Akteur

Yona Friedman

Schwanengesänge der Moderne

Architekturvisionen der sechziger und siebziger Jahre

Von Yona Friedman über Archigram bis hin zu Rem Koolhaas reicht die Spannweite architektonischer Zeichnungen, die derzeit im New Yorker Museum of Modern Art in Queens zu sehen sind. Die Visionen aus den sechziger und siebziger Jahren setzten sich kritisch mit dem Funktionalismusverständnis der Spätmoderne auseinander.

5. Dezember 2002 - Hubertus Adam
«Visionary Architecture» hiess eine Ausstellung des New Yorker Museum of Modern Art, die im Jahr 1960 aktuelle Beispiele utopischen Entwerfens versammelte: Buckminster Fullers «Dome over Manhattan» wurde ebenso ausgestellt wie Projekte der japanischen Metabolisten und Paolo Soleris frühe Versuche einer Vereinigung von Architektur und Ökologie zur «Arcology». Mit der nun in der von Michael Maltzan hergerichteten temporären Dépendance MoMA QNS in Queens veranstalteten Schau knüpft Kurator Terence Riley gleichsam zeitlich an die frühere Ausstellung an. Gezeigt wird unter dem Titel «The Changing of the Avant-Garde» mit 173 Architekturzeichnungen fast der Gesamtbestand der Howard Gilman Collection, die vor zwei Jahren in den Besitz des Museums überging.


Flexibilität als Programm

Der Aufbau der Sammlung war das massgebliche Verdienst des belgischen Kurators Pierre Apraxine, dem es 1976 gelang, den Papierfabrikanten Howard Gilman für dieses Gebiet zu interessieren. Stand in jener Zeit die Minimal Art bei Unternehmern hoch im Kurs, so betraten Apraxine und Gilman Neuland: Das Sammeln von Architekturentwürfen durch Privatpersonen war damals noch ungewöhnlich. Diese Situation bedeutete Chance und Nachteil zugleich - mangels Konkurrenz liessen sich mitunter Spitzenwerke erwerben. Gewisse Architekten aber (etwa James Stirling) lehnten Verkäufe prinzipiell ab. Innerhalb von vier Jahren war der Aufbau der Kollektion weitgehend abgeschlossen, nur einige wenige Arbeiten wurden später hinzugefügt. Auch diese indes stammen aus den sechziger und siebziger Jahren. Das Jahr 1980 bildet folglich die zeitliche Obergrenze des Sammlungsbestands.

Als Prolog in Sammlung und Ausstellung fungieren sechs Entwurfsblätter für das «Dymaxion House» von Buckminster Fuller. Die Idee des 1927-29 in verschiedenen Varianten konzipierten Hauses beruhte auf einer flexiblen hexagonalen Struktur, die maximale Effizienz bei minimalem Energieaufwand bieten sollte. Eine genuin amerikanische Traditionslinie bildet mithin die eine historische Wurzel, nicht die Visionen der russischen Konstruktivisten, nicht die Architektur der deutschen Expressionisten, nicht die städtebaulichen Vorstellungen Le Corbusiers. Mit «The Megastructure» ist - zumindest im Katalog - der erste der beiden Hauptteile der Ausstellung überschrieben, der mit hervorragenden Arbeiten die massgeblichen Utopien der Jahre um 1960 dokumentiert: Yona Friedmans «Ville spatiale», das Konzept einer gitterartigen Stadtüberbauung, das für Tunis und Paris näher ausgearbeitet wurde; Arata Isozakis «Joint Core System» für den Tokioter Stadtteil Shinjuku; das von Cedric Price für den Theatermann John Littlewood entwickelte, durch stählerne Türme und Brücken gegliederte Projekt eines als «Fun Palace» apostrophierten Kulturzentrums in London; und schliesslich die berühmten Visionen der Gruppe Archigram wie die «Plug-In-City» von Peter Cook oder die «Walking City» von Ron Herron.

