ort darum, die spärlichen Licht­strahlen ge­winnbringend zu nutzen. In Drammen, einem Vorort von Oslo, erzeugt der neue Geschäftssitz eines Baukonzerns selber Strom, mithilfe von Photovoltaikfassaden in sattem Grün. An der Hafenkante von Kopenhagen steht das aktuell grösste Photovoltaikgebäude Europas, eine internationale Sprachschule. Ihre Fassaden schimmern, mit dem Meerwasser wetteifernd, in verschiedenen Blautönen. Und dass in den Niederlanden Photovoltaikmodule im braun­roten Backsteinlook entwickelt werden, versteht sich angesichts der lokalen Bautradition von selbst.

Auch das heimische Architekturschaffen entdeckt die ungewohnte Gestaltungspalette. In Zürich Altstetten glänzen Photovoltaik-Balkonbrüstungen grüngold­braun, farblich auf die Holzfassade der Wohnhäuser abgestimmt. Ähnlichen Farbglanz wollen die Solar­fassaden am künftigen Sitz der Umweltbehörde von Basel-Stadt vermitteln (vgl. «Im Glanz der Sonne», TEC21 36/2013). Der geplante Neubau soll sich so den Sandsteinhäusern am historischen Fischmarkt auch gestalterisch annähern.

Die schwarz-silbern glänzende Optik von PV-Modulen ist nicht mehr comme il faut; nun wagt man eine Erweiterung der Ausdrucksform (vgl. TEC21 46–47/2017: «Photovoltaik I – die Architektur»). Diese Sty­lingwelle greift ein überfälliges architektonisches und städtebauliches Thema auf: Die Solararchitektur will Energie erzeugende Gebäudehüllen farblich und gestalterisch besser in die gebaute Umgebung integrieren.

Gratwanderung: Design oder Leistung?

Nicht nur Gestalter, auch Lieferanten suchen Alternativen zum uniformen PV-Modul. Nachdem sich Industrie und Forschung lange Zeit auf Leistungssteigerungen konzentrierten, wird die handwerkliche und gestalterische Performance zum nächsten Entwicklungsschritt (vgl. «Solar-Design-Boom», Kasten unten). Wie aber kann es gelingen, das technoide Bauteil stärker in die Gebäude­architektur einzubinden? Eine Antwort, so scheint es, müssen Architekten und Industrie gemeinsam finden. Am gegenseitigen Austausch wäre man interessiert; aber es «fehlt die gemeinsame Sprache. Zudem erschweren Berührungsängste die mögliche Zusammenarbeit», glaubt Solarplaner Christian Renken. Eine kurze Umschau auf dem Werk- und Forschungsplatz soll deshalb zeigen, ob die Angst vor Solarfassaden berechtigt ist.

Die globale PV-Branche boomt; in der Schweiz ist die Produktion jedoch preisbedingt am Schrumpfen. Nicht erst in den letzten Monaten, sondern seit Jahren verschwinden einst vielversprechende Start-up- und Spin-off-Unternehmen wieder von der Bildfläche. Weiterhin profitiert die Forschung im Inland von fast 40-jäh­riger Erfahrung; das Know-how genügt bis heute für Neuentwicklungen, Prototypen und Weltrekorde im Photovoltaikbereich. In der noch jungen Entwicklungsgeschichte sind deswegen namhafte Pionierleistungen zur Netzkopplung, Gebäudeintegration und Entwicklung von Farbmodulen gelungen (vgl. Zeittafel «Architektur auf dem Weg zur Sonne»). Bis heute ge­niesst Photovoltaik «made in Switzerland» einen besonderen Ruf.

Die Fassade der International School in Kopenhagen, das grossflächigste Solargebäude Europas, verwendet Photovoltaikmodule, die in Labors der EPF Lausanne erfunden worden sind. Die Sihlweid-Hochhäuser in ­Zürich Leimbach sind vor vier Jahren rundum mit PV-­Modulen eingepackt worden, in einem damals europaweit einmaligen Projekt. Und ebenfalls im Grossraum Zürich stehen zwei Wohnhaustypen, die es sonst nur als Forschungsstationen gibt: Beide Mehrfamilien­häuser decken den eigenen Energiebedarf mithilfe von einheitlich eingefärbten PV-Fassaden. Eines befindet sich mitten in der Stadt, als Studienobjekt für die Gratwanderung zwischen Leistung, Kosten und Design (vgl. «Es blinkt in alle vier Himmelsrichtungen»). In Textur und Struktur der Gebäudehülle wurde mindestens so viel Planungsarbeit gesteckt wie in die elek­tro­technische Optimierung. Architekt und Mitinvestor Karl Viridén will damit beweisen, dass Photovoltaik und Städtebau vereinbar sind und «schon bald als Selbstverständlichkeit» wahrgenommen werden dürften.

Das hofft man auch in Niederhasli, in der Zürcher Flughafenregion, wo die industrielle Fertigung der Photovoltaik 2.0 vor dem Durchbruch steht. ETH-Professor Ayodhya Nath Tiwari lud Ende September zur Weltpremiere. Aus Europa und Asien reisten Investoren und Medienschaffende an und staunten, wie ultradünn und flexibel neueste Solartechnik ist.

Freie Gestaltung mit dünnen Folien

Bislang dominieren die gestreiften Siliziumzellen den Solarmarkt; der Anteil liegt bei 80 %. Die Alternative zum starren, kristallinen Halbleitermaterial sind nun amorphe Feststoffe (CIGS), die auf aufrollbare Folien gepresst werden und homogene Oberflächen aufweisen. Vor vier Jahren haben Forscher von ETH und Empa gemeinsam das «Flexible Solar Module» (Flisom) erfunden, das mit 20.4 % Wirkungsgrad den Weltrekord hält. In der Industriehalle beim Bahnhof Niederhasli sind roboterhafte Maschinen und Arbeiter in Schutzkleidung am Werk; sie drucken, lasern und prüfen die serielle Fabrikation der Dünnschicht-Solarfolien.

Gerade wird eine Bestellung für die Weltraumfahrt ausgeführt. Miterfinder Marc Kälin erzählt, dass die Solarfolien für ein Bogendach in den Niederlanden bereits ausgeliefert und montiert sind. Die weither angereisten Besucher bekommen ergänzend eine CIGS-Testfläche auf dem Empa-Areal in Dübendorf zu sehen. In Kürze wird gleich daneben die frei gestaltete Version eingebaut: Das Forschungsgebäude NEST erhält ein ge­faltetes Leichtbetondach mit der PV-Dünnschichtfolie aus Niederhasli obendrauf. Zum Abschluss der Besichtigungstour bittet CIGS-Forscher Tiwari allerdings um Geduld. Erst bis in zehn Jahren werde daraus ein marktfähiges, vielfältig verwendbares Industrieprodukt.

Ohne störendes Fassaden-Patchwork

In Süddeutschland hat die Forschungskonkurrenz die Dünnfilmtechnologie jetzt schon mit architektonischer Mithilfe ausgerollt. Das Zentrum für Sonnenenergie- und Wasserstoff-Forschung Baden-Württemberg (ZSW) ist der nächste Halt auf der Photovoltaik-Besichtigungstour. Seit Sommer 2017 stellt das neue Institutsgebäude mitten in Stuttgart selbst entwickelte Solarzellen zur Schau. Die Photovoltaikabdeckung für drei Fassadenseiten hat das dänische Architekturbüro Henning Larsen ­zugeschnitten, als Nachtrag zum ursprünglichen Wettbewerbsentwurf, der eine helle Gebäudehülle aus Metall vorsah. Nun ist das Gebäude einheitlich dunkel. Sowohl die Module an den Solarfassaden als auch die in Blech und Glas gefassten Nachbarwände glänzen schwarz-an­thrazit. Anstelle des oft üblichen geometrischen Patchwork ergibt die Photovoltaik am ZSW-Gebäude ein fein parzelliertes, vertikales Tektonikmuster.

Hinterlüftungsraum und Verkabelung sind wichtige Konstruktionsparameter und nehmen darum häufig Einfluss auf die Gestaltung. «Doch das Standardformat von Photovoltaikmodulen gilt als bislang grösste Einschränkung für die Fassadenarchitektur», sagt Andreas Schulte, Projektleiter bei Henning Larsen. Am Stuttgarter Gebäude wurde darauf geachtet, variabel und paarweise angepasste Solarmodule zu verwenden. Abweichungen vom Standardformat nahm man für das Demonstrationsprojekt bewusst in Kauf, sie haben aber ihren Preis (vgl. «Kosten und Lebensdauer», Kasten unten): «Die Solarfassade kostet doppelt so viel wie eine Metall­hülle. Auch der Planungsaufwand für die PV-Variante steigt», berichtet ZSW-Projektleiter Dieter Geyer an der Konferenz «Advanced Building Skins» in Bern.[1]

Unsere solare Architekturreise führt uns in den Kursaal zu Bern, wo im Oktober 2017 mehrere hundert Forscher, Architekten, Baufachleute und Manager über Gebäudehüllen fachsimpelten. Die meisten Präsentatio­nen enthielten verspielte bis verrückte Skizzen sowie mutige Entwürfe für die solare Zukunft des Gebäudeparks. Der Hauptsitz der Regionalbehörde im franzö­sischen Rouen versteckt sich hinter einem Vorhang aus buntem Photovoltaikglas. Oder ein silberner Solarflügel umkreist die kugelförmige Cité musicale mitten in Paris. Ob schrill, ruhig, kontrastreich oder dezent: An schwarz glänzender Photovoltaik ist niemand mehr interessiert. Vielmehr gewinnt die Debatte um das Design von gebäudeintegrierter Photovoltaik an Fahrt. Neue, ebenso wichtige Überlegungen tauchen auf: «Soll die Photovoltaik erkennbar sein, oder will man sie lieber kaschieren?», fragt Christian Renken, Mitorganisator der Konferenz in Bern.Wie aber gehen Architekten vor, um eigene Entwürfe, etwa für künftige Projektwettbewerbe, zu realisieren? Werden sie selbst zu Forschern und Mitentwicklern von Solarbauten der nächsten, architektonisch befriedigerenden Generation?

Photovoltaikmodule gestalterisch seziert

Tatsächlich sind Demonstrationsprojekte eine gute Gelegenheit, um Photovoltaik-Formate frei von Leistung oder geografischer Ausrichtung auszuprobieren und von der Zusammenarbeit mit Hochschulen zu profitieren. Wir besichtigen ein weiteres Bürogebäude mit Solarfassade, das Resultat des EU-Forschungsprojekts «Con­structPV»[2] – zufällig ebenfalls in Stuttgart. Die niederländischen Designer vom United Network Studio sowie Akademien und Hersteller auch aus der Schweiz haben daran mitgewirkt. Der gestalterische Ansatz beruht auf Eingriffen in die Anatomie eines PV-Kristallinmoduls. Denn nicht nur die Glasabdeckung, auch die inneren Schichten können unabhängig voneinander in Geometrie, Farbe und Oberflächenbeschaffenheit modifiziert werden. Selbst die kristallinen Zellen lassen sich in einem Modul asymmetrisch komponieren.

Der Besuch von Labors, Zukunftswerkstätten und Schaufassaden geht zu Ende. Wie sieht die Realität im Alltag aus? Wie gut kann die Industrie Gestaltungswünsche erfüllen? Ist die Photovoltaik bereits frei wählbare Architektur? Antworten suchen wir an einem Ort, an dem der Planer bereits weiss, wie das nächste Gebäude mit energieaktiver Glasfassade aussehen wird, das Produkt dazu aber in keinem Katalog zu finden ist. Erste Farbmuster für ein Mehrfamilienhaus, das das Architekturbüro Viridén Partner bis 2019 realisieren will, liegen auf dem Bürotisch; die erhofften Farbtöne aber noch nicht. «Hersteller sind an der Zusammenarbeit sehr interessiert; auch Sonderwünsche sind willkommen», hat Karl Viridén erfahren. Dass ein Lieferant in dieser jungen Branche äusserst kurzfristig ausfallen kann, gibt es wohl. Doch Ersatz kann mittlerweile fast ein halbes Dutzend Firmen aus der Schweiz und Europa bieten. Photovoltaik-Fassadensysteme gelten als hochwertige Produkte, mit denen sich die Branche in Europa vom weltweiten Massenmarkt abheben kann.

