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dipl. Architekt ETH Zürich
CAS-Kulturmanager Universität Bern
seit 2002 Redaktor Architektur Hochparterre, seit 2009 Leiter Edition Hochpaterre

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22. März 2018 Neue Zürcher Zeitung

Vom grossen Bruder zum grossen Baumeister

Der Architekt Theo Hotz ist im Alter von 89 Jahren gestorben. Der Zürcher lernte Hochbauzeichner und wurde Grossarchitekt. Er war aber nie ein Mann des «Hüslis»: Hotz war der schweizerische Stahl- und Glasbaumeister.

Zum vollständigen Artikel im „Neue Zürcher Zeitung“ Archiv ↗

18. Januar 2011 hochparterre

S AM wieder auf Kurs

Das Architekturmuseum Basel hat die Schulden getilgt. Parallel zur neuen Ausstellung sagt die Direktion, wohin die Reise geht.

Wie geht es dem S AM ein Jahr nach der Krise?
Sandra Luzia Schafroth: Es geht uns gut. Wir sind zwar noch immer in der Konsolidierung und diese wird auch nicht von heute auf morgen abgeschlossen sein. Aber die Schulden sind bereinigt. Unser Jahresbudget wurde bis auf Weiteres auf 680 000 Franken angepasst — gegenüber 1,1 Millionen Franken vor der Krise. Das ist zwar ein kleines Budget, dafür ist es bis Ende 2011 gesichert. Projektbezogen versuchen wir, laufend zusätzliche Einnahmen zu generieren; 2010 gelang uns dies in der Höhe von rund 200 000 Franken.

Heisst «Schulden bereinigt», dass das Museum alle offenen Rechungen, insgesamt rund 800 000 Franken bezahlen konnte? Sandra Luzia Schafroth: Ja, wir haben keine offenen Rechnungen aus Altlasten mehr. Wir konnten mit jedem der rund 200 Gläubiger einzelne Vereinbarungen treffen und wir freuen uns, dass wir mit allen Lieferanten auch in Zukunft weiterarbeiten können. Wir konnten Schritt für Schritt die Schuldlast abtragen. Einige Gläubiger haben sogar auf Teile ihrer Forderungen verzichtet. Dank der finanziellen Unterstützung von Stiftungen, privaten Gönnern, einigen Ingenieur- und Architekturbüros, dem SIA (mit einem zinslosen Darlehen von 100 000 Franken) und dem BSA konnten die Rechnungen beglichen werden. Während und besonders nun, nach der Krise, erfuhren wir eine grosse Solidarität aus der ganzen Schweiz, viele Architektur- und Ingenieurbüros, aber auch Kunst- und Kulturinstitutionen, Firmen und Private haben das S AM unterstützt.

Welche neuen Geldgeber sind dazugekommen?
Hubertus Adam: Seit Sommer 2010 bezahlt der Kanton Basel Stadt jährlich 80 000 Franken ans Budget. Mit dem Bund sind wir noch in Verhandlung. Wir glauben aber fest, dass er Architekturvermittlung mehr fördern sollte, weil Architektur ein wichtiger Faktor für die Aussen-, aber auch Innenwahrnehmung der Schweiz ist.

Wie steht es um die Sponsoren?
Sandra Luzia Schafroth: Neue Sponsoren sind seit der Krise noch nicht dazu gekommen, wir haben aber projektbezogen doch einige gewinnen können und unsere aktuellen Gespräche etwa mit Vertretern der Bauindustrie lassen uns hoffen. Die Unsicherheit, die durch die Krise auf Sponsorenseite entstanden ist, ist verständlich, trotzdem ist niemand abgesprungen. Wir sind überzeugt, dass wir das Vertrauen wieder gewinnen können oder sogar bereits wieder gewonnen haben.

Wie viele Ausstellungen pro Jahr sollen mit dem knappen Budget von 680 000 Franken zu sehen sein?
Hubertus Adam: Drei, eine davon eine Eigenproduktion. Was aber nicht heisst, dass Übernahmen weniger kosten und keine Arbeit bedeuten: Fremde Ausstellungen müssen an unsere Räume und auch ans Schweizer Publikum angepasst werden. Je nach Ausstellung ist der Aufwand grösser oder kleiner.

Francesca Ferguson hat 2009 das Museum verlassen. Wieso ist so viel Zeit vergangen, bis eine neue künstlerische Leitung eingesetzt wurde?
Sandra Luzia Schafroth: Das Museum war unter mir inhaltlich keineswegs führungslos, zudem hat mich der künstlerische Beirat stark unterstützt. Wir konnten nach der Sanierung bereits ab Januar 2010 mit einem neuen Programm beginnen — die «Environments-and-counter-Environments»-Ausstellung war ein voller Erfolg und auch die Gesprächsreihe «expanding museum » war gut besucht. Wir mussten in dieser Zeit aber Prioritäten setzen: Die Konsolidierung war vordringlicher. Erst als wir sahen, wie es weitergehen könnte, als die ersten Budgets fixiert und angepasst waren, die erste neue Ausstellung lief und wir viele Gespräche geführt hatten, haben wir dem Stiftungsrat die aktuelle Lösung einer Co-Leitung von «Artistic Director» und «Managing Director» vorgeschlagen. In unseren Augen ging das so schnell wie möglich.

Wieso wurde die Stelle nicht ausgeschrieben?
Sandra Luzia Schafroth: Bevor das Museum nicht wieder einigermassen auf Kurs ist, ist eine Ausschreibung unrealistisch. Die Konsolidierung wird noch einige Zeit dauern. Hubertus Adam ist als künstlerischer Leiter mindestens bis Ende 2012 tätig, dann soll die Stelle international ausgeschrieben werden. Hubertus Adam: In der aktuellen Konsolidierungsphase sind die Aufgaben des Managing Directors vordringlich. Wir sind zwar auf gutem Weg, aber es gibt noch so viel zu tun in diesem Bereich. Zukünftiges Ziel ist ganz klar eine Co-Leitung, bei der die künstlerische und administrative Direktion hinsichtlich der Stellenprozente paritätisch besetzt sind.

Mehr Schweizbezug

Als künstlerischer Leiter haben Sie nicht nur die Aufgabe, das Museum mit Ausstellungen und Debatten zu bespielen, sondern auch die Institution zu profilieren und zu positionieren. Wohin soll die Reise gehen?
Hubertus Adam: Wir wollen das S im S AM wieder stärken, ohne dass sich das Museum, im Sinne einer Nabelschau, nur um die Schweiz kümmert. Mit «grenzüberschreitenden» Ausstellungen wollen wir versuchen, das Museum gegenüber anderen Disziplinen zu öffnen und die Zusammenarbeit — bei der aktuellen Viebrock-Ausstellung etwa mit dem Theater Basel und der Nationalbibliothek Bern — mit anderen Institutionen zu fördern. Damit wollen wir neben Architektinnen und Architekten ein erweitertes, kulturell und an Gestaltungsfragen interessiertes Publikum ansprechen. Wichtige Rolle werden auch Debatten spielen, das heisst, wir wollen nicht nur Ausstellungen organisieren, sondern den Diskurs direkt mit dem Publikum führen.

Können Sie konkrete Beispiele nennen?
Hubertus Adam: 2011 werden wir die Ausstellung des Brückenbauers Jürg Conzett aus dem Schweizer Pavillon der Architekturbiennale Venedig 2010 übernehmen. Danach zeigen wir voraussichtlich «Architektur, wie sie im Buche steht», eine Ausstellung des Architekturmuseums der TU München, die wir für die Schweiz adaptieren. Ende 2011 wird eine Ausstellung zur Schweizer Architektur im Ausland zu sehen sein. Im Vordergrund steht dabei die Frage, welche Büros mit welchen Strategien im Ausland erfolgreich sind. 2012 organisieren wir dann eine Ausstellung zum Thema «Architektur und Biologie». Darin wollen wir aufzeigen, was biologische Forschung mit der Entwurfsgenese in der Architektur zu hat.

Das S AM nennt sich Museum, funktioniert aber wie eine Kunsthalle. Wie steht es um das Thema Sammeln?
Hubertus Adam: Wir wollen und können aufgrund mangelnder räumlicher und personeller Ressourcen nicht zu Institutionen, die archivieren, inventarisieren und konservieren, in Konkurrenz treten. Es gibt zwar diesen Ast im S AM — das Museum besitzt Nachlässe —, aber uns fehlten bislang die Kapazitäten für die Aufarbeitung. Wenn schon «Forschung und Dokumentation », könnten wir uns vorstellen, das Thema «oral history» zu besetzen. Mit der Dokumentation von Interviews und Befragungen von Architekten liesse sich mit vergleichsweise einfachen Mitteln ein Kompetenzzentrum aufbauen. Sandra Luzia Schafroth: Uns fehlt letztlich auch eine Art Kabinett, in welchem man zeitlich flexibel gute Studioausstellungen zeigen könnte. Unsere vier Ausstellungssäle sind kaum einzeln bespielbar.

Selbst wenn wir einen Vortrag veranstalten, müssen wir auf auswärtige Räume ausweichen. Das ist immer ein zusätzlicher finanzieller und personeller Aufwand.

Wie steht es jetzt um eure Publikationen?
Hubertus Adam: Die Katalogreihe mit dem Christoph Merian Verlag wird bei eigenen Ausstellungen fortgeführt — am 21. Januar erscheint anlässlich der Museumsnacht der Katalog zur Anna-Viebrock-Ausstellung. Zu jeder Ausstellung erscheint überdies eine Zeitung mit Grundinformationen für die Besucher und einem Überblick über die aktuellen Aktivitäten des S AM. Beide Publikationen sind deutsch / englisch und, sofern es das Budget erlaubt, auch französisch.

Wenn Sie das S AM zwischen Architekturinstitut, Museum, Kunsthalle und Forum positionieren müssten, wo käme es zu liegen?
Hubertus Adam: Wir wollen ein Kompetenzzentrum für Architektur sein. Das S AM hat darum Kunsthallencharakter mit Forumsaspekten. Weil aber nicht alle Besucher Architekten sind und viele aus dem Ausland kommen, bieten wir auch ein niederschwelliges Angebot an, etwa Architekturführungen. Trotzdem nennen wir uns Museum— vielleicht sind wir eine neue Art eines Museums. Unsere Exponate stehen auch in Basel, der Region, der Schweiz und darüber hinaus.


Wie definieren Sie ihr Zielpublikum?
Hubertus Adam: Unser Stammpublikum sind Architekten oder Menschen aus architekturnahen Bereichen, aber auch solche, die an Kultur im weitesten Sinne interessiert sind. Sandra Luzia Schafroth: Die Besucher sind national und international. Besonders während der Art Basel, der Swissbau und der Uhren- und Schmuckmesse haben wir Besucher aus aller Welt. Viele Reisegruppen machen auf ihrer Schweiztour gezielt im Museum Halt.

Ihr Stammpublikum ist aber klar schweizerisch. Wie sieht es mit dem Schweizanspruch aus?
Hubertus Adam: Wie gesagt, wir wollen das S im S AM stärken, ohne in einen Provinzialismus zu verfallen. Als Schweizerisches Architekturmuseum sehen wir unsere Aufgabe darin, das hiesige Bau- und Planungsgeschehen zu präsentieren und zu reflektieren. Daneben bedeutet das S auch, dem Schweizer Publikum zu zeigen, was anderswo geschieht und erprobt wird.

Macht es Sinn, dass die Person, die das Museum nun inhaltlich positioniert und entwickelt, nachher ihren Sessel für jemand anderes frei macht?
Hubertus Adam: Ich fülle das Museum programmatisch mit Inhalten, bis wir und der Stiftungsrat genauer wissen, was und wohin das S AM will. Die Strategie, die wir entwickeln, muss aber klar Spielräume beinhalten. Meine Aufgabe ist es, unter den gegebenen Rahmenbedingungen sinnvolle Handlungsmöglichkeiten zu eröffnen.

Kommentar Gelungener Warmstart

Das S AM ist schuldenfrei. Eineinhalb Jahre nachdem bekannt wurde, dass ein 800 000 Franken schwerer Schuldenberg das Museum zu erdrücken drohte, sind die Verantwortlichen mit den rund 200 Gläubigern ins Reine gekommen. Chapeau! Das ist wohl das schönste Weihnachtsgeschenk, das sich das Architekturmuseum 2010 machen konnte. Und es ist die wichtigste Voraussetzung für den Neustart, den das um Hubertus Adam erweiterte operative Team nun nach der Krise hinlegen muss und will. Der neue künstlerische Leiter ist insofern ein Glücksfall, indem er bereits als Kurator und Beirat einen Fuss im Museum hatte und andererseits ein versierter Kenner der Schweizer, aber auch internationalen Szene ist. Sein Anspruch, das Museum neu entlang der Schnittstellen der Architektur zu anderen Disziplinen zu bewegen, lässt hoffen. Mit solchen «grenzüberschreitenden » Ausstellungen können neue Besucher angesprochen und andere Institutionen zu Zusammenarbeiten motiviert werden. Trotzdem: Offen bleibt, was es genau heisst, «das S im S AM stärken, ohne in irgendeinen Provinzialismus zu verfallen ». Hier muss das Museum noch viele Hausaufgaben erledigen. Wie der Schweizbezug aussieht, wird über Erfolg und Misserfolg entscheiden, denn: Auch wenn das Publikum und auch der Anspruch teilweise international sind, kommt der grosse Teil der Besucher aus der Deutschschweiz, ja aus der Region Basel. Auch wie potenzielle, aus der Schweizer Bauwirtschaft stammende Sponsoren auf die Neupositionierung ansprechen, bleibt abzuwarten. Des- halb: Bevor sich das S AM in der internationalen Architekturlandschaft positioniert, sollte es klar machen, wie seine Rolle in der Schweiz aussehen kann und soll.

[Die Gesprächspartner:
Sandra Luzia Schafroth hat das Museum seit dem Abgang von Francesca Ferguson im August 2009 interimistisch geführt. Sie ist heute Managing Director und hat das S AM massgeblich entschuldet.

Hubertus Adam ist bis 2012 künstlerischer Leiter. Der Kunsthistoriker und Architekturjournalist soll in dieser Zeit die Positionierung und Profilierung des Museums verankern.]

18. Januar 2011 hochparterre

Spiegelkabinett auf chinesisch

Das ‹‹unsichtbare Haus›› nennt der junge Architekt Mitsunori Sano sein Erstlingswerk. Unsichtbar ist nicht ganz korrekt, weggespiegelt wäre richtiger. Die Rede ist vom neuen Atelierhaus des Schweizer Künstlers Not Vital in Peking. Sano arbeitete dreieinhalb Jahre als Assistent für den Bündner Künstler in Sent. Der Japaner arbeitete dort am ‹‹Rauf-Runter-Rauf-Haus›› siehe HP 4 / 09 und konstruierte eine Chromstahl-Brücke für Vitals Park in Sent. Fürs Gesellenstück übertrug Vital dem an der Accademia in Mendrisio ausgebildeten Architekten den Auftrag für ein Atelierhaus im Pekinger Kunstquartier Caochangdi. Vital konnte ein kleines Backsteinhaus in unmittelbarer Nachbarschaft des Ateliers des Künstlers Ai Weiwei und der Galerie des Luzerners Urs Meile im Baurecht erwerben.

Sano orientierte sich bei seinem Entwurf an der lokalen Handwerkstradition und den Materialien: Die Aussenhülle des ehemals zweigeschossigen Hauses liess er stehen, sie besteht aus einem feinen dunkelbraunen Klinkermauerwerk. Sano liess den zehn Meter hohen Bau leer räumen und stellt den Wohnteil als Stahlkonstruktion in die Backsteinhülle hinein. Der Wohntrakt besetzt einen Viertel des 14 auf 25 Meter grossen Grundrisses. Hier stapeln sich eine Wohn-Ess-Küche, ein Wohnraum, drei Schlafzimmer und ein Arbeitszimmer übereinander. Die Haupträume sind gegen einen schmalen Lichthof orientiert, die Nebenräume werden durch kleine Fenster auf der Rückfassade belichtet. Spannend ist, wie Sano das innen liegende ‹‹Wohnhaus›› im luftigen Atelier verschwinden lässt.

Indem er die beiden Innenfassaden vollständig mit riesigen, verchromten Stahlplatten verkleidet, spiegelt sich der Einbau einfach weg. Stundenlang hätten chinesische Arbeiter die langen Schweissfugen der einzelnen Platten wieder glatt gehämmert, noch einmal verchromt und poliert, so Sano. Die Schweissnähte sind zwar nicht ganz verschwunden — sie werden in der Reflektion sichtbar — doch tut das dem faszinierenden Effekt keinen Abbruch. Vital arbeitet und wohnt jeweils vier Monate pro Jahr in Peking, wo er vor allem grössere Chromstahlplastiken besser und günstiger realisieren kann als in Europa. Über den von der Stadt angedrohten Abbruch des Künstlerquartiers, von dem der Bauherr kurz nach Bezug des Ateliers erfuhr, wird zum Glück nicht mehr viel geredet.

8. November 2010 hochparterre

Leuchtende Städte

In den Neunzigerjahren hielt der Plan Lumière Einzug in die Schweiz. Die Aufregung hat sich gelegt. Zeit für eine Zwischenbilanz. Ein Blick nach Zürich, Luzern, Winterthur und Burgdorf.

In den Neunzigerjahren grassierte in der Schweiz erstmals ein unbekanntes Fieber, das Lichtfieber: Zuerst erfasste es die Städte Basel, Zürich und Lausanne, später auch kleinere Orte und Gemeinden wie Frauenfeld oder Gruyère. Allen Infizierten gemeinsam war, dass sie um ihr Bild in der Nacht besorgt waren oder nach einer übergeordneten Handhabe für private Beleuchtungsprojekte suchten. Die meisten schielten damals nach Frankreich oder Deutschland, wo Plans Lumières, Lichtpläne, schon seit geraumer Zeit versuchten, den allgemeinen und unkoordinierten Lichterwildwuchs gesamtstädtisch zu regeln und aktiv zu gestalten.

2010 scheint das Lichtfieber mehr oder weniger geheilt. «Grundsätzlich gibt es zwei Auslöser für einen Plan Lumière: Bei den grösseren Städten geht es ums Standortmarketing. Hier wirkt die nationale und internationale Städtekonkurrenz», erklärt Christian Blum, der beim Büro Feddersen & Klostermann das Dossier Plan Lumière betreut. Zürich, Basel oder auch Winterthur gehören dazu.