Hatte schon das «Team X» in England einige Jahre zuvor Kritik an einer sich auf ein rein mechanisches Verständnis der Stadt beschränkenden CIAM-Moderne geäussert, so gingen Archigram und die Verfechter der Megastrukturen einen Schritt weiter, indem sie flexible Elemente in die Architektur aufnahmen oder - wie Ron Herron - Gebäude selbst in Bewegung zu setzen versuchten; Fumihiko Maki definierte die Megastruktur als «stable structure containing mobile parts». Festzuhalten bleibt indes, dass die Idee grenzenlosen Fortschritts und die zuweilen naive Technikgläubigkeit von Archigram den kritisierten Positionen stärker ähnelte, als den Protagonisten bewusst war. So wie man den Jugendstil im Rückblick als letzte Transformation des Historismus verstehen kann, stellte Archigram die letzte Verwandlung der Spätmoderne dar.


Kritik an der Spätmoderne

Dies wurde in dem durch gesellschaftliche Umwälzungsprozesse bestimmten Klima der späten sechziger Jahre deutlich, als nicht nur Theoretiker wie der für die Karriere von Archigram bedeutsame Reyner Banham auf Distanz gingen, sondern Architektenkollegen - besonders in Italien - neue Wege einschlugen. Ettore Sottsass' Serie «The Planet as Festival» (1972/73) zeigt eine von den Insignien der kapitalistischen Konsumgesellschaft bereinigte futuristische Landschaft, in der Herrons zerstörte «Walking City» neben eingestürzten Wolkenkratzern und Schiffswracks von einer überwundenen Ära zeugt. Ein ähnlich kritisches Potenzial weist der als negative Utopie zu verstehende «Monumento continuo» der Florentiner Gruppe Superstudio auf, eine gerasterte weisse Struktur, welche die gesamte Erde überziehen sollte. Mal überspannt sie Küstenlandschaften, mal legt sie sich in Kreuzform über den See von Sankt Moritz und führt mit ihrer monolithischen Idealgeometrie den Planungswahn des Strukturalismus ad absurdum.

Eine Gruppe von Zeichnungen für Aldo Rossis Friedhof San Cataldo in Modena bildet einen Schwerpunkt im zweiten Teil der Ausstellung, der mit dem Titel «Postmodern Roots» versehen ist. In der Tat wurzelt der Versuch, durch Auseinandersetzung mit archetypischen Bauformen der Vergangenheit nach Jahren der Planungseuphorie zu neuer Selbstvergewisserung zu gelangen, in einer Schwellensituation der Jahre nach 1968. Aus dieser Warte heraus rücken später divergente Positionen nahe aneinander: Rossis Interesse an elementaren Bauformen, die typologischen Untersuchungen von Raimund Abraham und Léon Krier, John Hejduks «Wall House» (das, ursprünglich für einen Standort in Connecticut geplant, postum 2001 in Groningen realisiert wurde), die ersten Hausentwürfe von Peter Eisenman und schliesslich Rem Koolhaas' Zeichnungen für das grandiose Buch «Delirious New York». In «The City of the Captive Globe» stehen berühmte utopische Architekturen aufgereiht über dem Blockraster von Manhattan, darunter El Lissitzkys Lenintribüne, Le Corbusiers Kreuzhochhäuser des Plan Voisin und Wallace Harrisons «Trylon and Perisphere» der New Yorker Weltausstellung von 1939 - ein Schwanengesang auf die Visionen der Moderne.

Damit bildet die Kritik an der Spätmoderne den gemeinsamen Nenner der in der Howard Gilman Collection versammelten Arbeiten. Der Zeithorizont endet mit der Latenzphase der Postmoderne, also in einer Zeit, in der diese noch kritisches, zumeist individualistisches Suchen bedeutete. Die Erstarrung in Formalismus und Traditionalismus bleibt somit ausgeklammert. Den Abschluss der Ausstellung bildet noch einmal Cedric Price, der als einziger Architekt einen Auftrag von Gilman erhielt. «Generator» lautete das zwischen 1978 und 1980 verfolgte Projekt eines Kulturzentrums auf der White Oak Plantation des Konzerns in Florida. Es blieb unrealisiert, hat aber einen Niederschlag gefunden in etwa 100 Skizzen und Entwürfen.


[Bis 6. Januar. Katalog: The Changing of the Avant-Garde. Visionary Architectural Drawings from the Howard Gilman Collection. Hrsg. MoMA, New York 2002; 192 S., $ 30.-.]

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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