Puzzle aus ungewohnten Komponenten

Worauf Architekten bevorzugt achten, ist die Homo­genität von Optik und Oberfläche der neuartigen Solar­module. Der Zusatzaufwand und der Klärungsbedarf weiten sich über die visuelle Qualität auf Statik und Geometrie einer Solarfassade aus. Danach beginnt ein grosses Puzzlespiel, weil vom Entwurf bis zur Ausführung neue technische, konstruktive Komponenten zu berücksichtigen sowie unbekannte Lieferketten zu überwachen sind: Wer baut die Module ein? Wie sorgt man dafür, dass jedes Fassadenelement reversibel gehängt und ersetzt werden kann? Oder wo werden kilometerlange Kabel und Dutzende Elektrogeräte im schmalen Hinterlüftungsraum versteckt?

Photovoltaikhüllen sind im Prinzip eine Untervariante der Vorhangfassade mit Glas- oder Metallabdeckung. Unterkonstruktion, Befestigung und Wetterbeständigkeit basieren daher auf bewährten Standards. Neuland sind dagegen die unzähligen Kabelan­schlüsse; ebenso erhöhen sich die Anforderungen an Brandschutz und Tragstruktur. Angesichts der vielen Schnittstellen sind neue Abläufe zu finden. Verbesserungswürdig ist auch die Projektabwicklung. Gemäss Solarplaner Christian Renken hat sich die Photovoltaikbranche ein adaptives Vorgehen angewöhnt: Solar­dächer werden nachträglich installiert, weshalb die Fachplanung fliessend einsetzen kann. «Für Photovoltaikfassaden passt diese Praxis nicht mehr; gestalterische und konstruktive Ansprüche lassen sich nur erfüllen, wenn sie in genau definierten Leistungsphasen einfliessen.»

Der Wandel von Adaption zu Integration ist daher nicht nur konstruktiv anzustreben: Zur besseren Kombination von Photovoltaik und Architektur braucht es eine integrative Planungsstrategie. Karl Viridén hofft dabei, dass sich Architekten selbst stärker einbringen, weil sie prädestiniert sind, ein derart komplexes Gesamtpaket zu überblicken. Allerdings seien Gestalter gefragt, die sich für die ganze Planungskette «vom Entwurf über die Konstruktion bis zur Ausführung ver­antwortlich fühlen». Solarfachmann Renken erwartet ­hingegen, dass die gebäudeintegrierte Photovoltaik vermehrt Teil einer eigenen Fachplanung wird. Es werden bald also nicht mehr nur Architekten bestimmen, wie bunt oder angepasst die solare Architektur in Zukunft aussehen soll.


Anmerkungen:
[01] Tagungsband 12th Conference on Advanced Building Skins; Advanced Building Skins GmbH 2017.
[02] Mosaic Modules for Improved Design Options in Building Integrated Photovoltaic Modules; EU-Project Construct PV; Fraunhofer Institute for Solar Energy Systems ISE, UNStudio, Züblin Zentrale Technik, ­Stuttgart 2016.

Weitere Informationen:
Schweizer Kompetenzzentrum BiPV (Gebäude- und Produkteliste): www.bipv.ch
Solardatenbank, ETH Zürich: www.buk.arch.ethz.ch/Solardatenbank/Solardatenbank

1. Dezember 2017 Karl Viridén
TEC21

Es blinkt in alle vier Himmelsrichtungen

Was kann die Photovoltaik im dicht bebauten, innerstädtischen Umfeld leisten? Ein vom Bund gefördertes «Leuchtturmprojekt» soll beweisen, dass sich Energieproduktion und Ästhetik nicht grundsätzlich widersprechen.

Seit dem Herbst 2016, nach einer umfassen­den Erneuerung und Aufstockung, weiss das unauffällige siebenstöckige Mehr­fami­lienhaus im ­Zürcher Stadtkreis 6 mit der Sonne etwas anzufangen. Vier aktive Glasfassaden erzeugen gemeinsam mit der Photovoltaikanlage auf dem Dach so viel Strom, dass der Energiebedarf für die 28 Wohn­einheiten selbst gedeckt werden kann. Die Ingenieurführungen durch den Plusenergiebau waren deshalb gut besucht. Doch auch in Architektur­kreisen haben die Photovoltaikhülle und der hellgraue Farbton ei­nigen Anklang gefunden.

Mit dem Lob für die ungewöhnlichen Äusserlichkeiten ist aber noch nicht alles erreicht; auch die inneren Werte müssen über­zeugen: Wie viel Strom ­können matte PV-Module mit ungünstiger Ausrichtung pro­duzieren? Lohnt sich die Energie­produktion auch an der Sonne abgewandten Gebäudeseiten? Und wie einfach ist eine gestalterisch besondere Aktivfassade zu kon­struieren? Antworten darauf hat das bereits ­gestartete Begleitprogramm zu finden. Vergleichbare ­Projekte sind selten. Deswegen finanzieren das Bun­desamt für Energie und der Kanton Zürich das als ­«Leuchtturm» deklarierte Vorhaben mit, gemeinsammit Partnern aus der ­Bau- und Energiebranche. Nach zwei Jahren Be­triebs­er­fah­rung werden die Funktion und das Ertragspotenzial der Photovoltaik-Rundum­fas­sade ausgewertet.

Bereits abgeschlossene Demonstrationsobjekte haben mittlerweile bewiesen: Selbst grosse Mehrfamilienhäuser erzeugen fast doppelt so viel Energie wie Bewohner und Gebäudebetrieb jährlich konsumieren. Das Wohngebäude an der Hofwiesenstrasse will diese Leistungswerte aber nicht übertrumpfen. Interessant ist diesmal die Erkenntnis, wie sich die architektonische Integration auf den energetischen Output auswirken wird. Die Gebäudenutzung soll sich zudem nach den Zielen der 2000-Watt-Gesellschaft richten: Projekt­trägerschaft und das Bundesamt haben vereinbart, dass ein Drittel des durchschnittlichen Energiekonsums genügt. Ein Jahr nach dem Mieterbezug liegen erste Erkenntnisse vor.[1]

Matte Abdeckung mit höherer Reflexion

Die Photovoltaikanlage auf dem Flachdach entspricht dem bestmöglichen Stand der Praxis und dem bekannten Look: 100 schwarz glänzende Module richten sich in Sechser­reihe und mit Neigungswinkel von 15 ° nach Südwesten. Der Wirkungsgrad von monokristallinen Solarzellen erreicht fast 20 %. Derselbe Modultyp wurde auch für die hinterlüfteten Aktivfassaden (und die Balkonbrüstungen) gewählt. Die matte Glasabdeckung reflektiert zwar mehr Sonnenlicht und reduziert die Leistung um rund einen Drittel. Hersteller sind aber daran, die Farbmodule laufend zu verbessern und die Einbussen unter 30 % zu senken.

Die Erträge der Photovoltaikanlage werden seit November 2016 gemessen. Gesicherte Angaben zur Jahres­bilanz des Plusenergiebaus liegen zwar noch nicht vor, aber die bisher erreichten Tageswerte stimmen zuversichtlich: Alle vier aktiven Gebäudefassaden steuern namhafte Anteile an den Energieertrag bei (vgl. Grafik) und übertreffen teilweise die Annahmen aus der Planung. Die ersten Betriebserkenntnisse sind erfreulich: Eine Amortisation der Zusatzinvesti­tionen für die «Aktive Glasfassade» scheint in weniger als 15 Jahren möglich. Mehr Details, etwa zur Verschattung, kann erst die abschliessende Auswertung liefern.

Unterschiedliche Modulformate

Für die einheitliche Abdeckung der unterschiedlichen Gebäudefronten wurden 13 Modulformate und fünf Arten von Blindmodulen entwickelt. Die aktive Miniversion ist 0.4 m² klein und knapp 10 kg leicht; das ­grösste Modul wiegt 36 kg und deckt 1.6 m² ab. Die Produk­tionskapazität hängt jedoch von der Anzahl der darin verpackten Solarzellen ab. Die Blindmodule sind aus gleichfarbigem Glas. Sie decken diejenigen kleinen Fassadenflächen ab, an denen sich der Einbau von Photovoltaikzellen nicht lohnt. Der Anteil an der Gesamtfläche beträgt knapp 2 %. Weil Photovoltaikmodule in den unteren Geschossen häufiger beschattet sind, nehmen die Produktionserträge im Vertikalverlauf ab. Auch die Balkonnischen liefern mindere Erträge ab.

Eine künftige Evaluation soll dazu beitragen, allgemeine Beschattungslimiten für solche Aktivfassaden zu bestimmen. Der Tagesgang des Stromertrags zeigt jedoch schon heute, welche Teilflächen am meisten Strom erzeugen. Die Dachanlage erreicht den Peak kurz nach der Mittagszeit; zuvor und danach sind vor allem Süd- respektive Westfassade aktiv. Auch die nach Norden und Osten ausgerichteten Photovoltaikmodule liefern relevante Strommengen. Ein hoher Sonnenstand im Sommer wird vor allem für Südfassaden zum Handicap: Je steiler der Strahlungswinkel, umso geringer der Ertrag. Und ebenso weiss man nun: Solarfassaden liefern in saisonalen Übergangszeiten höhere Erträge als im Sommer. Die Tagestemperaturen sind niedriger, was den Photovoltaik-Wirkungsgrad erhöht.

Im Zusammenspiel funktionieren die vier Ak­tivfassaden am besten. Bei sonnigem Wetter findet ein Ausgleich der Tagesproduktion statt. Zwischen 9 und 18 Uhr bleibt die Leistungskurve auf einem hohen, relativ konstanten Niveau (vgl. Grafik).

Platz für Verkabelung und Zusatzgeräte

Auch was hinter der Aktivfassade liegt, trägt wesentlich zur Ertragsoptimierung bei. Um Leistungsverluste im Stromabtransport zu vermindern, braucht es etwa eine möglichst effiziente Verkabelung. Die Einzelmodule sind entsprechend in die verschiedenen Schaltkreisläufe einzuteilen, wobei das intelligente Schattenmanagement zusätzlich zu berücksichtigen ist. Hierzu ist je eine Schaltgruppe aus zwei bis vier Modulen an ein Zusatzgerät zur Lastoptimierung angeschlossen. Dadurch wird der Elektronenfluss auf einen Bypass um die verschatteten Module herumgelenkt.

Ohne diesen Umweg würde ein Engpass entstehen: Innerhalb eines Schaltstrangs limitiert das jeweils leistungsschwächste Modul, wie viel Strom tatsächlich produziert wird. Die Optimierungsgeräte sind 1 kg schwer und etwas grösser als ein Smartphone; mehr als 300 von ihnen sind in der Hinterlüftungszone am Plusenergiebau installiert. Dass diese Technik störungsanfällig ist, hat sich bereits bestätigt. Doch weil die Geräte jeweils einfach zugänglich und konzentriert platziert sind, konnten diese Mängel problemlos behoben werden.

Auf zwei Besonderheiten im konstruktiven Bereich ist abschliessend hinzuweisen: Die Fassadenelemente sind an der Unterkonstruktion eingehängt. Dazu werden Profile (Backrails) an die Modulrückseite geklebt. Der Klebstoff ist jedoch elastisch, sodass Spannungsspitzen (etwa bei Wind) besser aufgefangen werden als bei fixierter Punktverbindung. Diese Klebetechnik ist normiert und hat sich beim Bau von konventionellen Glasfassaden bewährt. Und wie auch für andere Vorhang­konstruktionen ist häufig ein Kompromiss zwischen statischen und thermischen Anforderungen zu finden. Die Halterungen selbst dürfen keine Wärmebrücke ­zwischen Aussenfassade und Rohbau bilden. Am Plus­energiebau an der Ecke Hofwiesen-/Rothstrasse mitten in Zürich verhindert dies ein Verbundmaterial: Die Konsolen und andere Teile der Unterkonstruktion bestehen aus Chromstahl respektive glasfaserverstärktem Kunststoff mit jeweils geringer Wärmeleitfähigkeit.


Anmerkung:
[01] Jahresbericht 2016 BFE «Leuchtturm PhotovoltaikFassade an Plusenergiebau-Sanierung Zürich».

29. September 2017 TEC21

In der Planung zu hoch gegriffen

Der Energienachweis gehört zur Standarddokumentation eines Gebäudes. Doch wie gut lässt sich die energetische Qualität von Gebäuden in der Planung eigentlich abschätzen? Neueste Befunde lassen erhebliche Abweichungen zwischen Theorie und Praxis vermuten.