Bei kleineren Gemeinden geht es in erster Linie darum, für die immer häufiger werdenden privaten Beleuchtungsprojekte eine allgemeine Bewilligungsgrundlage herzustellen. Die Basis liefert der Plan, das gesamtstädtische Lichtkonzept gibts gratis mit dazu. Als Beispiel dient Burgdorf, das im Rahmen einer Aufwertung der Altstadt auch seine Lichtsituation untersucht hat. In der Folge beauftragte es Feddersen & Klostermann zusammen mit Wiederkehr und Partner, ein kleines Konzept inklusive Pilotprojekt auszuarbeiten. Auch St. Moritz braucht eine planerische Handhabe im Umgang mit öffentlichen und privaten Lichtinstallationen, vor allem in der Weihnachtszeit. Ein wichtiges Ziel des Kurorts ist deshalb, den teilweise bis in den März hinein leuchtenden privaten Rentierschlitten- Blinkstern-und Lichterbaum-Wildwuchs einzudämmen.

Top-down und Bottom-up

Kleine Gemeinden und grosse Städte unterscheiden sich im Vorgehen: Zürich und Basel haben zuerst umfangreiche und detaillierte Lichtpläne fürs ganze Stadtgebiet ausgearbeitet, dann sind sie an die Umsetzung einzelner Projekte gegangen. Nennen wir es das «Top-down»-Modell. Bei kleineren Gemeinden hingegen macht die Unterteilung in Planung und Ausführung wenig Sinn, meint Lichtplaner Blum: «In Burgdorf haben wir zuerst eine kleine Lichtskizze nur für die Oberstadt erstellt und dann am konkreten Fall Kronenplatz eine Diskussion lanciert. Mittels einer Bemusterung haben wir vor Ort Behörden, das Elektrizitätswerk, Hausbesitzer, Nachbarn und Anrainer involviert und informiert.» Dieser pragmatische Weg zeigt direkt und einfach Chancen und Probleme auf. Weitere Projekte werden fortlaufend bei Bau- und Sanierungsarbeiten umgesetzt — Voraussetzung dafür ist, dass in der Verwaltung alle das Anliegen verinnerlicht haben, was durchaus seine Zeit braucht. Eine Bemusterung hat aber noch andere Vorteile: Sie weckt bei Laien Verständnis für die doch eher komplexe Materie.

«Wichtig ist aber bei einem solchen -Verfahren, dass im Anschluss die weiteren Lichtprojekte von den Behörden beharrlich verfolgt und koordiniert werden. Sonst bleibt es beim reinen Aha-Effekt», meint Blum.

In Winterthur ging man einen anderen Weg: Das Konzept «Stadtlicht Winterthur » des deutschen Lichtplaners Uwe Knappschneider setzt die Leitplanken und definiert die Gestaltungsbereiche und -objekte innerhalb des Stadtgebiets. Das Konzept ist aber kein Realisierungsprogramm. In einer ersten Phase wurden offene Wettbewerbe zu vier Pilotprojekten durchgeführt. Bewährt sich das Vorgehen, werden weitere Wettbewerbspakete geschnürt, so Lorenz Schmid, Projektleiter der Stadt Winterthur.

Grosses portemonnaie, ppp und Contracting

Für Lichtpläne gibt es drei Finanzierungsmodelle, die frei miteinander kombiniert werden. Etabliert hat sich vor allem eines: Eine Stadt spricht einen Gesamtkredit für Planung und Ausführung. In Zürich beispielsweise bewilligten Parlament und Regierung in mehreren Schritten rund zehn Millionen Franken. Damit werden bis 2013 rund 35 Projekte realisiert. Basel hat acht Millionen für Konzept und Umsetzung von «B-leuchtet» gesprochen, ebenso viel haben die Luzerner zur Verfügung gestellt. Zürich kombiniert das Gesamtkredit- mit dem Public-Private-Partnership-Modell. Denn, weil der Plan Lumière» in erster Linie Stadträume sichtbar machen will, müssen teilweise auch private Gebäudefassaden angeleuchtet werden. «Die Beteiligung von Privaten ist sehr wichtig. Doch die Partnerschaften laufen zuweilen etwas harzig und sind für uns nicht immer wie gewünscht steuerbar, nicht zuletzt, weil in umfangreichen Verträgen Rechte und Pflichten bis ins Detail festgelegt werden müssen», resümiert Stephan Bleuel, Verantwortlicher des Plan Lumière im Amt für Städtebau. 295 000 Franken haben die Zürcher Behörden für das Konzept und die Beratung, aber auch für Muster und einen Teil der Installation und Projektoren, beispielsweise am Utoquai, ausgegeben. Die Stadt zahlt auch den Strom und stellt den öffentlichen Raum den Privaten kostenlos zur Verfügung. Sechs von sieben Eigentümern haben im Gegenzug zusammen 230 000 Franken für die Beleuchtung von rund 300 Metern Fassadenabwicklung bezahlt.

«Auslöser für unser Engagement war die Kongresshaus-Pleite: Nachdem das tolle Projekt bachab geschickt wurde, wollten wir als halböffentliche Institution ein Zeichen der Solidarität setzen. Überzeugt hat uns zudem die technisch ausgefeilte und energetisch effiziente Lösung, die die Zimmer unserer Gäste im Dunkeln lässt, das Haus aber erleuchtet», sagt dazu Beat Sigg, Direktor des Hotels «Eden au Lac» am Utoquai. Das Projekt zeigt aber auch gut die Grenzen des PPP-Modells: Weil ein Hausbesitzer noch zuwarten wollte, leuchten nur sechs von sieben Häusern. Diese «Zahnlücke» beeinträchtigt das Gesamtkonzept deutlich. Von bis anhin sechs PPP-Projekten wurden in Zürich fünf abgeschlossen. Mit einer Contracting-Lösung, einer Art Leasing inklusive Betrieb und Unterhalt, wird das Beleuchtungskonzept in Luzern realisiert. Der Luzerner Energiedienstleister «ewl» finanziert die gesamte Anlage vor und ist verantwortlich für Betrieb und Unterhalt in den nächsten 25 Jahren. Die Stadt Luzern bezahlt unter dem Strich zwar etwas mehr für diese Lösung, dafür muss sie nicht einmalig tief in die Tasche greifen, sondern kann die Gesamtkosten von rund acht Millionen in jährlichen Raten abzahlen.

Rechtliche Grundlagen

Die Umsetzung jedes Plan Lumière erschwert, dass er eine unverbindliche Empfehlung ist. Regulieren können die Behörden durch die Bewilligungspflicht einer Anlage. Meistens erlaubt der Plan Lumière aber gar keine Lichtinstallationen mehr ausserhalb des von ihm bezeichneten Gebiets. Eingebürgert hat sich der aufwendige Weg des direkten Verhandelns. Das heisst, das Plan-Lumière-Team versucht, Laden- und Hausbesitzer für eine gemeinsame Lösung zu gewinnen. «Viele Hausbesitzer erlauben die Installation von Leuchten an der eigenen Fassade problemlos, geht es aber ums Geld, winken die meisten ab. Beleuchtung ist für sie Aufgabe der Stadt», meint Christian Blum.

Vorreiter Luzern

Einzigartig in der Schweiz ist die Schaufenster- Lösung in Luzern. «Weil die Altstadt Kernelement unseres Konzepts und auch ein wichtiges Wohnquartier ist, basiert unser Plan darauf, dass sie auch einmal schlafen geht», erklärt Mario Rechsteiner, dessen Firma art light die Projektleitung innehatte. Er unterscheidet in Luzern zwischen szenografischem Abend- und funktionalem Nachtprogramm. Wer aber Gassen und Plätze bis 23 Uhr inszenieren und danach wieder ins Fast-Dunkel zurückfallen lassen will, kommt um die Schaufensterbeleuchtung nicht herum. «Bei einigen Uhren- und Bijouterieläden haben wir bis zu 40 000 Lux gemessen. Damit kann man ganze Gassen erhellen», schmunzelt Ueli Habegger, ehemaliger Denkmalpfleger der Stadt. Er hat sich zusammen mit Rechsteiner für eine Reduktion der Intensität der Schaufensterbeleuchtung in der Altstadt stark gemacht. Das Engagement führte zu einer Verordnung, die der Grosse Gemeinderat 2008 verabschiedet hat. Neu dürfen in einem Abstand von 1,5 Metern vom Schaufenster nur noch maximal 80 Lux sowie eine maximale mittlere Beleuchtungsstärke von 110 Candela gemessen werden. Bestehende Schaufenster müssen nicht angepasst werden. Doch weil kommerzielles Licht neu bewilligungspflichtig ist und weil Schaufensterbeleuchtungen soweiso im Schnitt alle sechs bis sieben Jahre erneuert werden, löst sich das Problem von selbst: Nach einer Schaufenster-Generation sind alle an den Plan Lumière angepasst, also dunkler. Der Luzerner Plan Lumière hat im September den internationalen «City People Light Award» 2010 verliehen bekommen.

Energie sparen?

Eines der wichtigen politischen Verkaufsargumente eines Plan Lumière ist, dass er beim Energiesparen hilft. Mit modernen Lampen und Reflektoren könne man das Licht dorthin lenken, wo es gebraucht wird, steht im Konzept Stadtlicht Winterthur. Damit könnten auch Wartungszyklen verlängert, Leuchtenstandorte verringert und die Energieeffizienz erhöht werden, so die Winterthurer. Um 20 Prozent versprach der ehemalige Luzerner Finanzdirektor Franz Müller den Energieverbrauch mit dem Plan zu senken. Auch Genf rechnet vor, dass, wenn man alle veralteten Leuchten im öffentlichen Raum durch effizientere ersetzen würde, man den städtischen Energieverbrauch um 20 Prozent und damit das Globalbudget der Stadt um 16 Prozent senken könnte. Das klingt gut, doch sind diese Zahlen kritisch zu hinterfragen, denn szenografische Beleuchtung macht nur einen Bruchteil der Grundbeleuchtung aus. In Zürich betrug der jährliche Energieverbrauch gesamthaft rund 3,1 Millionen Megawattstunden (MWh), davon entfallen 22 000 MWh auf die öffentliche Beleuchtung.

Reine Plan-Lumière-Beleuchtungen verbrauchten aber rund 70 MWh, also nur 0,03 Prozent des Gesamtverbrauchs. Wer also den Hebel nur bei der szenografischen Beleuchtung ansetzt, kann den Gesamtverbrauch nicht senken. «Doch die Grundbeleuchtung, bei der Sparen einschenken würde, ist eines der letzten Tabus», sagt Christian Blum. Allerdings spürt der Lichtplaner ein Umdenken bei den städtischen Werken und der Polizei. Denn einerseits adaptiert sich das Auge automatisch an die Lichtverhältnisse, wenn das Gesamtniveau gesenkt wird. Andererseits hat die Lichtausbeute neuerer Autoscheinwerfer deutlich zugenommen. St. Gallen will deshalb die Betriebsdauer der Strassenbeleuchtung anpassen. Die Stadt will sie künftig bereits ab 22 statt erst ab 24 Uhr reduzieren.

Grosse Bedeutung für die Energieeinsparung haben Sendeprogramme, also Steuerungen, die bestimmen, wann eine Lampe wie hell leuchtet. Auch in Zürich werden die Strassenlampen künftig zwischen 1 und 5 Uhr in der Helligkeit zurückgenommen. Das sind begrüssenswerte Engagements. Doch solange Verkehrspolizei, städtische Werke und grosse Teile der Bevölkerung die Quantität des Lichts in direkter Relation zur Sicherheit setzen, ist der Hebel zum Energiesparen begrenzt.

Weniger Licht ist oft mehr

Und nun? Der Plan Lumière ist in der Schweiz als Planungsinstrument etabliert. Grosse Unterschiede im gestalterischen Ansatz gibt es nicht: Die Lichtplaner zeichnen in erster Linie Ortsbilder nach, die sich nachts in die Erinnerung brennen sollen. Dazu akzentuieren sie Verkehrsachsen, reagieren auf topografische Eigenheiten und verteilen die einzelnen Lichtprojekte dezentral über den Stadtraum.

Im Ausland finden sich mehr auch künstlerische Ansätze, etwa Lichtpläne, die nur die Stadteingänge markieren, oder solche, die sich am Biorhythmus orientieren. Hierzulande hat sich für die Szenografie warmweisses Licht eingebürgert. Es gibt die Materialien des beleuchteten Objekts am besten wieder. Farbiges Licht gilt als Festlicht, zumindest in der Deutschschweiz. Eine grosse Rolle spielt die technische Entwicklung, allen voran der LED. Doch beim Heilsbringer LED braucht es oft mehr Leuchten, was — wenn man genau rechnet — nicht weniger Energie braucht. Zweitens ist der Austausch eines LED-Moduls in gleicher Qualität noch nicht gewährleistet — was bei einer Fassadenbeleuchtung auffällt.
Allgemein ist auch eine Tendenz zu weniger Licht festzustellen. Grund dafür ist, dass das Grundlicht oft sehr hoch, ja zu hoch ist.

«Bei einzelnen Projekten in Zürich haben wir die geplante Beleuchtung reduziert oder gar weggelassen, obwohl sie Teil des Plan Lumière war», erklärt Stephan Bleuel. «Die Beleuchtungsnormen verlangen eigentlich immer zu viel Licht, doch nicht nur helle Orte definieren eine Stadt, sondern auch dunkle», doppelt Christian Blum nach. Von der «Gnade der Verschattung» spricht der Denkmalpfleger Ueli Habegger und meint damit nicht nur, dass schlechte Architektur nachts nicht inszeniert werden muss, sondern auch, dass weniger oft mehr ist. In diesem Sinne verstehen die Spezialisten auch Weihnachtsbeleuchtungen oder Lichtfestivals. Sie ergänzen die Lichtpläne. Solche Veranstaltungen sensibilisieren und zeigen die Unterschiede zwischen Alltags- und Festbeleuchtung auf. Sie lassen Tests zu, die dann vielleicht wieder im Gesamtkonzept wirksam werden.

20. Oktober 2010 hochparterre

Auf den zweiten Blick

Mike Guyer, Jurypräsident der Distinction Romande d’Architecture über die Szene im Welschland: «Die Architektur ist verspielter.»

2006 schrieb der Architekturprofessor Martin Steinmann anlässlich der ersten Distinction romande d’architecure (Dra): «L’architecture romande n’existe pas.» Stimmen Sie dem zu? Nein. Die 256 Eingaben zeichnen auf den ersten Blick kein klar erkennbares Bild, aber die Architektur in der Romandie zeigt Merkmale, welche sie von derjenigen in der Deutschschweiz, im Kanton Graubünden oder im Tessin unterscheiden.

Welche? Die Architektur ist weniger ernsthaft, unbeschwerter, verspielter, von einem südländischeren Lebensgefühl geprägt. Man geht unvoreingenommener mit architektonischen Vorbildern und Referenzen um. Ihre Architekten sind bescheidener in den architektonischen Ambitionen und oft entspannt pragmatisch.

Welchen Stellenwert hat Architektur in der Westschweiz im Vergleich zur Deutschschweiz? In der Romandie wird weniger gebaut als in Zürich oder Basel. Demzufolge ist die Auseinandersetzung mit Städtebau und Architektur weniger intensiv, die Architektur in den Tagesmedien weniger präsent. Umso stolzer sind die politischen Vertreter der Gemeinden und Städte auf ihre einmal realisierten öffentlichen Gebäude. Die Architektur in der Romandie wächst langsamer, stiller, bodenständiger, aber in den Inhalten oft verdichteter und in der Tradition abgestützter.

Welche rolle spielt die Architekturhochschule EPFL? Sie ist das fachliche und theoretische Zentrum, an dem sich alle mitunter orientieren. Viele der Protagonisten — auch solche, die jetzt ausgezeichnet wurden — haben in Lausanne studiert und lehren jetzt an der Schule. Der Austausch zwischen der Romandie und der Deutschschweiz ist an der EPFL in Form des Studenten- und Lehreraustausches am fortgeschrittensten. Die EPFL ist durch ihre dynamische Entwicklung — in der Architektur dokumentiert durch das Erasmus-Programm und dem prestigeträchtigen Bau des Learning Center — durchaus mit der ETHZ vergleichbar und hat eine Ausstrahlung, die weit ins Ausland reicht.

Gibt es eine Architekturszene? Ja, die DRA ist der Beweis dafür. Die Szene ist in den ländlichen Gebieten verstreut, verdichtet sich aber in Genf, Lausanne, Neuenburg und Freiburg. Jede Region hat eine Handvoll herausragender Büros, die das lokale Architekturgeschehen prägen.

Gibt es Tendenzen in der Westschweizer Architektur? Die ausgezeichneten Projekte: zwei Schulen, ein Bürogebäude, ein Chalet, ein Stadion, Einfamilienhäuser und ein Umbau zeichnen sich nicht durch ein primär «lautes» Auftreten aus. Ihre Qualitäten sind erst auf den zweiten Blick erkennbar. Das gewählte Entwurfskonzept ist in allen Massstabsebenen mit unterschiedlicher Gewichtung präsent. Es entstehen Vielschichtigkeiten, die bei der Begehung der Gebäude immer wieder zu Überraschungen und neuen Erkenntnissen führen, die in den Plänen und Fotografien der Portfolios nicht erkennbar waren. In der Nutzung und Typologie sind die ausgewählten Gebäude verschieden, ihnen gemeinsam sind aber Lösungen, die eine allgemein gültige Relevanz haben. Es ist eine Tendenz, die geprägt ist durch Inhalt und nicht durch Form.

2006 hat Martin Steinmann geschrieben, dass die Kategorie Wohnungsbau quasi fehlt, weder Gemeinden noch Genossenschaften nähmen ihre Verantwortung wahr. Hat sich das gegenüber 2010 geändert? Leider nein. Wer die Verhältnisse in Zürich und Basel kennt, ist ernüchtert. Das Regelwerk für Wohnungsbau in der Westschweiz, also welche Mieterträge man erwarten kann, was das Land kostet, was das Bauen überhaupt kostet, führt zu so harten Bedingungen, die kaum qualitätvolle Architektur zulassen. Hier braucht es ganz klar ein grösseres Engagement von der Bauherrenseite, sei sie privat oder öffentlich. Der Bedarf nach gutem Wohnraum, in Genf, aber auch in kleineren Städten, ist grösser als nirgendwo, doch gute Architektur braucht geschütztere Räume. Dazu kommt, dass der Mietermarkt sehr konservativ ist und Bauherren deswegen das Risiko von innovativen Grundrissen scheuen.

Was konnten Sie von der mehrtägigen Jury - reise mit in die Deutschschweiz nehmen? Ich habe einen Teil der Schweiz besser kennengelernt, den ich äusserst vielfältig und sehr interessant finde. Wir haben während der Reise Landschaften und Architekturen in einer kontinuierlichen Bewegung wahrgenommen. Die verschiedenen Regionen wurden wie in einem Zeitraffer aneinandergereiht. Die Erinnerungen sind mir wie ein Film erhalten geblieben.