Zwei Diagramme veranschaulichen die Hoffnung und das Dilemma der aktuellen Energiedebatte. Jede illustriert aus unterschiedlicher Zeitperspektive, wie viel Energie die Gebäudenutzung beansprucht. Die erste Grafik schaut nach vorn und steigt eine steile Treppe hinunter. Dargestellt ist der Energiestandard von alten und neuen Häusern. Die unterste Stufe markiert die neueste Generation von Wohn- und Geschäftsbauten mit einer Nullenergiebilanz beim Heizen, Kühlen und bei weiteren Ansprüchen. So stellt sich der Plan für die Energiezukunft dar. Das zweite Diagramm blickt dagegen zurück und illustriert die energetische Qualität von Gebäuden, aufgeteilt nach Bauperioden. Auch diese Kurve sinkt; das Gefälle ist allerdings schwach. Sie zeigt den realen Energiekonsum.

Ein direkter quantitativer Vergleich ist nicht statthaft. Trotzdem legt die Konfrontation beider Kurven den Finger auf den wunden Punkt: Das einzeln Gebäude kann auf Energieeffizienz getrimmt und äusserst sparsam nutzbar sein. Der Gesamtbestand verbraucht dennoch mehr Energie als in der Planung ins Auge gefasst. Daher registriert die Energiestatistik des Bundes weiterhin einen jährlich steigenden Inlandsverbrauch.

Nicht das Wachstum des Wärmekonsums selbst, nur die Rate nimmt ab. Die Realität hinkt den Erwartungen hinterher. Bereits kursiert ein Fachbegriff für dieses Phänomen: «Performance Gap». Zwischen Plan und Realität klafft eine Lücke. Der Gebäudebestand werde zu zögerlich energetisch erneuert und das technisch Machbare mangelhaft ausgeschöpft, wird in der laufenden Energiedebatte dazu vermerkt.

Analysen liefern erste Hinweise

Im letzten Jahr wurde eine «Erfolgskontrolle der Gebäudeenergiestandards» publik, die aufhorchen liess. Der Bund hatte eine Praxisanalyse bei über 200 Gebäuden mit unterschiedlicher Typologie und Nutzung durchgeführt (vgl. TEC21 49/2015). Die Messwerte aus dem Nutzungsalltag wichen teilweise «erheblich» von den energetischen Zielgrössen ab. Daher sind Wissenschaft und öffentliche Hand nun daran interessiert, das Ausmass dieser Diskrepanzen zu verifizieren und allgemein einzuordnen. Das Bundesamt für Energie (BFE) hat eine Folgestudie in Auftrag gegeben, die den Performance Gap im schweizerischen Gebäudepark definieren soll.

Derweil konnte die Universität Genf im Rahmen der nationalen Energieforschung bereits eine Quantifizierung für einen grösseren Immobilienbestand vornehmen. «Im Durchschnitt werden erst 40 % des theoretischen Reduktionspotenzials ausgeschöpft», ergab die Analyse von zwei Dutzend Wohnüberbauungen in der Agglomeration Genf. Die Bauten stammen aus den Jahren 1947 bis 1975 und sind in den letzten zehn Jahren energetisch erneuert worden.[1] Die realen Verbrauchsdaten wurden danach über zwei bis drei Jahre erhoben.

Unerfüllte Erwartungen bei Sanierungen

Der Befund stimmt überraschend gut mit den Angaben überein, die anderenorts bei der Ausmessung des Performance Gap gefunden worden sind. Die bislang umfangreichste Analyse fand in den Niederlanden statt; dazu wurde der Energieverbrauch von über 300'000 Gebäuden erfasst.[2] Zu überprüfen war die Gültigkeit der staatlichen Energieetikette, die beim Handel mit Immobilien zwingend vorgelegt werden muss und die auf Planwerten beruht. Die Auswertung hat ergeben, dass der effektive Wärmekonsum 30 bis 50 % höher ist als auf der Etikette deklariert. Wie im BFE-Praxistest verfehlen auch in der niederländischen Analyse vor allem sanierte Gebäude das Energieeffizienzziel. Offensichtlich wird das energetische Leistungsvermögen hierbei planerisch überschätzt.

Die Forschungsarbeiten zum Performance Gap am Institut für Umweltwissenschaften der Universität Genf werden vom städtischen Energieversorger unterstützt und stehen vor dem Abschluss. Erste Erkenntnisse über Charakter, Ursachen, Auswirkungen und Gegenmassnahmen sind bereits an wissenschaftlichen Tagungen präsentiert worden. Ende Jahr soll aber der auch für die Praxis relevante Schlussbericht folgen, kündigt Forschungsleiter Jad Khoury an. Der generelle Befund bestätigt das Schwanken zwischen Hoffnung und Dilemma: Der Heizenergiebedarf wird meist deutlich reduziert; doch das Eingesparte bleibt hinter den Erwartungen zurück. In einzelnen Fällen liegen Theorie und Praxis, Planung und Alltag über 100 % auseinander, hat die Auswertung der Beispiele aus Genf ergeben.

Bei einem Mehrfamilienhaus mit 28 Wohnungen konnte der ursprüngliche Energiekennwert von 196 kWh/m2 zwar halbiert werden; angepeilt war jedoch ein Viertel, nämlich 42 kWh/m2. Zum Vergleich: Neubauten dürfen gemäss den kantonalen Bau- und Energievorschriften nicht mehr als 50 kWh/m2 verbrauchen. Den «Performance Gap» haben die Genfer Forscher auch bei einer Grossüberbauung mit 160 Wohnungen quantifiziert: 124 kWh/m2 war der Ursprungswert; 33 kWh/m2 sollten es nach den baulichen Eingriffen werden. Bei 84 kWh/m2 blieben die Wärmezähler im Messprogramm des Untersuchungsobjekts stehen.

Wird der nach SIA-Norm 380/1 berechnete und im Energienachweis deklarierte spezifische Energiebedarf für die Raumheizung als Vergleichsgrösse beigezogen, liegen die erfassten Abweichungen in einer Bandbreite von 43 bis 142 %. Insofern ist das angestrebte Energieeffizienzziel im besten Fall zu zwei Dritteln und im schlechtesten Fall nur zu einem Drittel ausgeschöpft worden, so eine weitere Hauptaussage aus dem Genfer Forschungsprojekt. Eine wesentliche Zusatzerkenntnis aber ist: Der Performance Gap wird kleiner, wenn die energetische Sanierung umfassend konzipiert ist und sich nicht auf einzelne Bauteile beschränkt. Ebenso kann die Kluft durch eine Optimierung der Heizungsanlage geschmälert werden. Zudem lassen die statistischen Analysen aus Genf vermuten, dass der Performance Gap systematisch als Zahlenwert, abhängig vom angepeilten Reduktionsziel, bestimmt werden kann (vgl. Grafik).

Raumtemperatur und Lüftungsrate

Was aber sind die Ursachen für den hartnäckigen Performance Gap? Bislang wurde vermutet, dass ein Gemisch aus Nutzerverhalten, Belegungsschwankungen, Nutzungsänderungen und der ungenügenden Repräsentativität von Planungsnormen schuld an solchen Fehlleistungen ist. Die Forschungsgruppe an der Universität Genf hat diese Hypothesen erstmals anhand von quantitativen Sensitivitätsanalysen untersucht. Dabei fiel auf, dass der Einfluss der realen Nutzungsbedingungen am grössten ist. Nutzungsdauer, Stromverbrauch oder Belegungsgrad sind von untergeordneter Bedeutung. Die Abweichungen zur Realität widerspiegeln sich häufig daran, wie hoch Raumtemperatur und Lüftungsrate effektiv eingestellt sind. Die Planungsnormen enthalten jeweils einen Standardwert: 20 °C Raumtemperatur respektive 0.7 m³/hm2 Frischluftrate. In den Genfer Wohnungen sind jedoch erheblich höhere Werte gemessen worden: 23 °C respektive über 1.2 m³/hm2. Erfahrungen aus der Praxis weisen zudem darauf hin, dass auch die Kälteregulierung in Gebäuden immer häufiger eine Abweichung vom Standardfall verursachen kann (vgl. Kasten unten).

Wie man den Gap zum Verschwinden bringen kann, haben die Genfer Gebäudeforscher anhand von Stichproben ebenfalls gefragt. Betriebsoptimierungen sowie Änderungen im Nutzerverhalten und im Energiemanagement konnten die Kluft tatsächlich mindern. Bei zwei Wohnbauten wurden die geplanten Energieeffizienzziele danach noch um 20 % statt bisher um fast 40 % verfehlt. Das Gefälle der Treppe im Realitätsdiagramm könnte sich also dem Plan weiter annähern.


Anmerkungen:
[01] Understanding and bridging the energy performance gap in building retrofit, Khoury et al., CISBAT 2017; Compare-Renove Abschlussbericht, Universität Genf, Société Industriel Genevois, Bundesamt für Energie 2017 (unveröffentlicht)
[02] Predicting energy consumption and savings in the housing stock. A performance gap analysis in the Netherlands; Daša Majcen. Delft University of Technology, Faculty of Architecture and the Built Environment, 2016.

29. September 2017 TEC21

Brüche zwischen Entwurf und Anwendung

Wie sehr leidet der schweizerische Gebäudepark unter dem Performance Gap? Ein Gespräch mit Systemingenieur Dimitrios Gyalistras über steigende Ansprüche, unerfüllbare Leistungen und die fehlende Beweglichkeit im Bauwesen.

TEC21: Herr Gyalistras, wann ist Ihr Arbeitsrechner das letzte Mal ausgefallen?
Dimitrios Gyalistras: An einen Totalabsturz kann ich mich nicht erinnern. Aber es passiert täglich, dass die IT nicht so funktioniert, wie sie sollte.

TEC21: Sie sind Systemingenieur und entwickeln unter anderem Software für das Monitoring von Energieflüssen. Dazu sind Sie auf bestens funktionierende Informationstechnologie angewiesen. Wie gross ist das Verständnis für häufig auftretende Störungen?
Dimitrios Gyalistras: Fehler sind in der Bearbeitung von digitalen Daten alltäglich und kein Grund, mich deswegen aufzuregen. Im Gegenteil: Fehler aufzudecken ist der Kern meiner Arbeit. Ob es eigene Softwareentwicklungen sind oder Analysen für externe Auftraggeber: Ich versuche jeweils die Ursachen zu finden und Verbesserungen vorzuschlagen.

TEC21: Auch die Bautechnologie hat ein wiederkehrendes Fehlerproblem: Gebäude leisten nicht, was sie sollten. Im Auftrag des Bundesamts für Energie untersuchen Sie den «Performance Gap» bei Gebäuden. Wie fehleranfällig ist das Gebaute?
Dimitrios Gyalistras: Was ein fehleranfälliger Bau ist, muss man noch definieren. Aber das Problem ist nicht das Gebaute an sich, sondern der Umgang mit Fehlern, die in allen Phasen des Gebäudelebenszyklus passieren können. Der Vergleich zwischen Software- und Bauprojekten mag gewagt sein. Aber auch der IT-Bereich steckt voller träger Elemente: Grosse Datenbestände sind miteinander verhängt oder viele Entwicklungsprozesse historisch gewachsen. Im Gegensatz zum Bauwesen kennt die IT-Branche jedoch ein Geschäftsmodell, das komplexe Systeme an sich ändernde Bedürfnisse anpassen und fortlaufend verbessern kann. Dabei wird die Zusammenarbeit unter Fachleuten und mit Endkunden derart optimiert und automatisiert, dass rückwirkende Änderungen möglich sind. Diese Agilität vermisse ich im Bauwesen.

TEC21: Können Sie das genauer ausführen?
Dimitrios Gyalistras: Ein Planerteam kann sicher agil sein. Aber der gesamte Gebäudelebenszyklus, von der Konzeption über die Grobplanung bis zum Betrieb und zur Pflege, ist mit Brüchen versehen. Dabei gehen Informationen verloren. Es fehlen zudem Möglichkeiten, iterative Verbesserungen und Veränderungen in der Lieferkette vorzunehmen, die zu teilweise tief greifenden Anpassungen führen können und dürfen. Die Kooperationsform, um Projektidee, Entwurf, Bau und Betrieb zusammenzubringen, geht der Baubranche bislang ab. BIM kann jedoch als Integrations- und Kommunikationsmethode dienen.

TEC21: Wie ist der Performance Gap konkret zu verstehen?
Dimitrios Gyalistras: Allgemein gesagt sind es Abweichungen vom Planungs- zum Istzustand, die aber nicht mit Baumängeln oder eindeutigen Schäden gleichzusetzen sind. Ein Performance Gap lässt sich nicht nur beim Energieverbrauch, sondern auch bei der Qualität des Innenraumklimas oder bei der Wirtschaftlichkeit der Gebäudenutzung feststellen. Letztere meint jedoch nicht die Rendite, sondern oft unerwartet hohe Betriebskosten, was für Eigentümer oder Nutzer viel wichtiger ist als zu viel konsumierte Energie.

TEC21: Wie gehen Sie dem Gap auf die Spur?
Dimitrios Gyalistras: Die meisten Diskussionen über den Performance Gap beziehen sich auf Abweichungen bei Einzelobjekten. Demgegenüber interessiert sich unser Auftraggeber, der Bund, für den Gap, der als unerfüllte Leistungen eines Gebäudeverbunds zu verstehen ist. Wie der kollektive Gap im schweizerischen Gebäudepark zu erfassen, zu interpretieren und in Zukunft anzugehen ist, dazu soll unsere Analyse bis Ende Jahr Erkenntnisse liefern. Eine Vorgängerstudie hat den effektiven Energieverbrauch vieler Gebäude untersucht: Die angestrebte Performance wird im Durchschnitt gut erreicht, was eher beruhigt; auch wenn einzelne Bauten stark abweichen können. Wesentlich ist auch der jetzige Zeitgeist, dem steigende Ansprüche und Erwartungen an das Leistungsvermögen von Gebäuden aus ganz unterschiedlichen Gründen eigen sind.

TEC21: Sie sprechen vom Zeitgeist. Glauben Sie, die Erwartungen an ein optimal funktionierendes Gebäude sind eine Modeströmung und verschwinden wieder?
Dimitrios Gyalistras: Nein, überhaupt nicht. Ich meine damit, wie die Gesellschaft auf die rasante Entwicklung im IT-Bereich reagiert. Vieles wird nun als Selbstverständlichkeit wahrgenommen. Mit einem Fingerwisch auf dem Handydisplay kann jeder enorme Rechenleistungen und hoch individualisierte Dienstleistungen abrufen. Dies schraubt die Erwartungen an das technisch Machbare nach oben. Doch damit man von einem Gap sprechen kann, muss sich jemand für die Gebäudeperformance überhaupt interessieren.

TEC21: Wer könnte das sein?
Dimitrios Gyalistras: Nicht alle Stakeholder haben dieselben Interessen. An energetischen Aspekten waren lange Zeit nur Idealisten, Pioniere und Spezialisten interessiert. Mittlerweile sind weitere Kreise auf den Performance Gap aufmerksam geworden. Dieser definiert sich grundsätzlich aus der planerischen Vorgabe respektive einer erwarteten Leistung. Wichtig für die Erfassung ist zudem, dass eine Abweichung zuverlässig detektiert werden kann. Und am Schluss dieser Wahrnehmungskette braucht es die Möglichkeit einer kausalen Zuordnung.

TEC21: Was ist damit gemeint?
Dimitrios Gyalistras: Der Gap muss einer Ursache zugeordnet werden können; es braucht Gründe, warum funktionale Erwartungen nicht erfüllt werden. Denn erst wenn solche vorliegen, hat der Nutzer allfällige Ansprüche zugute, falls der Service im Wohn-, Arbeits- oder Lebensraum nicht stimmt. Die neuen Technologien nehmen aber nicht nur Einfluss auf die Erwartungen. Sie selbst bieten ungeahnte Möglichkeiten, wie man eine Immobilie auf eine neue Art nutzen kann. Die Hülle der Gebäude ist weitgehend starr; Informations-, Energie-, und Geldflüsse darum herum sind dank dem Internet jedoch hochmobil. Die dezentrale Erzeugung hat den Energiesektor hier schon weit vorangebracht. Beim Bauen sind tradierte Eigenheiten und historische Denkweisen erst noch zu überwinden.

TEC21: Geht es beim Performance Gap also weniger um Unzulänglichkeiten bei der Gebäudetechnik als um Erwartungen, Verantwortlichkeiten und Wahrnehmungsfragen bei Immobilien?
Dimitrios Gyalistras: Genau. Der Performance Gap ist nicht nur technisch zu verstehen, sondern behandelt das gesamte Bauwesen. Die Performance versteht sich als Summe von Leistungen, die wir von den Gebäuden beziehen. Darum analysieren wir den Performance Gap auf einer systemischen Ebene. Man muss darüber nachdenken, wie man den Bauprozess und den Betrieb verbessern kann. Die Bauweise und die Prozesse werden viel zu wenig an der erbrachten Leistung gemessen. Wir betrachten dazu die Ineffizienzen im Planungs- und Bauprozess oder auch die Transparenz, wer wofür verantwortlich ist. Zudem möchten wir eine Diskussion anregen, wie die jeweils angestrebten Ziele überprüft werden können.

TEC21: Worum handelt es sich bei der Ineffizienz?
Dimitrios Gyalistras: Im Planungs- und Bauprozess tauchen des Öfteren Bestellungsänderungen und neue Rahmenbedingungen auf, denen man nicht immer gerecht werden kann. Oder es kommt vor, dass wichtige Informationen die Planer erst gar nicht erreichen. Späte Änderungen im Planungsablauf können, wenn überhaupt, nur mit viel Erfahrung integriert werden.Eine typische Reaktion, um sich auf Eventualitäten vorzubereiten, ist, technische Anlagen zu überdimensionieren. Mit solchen Ineffizienzen ist der Gap vorprogrammiert.

TEC21: Also entsteht der Gap nicht, weil Vorgaben zu ambitioniert sind, sondern aus Planungsunsicherheit?
Dimitrios Gyalistras: Beispielsweise aus der Schlussfolgerung eines Planers, sich mit Reservekapazitäten gegen spätere Risiken abzusichern. Darin steckt kein Vorwurf, dass jemand etwas falsch macht. Aber das System ist nicht agil, rückwirkend eine Änderung vorzunehmen. Es gibt einen riesigen Trade-off zwischen Flexibilität, Risikoaversion und Vorinvestition; Gaps sind Hinweise, dass solche Aspekte bei Planung und Bau zu Lasten der Betriebsphase ausbalanciert werden müssen.

TEC21: Ist der Performance Gap bei Gebäuden zwingend zum Verschwinden zu bringen?
Dimitrios Gyalistras: Man kann in der Gebäudeplanung nicht alles unter Kontrolle halten; aus klimatischen Gründen nicht oder weil es Nutzungsänderungen gibt. Das Ziel muss aber nicht unbedingt sein, dass jedes einzelne Gebäude perfekt funktioniert. Denn die Planer benötigen weiterhin realistische Zielbereiche und individuelle Spielräume. Werden kleinste Abweichungen bestraft, wirkt das nur kontraproduktiv.

TEC21: Was kann gegen Leistungseinbussen unternommen werden?
Dimitrios Gyalistras: Den grössten Einfluss haben Akteure, die Gebäude nicht nur bauen, sondern auch besitzen, etwa die öffentliche Hand. Dabei kann man auch Neues ausprobieren. Warum kann nicht das «performancebased building design» ein zentrales Thema eines Projektwettbewerbs sein? Allenfalls kann man auch mit einer «integrated project delivery» expertimentieren, um die Agilität in allen Prozessphasen und die Kooperation unter den Beteiligten zu verbessern. Es braucht Anreize zu einem Commitment, damit ein Planungskonsortium für das Resultat, im Guten und im Schlechten, einzustehen hat. Es braucht ebenso eine Auseinandersetzung, wie BIM als Kooperationslösung eingesetzt werden kann.

TEC21: Wie kann die Digitalisierung sonst helfen, dem Performance Gap auf die Spur zu kommen?
Dimitrios Gyalistras: Effektiv bringt der technische Fortschritt gewaltige Chancen hervor, zum Beispiel bei den Werkstoffen mit dem 3-D-Druck oder beim Betrieb mit vorausschauenden Regelstrategien und dem kontinuierlichen Monitoring. Dieser letzte Bereich überprüft, inwieweit die angestrebten Ziele erreicht werden. Der digitale Fortschritt bringt auch Gefahren mit sich, wie eine Bevormundung des Nutzers oder die Überwachung von persönlichen Daten. Hier braucht es eine neue Daten- und Informationskultur, was in der Baubranche aber noch zu wenig thematisiert wird.

11. August 2017 TEC21

Ein Schaulager für Krieg und Frieden

Wie attraktiv und publikumsträchtig ist eine historische Waffensammlung? Der Kanton Solothurn wagt mit der Erneuerung des Zeughauses eine inhaltliche ­Auffrischung der Ausstellung. Das Resultat ist sehenswert.

Eine Kanone ist eine Kanone ist eine Kanone. Oben das Laufrohr zum Abfeuern der Kugeln und unten die Lafette, ein Holzgestell für die Bodenhaftung. Anfänglich wurden schwere Eisenkugeln abgefeuert; später folgten explosive Projektile. Und seit Erfindung der Rückstossfederung erhöhte sich die Feuerkadenz. Die Kanone ist eine Kriegswaffe, um den Tod in die feindlichen Reihen zu bringen; ein ausgefeiltes Handwerk ermöglicht dies gefahrlos und effizient. Mehr als ein halbes Dutzend Geschütze aus eidgenössischer Vergangenheit sind im Alten Zeughaus von Solothurn aufgestellt. Gleich beim Eintritt ist der Besucher mit diesen historischen Waffen und den eigenen Vorurteilen über deren Zweck konfrontiert.

Eine Halbarte ist eine Halbarte ist eine Hal­barte. Die lange Holzstange hält Gegner auf sichere Distanz; die vorn angebrachte Rundklinge mit Hacken, Dorn und Spitze erlaubt wilde, verbissene Attacken. Die «Hellebar­de» gehörte zur Standardausrüstung der kriegerischen und tapferen Eidgenossen. Im Zeughaus lagern weit über 400 Stück, weil Solothurn lange Zeit die Söldnerhochburg der alten Orte war. Eine Vielzahl wird hinter den Kanonen an einer Waffenwand zur Schau gestellt. Die Exponate sind archivarisch durch­num­me­riert; die Fülle demonstriert, wie detailreich die Unterschiede sind. Ob stechen, hauen, schlagen oder reissen: Der Waffenschmied entschied mit seinen Ideen und sei­nem Geschick viele Auseinandersetzungen in jüngerer Neuzeit mit. Als der Büchsenmacher mit seinen Erzeugnissen die Kriegsschauplätze zu dominieren begann, waren viele Waffengattungen plötzlich nur noch Zier.

Spektakel durch Neubauten oder Inhalte?

Ist ein Zeughaus ein Zeughaus oder ein Museum? Tatsächlich ist der Kanton Solothurn im Besitz von Waffen, die das historische Erbe vieler Konflikte der letzten vier Jahrhunderte sind. Die Sammlung gilt als einzigartig in ganz Europa. Sie wird seit über hundert Jahren im Museum Altes Zeughaus präsentiert, mitten in der Solo­thurner Altstadt. Doch immer weniger konnten sich für einen Besuch der Ausstellung erwärmen. Das Publikum blieb auf Waffenliebhaber und militäraffine Kreise ­beschränkt. Letztes Jahr nun hat der Kanton Hülle und Inhalt des lokalen Wehrmuseums entstaubt.

In der Schweiz gibt es über 1000 Museen. Keines ist wie das andere; aber alle warten auf interessierte, neugierige Besucher. Die bekanntesten präsentieren bildende Kunst und locken Publikum aus nah und fern. Zur Positionierung werden jedoch schnell ändernde Inhalte benötigt; möglichst spektakuläre Neubauten machen zusätzlich auf sich aufmerksam (vgl. TEC21 45/2016). Der Aufwand, den die öffentliche Hand und private Mäzene dafür betreiben, ist enorm. Die Investi­tionen dienen ebenso dem Standortmarketing wie der Förderung von Kunst und Baukultur. Daraus ergeben sich bisweilen leider abgehoben wirkende Objekte, die den Bezug zur lokalen Umgebung und zum Ausstellungsinhalt vermissen lassen.

Den Hauptharst der inländischen Museumsvielfalt bilden jedoch Häuser, die orts- und sachkundig mehr oder weniger konstante Themen aus Volkskunde, Heimatgeschichte oder Naturwissenschaft vermitteln. Viele der nur lokal oder regional bekannten Museen in der Schweiz sind voll von herausragenden Exponaten, doch ihre Inszenierung leidet meist unter bescheidenen Ressourcen. Auch das Alte Zeughaus in Solothurn mit Baujahr 1614 war ein Sorgenkind.