Für die «Distinction» haben sich Verbände und Kantone zusammengetan und sich auf einen Preis konzentriert. In Zürich schreiben Stadt und Kanton je einen eigenen Architekturpreis aus und konkurrenzieren sich gegenseitig. Was hilft der Vermittlung der Architektur mehr? Die DRA ist eines der nachhaltigsten Konzepte für einen Architekturpreis. Alle, die in irgendeiner Weise involviert waren, sei es von Behörden-, Planer- oder Bauherrenseite, sind vom Verfahren und der Auszeichnung überzeugt. Ein wichtiger Pulspunkt ist die Koppelung der DRA an eine Medienbegleitung, die über die Fachkreise hinausgeht. Eine Ausstellung mit allen nominierten Bauten wandert durch die Schweiz und das Ausland. L’Hebdo legt die Begleitpublikation bei und erreicht so über 200 000 Leser, zudem porträtiert die Zeitschrift wöchentlich eine Auswahl Büros beziehungsweise Projekte. Damit wird der Wirkungsgrad der DRA beträchtlich erhöht. Auch öffnen die Besitzer der nominierten Projekte ihre Häuser an bestimmten Daten für die Öffentlichkeit.

1. September 2010 hochparterre

Der Roche-Turm zu Basel

Angelus Eisinger: «Es geht nicht nur um die Silhouette, sondern auch darum, ob ein Hochhaus Brücken zur Stadt schlagen kann.»

Der Roche-Turm wird durch die geplante Höhe von 175 Metern das Stadtbild neu definieren. trotzdem ist in Basel kaum über das Projekt diskutiert worden. Fand in anderen Städten bei vergleichbaren Hochhaus-Projekten eine Diskussion statt?
Bei der Frage nach der Höhe von Hochhäusern handelt es sich um eine alte Debatte, die immer dann losgetreten worden ist, wenn es um die Konfrontation eines Hochhauses mit einer historisch gewachsenen Silhouette geht. Ich denke an die Diskussion rund um den Tour Montparnasse in Paris, an die bereits in der Zwischenkriegszeit verhandelte Frage des Umgangs mit Hochhäusern rund um die St. Paul’s Cathedral in London oder auch an das Hochhausverbot von Zürich in den Achtzigerjahren. Das waren zunächst Expertendebatten, die mit Stichworten wie Identität oder Bewahrung des Bestehenden emotionalisiert zu breiten Debatten wurden. Das Hochhaus wurde da meist ein Platzhalter für eine allgemeine Verunsicherung über den Gang der Dinge.

Wie verunsichert das Hochhaus den Basler Gang der Dinge?
Anlässlich des Roche-Turms wird eine andere, global bedingte Stadtlogik sichtbar, die Basel prägt. Roche ist Teil des globalen Wirtschaftsnetzwerkes, der Konzern kann sich da nicht einfach lokalen Betrachtungsweisen und Bedürfnissen unterwerfen. Solch globale Logiken artikulieren sich dann in einem hohen Gebäude mit 1900 Arbeitsplätzen. Sie sind auf der globalen Ebene stimmig, geraten aber in Konflikt mit den Orten, an denen sie stehen.

Das heisst, die Globalisierung verleiht dem Hochhaus neuen Schwung?
Ja, wir stecken in einer neuen Phase in der Auseinandersetzung mit dieser Bauaufgabe. Einerseits befinden wir uns immer noch in den Ausläufern des modernen Denkmodells, das das Hochhaus zur planerisch strikt kontrollierten Ausnahme erklärt hat. Es prägt die gesamten Planungsregeln in Europa, insbesondere in der Schweiz. Andererseits ist aber mit der internationalen Standortkonkurrenz eine Renaissance des Hochhauses eingeleitet worden, die ihm neue Aufgaben zuteilt: Sichtbarkeit, Aufmerksamkeit für Unternehmungen auf globaler Ebene, Imagebildung über Architektur.

Kann man also sagen, dass das Hochhaus dem heutigen Planungsreglement Fragen stellt, auf welche dieses keine antworten parat hat?
Auf alle Fälle. Deshalb glaube ich auch, dass man die Frage nach dem Hochhaus viel grundsätzlicher thematisieren sollte. Wir müssen zuerst darüber nachdenken, ob wir das Hochhaus überhaupt wollen. Ich persönlich bin davon überzeugt, dass es elementare Beiträge zur Stadtentwicklung leisten kann. Aber wenn wir mit dem bisherigen Planungsreglement weiterfahren, also einem engen Korsett, das dem Hochhaus keine Mehrausnützung ermöglicht, das es einzig als städtebaulichen Akzent versteht oder zur Schaffung von Freiflächen zwingt, werden wir uns nicht mehr lange mit ihm auseinandersetzen müssen.

Wieso?
Weil, sobald alle Industriebrachen mit ihren Mehrausnutzungen überbaut sind, es nur noch dort planungsrechtlichen Spielraum geben wird, wo noch Ausnützungsdifferenzen zwischen dem Gebauten und dem faktisch Möglichen liegen. Diese Differenzen sind aber in den wenigsten Fällen ausreichend, um ein Hochhaus ökonomisch attraktiv zu machen. Wenn man sagt, dass dem Hochhaus eine neue und wichtige Rolle zukommen soll, müssen auch die Spielregeln verändert werden.

Wie könnten solche veränderte Spielregeln aussehen?
Im Auftrag des Amtes für Städtebau Zürich habe ich mir verschiedene Planungsreglemente zu Hochhäusern in europäischen und nordamerikanischen Städten angeschaut. Ich habe festgestellt, dass gerade die Europäer dem Hochhaus gegenüber skeptisch eingestellt sind, aber dass in Städten wie Frankfurt oder Innsbruck, die bereits seit Längerem mit dem Hochhaus konfrontiert sind, ein äusserst produktiver Umgang mit dem Thema herrscht. Es geht hier nämlich um die Stichworte Weiterbauen und Bewirtschaften des Bestandes.

Welche Stadt geht am weitesten?
Innsbruck mit seinem Konzept «Urbanissima»: Die Stadt spricht sich für Hochhäuser aus, aber zu Bedingungen, welche die Stadt stellt. Innsbrucker Hochhäuser müssen eine gemischte Nutzung haben, müssen topografische Bedingungen oder Sichtachsen einhalten, geniessen dafür einen Bonus an Mehrausnützung. Erst mit diesem Instrument wird das Hochhaus für den Investor wie auch die Stadt interessant. Ironischerweise gibt es im Konzept einen Passus, der besagt, dass das Hochhaus nicht gebaut werden kann, wenn jemand innerhalb eines 300-Meter-Radiusses Einsprache erhebt. Das zeigt die tief sitzende Ambivalenz im Umgang mit dem Hochhaus.

Was bringt die private Landmarke Roche-Turm der Stadt?
Zwei Dinge: Auf der einen Seite kann er Aufmerksamkeit und Sichtbarkeit für Basel weltweit generieren. Auf der anderen Seite festigt und intensiviert der Turm wohl die Betriebsabläufe von Roche in Basel. Darüber hinaus sehe ich allerdings keinen unmittelbaren Mehrwert für Basel. Der Mehrwert für eine Stadt ist aber nicht zwingend eine Frage des Hochhauses, denn auch der Novartis-Campus geht wenig Beziehung mit der Stadt ein, obwohl er ein städtebaulich und ästhetisch perfekt inszeniertes Stück Stadt ist.
Bei der Projektpräsentation war von «städtebaulicher Eingliederung» die rede. Kann sich ein 175 Meter hohes Gebäude überhaupt städtebaulich eingliedern? Wieso denn nicht? Wenn wir an die wirklich hohen Gebäude, wie beispielsweise den Eiffelturm denken, merken wir, dass sich unsere Wahrnehmung mit der Zeit komplett verändert hat. Er ist aus der Pariser Stadtsilhouette nicht mehr wegzudenken. Städtebauliche Eingliederung ist eines, architektonische Präsenz das andere. Denn je nach Positionierung, Gestaltung und Ausformulierung des Volumens kann ein Projekt aus unterschiedlichen Perspektiven ganz anders wirken. Eine Höhenquote auf der anderen Seite kann bestimmte Exzesse verhindern, ob dann aber das Hochhaus stadtverträglich ist, ist eine andere Frage. «Städtebauliche Eingliederung» muss viel breiter gefasst werden: Es geht nicht nur um die Silhouette, sondern auch darum, ob ein Hochhaus funktional Brücken zur Stadt schlagen kann.


[Angelus Eisinger: Der Städtebau- und Planungshistoriker ist Professor für Geschichte und Kultur der Metropole an der HCU in Hamburg und Dekan des Studiengangs Kultur der Metropole. Im Auftrag des Amtes für Städtebau der Stadt Zürich hat er Hochhaus-Planungsreglemente in Europa und Nordamerika untersucht.]

15. April 2010 hochparterre

Erstling auf den zweiten Blick

Das Schulhaus gibt drei kluge Antworten auf die zentralen Fragen des Wettbewerbs. Zuerst der Ort. Indem die Architekten ihren Kubus an eine der Quartierstrasse folgenden Geländekante setzen, gehen sie geschickt auf die schwierige Topografie des Baugrundes ein. So entsteht ein kleiner Vorplatz zur Strasse hin, die Würfelform sorgt zusätzlich für einen eigenständigen Auftritt. Zweitens der Grundriss. Die Architekten platzieren den Mehrzwecksaal und die Technikräume ins halb im Hang liegende Sockelgeschoss und machen ihn über eine Aussentreppe autonom zugänglich. Sie spielen so das Strassen- und Obergeschoss für reine Schulnutzungen frei. Der Clou ist, dass die zentral angeordneten Gruppenräume zwar keinen Fassadenanschluss haben, aber trotzdem Tageslicht geniessen. Die Erfindung liegt im Schnitt: Zwei kreisrunde Oberlichter über den unteren bringen auch von der Seite her Licht in die oberen Gruppenräume. Drittens die Fassade. Die Verkleidung der Holz-Elementfassade ist einfach, aber effektvoll. Wein - rot gestrichene, stehende Tannenholz-Latten sind jeweils einmal leicht nach innen und einmal leicht nach aussen geknickt. Die abwechselnde Anordnung ergibt in der Serie einen faszinierend flirrenden Holzteppich, der den Kubus rundherum einhüllt. Die abgerundeten Ecken verleihen zusätzlichen Schwung und Eleganz.

Das Schulhaus Büttenen zeigt, dass gute Architektur nicht spektakulär sein muss und dass sie durch den klassischen offenen Wettbewerb entsteht, in diesem Fall sogar durch einen Gesamtleistungswettbewerb. Der Bau zeigt aber auch, dass Baukunst sich sehr wohl in eine mengen Kostenrahmen bewegen und dabei auch die Ansprüche der Nachhaltigkeit erfüllen kann: Mit Baukosten von 491 Franken pro Kubikmeter (BKP 2) ist das Schulhaus satte 303 Franken pro Kubikmeter günstiger als Christian Kerez’ bereits weltberühmte Schule in Leutschenbach siehe HP 10 / 09. Einziger Wermutstropfen: Räumlich hält das Haus nicht ganz, was der Grundriss und der Schnitt verspricht. Die geschickte Grundrissorganisation geht teilweise zulasten der Raumqualitäten.

Die Gänge und Arbeitsnischen rund um die Klassenzimmer sind überall ein bisschen knapp bemessen. Dem Foyer beispielsweise würde man mehr Atem wünschen, auch trägt die Zweigeschossigkeit der Gruppenräume weniger zur Raumqualität bei, als man erwarten würde.

16. November 2009 hochparterre

Zuerst die Landschaft, dann die Architektur

Beim Bürohaus Futuro ist alles umgekehrt: Die 9100 Quadratmeter Nutzfläche liegt unter der Erde, der Garten auf dem Dach. Damit markieren die Architekten den Anfangspunkt der Kulturlandschaft des Waldenburgertals nicht, wie man erwarten würde, mit einem kantigen Volumen. Sie verwandeln die ehemalige Kuhweide in eine Art Klostergarten auf einer monumentalen, gegen Liestal ansteigenden Rampe. Erschlossen werden die Büroflächen übers Dach, in dessen Vegetationsmosaik ein Wegraster und Sitzplätze eingelassen sind. Der Aushub wurde aufs Dach geschüttet und grossflächig mit Stauden bepflanzt, die je nach Jahreszeit eine andere Farbe in den Vordergrund treten lassen.

Vier doppelgeschossige grüne Glaskuben mit den Eingängen und ein betonierter «Kopfbau» wachsen aus dem Dach heraus und geben den vorbeiflitzenden Pendlern einen Hinweis darauf, dass unter der Grünfläche auch noch ein Gebäude liegt. Alle Büros sind nach innen orientiert und reihen sich um insgesamt zehn grosse, im vorderen Teil zwei-, im hinteren Teil eingeschossige Lichthöfe. Diese sind karge klösterliche Orte der Ruhe, in denen aus langen Pflanzkisten mehrstämmige Grosssträucher wachsen. Die verglasten Hoffassaden sind gerade so hoch, dass man die umliegenden Hügelsilhouetten noch sieht. Überraschend ist, wie hell und offen die Büroräume sind und wie wenig man die entlang dem Gebäude verlaufende Überlandstrasse und die Waldenburgerbahn hört.

Diese städtebauliche Idee zeigt jedoch Schwachstellen auf der architektonischen Ebene — insbesondere bei den Abgängen zu den Büros. Der inszenierte spannende Zugang übers Dach weckt Erwartungen: Man fragt sich, wie es in den Glaskuben wohl nach unten geht. Doch wenn man die monumentalen Kästen betritt, passiert nichts. Man kommt in eine kühle Glashaube über einem schmucklosen Betontreppenhaus, aus dem ein kantiger Liftturm wächst. Das war ursprünglich nicht so geplant: Die Glastürme hätten bis in die Tiefgarage hinabreichen und Tageslicht ins Parkgeschoss bringen sollen, und sie sollten die Orientierung in den Untergeschossen erleichtern. Nun sind aus den emblemhaften Lichtkaminen blosse architektonische Zeichen ohne lichtleitende Funktion geworden.

Genial oder banal?

Das neue Schulhaus Leutschenbach spaltet die Architekturkritiker. Sechs kontroverse Meinungen zum Bau von Christian Kerez.

Es ist das zweitgrösste Schulhaus der Stadt Zürich und von der Kindergärtlerin bis zum Sekschüler gehen hier alle ein und aus. Der Bau dauerte ein Jahr länger als vorgesehen. Die Erscheinung ist für ein Schulhaus so ungewöhnlich, dass sie polarisieren muss. Seit August ist das Schulhaus Leutschenbach nun in Betrieb und Hochparterres Redaktorinnen und Redaktoren besichtigten es mit dem Architekten Christian Kerez.

Die Heiligsprechung des Banalen

Ivo Bösch: Die Jury traute dem Entwurf von Christian Kerez nicht zu, dass er baubar ist. Im Wettbewerb aus dem Jahr 2003 liess sie zwei Projekte überarbeiten. Zwar gefielen damals die Zonen zwischen den Schulzimmern. Doch dieser Bereich war Fluchtweg, also nicht nutzbar. Erst nach der Überarbeitung schlug Kerez die Fluchtbalkone vor. Der Feuerpolizist entwarf also beträchtlich mit. Eine Turnhalle auf dem Dach, eine Doppeltreppe, aneinander gereihte, hohe Schulzimmer und eine stützenfreie Fassade im Erdgeschoss: Mehr steckt nicht im Entwurf. Der Kern des Projekts ist die Konstruktion.

Das Haus steht nur auf sechs Dreifachstützen. Für den Handstand auf dem kleinen Finger scheute der Architekt keine Kosten. Doch bestimmte der Bauingenieur, wo welche Querschnitte welche Lasten tragen. Was Kerez mit dem kompakten Entwurf gewinnt, verliert er mit dieser Konstruktion. Obwohl beim Ausbau gespart wurde und obwohl es die zweitgrösste Schule der Stadt Zürich ist, ist der Bau im Kubikmetervergleich (BKP 1– 9: CHF 1108.–/m3, Stand August 2009) eines der teuersten Schulhäuser. Schon die Jury schrieb nach der ersten Stufe: «Die durch die kompakte Gebäudeform gegebene Ausgangslage für eine günstige Ökonomie wird durch zu erwartende erhöhte konstruktive Aufwendungen gemindert.» Dass diese Aufwendungen so gross werden und der Ausbau so leiden musste, konnte sie nicht voraussehen: Wände aus Industrieglas, in den Schulgeschossen Kunststeinplatten am Boden, sichtbare PE-Abwasserleitungen. Alles wirkt banal, Kerez würde es reduziert nennen. Glück für ihn, dass das Schulhaus in Schwamendingen steht und die Stadt endlich ein Signal für die Quartierentwicklung neben der Kehrichtverbrennungsanlage setzen musste.

Alles schrumpft

Roderick Hönig: 1994 stellte Pipilotti Rist im Kunstmuseum St. Gallen zwei überdimensionale Fernsehsessel neben eine meterhohe Stehlampe. Wer versuchte, die gigantischen, kaum handhabbaren Möbel zu besteigen, lernte physisch seine Lektion in Raumwahrnehmung. Die drei ungewöhnlich hohen Klassenzimmergeschosse erinnern an Rists Installation. Nur ists im Schulhaus Leutschenbach umgekehrt: Die Räume sind überdurchschnittlich hoch — satte 3,6 Meter, das Minimum schreibt 3 Meter vor. Die Überhöhe verleiht weiten Atem und Grosszügigkeit und lässt, wie in Rists Arbeit, Schülerin und Lehrer auf Kindergrösse «schrumpfen ». Die Architektur stellt so die Machtverhältnisse im Schulhaus in Frage, sie demokratisiert Subjekt und Objekt. Kerez sichert mit seinen überhohen Klassenzimmern und Pausenhallen aber auch die Souveränität seines Werks. Die Überhöhe sorgt dafür, dass Möblierung und Raum kaum in ein Verhältnis treten und dass man nicht plötzlich vor lauter Schulmöbel und farbigem Kinderleben Kerez’ «architecture brut» nicht mehr sieht. Elegant ist, dass der eitle Wunsch nach Wahrung der Reinheit der eigenen Architektur nicht auf Kosten der Nutzer geht — im Gegenteil: Die überdurchschnittliche Raumhöhe ist die Attraktion und Qualität des Schulhauses. Der Luxus, bezahlt auf Kosten des Ausbaus.