Vermittlung mit Dialog und Reflexion

Vor rund zehn Jahren ordnete die Solothurner Kantonsregierung deshalb einen Neustart an. Die neue Strategie leitete man aus einer überarbeiteten Museumspolitik ab; zudem sollte das Zeughaus bekannter und einem breiteren Publikum zugänglich gemacht werden. Aus der mutigen Idee, nicht nur Waffen zu präsentieren, sondern auch die Kontexte zu Technik, Historie und Politik darzustellen, entstand eine Ausstellung über Wesen und Sinn der Wehrhaftigkeit. Thematisch galt es, Bezüge zur Konfliktbewältigung und zum Söldnerwesen einzufügen und formal eine Vermittlungsebene für den Dialog und die Reflexion zu ergänzen.

Für die Erneuerung von Hülle und Inhalt wurden jeweils eigene Wettbewerbe durchgeführt. 2011 gewann das Basler Gestaltungsbüro element design den Studienauftrag für die Inszenierung der Dauerausstellung. Und wenig später erkor man das Architekturbüro Edelmann Krell aus Zürich als Sieger des selektiven Auswahlverfahrens für «Umbau und Sanierung» des wuchtigen Baus mitten in der Solo­thurner Altstadt. Bemerkenswert ist, dass beide Entwürfe unabhängig voneinander erarbeitet wurden und sich dennoch gut zusammenfügen.

Der Coup der baulichen Sanierung ist, auf äus­sere Applikationen am Gebäude zu verzichten und im Gegenzug dem Innenleben einen Neuling zuzumuten: Der Erschliessungsturm, der nun den hinteren Raumbereich über alle Etagen durchstösst, hat jedoch ein vertretbares Format und ist dem bestehenden, ebenso runden Aufgang an der Ostseite nachempfunden. Letzterer steht den Ausstellungsbesucher zur Verfügung; der Einbau besteht aus Treppe und Lift für den Transport der Exponate bis in den vierten Stock. Zusätzlich zur Logistik waren allerdings auch Statik und Technik aufzurüsten und den Anforderungen an ein zeitgemäs­ses Museum anzupassen.

Das Instandsetzen führte zu tief gehenden Eingriffen; teilweise wurde die inne­re Baustruktur aus Stützen und Decken sogar entkernt. Beim Wiedereinbau respektierte man das Ursprungsbild weitgehend: Um die Belastbarkeit zu erhöhen, ­wurden die bisherigen Stützen untereinander ausgetauscht. Und die Nivellierung der Böden ergab Zwischenräume, dank denen sich neue Leitungen und ­Kanäle versteckt in die Horizontale einbauen liessen.

Das Museum Altes Zeughaus wurde vor acht Jahren in das Schweizerische Inventar der Kulturgüter von natio­naler und regionaler Bedeutung aufgenommen. Den historischen Raumeindruck zu bewahren war ein zentrales denkmalpflegerisches Anliegen. Die Dauerausstellung erstreckt sich über drei Geschosse; darüber befindet sich Raum für Sonderveranstaltungen.

Multimedia in den Köpfen der Besucher

Jedes Geschoss umfasst einen einzigen, weiten und tiefen Raum. Mächtige Holzpfeiler tragen jeweils wuchtige Längsbalken, in einem grosszügigen Raster verteilt. Zu­sätz­liche Querrippen stützen die Zwischendecke oben ab. Unten präsentiert sich der Boden ebenso stattlich; die meisten der mittelgrossen, rotbraunen Tonplatten sind im Originalzustand erhalten. Die beiden oberen Ausstellungsgeschosse werden über zwei bis drei ­Gebäudeseiten natürlich belichtet. Die quadratisch ­gerasterten Fenster sind in Mauerbögen eingefasst und öffnen als Nischen Ausblicke auf die Stadt.

Auch die szeno­grafischen Interventionen nehmen die gedämpfte Ausstrahlung der Räume auf. Die Waffenwände und die in Reih und Glied posierenden Harnische passen sich dem ruhigen Innern in Dimension, Mate­ria­lisierung und Haptik bestens an. Zudem sind die Exponate so locker im Raum verteilt, dass man sich bei Interesse in sie vertiefen oder ungehindert davor passie­ren kann. An die Wand gehängt, in den Raum gestellt oder zum Berühren: Das Waffenarsenal ist jeweils ­objektbezogen ausgestellt und punktuell zwischen ­ausreichend bis ausführlich erklärt.

Das erste Obergeschoss weitet die Vermittlungsinhalte auf die Schweizer Wehr- und Konfliktgeschichte aus. Gestalterisch wird diese Ergänzung aber zum Bruch: Zwischen die Stützen sind drei begehbare Kammern gestellt, deren verspiegelte Aussenwände ein räumliches Vexierbild erzeugen. Die Kabinen schotten innere Themenwelten ab, die nun auch multimedial vermittelte Kommentare und Erklärungen enthalten.Man lernt, wie heftig die helvetischen Glaubenskriege unter katholischen und reformierten Ständen im 16. Jahrhundert geführt wurden. Ebenso erhellend sind die Informationen über das ebenso gewalttätige wie einträgliche Söldnerwesen.

Und auch die übrigen wehrgeschichtlichen Zusammenhänge oder Anekdoten regen zum Weiterdenken an. Medizinische Bulletins über Opfer, Ansichten von historischen Strassenschlachten oder Pläne zum militärisch motivierten Städtebau runden diese spannende, niemals heroisierende Wehrschau ab. Verschwiegen wird glücklicherweise wenig. Auch darf der Besucher interagieren und seinen persönlichen Lieblings-Friedensaktivisten verewigen. Die zurückhaltende Vermittlung drängt nichts auf. Viele Objekte und eine reduzierte Auswahl an Bildern und Kommentaren erzeugen ausreichend Multimedia im eigenen Kopf.

Die grosse Sorgfalt im Umgang mit dem Bestand prägt auch die Neuinszenierung der Tagsatzung von Stans von 1481. Damals schlichtete Niklaus von Flüe einen Streit unter den alten Orten, damit sich die Städte Solothurn und Freiburg dem eidgenössischen Bündnis anschliessen konnten. Das Puppenensemble steht seit 170 Jahren im Zeughaus und ist nun mit handgefärbten Wollstoffen neu eingekleidet worden. Und auch das Gebäudecurriculum findet Platz in der erneuerten Wehrausstellung. So sind die Gravuren im Gebälk, eine Hinterlassenschaft der Handwerker, oder Tierspuren in den Tonplatten ausführlich erklärt.

Das Museum Altes Zeughaus in Solothurn war bislang ein Schaulager mit einzigartiger Waffensammlung; neuerdings ist es ein modernes, anregendes Museum und Ausstellungsexponat zugleich.

11. August 2017 Hella Schindel
TEC21

«Auf Augenhöhe mit der Architektur»

Das Museum Altes Zeughaus Solothurn wurde umgebaut und die Dauerausstellung erneuert. Der Szenograf Roger Aeschbach erklärt, welche Struktur- und Wahrnehmungsebenen die Realisierung einer Ausstellung erschweren können.

TEC21: Herr Aeschbach, Hand aufs Herz – kennen Sie den Unterschied zwischen einer Halbarte und einer Hellebarde?
Roger Aeschbach: Historiker sprechen von der Halbarte. Soweit mir bekannt, ist «Hellebarde» aber kein Fachbegriff. Warum fragen Sie?

TEC21: Sie haben die Waffen- und Wehrausstellung im Alten Zeughaus von Solothurn gestaltet. Was muss ein Szenograf über die Exponate selbst wissen?
Roger Aeschbach: Nicht jedes Detail, aber wichtige Fachkenntnisse fliessen selbstverständlich in das Präsentationskonzept ein. Beispielsweise waffengeschichtlich bedeutende Entwicklungen oder Personen, die dazu Hauptimpulse gegeben haben. Das Besondere an dieser Gestaltungsaufgabe war, dass man daraus ein historisches Designmuseum entwickeln konnte. Die Elemente der Inszenierung sind insofern die Objekte selbst sowie ihre Gestaltung, Funktion und die Materialbearbeitung.

TEC21: Eine Waffe dient kriegerischen Absichten. Hatten Sie keine Bedenken, die Besucher unmittelbar beim Eintritt ins Museum damit zu konfrontieren?
Roger Aeschbach: Der Auftakt muss sich aus den Objekten und dem Handwerk ergeben, das hinter jedem Einzelstück steckt. Denn diese sind direkt mit dem Ausstellungsort und seiner Entstehung verbunden. Wir stehen nicht in einem klassischen Kunstmuseum, sondern im Zeughaus, das seit jeher ein Massenspeicher für Waffen ist. Dazu hatten wir ursprünglich eine noch konfrontativere Situation für die Besuchenden ausgedacht, bei der alle Kanonen auf denselben Punkt gerichtet worden wären. Aber beim Herumschieben haben wir gemerkt, dass es nicht funktioniert.
Die Konfrontationsebene wird im Ausstellungsverlauf jedoch zugunsten einer eher repräsentierenden Perspektive aufgelöst. Denn die Zeughäuser sind traditionell auch zu Repräsentationszwecken benutzt worden, etwa mit dem Vorführen der Waffen von Adligen. Der Ursprung eines Wehrmuseums steckt also bereits im Zeughaus drin. Aus der historischen Architektur des Hauses wird ein weiterer Erzählstrang geknüpft, da die Räumlichkeiten ihrerseits beeindrucken und sich zur Vermittlung in dieser Ausstellung bestens eignen.

TEC21: Wie gingen Sie vor, um die Objekte in diesem selbstbewussten und lokal verankerten Gebäude angemessen zu präsentieren?
Roger Aeschbach: Die Wertschätzung des Zeughauses und die Wahrnehmung der Räume in der Bevölkerung sind besonders. Daher hatte man auch in der Politik Angst vor einer Verunstaltung. Unser Ziel war, den ursprünglichen Charakter des Rohen auch in der Art der Vermittlung und Inszenierung zu bewahren. Das Haus und die Objekte transportieren schon so viel Inhalt, dass wir auditive und visuelle Medien zurückhaltend eingesetzt haben. Doch das Haus soll nicht nur für Solothurn zentral bleiben, sondern auch ausserhalb stärker wahrgenommen werden. Daher war der Inhalt, die Wehrgeschichte der jüngeren Neuzeit, auf zeitgenössischere Art als bisher zu kommunizieren. Das Kuratorium gab zudem vor, das Zeughaus nun mit den Themen Konflikt und Konfliktbewältigung in der Museumslandschaft Schweiz zu positionieren.

TEC21: Die inhaltliche Neuausrichtung wurde für einen Studienauftrag unter Szenografen genutzt. Wie sind Sie mit der räumlichen Ausgangssituation umgegangen?
Roger Aeschbach: Es ist eine heikle Aufgabe, etwas Neues in derart wunderschöne Räume hinein zu planen. Aber bei allem Respekt braucht es manchmal den gestalterischen Bruch. Wir haben beispielsweise die verspiegelten Kabinen vorgeschlagen, damit die Vermittlung in räumlicher und inhaltlicher Distanz zum Zeughaus passieren kann. Die Wettbewerbsaufgabe bestand darin, vier solcher Themenräume zu entwerfen.

TEC21: Hatten Sie freie Hand, den Wettbewerbsentwurf eins zu eins zu realisieren?
Roger Aeschbach: Es ist erstaunlich, wie nah das Resultat am anfänglichen Entwurf bleiben konnte. Aus den vier Themenkammern im zweiten Ausstellungsgeschoss sind jedoch drei geworden. Die Reduktion ist zwar thematisch begründet, hat aber die räumliche Situation mit Sichtachsen und Lichteinfall eindeutig verbessert. Der Dialog mit den Kuratoren hat während des gesamten Umsetzungsprozesses gut geklappt, was für die komplexen räumlichen Interventionen vorteilhaft war. In unserem Berufsfeld ist der kontinuierliche Austausch jedoch üblich. Bereits in der Wettbewerbsphase diskutieren die Teilnehmer ein- bis zweimal mit den Kuratoren, damit die allenfalls länger dauernde Zusammenarbeit erprobt werden kann.

TEC21: Auf welche Periode ist eine solche Dauerausstellung konzipiert?
Roger Aeschbach: Die Gestaltung im Zeughaus kann im Prinzip für die nächsten 20 Jahre funktionieren. Auf eine Zeitlosigkeit in Gestaltung, Materialisierung, Vermitt­lung und Medieneinsatz wurde darum hoher Wert gelegt. Das heisst aber nicht, dass alles so bleiben muss: Ob etwa die Spiegelkabinen dem künftigen Zeitgeist gefallen, darf hinterfragt werden. Anpassungen der Einbauten sind bereits angedacht und können an den gewählten Bausystemen leicht vorgenommen werden.