Die Paulista-Schule

Axel Simon: Wo ist da die Angemessenheit? Und was ist mit den hohen Kosten? Spätere Erweiterungsmöglichkeiten? Es gibt Bauwerke, an denen perlen solche Fragen ab. Radikalität imprägniert sie zum Manifest. In Leutschenbach steht man vor einem solchen, schaut einfach nur, blöd vor Staunen. Hier liegt Zürich nicht in der Schweiz, sondern am Rande São Paulos. Sicher, Kerez’ Konstruktionen sind komplizierter als diejenigen von Artigas, Bo Bardi oder Mendes da Rocha, die hiesigen Anforderungen sind es sowieso. Die räumliche Idee jedoch ist ähnlich: eine weite Landschaft rundum, die sich im Inneren widerspiegelt, sowie ein Raum, der mit zunehmender Schwere des Hauses an Leichtigkeit gewinnt. Die eidgenössische Komplexität der scheinbar einfachen Struktur überspielt der Architekt, indem er sich jede Oberflächengüte versagt. Der sichtbaren Stapelung der Etagen entsprechen der sichtbar gegossene Beton, der sichtbar geschweisste Stahl, das sichtbar gefügte Gussglas. Die Rohheit des Materials und der immense Raum machen aus der Schule eine Werkstatt, einen Ort, an dem man ohne die Bürde des Perfekten schaffen, sich ausbreiten, auf dem Trottinette durchjagen kann. Keine gebeugten Rücken, keine Schulkrüppel! Diese Forderung, die der spätere Bauhausdirektor Hannes Meyer 1926 seinem konstruktivistischen Petersschul-Entwurf beilegte, könnte auch auf den Leutschenbacher Beton gesprüht stehen — als Kunst am Bau versteht sich.

Ein starkes Stück

Werner Huber: Wie ein Equilibrist steht das Schulhaus auf der Wiese am Rand von Leutschenbach, scheint unter Hochspannung zu sein. Es berührt den Boden kaum, die Tragstruktur balanciert die Lasten der aufeinandergetürmten Nutzungen ohne das Gleichgewicht zu verlieren. Die gleiche Spannung ist im Innern zu spüren, auch wenn die Fachwerkträger nicht immer zu sehen sind und es nicht auf Anhieb klar ist, wie die Statik überhaupt funktioniert. Kräfte werden über Umwege spazieren geführt, bevor sie den Boden erreichen. Es wäre einfacher gegangen. Ein paar Stützen hier und da diskret platziert — wer würde den Unterschied schon sehen? Kaum jemand, doch spüren würde man ihn bestimmt.

Der Architekt ist seinen Weg konsequent gegangen und hat alles seinem Konzept untergeordnet. Das ist seine grosse Leistung. Die Betonoberflächen sind nicht perfekt, der Ausbau ist karg, konstruktive Ausnahmen gibt es zuhauf. An irgendeinem anderen Bau würde man das beklagen, hier ist das sekundär. Kerez hat die richtigen Prioritäten gesetzt. Nur im Erdgeschoss musste das Konzept vor der Nutzung zurücktreten — und prompt ist
es daneben geraten: Nie und nimmer dürfte es verglast sein.

Republikanisch geschärft

Benedikt Loderer: Zwei Gründe, warum ich das Schulhaus Leutschenbach gut finde: Es ist republikanisch und es ist geschärft. In Schwamendingen leben viele jener Leute, denen man eine bildungsferne Herkunft nachsagt und die ihre Kinder nicht vor allem zum Lernen anstacheln. Für sie baute die Stadt Zürich ein republikanisches Schulhaus. Es ist ein Versprechen. Nie, sagt die Stadt, werden wir vom Prinzip der allgemeinen und obligatorischen Volksschule abweichen. Wir wollen weder Kloster-, noch Koran- oder Eliteschulen. Vor der Schule ist jedes Kind gleich und wir geben keines auf. Wir bilden sie zu Zürchern. Wir bauen Integrationsschulen. Dort, wo die Kinder am schwierigsten sind, machen wir nicht weniger, sondern mehr. Wir sparen nicht an den Bedürftigen. Gut genug gibt es nicht, wo es ein Mehr braucht. Das Schulhaus repräsentiert den Bildungsanspruch der Stadt. Dieses republikanische Schul- und Selbstverständnis strahlt das neue Schulhaus aus. Das Konzept ist einfach: Kerez stapelt. Er setzt die Nutzungen nicht neben-, sondern schichtet sie übereinander. Den Rest des Grundstücks lässt er frei. Das Konzept überzeugte im Wettbewerb, doch dann begann die Arbeit. Es nahm die Hürden der Feuerpolizei, bewältigte das gerade geltende pädagogische Programm, überwand die Schwierigkeiten seiner eigenen Statik, besiegte den Kostendruck, kurz, es wurde verwirklicht.

Selbstverständlich sieht es heute anders aus als im Wettbewerb — aber nicht verwässert, sondern geschärft. Kerez ist einer der wenigen Architekten, die Konzessionen machen können, ohne Schaden an ihrem architektonischen Konzept zu nehmen. Er ist nicht stur, er ist nur konsequent. Er weiss: Wer alles verteidigt, verteidigt nichts. Und er weiss, was er aufgeben kann, um das zu behalten, was er unbedingt haben will. Selektives Wichtignehmen heisst diese Schärfungskunst. Kerez ist ein Meister darin.

Die Konsequenzen der Konsequenz

Rahel Marti: Christian Kerez will konsequente Architektur schaffen. Er kämpft für die Reinheit der einen, einfachen Idee. Offenbar gelang es ihm, die Beteiligten für diese heroische Haltung zu gewinnen. Kerez stapelt, der Park soll frei bleiben. Er baut Glaswände, dazwischen soll Raum zum Lernen entstehen. Er will ein klares und rohes Schulhaus, in dem sich Schülerinnen und Lehrer entfalten. Paradoxerweise braucht es dafür ein komplexes Tragwerk und Bauarbeiten, die ein Jahr länger dauerten als geplant. Was aussieht wie eine strukturalistische Höchstleistung, ist eine Reihung von Ausnahmen und Kompromissen. Um etwa den Park ins Haus fliessen zu lassen — und dies bildlich, denn in der Tat gibt es ja eine Glasfassade —, ist das Gebäude an einer komplexen Fachwerkkonstruktion aufgehängt. Um die Reinheit dieser statischen Idee zu belassen, nimmt der Architekt verschiedenste Fachwerkdimensionen und damit verschiedenste Deckenfelder in Kauf, was zu zahllosen konstruktiven Anpassungen führt. Um den freien Grundriss in den Treppenhallen zu ermöglichen, sind breite, umlaufende Fluchtbalkone nötig. Damit hier keine Kinder herumrennen, werden sich Lehrerinnen und Lehrer Regeln ausdenken müssen. Um die Transluzenz des Industrieglases nicht zu stören, sind an den Wänden der Schulzimmer und der Turngarderoben nicht metallene Kleiderhaken montiert, sondern kleine, ab - bruchgefährdete Plastikhaken aufgeklebt. Die Konsequenz reicht soweit, dass Kerez auch Massnahmen durchsetzt, die mit pädagogischen Zielen nichts mehr zu tun haben. Etwa, dass keine Leuchten, dass nichts von den hohen Decken hängen darf, was aufwändige Betoneinlegearbeiten erforderte. Man wird sehen, denn nun muss sich das aussergewöhnliche Schulhaus bewähren. Sonst war die reine Idee architektonischer Selbstzweck und der Preis dafür hoch.

8. September 2009 hochparterre

Kräftiger Kern

Die Winterthurer «Maurerschule», eine Sonderschule für cerebralgelähmte Kinder, hat ein zweites Gebäude für die Oberstufe bekommen. Der äussere Auftritt ist zurückhaltend: in sandbraunem Kratzbeton und mit raumhohen Verglasungen. Blickfang ist die Nordfassade mit 350 Kernbohrungen, die den dahinterliegenden Spielplatz mit einem Schattenspiel belichten. So zurückhaltend sich das Haus aussen präsentiert, so stark haben die Architekten das Innere gestaltet. Die Treppenhauskerne sind knallig magenta, das vom kräftigen Akzent bei dunkler Umgebung bis fast zum Weiss wechselt, wenn die Sonne darauf scheint. Die Böden der Schulzimmer und Korridore sind aus blauem Gummigranulat, die Sonnenstoren in Bordeauxrot und die Textiltapeten im Korridor schimmern anisgrün. Der Neubau bildet zusammen mit dem Schulhaus aus den Siebzigerjahren und dem Pfarreiheim einen Hof.

Alt- und Neubau sind mit einem unterirdischen Gang miteinander verbunden. Auch er spielt mit dem Licht und kappt die Monotonie, indem in seiner Mitte die Beleuchtung von Gelb zu Blau wechselt.

11. August 2009 hochparterre

Wer wagt, gewinnt

Dass Annick Hess und Alexander Maier gleich ihre eigenen Bauherren würden, haben sie nicht gedacht, als sie sich für das kleine Grundstück an bester Wohnlage in Zürich bewarben. Das junge Architektenpaar entwarf ein Projekt mit soliden Grundrissen, putzte Klinken bei den Banken, fand schliesslich eine und erhielt den Zuschlag. Maier Hess übernahmen aber nicht nur ein finanzielles Risiko, sondern liessen sich auch auf das Abenteuer Dämmbeton ein. Misapor überzeugte sie nicht nur, weil es trägt und gleichzeitig dämmt, sondern auch wegen seiner Farbe, der Druckfestigkeit und der geringen Wasseraufnahme. Die Architekten spielen die plastischen Möglichkeiten an der Fassade aus: Die schräg geschnittenen Leibungen der grossen Fenster simulieren die Fensterläden und «reduzieren» beim Blick nach aussen die Wandstärke. Wie überall an der Strasse liegt der Eingang im Hof, wo noch ein kleiner zweistöckiger Solitär liegt. Ihn haben die Architekten der benachbarten Kindertagesstätte als Bastelwerkstatt vermietet — eine zeitgemässe Interpretation der Hof-Manufakturen, die ein weiteres städtebauliches Merkmal des Quartiers sind.

6. April 2009 Annina Weber
hochparterre

Alles oder nichts

Der Künstler Not Vital hat in Sent ein Haus gebaut, das auf Knopfdruck in der Erde verschwindet.

Not Vital verwirklicht einen Bubentraum nach dem anderen. Letztes Jahr hat der international erfolgreiche Künstler aus Sent im Unterengadin eine Insel im chilenischen Patagonien gekauft, in die er ein Höhlensystem graben will. Im italienischen Carrara höhlen seit über einem Jahr zwei Steinmetze in seinem Auftrag ein 9x2x2 Meter grosses Marmorstück aus — daraus entsteht eine begehbare Turmskulptur für einen belgischen Sammler. Auch in der afrikanischen Wüstenstadt Agadez baut der Künstler.

Seit 2000 erstellt er dort Lehm-Skulpturen — eine Schule oder ein Haus, das nur dazu dient, den Sonnenuntergang zu beobachten siehe HP 11 / 06. 1999 kaufte er den unfertigen Traum eines Anfang letztes Jahrhundert ausgewanderten Senters, einen Park, den der Industrielle am Eingang zu seinem Heimatdorf zwischen den Weltkriegen anlegen liess. Vital hat ihn in die Stiftung «Parkin Not dal mot» überführt und in jahrelanger Arbeit zusammen mit seinem Bruder Duri renoviert. 14 Skulpturen und Installationen hat er bis anhin darin realisiert. Unter anderem ein Haus aus Glas, eine Holzhütte am Wasserfall, zwei Eselsbrücken aus Aluminium, einen Turm der Stille.

Ein Bubentraum

Seinen Hang zum Bauen erklärt der Künstler mit seiner Lebensgeschichte, schon als Kind baute er Hütten im Wald: «Die Sommer in Sent waren lang, die Schulen fünf Monate geschlossen. Was mit der vielen Freizeit anfangen», fragt er und gibt die Antwort gleich selbst: «Hütten bauen!» Zusammen mit den anderen Dorfbuben, aber auch alleine konstruierte er aus Abfallholz und Fundstücken Baumhütten, Unterstände, kleine Refugien. «Ich wollte schon immer meine bauen», so der heute 61-Jährige. Sein internationaler Erfolg als Plastiker, Zeichner oder Kupferstecher erlaubt es ihm nun, an seine Bubenträume anzuknüpfen und sie rund um die Welt und im grösseren Massstab zu verwirklichen. So hat sich das Haus als Skulptur als wichtiger Zweig in Vitals vielseitigem Schaffen etabliert.

Rauf und runter

Sein neustes Werk ist «Josüjo» («Runter-Rauf-Runter»in Rumantsch). Er hat es mit seinem Assistenten Mitsunori Sano entwickelt und in den «Parkin» gebaut. Es ist ein Einraum-Stahlhaus — ein «Teepavillon», wie Vital sagt — der auf Knopfdruck in der Erde verschwindet. «Ich wollte eine neue Skulptur in den bauen, aber den Gesamteindruck, die ausgewogene Verteilung der bisherigen Werke im Gelände, nicht in Frage stellen», erklärt Vital sein Dilemma rückblickend. «Das führte schliesslich zur Idee von , einem Haus, das da und dann wieder weg ist.» Form und Ausführung waren schnell klar: Das «Haus» sollte aus 10 Millimeter dicken Stahlplatten gebaut sein, im steilen Hang unterhalb der Strasse liegen und die Form eines Kuchenstücks haben.

Hydraulische Hebeanlage

Mit diesen wenigen Vorgaben ging Vital zum Ingenieur Jürg Buchli, der schnell Feuer fing für das Projekt. «Anfangs haben wir noch Ideen verfolgt, das Haus mit Luftkissen oder Wasserdruck zu heben. Wir haben aber schnell gemerkt, dass solche Lösungen das Budget sprengen. Deshalb haben wir uns für eine konventionelle hydraulische Hebeanlage entschieden. Sie lässt heute das über zehn Tonnen schwere Gebilde rauf- und runterfahren», so der Ingenieur aus Haldenstein. Das Projekt musste zwei grosse Hürden nehmen: Das schwierige Gelände und Kosten, die sich in einem vernünftigen Rahmen bewegen. Denn die Betonwanne, in der der Stahlkörper rauf und runter fährt, liegt in einem Grund, der nicht sehr stabil ist und erst noch Wasser führt. Deshalb mussten die Arbeiter eine ziemlich grosse — und damit teure — Baugrube für die über fünf Meter tiefe Betonwanne ausheben. Aushub und Wanne machen rund die Hälfte der Baukosten aus, erklärt Jürg Buchli. Die hohen Kosten der Arbeit unter der Erde schränkten die Raffinesse der Hebeanlage ein. Deshalb liegen die drei Hubzylinder für den Betrachter unsichtbar in den Ecken des Innenraums und nicht wie erwartet zwischen Betonwanne und Haushülle. «Eigentlich ist die Hebeanlage nicht mit einem Lift, sondern eher mit der Kippanlage eines Lastwagens vergleichbar», schmunzelt der Ingenieur.

Kunst und Architektur

Not Vital selbst klassiert «Josüjo» als Architektur- und Kunstwerk. An seinem jährlichen «Parkin»-Fest präsentierte der Bündner das Haus zum ersten Mal einer grösseren Öffentlichkeit. Geladen waren viele Architekten und Künstler.

Die Reaktionen gingen von Begeisterung bis hin zur Irritation. «Mich erinnert das Haus an Filmsets von Ken Adam», sagt der Lausanner Künstler Karim Noureldin, «besonders interessant finde ich aber auch, wie sich das Haus wortwörtlich an der Schnittstelle von Skulptur und Architektur bewegt. Selten nähert sich eine Plastik derart an ein Gebäude an, ein bewohnbares Haus, das gleichzeitig nur Zeichen, Bild und Kunstwerk ist.» Robert Obrist sieht das Haus weniger als Architekturobjekt, denn als begehbare Plastik: «Für mich ist vor allem ein wichtiger Diskussionsanstoss», meint der St. Moritzer Architekt, «es wäre doch elegant — und meiner Meinung nach technisch durchaus machbar —, wenn man alle Zweitwohnungsbauten im Engadin auf Knopfdruck verschwinden lassen könnte. Doch leider ist die rege städtebauliche Diskussion verstummt, die an Vitals Fest entbrannte.»

Für Christoph Gantenbein stellt das Haus grundsätzliche Fragen ans Bauen und die Architektur: «Für uns Architekten ist es das tägliche Brot, anstelle des Nichts etwas zu schaffen», so der Partner bei Christ & Gantenbein. «Not Vital kehrt dieses Prinzip um: Er lässt ein Haus einfach wieder verschwinden.»

Aus dem Nichts ins Nichts

Ob Kunst- oder Architekturwerk — «Josüjo» kann durch sein quasi spurloses Verschwinden auf Knopfdruck als subversive Kritik an der Architektur verstanden werden. Denn wenn das Haus versenkt und der Lärm der Hydraulik verhallt ist, bleibt nur noch scheinbar unberührte Landschaft übrig. Dadurch, dass der Ort gleichzeitig mit und ohne Haus erlebbar ist, sozusagen das Vorher und Nachher gleichzeitig abrufbar sind, schärft Vital unsere Wahrnehmung und den Blick auf die Landschaft. Damit ist die Skulptur trotz ihrer rohen Umsetzung radikaler als manches ausgefeilte Bauwerk: Sie stellt nicht die Frage nach der Art der Architektur, sondern ob es sie überhaupt braucht.

Skulpturenpark Sent

Den Skulpturenpark «Not dal mot» am Dorfeingang von Sent kann man im Sommer besichtigen. Not Vital hat den historischen Park gekauft, ihn zusammen mit seinem Bruder Duri ausgeräumt und darin unter anderem eine Baumhüt-te platziert, einen Turm der Ruhe, eine Esels-brücke, ein Haus aus Glas und ein Haus, um den Wald anzuschauen. Vitals neuste Arbeiten sind «Josüjo» und die Spiegelbrücke «Punt». Im Sommer veranstaltet Sent Tourismus jeden Freitag Führungen durch den Park.

25. Februar 2009 hochparterre

Das Fenster zum Wald

Peter Kunz hat in Winterthur einen neuen Haustypus gebaut: Die Reihenvilla mit Sicht in den Wald.

Beim «Oberen Alpgut» handelt es sich nicht um irgendein Grundstück, sondern um eine einzigartige Bauparzelle am Fusse des Goldenbergs, dem Zürichberg von Winterthur, zu der ein 10 000 Quadratmeter grosser Privatwald gehört. 1789 erwarben das Anwesen die Vorfahren der Familie Sulzer, der Winterthurer Industriellendynastie. Sie machten den Ort mit traumhaftem Blick über die Stadt zu einem ihrer Familiensitze. Und wie es sich für eine industriellenfamilie gehört, ist der Wald nicht Nutzforst, sondern ein romantischer Park, in welchem der Gartenarchitekt Ewartiste Mertens ab 1880 Spazierwege und Lichtungen, eine Steinbrücke und Sitzplätze anlegen liess. Soweit die Vorgeschichte.

Mitte der Neunzigerjahre beschlossen die Nachfahren, das «Obere Alpgut» weiterzuentwickeln. Der Architekt Peter Kunz hörte das, nahm Kontakt auf und machte, was Architekten in so einem Fall tun: ein Projekt. Kunz schlug vor, die einzelnen Parzellen, welche die weit verstreuten Familienmitglieder verkaufen wollten, nicht stückweise, sondern einmalig und grossflächig zu entwickeln. Tatsächlich konnten sich die Sulzer-Nachfahren darauf einigen, sodass Kunz 2001 die erste Skizze zeichnete und 2004 einen privaten Gestaltungsplan für acht Villen und die Umnutzung des ehemaligen Ökonomiegebäudes einreichte.

Unerwarteter Entwurf

Der Winterthurer Architekt, der bis anhin vor allem mit exklusiven Villen auffiel, reagiert städtebaulich unerwartet und originell auf den besonderen Ort. Sein Entwurf besteht aus einem dichten, eingeschossigen Bungalowkonglomerat. Es sind aneinandergereihte Wohneinheiten, die sich jeweils zwischen zwei weit in die Landschaft und den Wald greifenden Trennwänden Fotos Seite 48 entwickeln.
Kunz plant das Ensemble um den alten Baumbestand herum und lässt auch das ehemalige Ökonomiegebäude stehen, heute der älteste Bau auf dem Gelände. Baurechtlich möglich und sicherlich einfacher in der Vermarktung und dem Verkauf gewesen wären mehrere zweigeschossige und freistehende Villen oder Mehrfamilienhäuser. Doch die Idee des Architekten überzeugt nicht nur durch die subtile Einbettung in den Waldpark, sondern auch durch ihre Flexibilität — was sich vor allem in der Verkaufsphase als Vorteil entpuppte: Denn ob der Abstand zwischen den neun Trennmauern grösser oder kleiner ist — das Prinzip, die hohe Privatsphäre und die Wohnqualität bleiben gleich.

Ungewöhnliche Nordzimmer

Bei der Orientierung der Wohnräume schlägt Kunz noch einmal einen unerwarteten Haken. Er richtet alle Wohn- und Esszimmer gegen Norden aus, also gegen den Wald. Denn Kunz war von Anfang an überzeugt, dass der einzigartige Blick in den Privatwald der Trumpf der Häuser ist. Als seine Pläne öffentlich wurden, rümpfte die Winterthurer Architektenszene die Nase und begrub das Projekt schon vor dem Spatenstich: Eine Villenanlage mit Verkaufspreisen von bis zu 3,4 Millionen Franken in Winterthur, deren Haupträume sich — besonders an einem Ort, der sich durch seinen Panoramablick über die Stadt auszeichnet — gegen Norden und den Wald orientieren, finde keine Käufer, so der Tenor.

Doch heute ist klar, dass die «verkehrte» Orientierung des Oberen Alp­guts eine Qualität ist: Der Blick aus dem Wohnzimmer geht mit dem Licht und untermalt die Interpretation des Grundstücks als begehbares Bild: In der Abendsonne leuchtet der Waldpark und wird zum begehbaren Gemälde. Nur konsequent ist dann die klare Trennung der Räume in einen Tages- und Nachtbereich. Die Schlaf- oder Arbeitszimmer liegen auf der Südseite und sind auf einen klösterlich ummauerten Innenhof orientiert.

Zwischen dem Tag- und Nachtbereich liegt eine Raumschicht mit den Bädern, der Sauna und den Nebenräumen, durchsetzt von mediterran anmutenden, begehbaren Lichthöfen.

Unschlagbares Innen-Aussen

Und das Raumerlebnis? Was auf dem Plan aussieht wie eine profane Reiheneinfamilienhaus-Siedlung, entpuppt sich bei der Begehung auch räumlich als spannend. Es ist ein anspruchsvolles «Innen-Aussen-Innen»-Raumgewebe. Es gibt zwei Haustypen, drei 15 Meter breite Bungalows und fünf acht Meter breite Einheiten mit einem zusätzlichen Sockelgeschoss. Das halb in die Erde gegrabene Geschoss der schmalen Einheiten ist ein Patzer im überzeugenden «Alle-Wohnräume-gehen-fliessend-in-die-Landschaft-über»-Konzept. Ein Zugeständnis an die Wirtschaftlichkeit, wie Kunz zugibt, der nicht nur Architekt, sondern auch Projektentwickler war.

Die Rauminszenierung ist dramatisch und wirkungsvoll: Hinter den schweren Eichenholztüren öffnet sich eine sinnliche, abgeschlossene Welt aus Licht und Raum. Ein weisser Gang führt entlang abgestufter Deckenflächen und eleganter, indirekter Oberlichter zickzackartig in die offene Wohn-, Ess- und Küchenlandschaft auf der Waldseite. Erst hier gewährt der Architekt dem Auge wieder Raum zum Schweifen, das dafür grosszügig. Die Überraschung gelingt: Eine breite Glasfront gibt den Blick auf den romantischen Waldpark frei. Die Architektur lässt einen förmlich in die Natur eintauchen. Die Übergänge sind sorgfältig gestaltet und darauf ausgelegt, dass sie möglichst fliessend sind: Schiebt man die Gläser in ihren schweren Eichenrahmen zur Seite, geht der Innenraum nahtlos in die weitüberdachte Terrasse über. Diese schliesst direkt an den privaten Garten zwischen den gelblichen Betonmauern an, die weit in den Park hinausreichen. Draussen verliert sich der Park dann im gemeinschaftlichen Wald.

24. November 2008 hochparterre

Alltag einer Ikone

Zehn Jahre KKL Luzern. Wie bewährt sich das Gebäude?
Der Hausmeister berichtet.

Eigentlich hätte Joe Michel nur während der ersten drei Betriebsjahre den Unterhalt und den technischen Betrieb des KKL, des Kultur- und Kongresszentrum Luzern aufbauen sollen. Doch der heutige Leiter Gebäude und Infrastruktur liess sich, wie viele andere, von Jean Nouvels Architekturikone verzaubern und feiert dieses Jahr sein zehnjähriges Dienstjubiläum. «Wer fürs KKL arbeitet, muss sich hundert Prozent mit dem Bau und der Architektur identifizieren», erklärt der Baufachmann und Betriebswirt, «und wer sich über den Aufwand aufregt, beispielsweise bei der Reinigung, ist bei uns nicht am richtigen Platz: Unser Haus ist ein Sonderfall — jeder Tag ist eine spannende Herausforderung.»

818 000 Franken hat die KKL Luzern Management AG letztes Jahr für die Reinigung der Architekturikone ausgegeben. Das sind immerhin knapp fünf Prozent des gesamten Betriebsaufwands von 17,58 Millionen Franken. Täglich zu Buche schla-gen vor allem die grossen Glasflächen und die vielen Chromteile in den weiten Foyers. «Die meisten Besucher schauen mit den Händen — wir müssen einzelne Glasflächen einmal pro Tag putzen lassen», sagt Michel gelassen. Weniger aufwendig ist die Pflege des dunklen Granitbodens, der Dreck und Kratzer gutmütig schluckt: «Der Stein, den Jean Nouvel ausgewählt hat, ist äus-serst widerstandsfähig. Den würde ich morgen wieder einbauen.»

Putzen nur mit Kletterdiplom

Eine viel gerühmte architektonische Attraktion, aber eine Herausforderung beim Entstauben und Pflegen, ist auch der «Geigenkasten». Die bauchige Holzhülle, die den Konzertsaal rundherum einmantelt, macht das Putzen zur Kletterübung. «Die Reinigung der Konzertsaal-Verkleidung und der Metallgitter-Fassade sind aufwendige Kletteraktionen», so Michel. «Es sind immer dieselben Firmen, die für uns putzen. Für die Reinigung der Hülle des wie ein Schiff vor Anker liegenden Saals konnten wir sogar dieselben Holzfachleute verpflichten, die die Verkleidung auch gebaut und montiert haben.» Konstanz und eine Beziehung zum Objekt sind aber nicht die einzigen Voraussetzungen für Michel. Wer am Haus herumturnt, braucht auch ein Kletterdiplom. Drei bis vier Mal pro Jahr seilen sich drei bis vier Arbeiter der Schreinerei Pfyl mit Klettergürtel und Helm ab und entstauben, waschen und ölen die Holzflächen.

Dass das KKL spektakuläre Putzaktionen nach sich ziehen würde, war schon bei der Planung klar. Nicht gerechnet haben Michel und sein 14-köpfiges Team aber mit der 1,5 Zentimeter grossen Argyroneta aquatica. Der unscheinbaren Wasserspinne gefiel es am weit auskragenden Dach so gut, dass sie den See dafür verliess und mit ihren Kolleginnen die 7000 Quadratmeter grosse Alucobond-Verkleidung mit Spinnweben überzog. Die feinen Netze beeinträchtigten die vom Architekten präzis austarierte Reflektion — wie aber gegen das kleine Tier vorgehen? Michel beauftrage drei Kammerjäger, sich eine Lösung auszudenken. Erst das dritte und kleinste Unternehmen fand eine, indem es eigens fürs KKL einen Zerstäuber entwickelte, der das Insektizid so atomisierte, dass das Spinnengift immer noch wirksam ist, obwohl die feinen Flüssigkeitströpfchen auf der Untersicht unsichtbar blieben. Einmal pro Jahr baut die auf Schädlingsbekämpfung spezialisierte Ronner AG nun einen Hublift auf, entstaubt und wäscht die 21 Meter hohe Decke und «impft» sie mit ihrem Mittel gegen Wasserspinnen.

Das Dach hält

Weniger Überraschungen als erwartet bot die 107 auf 113 Meter grosse und bis zu 45 Meter auskragende Dachkonstruktion. Seit der Fertigstellung wird sie elektronisch überwacht. Zweistündlich werden alle Bewegungen mit-tels Sensoren aufgezeichnet. 29 Zentimeter darf der Dachrand bei starkem Wind ausschlagen, sobald dieser Grenzwert überschritten wird, geht der Alarm los. Zusätzlich wird alle zwei Jahre die Konstruktion von Spezialisten direkt und systematisch überprüft: Monteure kriechen zwischen den Trägern und Bindern hin und her und suchen an festgelegten Prüfstellen nach Verformungen, Rissen, Rostflecken oder Feuchtigkeit. Da Ende 2009 die zehnjährige Garantie abläuft, liess das KKL alle Daten und Rapporte seit 1998 analysieren. Das Fazit ist positiv: Das Dach überstand den Sturm Lothar ohne Schaden und zeigt auch bei Schnee oder Böen ein gutes Verhalten. «Was die Statik betrifft, werden wir auf die regelmässige Überwachung und Kontrollen verzichten, nicht aber auf die Kontrolle der Feuchte oder Korrosion», sagt Michel. Die dreiwöchige Dachkontrolle, die Teil des Werkvertrags ist, geht aufs Budget «Unterhalt, Reparaturen und Ersatz» der Trägerstiftung. Es betrug letztes Jahr 1,36 Millionen Franken.

Mehr Gastro, weniger Kongresse

Auf einer ganz anderen Ebene musste Elisabeth Dalucas auf die Architekturikone reagieren. Die Kunstwissenschaftlerin und Kommunikations-Fachfrau übernahm 2003 die Direktion in einem Moment, als das Vertrauen der Luzerner in «ihr KKL» langsam, aber sicher zu bröckeln begann: Insgesamt 160 Millionen Franken in fünf Abstimmungen haben sie bewilligt — und trotzdem schien das Subventionsloch nicht gestopft. Dalucas brachte den Kultur-Supertanker mit einer Reduktion der Veranstaltungen und einem Ausbau der Gastronomie wieder auf Kurs. Bis 2002 fanden jährlich etwa 850 Events im KKL statt, letztes Jahr noch 414. Bei den Kulturveranstaltungen positionierte Dalucas das Haus konsequent im «High-End»-Bereich. Das funktioniert auch dank der Strahlkraft der Architektur: «Wir können heute auswählen, wer im KKL Luzern auftritt oder einlädt», so Dalucas. Und der Chüngelizüchterverein, dem das Haus vor Eröffnung ja auch versprochen wurde? «Das KKL ist immer noch ein Begegnungsort für alle, aber nicht alle Veranstaltungen eignen sich fürs KKL Luzern», argumetiert die Direktorin.

Zweites wichtiges Gegensteuermanöver war der Ausbau der Gastronomie. Das ursprüngliche Konzept setzte nur auf Fremd-Catering. Doch von den Satellitenküchen musste das angelieferte Essen lange und komplizierte Wege quer durchs Haus nehmen. «Es war ein unüberbrückbarer Widerspruch: Die Gäste verbrachten einen erstklassigen Konzertabend mit den besten Solisten der Welt und assen danach wenig inspirierende Häppchen», erklärt die Direktorin.

2002 wurde deshalb im rückwärtigen Versorgungsbereich eine professionelle Produktionsküche eingebaut — die erste Voraussetzung für die Repositionierung des Hauses analog des neuen Slogans «culture, convention, cusine». Dalucas und ihr Team stimmten auch die Angebote der bei ihrer Übernahme bereits bestehenden Lokale besser aufeinander ab und eröffneten zwei weitere Restaurants und die «Crystal-Lounge» für private Anlässe. Die Kursänderung macht das KKL einerseits für mehr Luzerner attraktiv, zeigt sich andererseits auch positiv in der Betriebsrechnung: Heute trägt die Gastronomie aufwendige Konzerte und Veranstaltungen mit — sie macht mehr als die Hälfte des gesamten Umsatzes aus.

Schwarze Zahlen

Die KKL Luzern Management AG schloss das Jahr 2007 mit einem positiven Unternehmensergebnis von 114 073 Franken ab. So hat das Kongresszentrum sein betriebswirtschaftliches Ziel einer mindestens kostendeckenden Rechnung im volatilen Veranstaltungsbusiness erreicht. Das KKL führte 2007 414 Veranstaltungen mit rund 400 000 Gästen durch. Zusätzlich haben gut 11 600 Besuchende das Haus besichtigt.

Links

Wie sich das Dach im Lothar-Sturm verhalten hat, alle Messresultate und weitere Links zum KKL > www.hochparterre.ch / links

13. Oktober 2008 hochparterre

Ein Wellenboden für den Geist

Auf dem Campus der EPFL (Ecole Polytechnique Fédérale de Lausanne) wird 2010 das Learning Center seine Türen öffnen. Doch vor den Türen liegt im Moment noch eine riesige Armierungseisen- und Betonlandschaft. Ein Augenschein in die Planung und auf die Baustelle.

Das Learning Center soll die Bibliothek der Zukunft werden. Der Bau basiert auf einer hügelartigen Fläche, in der Wissen und Informationen möglichst ungehindert und frei ausgetauscht und zugänglich gemacht werden sollen. Das rechteckige Gebäude ist 160 Meter lang und 120 Meter breit. Es besteht aus einem Untergeschoss mit Parkplätzen und einem Hauptgeschoss mit Arbeitsplätzen, Café, Lese- und Hörsälen. Rund 30 blasenförmige, verglaste Raumzonen unterteilen die eingeschossige Betonlandschaft und bieten Rückzugsmöglichkeiten. Elf Patios durchlöchern das ‹Raumsandwich› wie einen Käse. 700 Arbeitsplätze wird das Learning Center bieten, sie sollen rund um die Uhr zugänglich sein und so die Bibliothek nicht nur zum Bücherherz, sondern auch zum sozialen Mittelpunkt des Campus machen.

Die Geschichte des ‹Making of› ist gebogen und hügelig – wie die Betonlandschaft selbst. Als 2004 das Wettbewerbsprojekt der japanischen Architekten Sanaa / Sejima Nishizawa gekürt wurde, haben als erste einige Ingenieure ihre Stimme erhoben: So eine in zwei Richtungen frei gebogene Schale liesse sich nur auf Stützen stellen. Die von den Architekten entworfenen stützenfreien Gewölbe unter dem Hauptgeschoss – sie ermöglichen den ebenerdigen Zugang und spannen bis zu 90 Meter – widersprächen der wirtschaftlichen Vernunft, so der Tenor. Das tun sie noch heute, doch wenigstens haben die Bauingenieure Bollinger Grohmann aus Frankfurt zusammen mit Walther Mory Maier aus Basel eine Lösung gefunden, die das architektonische Konzept des freien Raumflusses überhaupt erst möglich macht. Dabei hat der Beton nur noch Symbolwert: Die Hügellandschaft des Learning Centers ist eine Stahlkonstruktion im Zement-Negligée.

Mehr Eisen als Beton

Das Misch-Tragsystem, welches das Bauingenieur-Team entwickelt hat, ist in die sichtbare Schalenstruktur integriert. Es besteht aus Stahlbeton-Bögen mit Zugbändern aus Spannkabeln, die sich in der Decke über dem Tiefgaragengeschoss befinden. Die sich zwischen den Bögen spannenden Stahlbeton-Elemente haben eine kombinierte Schalen- und Plattenwirkung. Kein Aufwand wird gescheut: Insgesamt 11 dieser Bögen sind in die Schalen eingelassen, 4 in der kleineren, 7 in der grösseren Schale. Die Schalenränder sind in die vorgespannte Stahlbeton-Decke über dem Tiefgaragengeschoss eingespannt. In den Schalen sind gewaltige Mengen an Armierungseisen eingelegt: 850 Tonnen Rundstahl mit einem Durchmesser von 5 Zentimetern und einer Länge von 21 Metern sichern die Stabilität und Tragfähigkeit. Das sind rund 450 Kilogramm Stahl pro Kubikmeter – mindesten vier- bis fünfmal so viel, wie für eine konventionelle Stahlbeton-Konstruktion verwendet wird. Da das statische System nicht viel räumlichen Spielraum liess, mussten die Architekten ihren Grundriss und die Raumgrössen anpassen: Einige Patios wurden kleiner und mussten in die Restflächen zwischen den Armierungsbögen geschoben werden, einige Hügel wurden steiler oder flacher, das heisst, rückten näher an die ideale Bogenform. Das System garantiert zwar die Tragfähigkeit und Stabilität, sagt aber noch nicht viel darüber aus, wie die doppelt gekrümmten Flächen auf der Baustelle umzusetzen sind. Dafür waren Denkarbeit und rund 1500 verschiedene Schalungstische aus Holz-Grobspanplatten (OSB) nötig. Die Ansprüche an die Ausführung der Schalung waren hoch, denn die höhlenartigen Räume unter den Hügeln sind Teil der Aussenfassade und des Eingangs und somit für jedermann zugänglich.
Die Schalungstische bilden exakt die im CAD-Plan der Architekten definierte Hügelform nach. Toleranz: plus / minus 5 Millimeter. Sie setzen sich aus rund 10 000 verschiedenen, 18 Millimeter dicken Einzelteilen zusammen. Immer 7 vertikale Konsolen bilden ein Gerüst, auf welche die Schaltafeln geschraubt sind. Sie werde plan angeliefert, ihre doppelte Krümmung entsteht bei der fixen Verschraubung mit den unterschiedlich hohen und schrägen Konsolen. Die Dimensionen der Tische (Quadrate von 2,50 auf 2,50 Meter) basieren in erster Linie auf der Tragfähigkeit der Gerüsttürme, welche mit maximal 20 Tonnen belastbar sind. Sie sind aber auch so bemessen, dass möglichst wenig Verschnitt aus den 2,50 auf 3 Meter grossen Ausgangsplatten entsteht.