TEC21: Wie hat der architektonische Erneuerungsprozess in Ihre Arbeit eingewirkt?
Roger Aeschbach: Im Zeughaus hat auch die Denkmalpflege bei der Raumgestaltung mitgeredet. Weil jede zusätzliche Partei die Komplexität erhöht und das Projekt erschwert, sind die Zuständigkeiten und das Management der Schnittstellen im Umsetzungsprozess wesentlich.

TEC21: Wie gut hat das beim Zeughaus geklappt?
Roger Aeschbach: Die interne Koordination funktionierte sehr gut. Dennoch ist unsere Arbeit meistens strukturell bedingt konfliktreich. Die Abläufe in der Museumsgestaltung und im Hochbau funktionieren anders. Ausstellungs- und Architekturprojekt sind richtigerweise organisatorisch bis hin zum Auftraggeber getrennt. Allerdings entsteht fast immer eine Zeitverschiebung zwischen den Ausführungsprogrammen. Die haustechnischen Anschlüsse erzeugen sehr schnell Druck: Kaum skizzieren wir den Gestaltungsentwurf, sind bereits definitive Anschlüsse festzulegen.

TEC21: Würde eine enge Zusammenarbeit zwischen Architekt und Ausstellungsgestalter die Situation verbessern?
Roger Aeschbach: Ich habe unterschiedliche Konstellationen in der Projektorganisation erlebt. Aber selbst wenn wir zum Planungsteam gehören, das einen Architek­turwettbewerb gewinnt, erfolgt die Ausführung in zwei Leistungsgruppen und läuft über verschiedene Budgets. Das Strukturproblem bleibt. Die Realisierung von Museen und Ausstellungs­bauten ist jedoch hochspezifisch und fällt daher aus der Norm. Das Bauen von Schul- und Verwaltungsgebäu­den lässt sich im Vergleich dazu leichter standar­disieren. Zudem ist die Zusammenarbeit zwischen Architekt und Gestalter auch im Alltag mit Stolpersteinen versehen.

TEC21: Was ist schwierig?
Roger Aeschbach: Eigentlich sollte eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe möglich sein. Beide Disziplinen kennen sich mit Raumgestaltung aus; teilweise kann man gegenseitig von den unterschiedlichen Erfahrungen im Museumsbau profitieren. Schwierig wird es, wenn es um die Kontrolle über die Gesamtaufgabe geht.

TEC21: Verstricken sich Gestalter und Architekt im Gärtleindenken?
Roger Aeschbach: Architekten bauen schöne Räume, wenn sie ein Museum planen. Die Szenografen dagegen kommu­nizieren. Diese beiden Denkhaltungen können sehr verschieden und schwer vereinbar sein. Daher würde eine flexible Haltung im Ausführungsprozess die Zusammenarbeit sicher verbessern. Leider werden aber viele Museen so bestellt, dass die Signatur des Architekten erkennbar ist. Die Kehrseite davon ist, dass niemand zu fragen wagt, ob überhaupt etwas an die Wände aufgehängt werden darf. Wichtig ist daher, dass der Museumsbetreiber ein echtes Mitspracherecht im Bauprozess erhält.

Roger Aeschbach ist Designer FH, konzipiert Museen und Ausstellungen. und führt seit 23 Jahren das Büro element design, Basel. Zu den Referenzen gehört unter anderem die Erweiterung des Deutschen Literaturarchivs in Marbach bei Stuttgart.

28. Juli 2017 TEC21

Vom Kurort zur urbanen Freizeitarena

Lenzerheide, Graubünden

Tourismusdestinationen stehen unter einem vermeintlichen Wachstumszwang, damit der Gast bequem befördert werden und aus einem vielfältigen Programm auswählen kann. Wie verändert dies den alpinen Raum und die Baukultur?

Die Lenzerheide geografisch zu verorten ist eine verwirrende Aufgabe. An sich bildet sie den Passübergang zwischen Chur und Tiefencastel; südlich des Heidsees befindet sich der höchste Punkt. Die politische Heimat ist geräumiger; zusammen mit vier weiteren Siedlungsfraktio­nen gehört «Lai» zur Gemeinde Vaz/Obervaz. Das Tummelfeld für Schneesportler ist noch einmal bedeutend grösser; die Ski­destination Lenzerheide beginnt mitten in Churwalden und endet am Obersee von Arosa. Seit drei Jahren verbindet eine Seilbahn die beiden Mittelbündner Skiorte Lenzerheide und Arosa zum «grössten zusammenhängenden Wintersportgebiet in Graubünden». Trotz fehlendem Gletscher ist die «Lenz» nun eine international bekannte «Top-Skidestination».

Wo früher verstreute Aclas (dt. Maiensässe) bewohnt und bewirtschaftet wurden, ist Ende des 19. Jahrhunderts ein Relais auf dem Weg ins Engadin entstanden. Und was damals als beschaulicher Kurort begann, ist inzwischen zur Tourismusfabrik für die breite Masse geworden. Etwa 1.2 Mio. Gäste zählen die Bergbahnen im Jahr. Zuletzt wurden über 10 Mio. Franken jährlich in Neues investiert; aber die schneearmen Winter haben, trotz Zusammenschluss mit Arosa, einen Rückgang der Frequenzen bewirkt. Welche Risiken sind mit dem Ausbau des Tourismusangebots verbunden?

Massentourismus als Ansichtssache

Die Lenzerheide ist auch eine raumplanerische Ansichtssache. Das Hochtal ist massiv zersiedelt; der Siedlungskern wirkt eher ungeformt und schmächtig. Die kommunale und touristische Entwicklungsstrategie bestand bisher im Wesentlichen darin, die Ränder und Berghänge mit Immobilien zu verbauen. So ist aus Vaz/Obervaz die Bündner Ferienwohnungshochburg entstanden; der Zweitwohnungsanteil liegt bei 77 %. Das generelle Bauverbot wird zwar Druck aus der Landschaft nehmen; aber wie geht die Siedlungsgeschichte der Gemeinde weiter? In der Lenzerheide sind der Tourismus und die Gemeindeentwicklung mehrfach eng miteinander verbunden. Einwohner- und Bürgergemeinde sind selbst im Besitz von 49 % der Bergbahnaktien. Schwächelt der Fremdenverkehr, spürt dies schnell auch die Bevölkerung. Wie die bauliche, räumliche und nachhaltige Entwicklung weitergehen soll, ist Thema der folgenden Ortsbesichtigung. Welche funktionalen Ansprüche hat die Lenzerheide zu erfüllen, und wie gut sind die Chancen für eine positive Entwicklung?

Gemeindepräsident Aron Moser glaubt an die Vorwärtsstrategie: «Wenn wir nicht Neues wagen, gehen wir unter.» Christoph Suenderhauf, Verwaltungsrats­präsident der Lenzerheide Bergbahnen, erwartet aber, dass sich die öffentliche Hand stärker beteiligt: «Der Aufwand für die Beschneiung ist meiner Meinung nach Teil eines Service public.» Richard Atzmüller, Leiter des kantonalen Amts für Raumentwicklung, strebt dagegen ein «ausgewogenes Verhältnis zwischen intensiver und entspannter Tourismusnutzung und ein tragfähiges Nebeneinander» an. Derweil hofft Stefan Forster, Leiter einer Forschungsgruppe Tourismus und Nachhaltige Entwicklung, «dass der Massentourismus nachhaltiger gestaltet wird». Und Architekt Jon Ritter – mehrere Neubauten stammen aus dem Büro, das er zusammen mit Michael Schumacher führt – will dem Tourismusort zu einem Ausdruck verhelfen, in dem sich «Identität und Service» in Balance halten.

Der Einstieg: Portal Churwalden

Staus vorbehalten, ist die Lenzerheide in anderthalb Stunden aus den Agglomerationen Zürich oder Zug erreichbar. 80 % der Schneesportler kommen jeweils nur für einen Tag; morgens und abends strömen jeweils deutlich über 10 000 Autos durch die Dörfer auf der Anfahrtsstrecke. Zwar hat der Kanton Graubünden die Möglichkeit einer Bahnverbindung ab Chur überprüft, die Pläne wurden aber aus Kostengründen zu den Akten gelegt. Stattdessen werden die Hauptstrasse ausgebaut und die Anreise für Touristen verkürzt. Seit letzter Wintersaison ist nun Churwalden der vorgezogene ­Ein- und Umsteigepunkt für die Lenzerheide. Ab hier können Autofahrer und ÖV-Reisende auf die Bergbahnen wechseln. Die frühere Talstation wurde zum komfortablen Empfangsareal mit Parkleitsystem und neuem Post­autoterminal umgebaut.

Hauptelement des Churwaldner Knotens ist ein Empfangs- und Einstiegsgebäude, das ein sichtbares und modernes Zeichen für den freundlichen Empfang setzen will. Ritter Schumacher Architekten haben das Bahnportal als Landmarke entworfen. Es wurde mehrfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Award 2016 für Marketing und Architektur. Gestaltungsmerkmal ist die topografisch eingepasste, geschwungene Form. Zwei Rampen verschränken sich am Fuss des Abhangs inein­ander. Der Eingang, eine Glasfront, wird durch eine Sichtbetonwand umrahmt. Auf der rechten, abgestuften Seite folgt eine Dachterrasse; der Fensterschlitz links bringt Tageslicht in das mit Holz ausgekleidete Restaurant. Die Aussenfassade ist derweil aus Sichtbeton mit einer unregelmässigen Rippenstruktur.

In Sichtweite davon hat das Büro auch den Bushof realisiert, mit ebenso ausgeprägtem Materialisierungscharakter. Die alte Postautohaltestelle an der Hauptstrasse ist durch einen Holzpavillon ersetzt worden; die Konstruktion ist pilzförmig, besitzt Lamellenwände und kragt nach oben aus. Im Innern befinden sich ein geschützter Warteraum sowie ein Migros-Markt. Ursprünglich war ein einfacher Unterstand gedacht; die konzeptionelle Erweiterung und die Zusatznutzung hatten die Architekten ins Spiel gebracht. Geholfen hat, dass Gemeinde und Bahnbetreiber gemeinsam ein übergeordnetes Arealentwicklungskonzept erarbeitet haben. Anstatt weiterhin von der Verkehrslawine überrollt zu werden, kann Churwalden nun darauf hoffen, als Teil der Feriendestination wahrgenommen zu werden und davon selbst mehr zu profitieren.

Das Revier: Destination im Ausbaumodus

Unübersehbar sind auch die Spuren, die die meistens nur temporär genutzte, touristische Infrastruktur in der Landschaft hinterlässt. Neben dem Portal Churwalden zieht sich eine Kette aus Schneekanonen den Hang hinauf, und gleich daneben windet sich das Gerüst einer Rodelbahn auf den Nachbargipfel. Die Berghänge rund um die Lenzerheide sind noch weiträumiger mit dem üblichen Skisportinventar aus Waldschneisen, Bahnstationen und Masten verstellt. Immer mehr Sommeraktivitäten werden sichtbar; durch die Bäume schimmert eine braune Piste für Downhillbiker. Und den Heidsee überspannt eine Leine, die Wakeboarder über Wasser hält. Am Ostufer wird eben noch gebaut: Die Talstation der Rothornbahn erhält ein Parkhaus, daneben entsteht eine Herberge für Budgettouristen.

Die Feriendestination Lenzerheide ist im Ausbaumodus: 140 Mio. Franken haben die Bergbahnen in den letzten elf Jahren investiert. Raumplanerisch ist diese Entwicklung grundsätzlich kompatibel. Gemäss dem Richtplan Graubünden ist es ein «Intensiv­erholungsgebiet»; der kommunale Zonenplan hat Platz für «Wintersportzonen», «Bikerouten» und «Anlagen ­ für die technische Beschneiung» reserviert. Im Einzelfall und bei Baubewilligungen wird dennoch intensiv darüber diskutiert. Das letzte Mal opponierten die Umweltorga­nisationen vor über zehn Jahren gegen ­die Verbindung der Nachbar-Skigebiete. Damals starteten die Lenzerheide Bergbahnen ihre Investitionsoffensive in die Urdenbahn und leistungsfähigere Verteilkorridore. Das meiste ist inzwischen in Betrieb.