Vom Plan auf die Fräse

Hätte man die Werkzeichnungen für die Schalungstische von Hand gezeichnet, wären dafür 10 000 Detailpläne nötig gewesen. Das ETH-Spin-off Designtoproduction hat den Fertigungsprozess abgekürzt, indem es die digitale Kette zwischen CAD-Plan und CNC-Fräse geschlossen hat. Die kleine Firma mit Sitz in Zürich und Stuttgart hat in einer ersten Phase die Detailgeometrien der Tische berechnet und in einer zweiten Phase diese in Fertigungsdaten umgewandelt, mit welchen die CNCFräse direkt angesteuert werden konnte. Aufgrund der Maschinendatensätze hat die auf Holzwerkstoffe spezialisierte Firma Kronoply aus Heiligengrabe in Deutschland die Einzelteile geschnitten und sie dann zu Rauh nach Uetendorf bei Thun transportieren lassen.

In der Werkstatt des Spezialisten für Betonschalungen haben die Arbeiter daraus die 1500 Schalungstische gebaut. Um den Transport von der Werkstatt auf die Baustelle möglichst effizient über die Bühne gehen zu lassen, baute Rauh ein spezielles Gestell auf die Ladefläche seines Lastwagens: So konnten 15 Tische pro Fahrt transportiert werden. 110 Arbeiter haben auf dem Campus der EPFL rund 30 Tische pro Tag aufgebaut. Nachdem sie die Tische, welche bereits werkseitig mit einer dünnen Kunststoffschicht überzogen wurden, zur grossen, weich gewellten Fläche zusammengesetzt hatten, gossen die Arbeiter die rund 5 Millimeter grosse Fuge zwischen den Tischen mit Silikon aus. Dann begannen die Eisenleger, die unzähligen Armierungseisen darauf zu verteilen. Die zwei Schalen wurden in zwei Etappen betoniert. Resultat langwieriger Tests war auch die Betonmischung: Sie durfte nicht zu flüssig sein, sodass der Beton nicht die ‹Hügel› hinunter fliesst. Sie durfte aber auch nicht zu zäh sein, weil der Beton teilweise 200 Meter gepumpt werden musste.

Und das Resultat? Der Wunsch der Architekten nach einer glatten, glänzenden Betonuntersicht wurde grundsätzlich erfüllt: Die 7500 Quadratmeter grossen Hügel kommen wie aus einem Guss daher und schlagen weiche und stufenlose Bögen. Anspruchslos ist die Ausführung der Oberseite, denn sie wird mit einem Hohlboden verdeckt werden. Wichtig ist jedoch die Untersicht. Hier ist aber nicht nur der Fugenraster sichtbar, sondern auch die Abdrücke der Löcher, welche die Schrauben auf den Holzplatten hinterliessen. Und wer genauer hinschaut, merkt auch, dass die Silikonfugen nicht so dicht waren, wie sie hätten sein sollen: Es drang Wasser ein und liess die Kanten der Schalungstafeln leicht aufquillen. Die Folge: Die mäulchenförmigen Einrisse hinterliessen kleine Rümpfe entlang der Fugenlinie.
http://learningcenter.epfl.ch

15. September 2008 hochparterre

Eine Hülle licht und dicht

Die Umnutzung des Sulzer Areals in Oberwinterthur geht langsam, dafür nachhaltig voran. Einer der Pioniere auf der Industriebrache ist die Überbauung Eulachhof. Nur erneuerbare Energien versorgen die 136 Wohnungen der ersten grossmassstäblichen Minergie-P-Eco-Siedlung. Schlüsselrolle beim «Null-Energie-Haus» spielen die lichtdurchlässigen Wärmedämm-Elemente der Südfassade.

Im Hochparterre 6-7/08 schrieb der Architekt Ueli Schäfer in seinem Artikel «Von Solar nach Polar», dass die Zeit der so genannten Solararchitektur abgelaufen sei. Sonnenfänger-Häuser mit ihren grossen Fensterflächen seien von Thermoskannen-Typen abgelöst worden, also Häuser bei denen die Wärmeschutz vor dem maximalen Sonneneinfall steht. Dietrich Schwarz, der sich auch seit Jahren mit Solararchitektur auseinandersetzt und sie bereits in mehreren Bauten umgesetzt hat, verfolgt einen anderen Weg. Das Verhältnis von Aussenhülle zu Volumen, sei zwar ausschlaggebend für die Energiebilanz, so Schwarz, doch der Weg zum energiesparenden Bauen führe nicht zwingend nur über die Thermoskanne, sondern liege in der Balance zwischen Sonnenfänger und Thermoskanne. Auf dem Sulzer-Areal setzt der Architekt seine These konsequent um.

Beim Eulachhof sind drei Dinge bemerkenswert: Erstens das intelligente Energiekonzept, zweitens die Wirtschaftlichkeit, drittens dass die Kombination der beiden keine Einbussen beim Wohnkomfort zur Folge hat. Zuerst das Energiekonzept. Es gehorcht mit seiner hoch isolierten Gebäudehülle, der Komfortlüftung, den Abluft- sowie Abwasser-Wärmepumpen im Boden und der Photovoltaik-Anlage auf dem Dach allen Regeln der Energiespar-Kunst. Doch Nachhaltigkeit und Energiesparen fängt bei Schwarz vor dem Haustechnik-Konzept an – bei der Gebäudeform und der Fassadengestaltung. Der Eulachhof ist vom Prinzip her ein Sonnenfänger. Er besteht aus zwei u-förmigen Riegeln mit jeweils einem sechsgeschossigen Hauptbau an dem zwei zweigeschossige Flügel hängen. Diese beiden Klammern bilden zusammen eine Art einseitigen Blockrand, der sich fast exakt gegen Süden öffnet. Die Abstände zwischen den Hauptbauten bestimmte der Sonneneinfallswinkel am kürzesten Wintertag: Auch am 21. Dezember muss die Sonne noch direkt in die Erdgeschosswohnungen scheinen können.

Der Architekt verglast die Südfassade zu drei Viertel: «Der Solargewinn auf der Südseite ist immer grösser, als der Transmissionsverlust, den ich nur bedingt durch dickere Isolation reduzieren kann», erklärt der Architekt. Die Überhitzungsgefahr der Wohnungen, die bei einem Fensteranteil von über fünfzig Prozent entsteht, geht Schwarz mit seiner eigenen Erfindung an: «Die Differenz zwischen den Prinzipien Sonnenfänger und Thermoskanne gleichen meine GlassX-Elemente aus», erklärt er. Insgesamt sind 910 Quadratmeter dieser lichtdurchlässigen Solarspeicherwände an der Südfassade verbaut. Sie sehen von aussen aus wie Gläser aus Kunststoff-Stegplatten, innen wie blinde Scheiben. Im ersten Zwischenraum der Vierfach-Gläser ist innerhalb der Gasfüllung eine Prismenplatte eingebaut, welche die hoch stehende Sommersonne reflektiert, die Wintersonne aber durch lässt. Im zweiten Zwischenraum liegt eine weitere Gasfüllung, im dritten ein so genannter Latentspeicher, ein in Polykarbonatbehältern eingeschweisstes Salzhydrat, das solare Energie aufnimmt, speichert und zeitverzögert als Strahlungswärme in die Wohnungen wieder abgibt. Nur dank dem kontrollierten solaren Energieüberschuss, den die High-Tech-Wärmespeicher produzieren, erreicht Schwarz die von Minergie geforderte Wärmebilanz über die gesamte Gebäudehülle. Der Eulachhof ist also Mischung aus Thermoskanne und Sonnenfänger, was sich positiv im Wohnkomfort äussert, konkret in grossen Fenstern statt Gucklöchern gegen Norden.

Dass die Überbauung kein Experiment von Öko-Gutmenschen ist, zeigen die Renditeüberlegungen der beiden Besitzer Allianz Suisse und Profond. Die beiden Grossinvestoren haben das Projekt der Allreal Generalunternehmung abgekauft. Sie rechnen, laut der Zeitschrift Faktor, kurzfristig zwar mit einer Minderrendite von 0.3 Prozent gegenüber einem konventionellen Neubau, aber immer noch mit einer Nettorendite von vier Prozent. «Je höher die Energiepreise steigen, umso interessanter werden die Wohnungen für die Mieter. Wir können also mit tieferen Leerständen rechnen» lässt sich Rainer Gfeller von der Allianz in der Zeitschrift zitieren. Die fünf bis zehn Prozent Mehrkosten, die beim Minergie-P-Eco-Standard entstehen, bezahlen die Mieter gut zur Hälfte. Sie profitieren dafür von tiefen Nebenkosten – für viele ein wichtiges Entscheidungskriterium, vor allem wenn sie planen, länger im Eulachhof zu bleiben. Konkret beträgt bei einer Viereinhalb-Zimmer-Wohnung die Nebenkostenpauschale 130 Franken pro Monat – inklusive Kabelanschlussgebühren notabene.

Schwarz musste, um Kosten zu sparen, zwar ein paar Gestaltungs-Kompromisse eingehen, beispielsweise die lieblose und billige Ausgestaltung der Treppenhäuser oder die klobige Ausführung der Schiebewände in den Wohnungen, doch konnte er den Generalunternehmer auch von architektonischen Details überzeugen, die normalerweise nicht auf dem Tagesprogramm von Allreal stehen: Der Architekt motivierte seinen Auftraggeber beispielsweise dazu, nur je zwei Wohnungen pro Geschoss mit einem Treppenhaus zu erschliessen, was sechs Liftanlagen für 62 Wohnungen bedeutet. Die Mehrkosten dafür spart er durch effiziente Wohnungsgrundrisse und konsequent zweiseitig belichtete Einheiten ein: Im Eulachhof haben die Wohnungen keine Korridore und alle Einheiten haben von der Süd- bis zur Nordfassade durchgehenden Wohn-Ess-Räume. Auch die 2.60 Meter Raumhöhe sind bei einem GU nicht Standard. Doch auf die Gesamtkosten von 55 Millionen Franken gerechnet, schlägt die überdurchschnittliche Raumhöhe kaum zu Buche, die höhere Wohnqualität, die vor allem in den 15.5 Meter langen Wohn-Ess-Räumen daraus erwächst, hingegen schon.

Energiesalon

Der Eulachhof – zusammen mit weiteren Bauten im Spannungsfeld zwischen Nachhaltigkeit und Architektur – ist auch Thema des Energiesalons. Diese Veranstaltungsreihe führt Täter, Expertinnen und Forscher aus unterschiedlichen Disziplinen zusammen. Sie reden über Innovationen im Bereich Architektur und Nachhaltigkeit, stellen Projekte, Erfahrungen und Denkweisen vor und tauschen Wissen aus. Der Energiesalon ist eine Initiative von Hochparterre, dem Architekturbüro Bob Gysin und der Firma Energiekonzepte. Die Veranstaltungsdaten: 24.9., 22.10., 12.11. und 3.12., jeweils 18 Uhr in der Galerie Bob Gysin in Zürich.
Der Energiesalon wird unterstützt von Archimedia, Zumtobel, Bundesamt für Energie, Gasser Passivhaustechnik, Erne und Alternative Bank.
Infos und Anmeldung: www.hochparterre.ch/energiesalon

Energiekonzept

Die Energien, welche die 20000 Quadratmeter grosse Energiebezugsfläche des Eulachhofs verbraucht, sind zu 100 Prozent erneuerbar. Die Heizungs-Wärmepumpe wandelt warme Abluft aus den Wohnungen in Heizungswärme um, Wasser für Küche und Bad wird mit einer Abwasser-Wärmepumpe erwärmt. Die Spitzen-Verbrauchszeiten deckt ein Anteil von 20 Prozent Heizenergie aus der Kerichtverbrennungsanlage. Der Abfall, den die Bewohner produzieren (180 kg/Jahr/P), produziert bei seiner Verbrennung mindestens viel Wärme, wie der Eulachhof zu Spitzenlastzeiten zusätzlich verbraucht. Die Photovoltaikanlage auf dem Dach deckt den Strombedarf der Wärmepumpen und des Lifts, Treppenhausbeleuchtung und Lüftung, nicht aber der einzelnen Wohnungen.

15. September 2008 hochparterre

Tarn-Architektur

An der alten Dorfstrasse in Wiesendangen ist die Welt noch in Ordnung: Ihr entlang stehen alte, gut erhaltene Wohn- und Bauernhäuser, dahinter Ökonomiegebäude in Nutzgärten. Das neue Kirchgemeindehauses ist eine Antwort auf diese ‹heile› Siedlungsstruktur: Die Architekten entwarfen eine massive Betonkonstruktion, die sich als leichte Holzscheune gibt. Das Resultat ist frappant: Das Haus passt sich so gut in die Umgebung ein, dass man das Gefühl hat, es sei schon immer da gewesen. Im Vergleich zur Scheune lassen die Holzlamellen jedoch Blicke und Licht ins Haus hinein und auch hinaus. Vor allem am Abend wirkt das beleuchtete Haus leicht und luftig. Im Erdgeschoss, wo Foyer und Café liegen, ist der Abstand der Lamellen breit und die Schiebefenster gross. Gegen oben werden die Räume privater, die Fenster kleiner und der Lamellenraster enger. Der Entwurf ist aber nicht nur formal elegant, sondern auch funktional: Um die Holzfassade vor dem Regen zu schützen, lassen die Architekten jedes Geschoss 15 Zentimeter über das darunter liegende auskragen. Wie bei den Nachbarhäusern schützen diese ‹Vordächer› die Fassade vor dem Regen.

Willkommener Nebeneffekt: Sie lassen das Volumen kleiner erscheinen. Ein gekonnter vertuschter ‹Ausrutscher› ist das asymmetrische Walmdach. Es passt sich perfekt in die Gibel-Dachlandschaft ein – der Grund für die Form ist aber ein anderer: Sie versteckt die Lift-Überfahrt am besten.

6. August 2008 hochparterre

Die Rauminstallation

Es gibt Modemacher, die stellen ihre Kleider aus wie Preziosen: Mit warmem Licht lassen sie Stoffe wie Edelmetalle leuchten, präzis verlaufende Schatten ziehen die eleganten Schnittlinien nach, ausgesuchte Farben komponieren abstrakte Bilder. Nicht so Ida Gut. Die Zürcherin eröffnete vor 14 Jahren ihr eigenes Geschäft, nun hat sie sich im 300 Quadratmeter grossen Erdgeschoss einer ehemaligen kleinen Fabrik eingerichtet. Es ist Verkaufsraum, Atelier und Lager in einem. Der Grundriss bietet eine konkrete Raumerfahrung: Im Plan flattern flügelförmige Formholz-Wände entlang eines luftigen Dreiecks. Im Zentrum der Verkaufsraum, auf der einen Schenkelseite das Atelier, auf der anderen das Lager und im schmalen Zwischenraum sind die Garderoben untergebracht. Aus der Perspektive der Kundin ist der Raum weniger durchlässig, als er auf dem Plan wirkt: Die wellenförmigen Elemente ziehen einen förmlich in den Raum, verstecken aber auf der Eingangsseite die Kleider. Die Kundin erlebt zuerst den Raum und findet nachher die Produkte. Die Kleider hängen fast beiläufig zwischen den Flügeln, wo auch die Decken- und Punktstrahler untergebracht sind.

18. Juni 2008 hochparterre

Residenz auf Zeit

1902 eröffnete der holländische Unternehmer Jan Holzbur auf der Schatzalp oberhalb Davos ein Luxussanatorium. Das heutige Hotel Schatzalp ist ein Bau der Zürcher Architekten Pfleghard & Haefeli. 1907 lässt Holzbur für den leitenden Arzt gleich nebenan die herrschaftliche Villa Guarda bauen. Der kompakte, ortstypisch verputzte Massivbau gibt sich halbmodern: Ihn krönt zwar ein modernes Flachdach, es liegt aber immer noch auf einem traditionellen Sgraffiti-Dachfries auf. 2007 haben die neuen Besitzer des Hotels die Villa ins 21. Jahrhundert überführt, das heisst, in eine 235 Quadratmeter grosse Suite für WEF-Gäste, Geschäftsleute oder Familien umgebaut. Sie haben das Haus in eine Arbeits- und eine Wohnetage unterteilt. Im Erdgeschoss gibt es wohnliche Sitzungszimmer, eine Kaminecke und ein Arvenstübli. Alt und Neu gehen nicht ineinander über, die Eingriffe bleiben nachvollziehbar, nur die Technik bleibt unsichtbar. Das Obergeschoss atmet weniger Business-Charme, hier liegt ein weites Wohn- zwischen zwei grosszügigen Schlafzimmern mit – zumindest bis der Schatzalpturm von Herzog & de Meuron gebaut ist – dem schönsten Hotelblick von Davos.

18. Juni 2008 hochparterre

100 Villen für den Milchmogul

In Ordos, der Provinzhauptstadt der inneren Mongolei, planen derzeit 100 Architekten aus aller Welt 100 Villen in 100 Tagen. ‹Ordos 100› heisst die kuriose Architekturolympiade im Auftrag eines mongolischen Milchmoguls. Im April war Ortstermin, Hochparterre war dabei.

«‹Ordos 100› ist eine grossartige Chance, China kennenzulernen, und eine tollkühne Performance des Individualismus der westlichen Welt», fasst Jachen Könz das Projekt zusammen. «Spannend finde ich auch den von Ai Weiwei und seinem Team aufgespannten Rahmen: Er macht kaum Vorgaben und garantiert grosse Freiheiten», meint der Bündner Architekt mit Büro in Lugano. Auch Reto Pedrocchi schwärmt: «‹Ordos 100› ist eine Utopie, wie sie derzeit nur in China realisiert werden kann.» Der Basler freut sich über die für ein junges Büro einmalige Chance: «Wir können spannende Erfahrungen in einem völlig fremden kulturellen Kontext sammeln und erst noch ein Haus bauen. Gleichzeitig ist die Vorgabe, dass man bereits das Vorprojekt inklusive Urheberrechte nach 100 Tagen aus der Hand geben muss, ein gutes ‹Höhentraining› für die Architektenpraxis in der Schweiz.» Für Simon Hartmann, vom Basler Büro HHF, steht noch ein weiterer Punkt im Vordergrund: «Anlässlich von ‹Ordos 100› lernen wir 99 andere Büros aus der ganzen Welt über ihr Werk, viele sogar persönlich kennen. Das Projekt ist deshalb auch eine ausserordentliche Gelegenheit, über Architektur zu diskutieren und freundschaftliche Beziehungen zu knüpfen.» Dass bei den Beteiligten kaum Kritik zur absurden Architekturveranstaltung zu hören ist, die eher Züge einer Kunstperformance trägt, überrascht nicht. Überraschend ist eher die Offenheit – oder ist es Naivität? –, mit der die meisten Teams der Einladung nach China folgten. Sie erhielten Ende 2007 eine E-Mail, die das Projekt nicht einmal skizzenhaft umriss, und mussten innert zehn Tagen zusagen. Honorar: 25 000 Euro für ein überarbeitetes Vorprojekt für eine 1000-Quadratmeter-Villa inklusive Urheberrechte.

Viel Geld und politische Rückendeckung

Doch beginnen wir von vorne, also bei Cai Jiang. Der Mongole spielt die Hauptrolle im kuriosen Stück – er ist der Bauherr. Der 40-Jährige ist ein zurückhaltender, makellos gekleideter Geschäftsmann mit Ziegenbärtchen und schwarzer Mercedes V-12-Limousine, einem 3000-Euro-Handy in der einen und einer kubanischer Zigarre in der anderen Hand. Von sich selbst sagt er, dass er seine Karriere begonnen hat, indem er mit Russen Kaschmir- und Süsswasserperlen gegen recyclierten Stahl getauscht habe. Heute führe Cai Jiang ein verzweigtes Rohstoff-Imperium. Das Nachprüfen, ob das stimmt, ist sowohl für die Architekten wie auch für den Journalisten ein Ding der Unmöglichkeit. Der Mongole besitze unter anderem eine der grössten Milchfarmen Chinas mit 50 000 Stück Vieh an der nördlichen Grenze zur Mongolei. Das wiederum kann stimmen, denn in seinem Privatmuseum steht ein Foto, das den Business-Bauern auf seiner Farm Arm in Arm mit dem chinesischen Ministerpräsidenten Wen Jiabao zeigt. Cai Jiang hat also nicht nur Geld im Überfluss, sondern auch die nötige Rückendeckung von ganz oben.

Wie es sich für einen kultivierten Neureichen gehört, sammelt der schlanke Chinese seit einigen Jahren zeitgenössische Kunst und lernt dabei – wenn einer das seriös tut, kommt er kaum um ihn herum – den voluminösen Ai Weiwei kennen. Der wiederum ist nicht nur Künstler, sondern auch (ungelernter) Architekt und hat sich in den letzten Jahren zu den weltweit einflussreichsten Persönlichkeiten in der Kunst- und Architekturszene hochgearbeitet. Und weil Cai Jiang nicht nur mit Rohstoffen handelt, sondern auch im Immobiliengeschäft tätig ist, beauftragt er den Pekinger Künstler, der ‹Architektur als Hobby› betreibt, neben seinem Privatmuseum für Kunst und Architektur in Ordos Künstlerateliers zu bauen. So wurde aus der spinnigen Idee eine Realität: Das Museum wurde letztes Jahr eröffnet, Ai Weiweis elegante Artist-in-residence-Studios bekamen ihren letzten Schliff im April dieses Jahres. Beide Bauten sind die ersten realen Vorboten eines 1 460 000 Quadratmeter grossen ‹Creative Industry Park›, der rund um diese beiden ersten Leuchttürme herum entstehen soll. Die Investitionskosten gibt der Geschäftsmann mit 4,5 Milliarden Renminbi an, umgerechnet 650 Millionen Franken. Das Quartier für die noch in die innere Mongolei zu lockende Kreativ-Industrie soll aus Konzertsälen, Akademien, Theater, Filmstudios, Wohnungen und Büros bestehen. Und eben den 100 Luxusvillen, welche Cai Jiangs Yuan Water Engineering Company als Teil des Parks realisieren will. Das Budget für eine dieser 1000-Quadratmeter-Villen beträgt umgerechnet eine halbe Million Franken, der ganze Villenpark soll 50 Millionen Franken kosten. Cai Jiang will alle Villen bis Ende 2009 gebaut haben und sie für rund 1,5 Millionen Franken an örtliche Geschäftsleute verkaufen, die sie entweder selbst als Wohnhäuser oder als Gästehäuser für wichtige Kunden oder Geschäftspartner brauchen.

Und wie kam die ominöse Liste der 100 ‹Avant-Garde-Architekten› (Artforum) zusammen? Sie hat, wegen ihrer geografischen Unausgeglichenheit und des fehlenden Praxisnachweises einzelner Teams für bissige Kommentare in verschiedenen Architekturmedien (HP 4/08) gesorgt. Zusammengestellt hat sie Herzog & de Meuron, die bereits am Olympia-Stadtion mit Ai Weiwei zusammengearbeitet haben. Den verhältnismässig hohen Anteil an Schweizer beziehungsweise Basler Büros erklärt Jacques Herzog in der New York Times lapidar: «Die Zusammenstellung ist keine Aussage über ein Land, sondern ein Abbild unseres eigenen Netzwerks.» Voraussetzung für eine Einladung war also ein persönlicher oder professioneller Berührungspunkt mit dem Basler Büro: Eingeladen wurden ehemalige Mitarbeiter, Assistenten des ETH Studios Basel, Kollegen aus dem Lehrkörper in Harvard, Freunde von Freunden. Dass einige, vor allem amerikanische Architektinnen und Architekten, die vornehmlich in der Lehre und Forschung tätig sind, noch nie gebaut haben, ist für Simon Hartmann kein Ausdruck von Gefälligkeit: «Offensichtlich zählten bei der Auswahl nicht nur gutschweizerische Werte wie Praxiserfahrung und Werkliste, sondern auch andere Dinge, beispielsweise akademische Erfahrungen.»

Bauen in China?

«Wir haben lange diskutiert, ob wir bei der Aktion mitmachen oder nicht», antwortet Anne Marie Wagner auf die derzeit in deutschen Feuilletons heiss diskutierte Frage, ob man als westliche Architektin in einem Land mit einem politischen System wie China bauen darf. «Aber was haben wir davon, wenn wir nicht mitmachen? ‹Ordos 100› ist auch eine Gelegenheit, sich vor Ort ein eigenes Bild zu machen, sich mit dieser Frage direkt zu konfrontieren. Ausserdem bauen wir nicht für die Staatsmacht, sondern für chinesische Oligarchen. Und im Unterschied zu anderen Vorhaben dieser Art stehen Ai Weiwei und Herzog & de Meuron als Kuratoren für das Projekt.» Ähnlich sieht das Luca Selva: «Wir haben im Vorfeld, soweit es uns möglich war, recherchiert, wer der Bauherr ist. Cai Jiang ist ein Financier, wie es sie hier auch gibt. Er hat ein privates Wohnhausprojekt lanciert, an dem einige Fragen der Stadtentwicklung dranhängen.» Für den Basler ist klar: «Der Architekt ist immer Komplize, denn bauen tut nur, wer Geld und damit Macht hat. Das ist im Westen wie auch in China so.» Simon Hartmann doppelt nach: «Der Diskurs ‹Bauen in China – ja oder nein› ist interessant.» Aber die Basis, sich ein Urteil über den Bauherrn oder den sozialen und politischen Kontext zu bilden, sei wacklig. Architekten sähen nur selten, woher das Geld für ein Bauvorhaben wirklich komme, und trotzdem bauen sie, so Hartmann. «Der Ort als Kriterium für moralische Fragen erscheint mir ziemlich unbrauchbar. Ist ein Resort in den Schweizer Alpen a priori moralisch unbedenklicher als ein Projekt in China oder in den USA?»

Vorstadt in der Wüste

Und wie stellen sich die Teilnehmer zur Übungsanlage, also zum Verfahren, das keinen Kontext erzeugt, weil alle Architekten praktisch gleichzeitig und ohne Austausch an ihren Projekten arbeiten? Oder zum von Ai Weiweis Büro Fake Design dürftig ausgearbeiteten Masterplans, der nicht viel mehr als ein einfacher Raster von Bauparzellen ist? Viele Teilnehmer waren denn auch sichtlich schockiert, als sie zum ersten Mal das Ensemble der 28 niedlichen Modelle sahen, welche die Teilnehmer der ersten Phase ins Masterplanmodell in Ordos einsetzten. Sie bilden nicht etwa eine elegante Villensiedlung, sondern einen laut brüllenden Architekturenzoo. Sie formen eine Nachbarschaft, die in der Schweiz als Vorzeigebeispiel für schlechten Städtebau gelten würde. Es scheint, dass jeder einzelne der 28 Architekten der ersten Phase den – notabene unausgeschriebenen – Preis für Originalität gewinnen wollte und dabei deutlich übers Ziel hinausschoss. Die hohe Dichte – gefordert sind absurde 1000 Quadratmeter pro Villa auf Grundstücken mit einer Fläche von 1200 bis 2200 Quadratmetern – trägt das ihre zum traurigen Gesamtbild bei. «Es geht um die Erfindung von Suburbia. Was in unserer freiheitlichen Welt als Folge individueller Rechte entstanden ist, wird von Ai Weiwei geplant. Vorstadt ist für uns negativ behaftet, für die Chinesen positiv», meint Könz lakonisch. Mehr Mühe habe er mit der vorgegebenen Dichte: «Für ein Villenviertel sei sie zu hoch, für ein Stadtquartier zu niedrig.» Auch Reto Pedrocchi moniert den rigiden Masterplanentwurf: «Es wird ein Villenviertel entstehen, das an eine Semesterarbeit zum Thema Villa in der Vorstadt erinnert. ‹Ordos 100› wird eine Ansammlung von Einzelobjekten, eine Art Architekturausstellung. Wir konzentrierten uns deshalb auf den Innenraum.» Für Simon Hartmann ist klar: «‹Ordos 100› ist vielmehr Kunst- als Architekturprojekt – eine clevere Marketingstrategie, die bewusst auf unkontrollierte Diversität setzt.».
Der aus Architektensicht unausgereifte Masterplan überzeugt vor dem künstlerischen Hintergrund von Ai Weiwei: «Ich kenne meine eigenen Grenzen und wollte nicht, dass sie das Projekt limitieren», verteidigt sich der Künstler, «zudem gibt es für mich keine Grenzen in der Architektur, weder positive noch negative. Ordos ist eine ausserordentliche Gelegenheit, etwas zu lernen und seinen Horizont zu erweitern.» So sieht das auch Anne Marie Wagner: «Die wenigen Vorgaben erzeugen so viele Freiheiten, wie wir sie als Architektinnen selten geniessen. ‹Ordos 100› erwartet von uns eine gute Antwort, wie wir mit diesen Freiheiten umgehen. Wir nutzen die Gelegenheit für eine Selbstanalyse: Wir beobachten uns beim Entwerfen, fragen uns, wieso uns etwas fasziniert, und versuchen, daraus zu lernen.» Die ungewöhnlich grosse Entwurfsfreiheit, mit der viele der eingeladenen Architekten hadern, hat am Schluss vielleicht doch mit dem Ort zu tun, mit der grenzenlosen Weite der mongolischen Wüste.

[Roderick Hönigs Chinatagebuch und weitere Bilder unter: www.schweizblog.hochparterre.ch/architektur/hochparterres-china-tagebuch-1-tag.html]


Interview mit dem Künstler Ai Weiwei

Der Künstler Ai Weiwei hatte für die Kunst-Performance ‹Fairytail› an der letztjährigen Documenta 1001 Chinesen nach Kassel eingeladen. Dieses Jahr organisiert er ‹Ordos 100›. Roderick Hönig sprach mit ihm in China.

Ist ‹Ordos 100› die Umkehrung von Fairy-tail, also eine Kunstperformance?
‹Ordos 100› ist keine Performance. Der grosse Unterschied zu einer Kunstaktion ist, dass die Architekten hier einen Gebrauchsgegenstand für einen Bauherren entwerfen. Richtig hingegen ist: Ich bin Künstler und kein Architekt. Und weil nun viele Menschen das Gefühl haben, dass ich solche Projekte gut manage, beginne ich selbst zu zweifeln, ob ich überhaupt ein Künstler bin.

Um was geht es bei ‹Ordos 100›?
Für ‹Ordos 100› habe ich Architekten aus verschiedenen Kulturen eingeladen, sich mit China, mit Ordos und mit den anderen 99 Teams auseinanderzusetzen. Dass sie im vergangenen April alle in Ordos zusammentrafen, zwang sie dazu, miteinander zu kommunizieren. Und Kommunikation hilft, Grenzen zu überwinden, und löst sehr viele Probleme. Wichtig ist mir auch, dass die 100 Architekten merken, dass sie als Individuum nur ein Prozent der Masse ausmachen. Das verändert ihre Selbstwahrnehmung.

Was war zuerst: Der Bauherr Cai Jiang oder Sie mit der Projektidee?
Cai Jiang und ich kennen uns schon eine Weile. Aber der Kontakt ist lose: Er ist Geschäftsmann und ich Künstler. Ich habe die Ateliers neben seinem Museum gebaut. In der Folge schlug ich vor, für die Villen 100 Architekten aus der ganzen Welt anzufragen. So einfach war das.

Wie nutzen Sie das Projekt?
‹Ordos 100› ist für mich die Gelegenheit herauszufinden, wie wir ausländische Wissensressourcen effizient nutzen können. Im Westen wird viel mehr über Architektur nachgedacht, als gebaut. In China ist es genau umgekehrt. Anlässlich meiner Zusammenarbeit mit Herzog & de Meuron beim Olympiastadion habe ich gelernt, was es braucht, damit ein gutes Projekt entsteht und wie ein Architekturprojekt die aktuelle gesellschaftliche Situation verändern kann. Kurz, ich profitiere von den Kontakten und von den interessanten Gesprächen, die Architekten haben einen Auftrag und der Bauherr Cai Jiang macht ein Geschäft.

Einverstanden, Sie, der Bauherr und die 100 eingeladenen Teams profitieren. Wo aber profitieren chinesische Architekten?
Wie ich schon sagte, in China wird im ganz grossen Massstab gebaut, aber es wird ganz wenig oder einseitig darüber diskutiert. ‹Ordos 100› wird ein eigener Beitrag zur Architekturdiskussion in China werden.

Um die Diskussion zu lancieren, müssen Sie das Projekt kommunizieren. Wie sehen ihre Vermittlungspläne aus?
Im Informationszeitalter ist es eher schwer zu verhindern, dass so ein Projekt nicht die Runde macht. Als Sender werden die 100 Teams aus über 30 Nationen wirken. Sie werden ihre Erfahrungen aus China in ihre Projekte, aber auch in ihre Lehrtätigkeit einfliessen lassen.

Was ist für Sie wichtiger: der Prozess oder das Resultat?
Der Prozess ist wichtiger. Aber auch viele Architekten haben mir bestätigt, dass sie diese Gelegenheit, andere Architekten persönlich zu treffen und mit ihnen über ihre Arbeit und Architektur zu sprechen, sehr genossen haben.

Während der Fragerunden und Diskussionen haben die Architekten heftig über den ‹Architekturenzoo› debattiert, der entstehen wird. Waren Sie auch schockiert, als die das wilde Nebeneinander der Häuser zum ersten Mal sahen?
Für mich gibt es keine Grenzen in der Architektur. Weder positive noch negative. Die negative Bezeichnung ‹Architekturenzoo› hat für mich keine Bedeutung. Ich frage mich viel lieber, ob der heutige Tag eine Bedeutung hatte für mich oder nicht. Ich bin ein Pragmatiker: Lieber einen Architekturenzoo bauen, als darüber lästern und ihn nicht bauen. Diskutieren können wir ewig, nur wer baut, muss eine Entscheidung treffen. Noch einmal: Ordos ist eine ausserordentliche Gelegenheit, etwas zu lernen und seinen Horizont zu erweitern. Die Alternative ist der «sichere» Arbeitsalltag zu Hause.

Wie finden Sie die ersten 28 Entwürfen?
Die Formen möchte ich nicht kommentieren. Ich will nicht den Geschmack der Architekten kritisieren, sondern die Gebrauchstauglichkeit ihrer Entwürfe. Spannend finde ich, wie die Gestalter mit den vielen Freiheiten und den wenigen Randbedingungen umgegangen sind: Wie haben sie eine andere Kultur verstanden, welchen Respekt haben sie dem fremden Ort entgegengebracht.

Was meinen Sie mit Respekt?
Unter Respekt verstehe ich, dass die Architekten ein Haus entwerfen, das den Verhältnissen der Zeit und des Orts entspricht. Sie sollen aber etwas probieren, das sie in ihrem heimatlichen Arbeitsalltag nicht probieren würden.

Wie haben die Architekten auf ihre offene Fragestellung geantwortet?
Ich wollte möglichst wenige Randbedingungen aufstellen. Denn ich kenne meine Grenzen und wollte nicht, dass sie das Projekt limitieren. Einige Architekten haben gemerkt, um was es mir geht, andere werden es nie merken.

‹Ordos 100› wäre auch eine gute Gelegenheit gewesen, ein Statement zum energieeffizienten Bauen zu machen. Nachhaltiges Bauen ist kein Thema. Wieso?
Energieeffizienz und Nachhaltigkeit sind nur zwei von vielen Antworten. Die Kritik aus dem Westen tönt immer gleich: Architektur in China erreicht das westliche Komfort-Niveau nicht. Gleichzeitig kritisieren viele Westler, dass chinesische Bauten nicht effizient mit Energien umgehen. Unser Beitrag zur Umwelt-Diskussion ist, dass die 100 Teams viel einfachere und viel billigere Häuser als in Europa bauen werden. In Europa oder in den USA kostet das Bauen rund sechs Mal mehr als in China.

Würden Sie in einer der Villen wohnen?
Jede der geplanten Häuser wäre gut für mich! Jeder Raum kann bedeutungsvoll sein.