Diesen Winter folgt das vorerst letzte Ausbauprojekt, ein Berghaus unterhalb des Parpaner Schwarzhorns. «Die Infrastruktur ist komplett; nun folgt die Konsolidierungsphase», bestätigt Verwaltungsratspräsident Suenderhauf. Das Wetter und die Gäste bestimmen ab jetzt, wie schnell das gelingt. Ein sehr guter Wintertag lockt bis zu 20 000 Skifahrer und Snowboarder an; im Sommer ist man bereits mit einem Zehntel zufrieden. Speziell die Mountainbiker sind begehrte Gäste. Denn anders als Wandersleute bevorzugt der Radler eine Bahnfahrt auf dem Weg nach oben.

Mehr Gäste im Sommer und Touristen, die statt nur einen Tag mindestens ein Wochenende verweilen, lautet der Businessplan, der zur besseren Auslastung der Feriendestination führen soll. Die aktuell 1500 Hotelbetten müssen daher Zuwachs erhalten. Allein 200 trägt das «Revier» dazu bei, die neue Herberge an der Rothorn-Talstation. Weitere Hotelprojekte sind geplant. Allerdings wird nicht alles begrüsst: Vor fünf Jahren hat sich die Stimmbevölkerung gegen ein Ferienresort ausgesprochen. Gegen die Erweiterung des Hotels Seehof hatten sich benachbarte Ferienhausbesitzer zwischenzeitlich gewehrt. Und wie es mit dem Kurhaus in der Ortsmitte von Vaz/Obervaz weitergeht, liegt in den Händen des Privateigentümers.

Der Kurplatz: Kleinstadt Vaz/Obervaz

Das Kurhaus in der Lenzerheide markiert den Beginn der jungen touristischen Entwicklung. Vor 135 Jahren stand das Haus allein am höchsten Punkt; 1899 wurde es zum Jugendstilhotel ausgebaut. Seither haben zusätzliche Dependancen die einst stolze Anlage entstellt. Und neuerdings ist die Zukunft höchst ungewiss. Aktueller Besitzer ist der Bündner Immobilieninvestor Remo Stoffel, der den Komplex durch Neues, Modernes und Komfortables ersetzen will. Ein erstes Ersatzprojekt scheiterte an der Zweitwohnungsinitiative. Gemäss Gemeindepräsident Aron Moser hofft man weiterhin auf eine Erneuerung, die auch den Dorfkern unmittelbar betreffen wird. Denn das Kurhaus steht am historischen Postplatz, der inzwischen als Autoparkplatz genutzt wird, aber das Potenzial für ein öffentliches Ortszentrum hat. Die Autos sollen verschwinden, so der Plan. «Wann dies passiert, entscheiden die privaten Eigen­tümer», ergänzt Moser. Wie die Ortsmitte aufgewertet werden könnte, zeigen die Erneuerungsprojekte, die zuletzt realisiert worden sind. Die Wohn- und Geschäftshäuser neueren Datums sorgen, mitten im kommerziellen Zentrum der Lenzerheide, erstmals für ­kleinstädtisches, lebendiges Flair.

Direkt an der «voa principala» wurde ein fünfstöckiger Neubau mit Arkade, Satteldach und mine­ralischer Fassade (Giubbini Architekten) erstellt, in dem sich das Tourismusbüro befindet. Sein jüngstes Vis-à-vis bildet die zweiteilige Überbauung «Senda» (Ritter Schumacher), deren Architektur das Dorfbild noch stärker – mit weiten Fensterlaibungen im Sgraffito­rahmen und hellen Farben – modernisieren will. Von den chaletartigen Nachbarhäusern wurde das Sattel­dach übernommen; anstelle der Holzbalkone sind ­Loggien in die Lochfassade eingezogen worden. Das Erdgeschoss des vorderen Wohnhauses wird als Café genutzt und wendet sich mit Terrasse und Treppe einladend dem Postplatz zu. Die übrigen Einkaufsläden und Hoteladressen liegen an der viel befahrenen Hauptstrasse; für Passanten wird es schnell eng.

Aufgefrischt worden ist auch der Auftritt der kommunalen Verwaltung, einen Steinwurf vom Zentrum entfernt. Das Gemeindehaus (Architekturbüro Michael Hartmann) wurde vor drei Jahren bezogen. Die Fassaden vereinen Stein und Glas, und das Dach ist beinahe flach. Das Gebäude ist das Resultat eines Wettbewerbs unter einheimischen Architekten und versucht wie ­viele andere Neubauten, das vorherrschende Siedlungsbild aus alter, neuer und imitierender Chalet- und Holzarchi­tektur zu durchbrechen. Auf dem Rundgang mit Architekt Ritter gibt es zudem überraschende Zeitzeugen der alpinen Tourismusarchitektur zu entdecken. Neben dem Schwimmbad zelebriert eine rund 40-jährige Feriensiedlung selbstbewusst den Sichtbeton und die damals vorherrschende kollektive Wachstums­euphorie. Und auch die Jugendherberge ist ein Blickfang; das modernistische und sachliche Gebäude aus den 1930er-Jahren überragt den Villenhügel von Valbella.

Am Hüslihang: Erst- statt Zweitwohnungen

Die Lenzerheide hat fast dreimal mehr kalte als warme Betten anzubieten. Die Zahl der Zweitwohnungen ist in der Gemeinde mit rund 2600 Einwohnern auf über 4000 angestiegen. Entsprechend locker sind die Hänge nördlich, südlich und westlich des Heidsees überbaut (vgl. TEC21 19–20/2015). Der Bau neuer Ferienwohnungen ist generell verboten; befürchtet wurde ein dramatischer Rückgang der Bautätigkeiten und des Steuerertrags. Allerdings bleibt die Umwandlung von Altbauten zu Zweitwohnungsadressen erlaubt, weshalb nun Umbauaktivitäten zunehmen. Gemeindepräsident Moser beurteilt die Finanzprognosen daher rosig; die Gemeindeversammlung darf demnächst entscheiden, ob der Steuerfuss gesenkt werden soll.

Parallel dazu streckt die Gemeinde wohnpolitische Fühler aus: Junge Familien sollen die Lenzerheide als Alternative zur Agglomeration Chur entdecken und im Ferienort wohn- und sesshaft werden. Die Bürgergemeinde hat bereits eine eigene Parzelle direkt neben dem Gemeindehaus mit Mehrfamilienhäusern überbaut. Auch der Kanton hält mehr Werkpendlerverkehr hinunter ins Bündner Rheintal für vertretbar. Dass sich dadurch die Abwanderung aus dem benachbarten Hinterland verstärkt, kann gemäss Raumplaner Atzmüller nicht ausgeschlossen werden.

Das angestrebte Bevölkerungswachstum muss jedoch mit der Siedlungsverdichtung vereinbar sein. Freie Bauparzellen sind selbst in Zentrumsnähe reichlich vorhanden. Die eingezonten Flächen in den Fraktio­nen Lenzerheide und Valbella sind laut einer Berechnung des Kantons erst zu 76 % überbaut. Allerdings hat sich eine Reserve angehäuft, die es zu ­reduzieren gilt. Die laufende Richtplanrevision des ­Kantons weist einen Rückzonungsbedarf für etwa 20 ha Bauland aus, rund die Hälfte der unüberbauten Flächen.

Nachhaltigkeit am Berg

Die Destination Lenzerheide konsumiert jährlich rund 9 GWh Strom, etwa 10 % mehr als die Stadt Chur. Fast ein Drittel beanspruchen die Pumpen der Beschneiungsanlage. Weitere Grossverbraucher sind die Bahnen, Lifte und Restaurants. Die Nachhaltigkeitsbemühungen am Berg konzentrieren sich hauptsächlich auf den Energiekonsum. Mit der kantonalen Energiebehörde wurde ein Effizienzprogramm vereinbart, das aus über 100 gebäude- und bahnbezogenen Massnahmen besteht. Wo möglich wird die Abwärme der Sesselbahnmotoren genutzt; und die Schneehöhe wird laufend gemessen, um die künstliche Beschneiung zu optimieren. Zusätzlich beziehen die Bergbahnen Strom aus «100 % erneuer­barer Energie wie Wasserkraft und Sonne», teilweise mit eigenen PV-Dächern.

Auch die Gemeinde macht Ernst mit der Energieeffizienz. Sie ist Mitglied des Energiestadt-Vereins und strebt die «2000-Watt-Gesellschaft» an. Das neue Gemeindehaus erfüllt den Standard Minergie-P, und im Zentrum von Vaz/Obervaz wird ein Biomasse-Wärmeverbund laufend ausgebaut. Lokale Sorgenkinder sind derweil der motorisierte Individualverkehr sowie die dauerbeheizten Feriendomizile: Gemäss einer Analyse der ETH Zürich reisen fast 80 % der Gäste mit dem Auto an, und die Ferienwohnungen werden selbst bei Abwesenheit im Winter auf mindestens 15 °C beheizt. Dieser Energieverschleiss soll nun aber verhindert werden: Seit letztem Jahr schreibt das kantonale Energiegesetz vor, die Heizung bei Neubauten und Ersatzanlagen dank Fernsteuerung jeweils niedriger einzustellen.

Ergänzend glaubt Stefan Forster von der ZHAW- Forschungsgruppe Tourismus und Nachhaltige Entwicklung in Wergenstein, dass «noch viel Potenzial im Absatz von Regionalprodukten besteht» – sie haben ökologische Vorteile und sind bei den Gästen äusserst beliebt. Massentourismus und nachhaltige Entwicklung sind zwar schwierig in Einklang zu bringen, doch erst wenn die Gäste sensibler auf die Belastung für Landschaft und Umwelt reagieren, wird ein Umdenken in der Tourismusindustrie stattfinden. «Bisher vertrauen die meisten Destinationen noch zu sehr auf konventionelle Ausbaukonzepte», lautet Forsters Fazit.

28. Juli 2017 TEC21

Wenn die Kirche im Dorf bleiben soll

Ramsau, Oberbayern

Wie viel Technik oder Effekthascherei brauchen Erholungssuchende? Möglichst keine, sagen immer mehr Orte im europäischen Alpenraum. Die Bergsteigerdörfer in Österreich und Deutschland führen die Nachhaltigkeitsbewegung an. Mit Erfolg, wie ein Besuch vor Ort beweist.

Ramsau ist ein kleines, unscheinbares Dorf in Oberbayern. Selbst der Bürgermeister macht sich Sorgen, dass der Schweizer Journalist die weite Heimreise «ohne Story» antreten wird. Weshalb man hingefahren ist, verkündet jedoch die Ortstafel: Ramsau ist das «erste Bergsteigerdorf Deutschlands» und das jüngste Mitglied der alpinen Nachhaltigkeitsbewegung. Gemeinsam mit dem Bürgermeister und dem Tourismusdirektor sitzen wir im alten Mesmerhaus und diskutieren darüber, was das Label bewirken soll. Zuvor ist man durch das Dorf gelaufen; das Strassenbild gibt vorerst wenig preis.

Gleich nach der Ortseinfahrt stapeln sich Bretter einer Grosssägerei. Etwas verstreut in der gebirgigen Landschaft folgen neuere Chalets und traditionelle Bauernhäuser. Moderne Bauten oder Resort-Architektur sucht man vergebens. Mittendurch plätschert ein ­munterer Bach; mehr Wellnesstherme gibt es hier nicht. Und der Blick in die Berge wird hier höchstens von einer Kuh auf der Strasse oder posierenden Tou­risten ab­gelenkt. Einer scheint sich weniger für die ­Umgebung als für Einkaufsmöglichkeiten zu inter­essieren. Er ­wundert sich auf seiner Suche nach dem Supermarkt generell über die «karge Infrastruktur» an diesem ­Alpenort. In der kleinen Gemeinde an der deutsch-­österreichischen Grenze wohnen knapp 2000 Menschen; nach Feierabend wird beim Bäcker, Metzger oder im Kolonialwarenladen, so gross wie eine Garage, eingekauft. Brot backen viele im Gemeinschaftsofen hinter dem Busparkplatz. Ein einziges ­Souvenirgeschäft mit Postkarten und Dirndln ab ­Stange verrät dem eiligen Besucher, dass der Tourismus auch hier eine wichtige Einnahmequelle ist.

Gegen das Ballermann-Modell

Die Alpen sind eines der beliebtesten Ferienziele Europas; Millionen von Menschen stürmen täglich die ­Berge in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Viele Destinationen erhoffen sich daraus ein einträgliches Geschäft. Allerdings investieren immer mehr in Rodelbahnen, Saurierparks oder anderweitige Unterhaltungsinfrastruktur. Denn die Berge für sich allein sind «völlig langweilig und spannungslos», so das Credo von Günther Aloys, der das Businessmodell «Ballermann der Alpen» im österreichischen Skiort Ischgl erfunden hat. Im Bergsteigerdorf Ramsau fehlt solches: Das Relief beeindruckt weniger durch Stahlmasten und kahle Schneisen als durch blühende Bergwiesen, grüne Wälder, schmelzende Gletscher und steile Felsen. Ist das nun langweilig, beschaulich oder doch erholsam?

Zuerst wurde der Adel auf die Jagdgebiete rund um Ramsau aufmerksam. Dem bayerischen Königshaus folgten im 19. Jahrhundert die Landschaftsmaler und Hochalpinisten. Später reisten auch Kurgäste zuhinterst ins Berchtesgadener Land, um die gesunde Luft und die Höhenlage zu geniessen. Inzwischen erwirtschaftet das Urlaubsgeschäft 53 % des Bruttolokalprodukts. Die ansässigen Hotels, Pensionen und Bauernhöfe zählen jedes Jahr über 350 000 Übernachtungen. So viele Logiernächte können weder die SAC-­Hütten in den Schweizer Bergen noch Andermatt und Adelboden zusammen verbuchen. Damit und mit dem Umstand, dass Ramsau das jüngste Modell für nach­haltigen Tourismus sein will, rechtfertigt der Journalist seinen Ortsbesuch gegenüber dem Gemeindevorstand.

Immerhin gibt es auch hier Einzigartiges zu sehen: Die Pfarrkirche St. Sebastian ist eines der meistfotografierten Sujets in den Alpen. Ob man Reisebusse vom benachbarten Kiesplatz fernhalten soll, wird eben gemeindeintern diskutiert. Die Behörden denken: eher nicht, sonst würden auch die Einheimischen darunter leiden. Der direkte Zugang zum Friedhof wäre versperrt. Symptomatisch daran ist, dass die Bedürfnisse der ­Bevölkerung Vorrang haben. Zwar dreht sich in Ramsau vieles um das Barockgebäude mit Massivgebirge im Hintergrund. Für die Touristen aus aller Welt ist eine Fotoaufnahme davon fast Pflicht. Aber es scheint auch für die Einwohner ein unerschütterliches Symbol zu sein: Hier drängt der Tourismus die Kirche noch nicht aus dem Dorf.

«Wenig bis nichts ändern»

Das Geschäft mit den Gästen funktioniert bereits seit Jahren zufriedenstellend: «Seit 2009 machen etwa 30 % mehr Leute Urlaub bei uns. Von Frühling bis Herbst sind wir praktisch ausgebucht», bestätigt Tourismus­chef Fritz Rasp. Daran, betonen die Gesprächspartner, muss sich «langfristig wenig bis nichts verändern». Die Auszeichnung ist noch keine zwei Jahre alt; zusätzliche Publizität braucht man nur bedingt. Gemeindepräsident Herbert Gschossmann erhofft sich introvertiertere Impulse. «Wir wollen vor allem das Bewusstsein vor Ort dafür schärfen, was die Stärken unseres Lebensraums sind.» So werde die Marke zum Anlass, den Austausch im Lokalen, unter Ortsbewohnern, Vereinen und anderen interessierten Institutionen zu fördern.

Der sanfte Tourismus soll mithelfen, bestehende Traditionen und Lebensweisen zu pflegen, um die eigene Zukunft nachhaltig zu gestalten. Dazu passend ist der Sitzungsort für das Gespräch gewählt, besagtes Mesnerhaus neben der berühmten Sebastianskirche. Das Erdgeschoss stand leer und beherbergt nun eine der wenigen Neuheiten im Bergsteigerdorf: das privat betriebene, aber öffentlich zugängliche «BergKulturbüro». Regelmässig treffen sich Einwohner mit Fachleuten von ausserhalb zum Stammtischgespräch oder zu Workshops. Debattiert wird Grundsätzliches und Alltägliches; gesprochen wird über Verkehrslärm, Sonntagstrachten, die Wahrnehmung der Alpenbilder oder neueste Anforderungen an die Bergrettung. Mitinitiator ist der Kulturphilosoph Jens Badura, der Bergwanderungen organisiert und sich in Deutschland, Österreich und der Schweiz beruflich in der Alpenpolitik engagiert.

Bündner Dörfer suchen Anschluss

21 Orte im österreichischen und deutschen Alpenraum nennen sich inzwischen «Bergsteigerdorf». Der Österreichische Alpenverein hat die Marke vor neun Jahren entwickelt, als Initiative zur Erhaltung intakter Berglandschaften und als Alternative zum «schrillen Massentourismus». Ein überschaubarer Ort, der alpine Charakter sowie ein Standbein im natur- und kulturnahen Tourismus sind kurz zusammengefasst die Voraussetzungen dafür, im Kreis der Bergsteigerdörfer willkommen zu sein. Kals im Tirol gehörte zwischenzeitlich dazu, wurde von der Trägerschaft jedoch ausgeschlossen, weil der Ort einen Lift zum benachbarten Gletscherskigebiet sowie ein Ferienresort gebaut hat. Das Nachhaltigkeitsnetzwerk wird inzwischen von der europäischen Alpenkonvention anerkannt. Zwar läuft Ende 2017 die Anschubfinanzierung durch den österreichischen Staat aus; gemäss Liliana Dagostin vom Österreichischen Alpenverein sind der Erfolg und das Echo aber derart gross, dass das Projekt unbedingt fortgesetzt werden muss.

Dem Beispiel Ramsau wollen andere deutsche Orte folgen. Ebenso sind Anfragen aus Südtirol und Slowenien hängig. Und auch aus den Bündner Bergtälern wird Interesse angemeldet: Medel am Lukmanierpass und St. Antönien im Prättigau wären für eine Teil­nahme bereit, hat die Nachfrage durch den Schweizerischen Alpenclub ergeben. Acht weitere, alpinistisch herausragende Kandidaten wie Saas-Fee oder Grindelwald stehen auf der SAC-internen Liste. Allerdings hat der Alpenclub selbst Bedenken, dass alle die Kriterien erfüllen. Und zudem will der Bergsportverein prüfen, ob eine institutionell und thematisch breiter abges­tützte Trägerschaft organisiert werden kann.

Der Nationalpark ist ein Regulativ

Zurück in die Ramsau: Der Tourismuschef zeigt stolz die nähere Umgebung und erklärt, dass ein lokaler Rentnerverein die Wanderwege mit Freiwilligenarbeit auf Vordermann hält. Der kurze Ausflug zu Fuss führt durch naturnahe Wälder, auf eine Alp, die in wenigen Wochen zur Jause lädt, und hinunter zum kühlen Hintersee, an dem ein Ferienzentrum für Familien und Jugendlager steht. Unterwegs entdeckt man freie Natur. Die ersten Orchideen blühen; von den Adlern ist dagegen nichts zu sehen. Das Natur-, Sport- und Genussangebot scheint reichhaltig. Für den noch kurzweiligeren Abstecher in den Nationalpark Berchtesgaden, der mehrheitlich auf Ramsauer Boden liegt, haben wir leider keine Zeit. Dieser ist Anziehungspunkt für Einzelgänger, Familien und Hochalpinisten, mit über 200 km weitem Wanderwegnetz und den ambitionierten Routen zum Watzmann, das nach der Zugspitze zweithöchste Bergmassiv Deutschlands.

Das Schutzgebiet ist allerdings auch ein wichtiges Korrektiv für den Tourismusstandort. Gemeinsam tauscht man sich eingehend mit der Nationalparkverwaltung darüber aus, wie der Drang der Bergsportler zu kanalisieren sei oder was an touristischer Zusatznutzung für die gepflegte und wilde Natur verträglich ist. «Auch wenn wir manchmal unterschiedlicher ­Meinung sind, wollen wir den Schutzgedanken nicht antasten», so Rasp. Aktuell wird über Schneeschuhpassagen gesprochen, die das Wild nicht stören. Das Biken ist nur auf ausgewählten Strassen erlaubt.

Das Skigebiet gehört der Bevölkerung

Ramsau besteht aber nicht nur aus Alpwiesen, Bergseen und Kletterfelsen, nicht nur aus Kulturlandschaft, Bergtradition und Naturidylle, sondern hat auch Technik in Betrieb: eine Schneekanone, einen Sessel-, zwei Schlepp­lifte. Die Anlage auf dem Hochschwarzeck (1300 m ü. M.) hat zwar bescheidenen Komfort. Passt sie dennoch zur ökologischen Vorbildfunktion? Bürgermeister Gschossmann hält sie für ­vertretbar, zumal die Gemeinde die Geschicke selbst in die Hand genommen hat. Fast alle Einwohner besitzen Anteilscheine und sind gegen den Ausbau der Anlage. «Die meisten Gäste kommen zum Wandern und Klettern», sagt Tourismusdirektor Fritz Rasp. Mit Downhill-Bikern und Skifahrern könnte man gute Zusatzgeschäfte machen. Doch dafür zu investieren macht unternehmerisch und landschaftlich keinen Sinn. «Denn ebenso wie die Natur würde unsere Glaubwürdigkeit leiden», ergänzt Gschossmann. «Ein Bergsteigerdorf darf den Gästen nur versprechen, was es einhalten kann.»

Wo liegen die Grenzen des Wachstums?

Ramsau hat nun einen Ruf als naturnaher Tourismusort zu verlieren. Aber kann man daraus Profit ziehen? «Die Unterstützung wird natürlich grösser, wenn es materiell etwas einbringt», antwortet Tourismusdirektor Rasp. Daher diskutiert man auch darüber, ob die Gäste mehr für Naturerlebnis, Gastfreundschaft und Regionalprodukte zu bezahlen bereit sind. Als Gegenleistung muss der Ort seine «Selbstverständlichkeiten» wahren. «Die Grenzen des eigenen Wachstums sind laufend zu überprüfen», ergänzt der Bürgermeister.

Trotzdem haben ihn die jüngsten Einwände gegen das Motocross-Rennen der Dorfjugend überrascht: Ob Lärm und Benzingestank mit dem Nach­haltigkeitsanspruch vereinbar seien, haben Einzelne gefragt. Vorerst bleibt es im Bergsteigerdorf bei dieser Tradition. Andere Schwachpunkte sind dagegen behoben worden: Ramsau hat zusammen mit zwei Nachbargemeinden ein Rufbus-Angebot eingeführt. Lokale Gastronomen beziehen Fleisch, Käse und Gemüse von einheimischen Bauern oder Wildhütern. Der Touris­muschef fährt ­neuerdings ein Elektroauto. Und eine CO2-neutrale Beherbergung gehört nun ebenso zum ­lokalen Angebot.

Ein willkommener Nebenerwerb

Auch die Raumplanung ist im Bergsteigerdorf restriktiv geregelt. Platz für neue Ferienwohnungen hat der vor Kurzem überarbeitete Flächenwidmungsplan keinen. Stattdessen kümmert sich die Gemeinde lieber darum, Bestehendes zu erhalten. Zuletzt hat man sich erfolgreich bemüht, eine leer stehende Herberge zu reaktivieren. Denn auch die Vielfalt an Unterkünften ist ein Merkmal des Ramsauer Tourismusmodells. Fast hundert Adressen bieten sich zur Beherbergung an. Gern vorgezeigt werden die Viersternehotels, die aus ehemaligen Bauernhöfen entstanden sind. Aber Kleinbetriebe wie ­Landgasthöfe, Pensionen und Bauernhöfe überwiegen zahlenmässig. Für viele ist das Übernachtungsangebot ein willkommener Nebenerwerb. Gastfreundschaft und Komfort, zwischen einfach und gehoben, werden durchwegs gelobt, bestätigt der Tourismuschef.

Falls es dem Gast in Ramsau trotzdem langweilig oder zu anstrengend wird, bietet die Nachbargemeinde Schönau am Königssee ein massentaugliches Kontrastprogramm. Dazu gehören eine Souvenirmeile und eine Seerundfahrt, wofür man sich allerdings durch Reisegruppen zwängen oder hinter lange Warteschlangen stellen muss. Gleich daneben wird die Jennerbahn für knapp 50 Mio. Euro umgebaut. Ab nächstem Winter kann man sich damit auf knapp 1800 m Höhe trans­portieren lassen und Ski fahren. Der Sommerbetrieb wird neu mit Hüpfburg und Kinderparadies animiert. Ob sich diese Investitionen zur Unterhaltung von Touristen­massen rentieren? «Schwarze Zahlen schreibt der Tourismus tatsächlich im Sommer», lautet die ­Antwort aus Ramsau. Im Gegensatz zum Nachbarort stellt das Berg­steigerdorf dafür aber keine aufwendige oder ausgefallene Infrastruktur bereit.