19. Mai 2008 hochparterre

Künstlerischer Grundbruch

Der Architekt Hans Zwimpfer hat ein Flair für Kunst. Das hat er mit den Auftragsarbeiten an Roni Horn, Beat Zoderer oder François Morellet anlässlich seiner Peter-Merian- und Jacob-Burckhardt-Bürohäuser am Bahnhof Basel bewiesen. Kunst-und-Bau spielt auch bei der ersten PileUp-Überbauung eine Rolle, die in Rheinfelden entstanden ist. Dort hat Katja Schenker (HP 12/05) den Innenhof gestaltet. Die Künstlerin hat Zwimpfers Stapel-Idee ernst genommen und von einer Geologin berechnen lassen, wie viele Wohnungen man übereinander stapeln müsste, bis es zum Grundbruch käme. Es sind 1589. Die Erdverwerfungen eines solchen Grundbruchs hat sie nun mit diesem ‹Garten› nachgebaut. Nach einem Lehmmodell hat sie die flachen ‹Hügelzüge› entlang der parallelen Hoffassaden mit Misapor-Blähglasschotter geformt und mit einem farbigen Moosteppich überzogen. Zwischen den beiden ‹Moränen› hat die Künstlerin in Handarbeit aus 8000 farbig lasierten Keramikplatten eine Fläche entstehen lassen, die vom Balkon aus einem Satellitenbild einer Landschaft gleicht und ebenerdig als Gehweg zum Rheinufer funktioniert.

8. April 2008 hochparterre

Adlerhorst aus Glas

Staatsarchiv klingt nach einem stattlichen und zentral gelegenen Gebäude. Doch dieses kollektive Gedächtnis des Kantons Baselland liegt mitten in einem harmlosen Wohnquartier auf der ‹falschen›, der Liestaler Altstadt gegenüberliegenden Seite des Bahndamms. Obwohl im Wettbewerbsprogramm explizit ausgeschlossen, schlugen die Architekten zur Verdoppelung der Fläche eine Aufstockung vor und lösten damit mehrere Probleme auf einen Schlag. Das daraus resultierende Attikageschoss aus Glas macht das Haus zu einem offensichtlich öffentlichen Gebäude. Der Adlerhorst schafft helle Arbeits- und Leseplätze mit Weitblick für Personal und Besucher und bindet das Haus, zumindest visuell, ans Stadtzentrum an. Von hier sieht man über den Bahndamm hinweg. Konsequenz der Aufstockung ist ein unbemanntes Entree, doch in der zweigeschossigen Eingangshalle erwartet die Besucher ein architektonisches Feuerwerk: Fein horizontal gerillte Betonwände geben dem Raum so viel Schwung, dass man meint, die Wendeltreppe beginne gleich zu drehen.

16. Januar 2008 hochparterre

Denkmalpflege zeichnet mit

Auf einer Anhöhe über dem südlichen Genferseeufer liegt das parkähnliche Areal eines ehemaligen Gutshofs mit weitem Blick über See und Stadt. Mitten auf dem Grundstück steht eine nach Süden voll verglaste Orangerie, dahinter duckt sich ein eleganter Wohnwürfel in Sichtbeton. Das Projekt ist das Resultat eines kostspieligen Tauschgeschäfts zwischen Behörden und der alt eingesessenen Besitzerfamilie: denkmalpflegerische Restauration der verfallenen Orangerie gegen Neubaubewilligung. Da Geld keine Rolle spielte, schöpfte der Architekt aus dem Vollen und machte aus beiden Projekten ein Ganzes, unterteilt in einen Tag- und Nachtbereich. Die Orangerie ist lichtdurchflutete Küche, Ess-, Cheminée- und Wohnhalle in einem. Die Höhe der Pflanzenkübel, die früher hier standen, bestimmt ihr Bodenniveau und die Brüstungshöhe: Es liegt 60 Zentimeter unter beziehungsweise über dem Boden. Ein durch einen kleinen Patio belichteter Gang verbindet die Orangerie mit dem dahinterliegenden ‹Schlafhaus›. Die Zimmer und Bäder sind rund um eine zweiläufige Treppe auf zwei Geschossen organisiert. Das in die Erde versenkte Hauptgeschoss hat einen garagenartigen Eingang, doch anders hätte der Architekt dies nicht lösen können, da der Neubau von der Orangerie verdeckt wird.

16. Januar 2008 hochparterre

Harmlose Gletscherspalte

Herzog & de Meuron waren fünf Jahre mit dem Hotelier Urs Karli unterwegs auf Planungswanderung. Resultat ist der erste Hotelbau der Architekten und ein letzter Passstein in Karlis Hotelimperium. Das ‹Astoria› in Luzern sollte eine bewohnbare ‹Gletscherspalte› werden, doch nach Gletscherlicht, Eiskristallen und Gipfelerlebnis sucht man vergeblich.

Der Luzerner Hotelier- und Gastrounternehmer Urs Karli liess sich bereits 2000 von Jean Nouvel ‹The Hotel› bauen. Beim nur ein paar Schritte entfernten ‹Astoria› erteilte er den 23-Millionen-Franken-Auftrag wieder an Architekten mit Namen – Stararchitekten generieren Hotelnächte und erhöhen den Marktwert eines Hauses. Doch es scheint, dass Herzog & de Meuron mehr als Marketing-Etikett dienen, denn als Architekten. Es wundert deshalb nicht, dass die Basler beim Projekt den Gipfel nicht erklimmen konnten. Das Projekt bleibt in der durchaus spannenden Grundriss-Figur stecken. Karli, der sein Geschäft à coeur kennt, wollte die eierlegende Wollmilchsau: Herzog & de Meuron sollten für die nur 21 Meter breite und 34 Meter tiefe Blockrand-Parzelle zwischen Winkelriedstrasse und Kauffmannweg ein Passstück entwerfen, das möglichst viele Zimmer, ein Tageslicht-Kongress- und Seminargeschoss auf dem Dach und mehrere Küchen im Keller hat sowie die 150 Zimmer der drei bereits bestehenden Hotelbauten des ‹Astoria› mit einer zentralen Lobby verbindet. Herzog & de Meuron haben trotz minimalem städtebaulichen Spielraum eine originelle und auch funktionale Antwort gefunden. Sie füllen die wenig lichtverwöhnte Baulücke mit einer komplizierten Hoffigur, mit einem Glashaus, dessen vier tiefe, über die gesamte Gebäudehöhe verlaufende Einschnitte, sogenannte ‹Gletscherspalten›, Tageslicht bis in die unteren Geschosse holen. Die Raumskulptur ist nicht nur Lichttrichter, sondern verlängert auch die Fassadenlinie: Es gelingt den Architekten, 90 unterschiedliche Zimmer, natürlich belüftet und belichtet, entlang dieser ‹Gletscherspalten› aufzureihen – deutlich mehr, als wenn sie alle direkt auf die Strasse hin orientiert hätten. Noch spannender wäre, von der einen zur anderen Strasse durch das Haus zu laufen, was ursprünglich geplant war.

Soweit die Vorgeschichte. Die effiziente Ausnutzung der Parzelle und die geschickte Verknüpfung durch eine zentrale Lobby mit den Nachbarhäusern führen zwar zu kurzen Wegen, zu einem reibungslosen Hotelbetrieb und zu einem unverwechselbaren Haustyp, nicht aber zu besonderen räumlichen oder architektonischen Qualitäten. Die Erwartungen, welche die expressive Fassadenskulptur von aussen schürt, werden im Inneren nicht erfüllt. «Das ‹Astoria› ist ein interessantes Projekt, doch wir konnten aus Kostengründen viele unserer Ideen nicht realisieren», resümiert Jacques Herzog, «Das Konzept hätte eine radikale Umsetzung verlangt – dass wir die letzten Meter nicht gehen konnten, sieht man dem Projekt heute an. Vielleicht waren wir zu nachsichtig.»

Wo ist der Kofferlift?

Erster Berührungspunkt mit dem Hotel ist der Empfang. Die Art der Inszenierung der Ankunft definiert das Niveau der Gastfreundschaft, kein Hotelier bekommt eine zweite Chance auf den ersten Eindruck. Die Dramaturgie im ‹Astoria› und die Fassade orientieren sich an internationalen Vorlagen. Höhepunkt ist die gelbe Kaskadentreppe in Stein, welche die verspiegelte Glassschlucht an der Winkelriedstrasse herunterplätschert, ein Auftritt der funktioniert und beeindruckt: Die Treppe zur Lobby im ersten Obergeschoss (weil im Erdgeschoss eine Bar oder ein Restaurant entstehen soll) wird zur Bühne und sie markiert zeichenhaft den neuen Haupteingang im nachts von innen heraus leuchtenden Glasgebirge. Gleichzeitig verströmt die 2800 Quadratmeter grosse Fassade aber auch das Flair eines Hotel-Towers in Manhattan oder Shanghai: Grossflächige Spiegelgläser, gefasst von klobigen, glänzenden Chromstahlleisten verkleiden den Bau vollflächig. Sie reduzieren ihn auf ein markantes abstraktes Volumen und unweigerlich hebt man in der ‹Gletscherschlucht› den Kopf zum Himmel, was sicherlich einigen Gästen ein kleines «Ah» abringt. Ihre Tücken zeigt die internationale Schaufassade im Luzerner Alltag – und das nicht nur bei Regen: Rolltreppe und Gepäcklift haben die Architekten so gut versteckt, dass zumindest tagsüber – wer nicht weiss, dass sie sich hinter der Spiegelwand im Erdgeschoss befinden – der Gast entweder den Koffer mühsam ins Obergeschoss schleppt oder darauf hofft, dass ihm jemand den Geheimgang zum Kofferlift zeigt. Hat man diese Hürde einmal geschafft, wird die erste Etappe der Gletscherwanderung aber nicht mit einem Ort der persönlichen, opulenten und warmen Gastlichkeit belohnt, sondern mit einer unterkühlten, klinisch weissen (eben nicht schnee- oder gletscherweissen) Hotellobby. Sie geniesst zwar dank des rückseitigen Einschnitts viel Tageslicht und durch die doppelte Raumhöhe einen weiten Atem, doch ist sie hilflos mit drei grauen Ledersofas und einer modisch-organisch geformten Reception möbliert, die auf einem Lichtband schwebt: Ihr steriler Charme erinnert eher an den Warteraum einer Zahnarztpraxis als an die Hotelhalle eines Viersternehotels. Die Sperma-Lampen, die lustlos von der Decke hängen, und der kalte Steinboden unterstreichen – gewollt oder ungewollt – die medizinischen Assoziationen. Kurz, zum Verweilen, zum Tee trinken oder zum Zeitunglesen lädt dieser Ort nicht ein.

Fliessende Schlaf- und Badelandschaft

In den Gängen der oberen Geschosse wird der geschliffene Terrazzoboden der Lobby von einem schwarz-grauen Leoparden-Teppich abgelöst, wie er auch in den Büroräumen der Neuen Zürcher Zeitung am Boden liegt. Hier erinnert auch mit viel Vorstellungskraft nichts mehr an die Gletscherwelt, die aussen und in der Lobby angetönt wurde. Die 90 neuen Zimmer sind im Normalfall einseitig raumhoch verglast, in den Spitzen gegen die Strassen hin sogar dreiseitig. Weiss ist auch hier das erste Farbthema, nur der Boden ist mit einem rotbraunen Kirschholz-Parkett ausgelegt. Die Bäder sind – so ein neuer Trend in der Hotellerie – vom Schlafzimmer nicht räumlich abgetrennt, sondern befinden sich in einer offenen, weiss gekachelten Nische hinter dem Bett. Die fliessende Schlaf- und Badelandschaft verleiht den eher kleinen Zimmern zwar Grosszügigkeit, das Geruch- und Privatsphäreproblem des offenen WCs bleibt hingegen ungelöst. «Wir haben die Bäder als dunkle Gruften geplant, sie hätten im Kontrast zur kristallinen Zimmerwelt stehen sollen. Das Möblierungskonzept sah unzählige Einzelstücke vor, die sich an den spannendsten Berghotels orientierten, doch am Schluss blieb dafür zu wenig Geld», erklärt Jacques Herzog.

Kein Spiel mit Transparenz

Wer aber beurteilen muss, wie die Zimmer heute daherkommen, der wundert sich nicht über die Möblierung, sondern darüber, dass die zur Lichtumlenkung in die Tiefe trichterförmig geneigte Fassade aus 437 verschiedenen Einzelteilen in den Zimmern erstaunlich wenig Thema ist. Das hat mit ihrer Effektivität zu tun, die kaum wahrnehmbar ist, da Vergleichswerte fehlen: Die Gläser sind zwar mit einer lichtreflektierenden Schicht versehen, doch sie lenken das Licht – ausser über Mittag, wenn sich kaum jemand im Zimmer aufhält – wenig spürbar in die Tiefe. Das hat zu Folge, dass man weniger die Lichtlenkwirkung wahrnimmt als ihre Randbedingung: die Nähe zum gegenüberliegenden Zimmernachbar. In den Gasträumen sind denn nicht Helligkeit, Licht-, Schatten- und Wetterspiele oder der in den Himmel gelenkte Blick Hauptthema, sondern Transparenz und Nähe zur nur wenige Meter gegenüberliegenden Hotelfassade. Das ist an sich noch kein Problem, sondern wäre eine Vorlage für den architektonischen Umgang mit Themen gewesen, die beispielsweise der amerikanische Künstler Dan Graham in seinen architekturnahen Glas-Installationen gekonnt umsetzt. Doch ein Spiel mit Einsicht, Durchsicht, Spiegelung oder sogar Desorientierung findet nicht statt. Nur schon Vorhänge, die der Gast vom Bett oder gar von der Dusche aus hätte steuern können, hätten zu so einem Spiel eingeladen. Doch kleine Schmankerl dieser Art fehlen. Wenn der Gast nicht will, dass ihm der Zimmernachbar beim Duschen oder beim Fernsehschauen zuschaut, muss er die Vorhänge ziehen und findet sich damit in einem austauschbaren Hotelzimmer wieder. Die Spiegelbeschichtung dient nicht der Inszenierung der Hotelwelt, sondern bleibt auf ihre profane Funktion reduziert: Sie verhindert tagsüber die Einsicht in die wenige Meter gegenüberliegende Zimmerschicht.

Mit angezogener Handbremse

Beim ‹Astoria› sind die Architekten Herzog & de Meuron mit angezogener Handbremse gefahren. «Wir wollten der Bauherrschaft entgegenkommen, vielleicht sind wir deshalb zu viele Kompromisse eingegangen», sagt Herzog rückblickend. Fazit bleibt: Dieses Hotel schreibt die an Beispielen reiche Architekturgeschichte der (Luzerner) Hotels nicht weiter. Ein Beitrag ist die skulpturale Fassade mit ihren tiefen Einschnitten auf der Vorder- und Rückseite. Sie ist eine intelligente Antwort auf die Frage, wie durchlässig eine Blockrandbebauung sein kann, und macht dabei den Neubau eindeutig zum Haupthaus des ‹Astoria›-Komplexes. Im Inneren hingegen bringen der planerische, finanzielle und bauliche Aufwand der geneigten Glasfassade weder einzigartige Raumqualitäten noch besonders spannende Lichtsituationen. Der kristalline Eindruck bleibt an der Oberfläche haften.


Drei Extras im ‹Astoria›

--› Tagungsgeschoss:
Mit dem neuen Seminar- und Kongressgeschoss auf dem Dach will der Hotelier Übernachtungen generieren und das ‹Astoria› auch als Kongresshotel positionieren. Im Gegensatz zu seinen Konkurrenten geniessen alle zwölf Tagungsräume Tageslicht und einen weiten Blick über die Dächer von Luzern – zwei nicht zu unterschätzende Startvorsprünge. Eine elegante Dachlounge mit Pianobar und riesiger Terrasse verbindet die Räume und hat gute Chancen, nach Tagungsende zum neuen Hotspot des Luzerner Nachtlebens zu werden.

--› Optimierter Betrieb:
Urs Karli ist in der Gastro- und Hotelszene als erfolgreicher Selfmade-Unternehmer bekannt. Es wundert deshalb nicht, dass er mit dem Neubau ‹Astoria› die Betriebsabläufe auf ein Maximum optimiert hat. Das neue, für die Gäste unsichtbare Herz sind die beiden Küchen in den Untergeschossen: In der Produktions- und in der darüberliegenden Fertigungsküche werden Fleisch, Teigwaren und Pasta für alle drei Restaurants im Hotel vorbereitet. Die Wege zu den Restaurants oder den Kongressräumen auf dem Dach sind in der Horizontalen wie auch in der Vertikalen kurz und von den Gästen getrennt.

--› Hotelzimmer:
Die Hotelzimmer sind eher klein, in erster Linie Schlafzimmer. Eine grosszügige Dusche, die gut zu zweit benutzt werden kann, ersetzt die ‹Bakterienfalle› Badewanne. Erwarten würde man in einem Viersternehotel eine abschliessbare Toilette, sie ging zugunsten der offenen Bade- und Schlaflandschaft unter. Die Zimmer funktionieren gut für Einzelpersonen, wie es wohl die meisten Seminarteilnehmer sind. Wenn am Wochenende aber Paare einziehen, wird es eng. Schönes Detail ist das im Bad versteckte Safe und Minibar-Möbel. Es steht im Schlafzimmer nicht im Weg und bietet zusätzliche Staufläche. Jürg Landert

19. Dezember 2007 hochparterre

Man höre und staune

Das Leichtathletik- und Fussballstadion Letzigrund ist nicht nur eine elegante Architekturskulptur und eine Meisterleistung der Ingenieure, sondern auch ein Klangort: Der Klangspezialist Andres Bosshard hat sich während eines Fussballspiels umgehört und kommentiert die akustische und visuelle Direktheit und Transparenz.

Was ist das Sportzentrum Letzigrund für ein Klangort?

Während einem Fussballspiel ist das Stadion ein intensiver Klangort, ich würde sogar sagen ein Ruf- und Gesangsort. Er unterscheidet sich von anderen Stadträumen durch seine Offenheit. Tagsüber ist er sogar öffentlich zugänglich und bekommt damit eine Art Parkcharakter. Er hat ein klar definiertes Aussen: Auf der ums Stadion herum geführten Zugangsterrasse sind die Geräusche der Stadt präsent. Dann geht man durch eine tunnelartige Betonschleuse, der einzige Ort, der bei mir akustische Verwirrung
hinterliess. Höhepunkt aber ist die Arena selbst. Sie ist offen. Das Stadion ist akustisch gesehen eine spannende Mischform zwischen innen und aussen. Es verleiht dem Quartier eine eigene akustische Identität und ist einer der wichtigen Stadtklang-Brennpunkte von Zürich.

Die Form des Stadions ist aufgrund der Leichtathletikanlagen und der Sehwinkel der Zuschauer entstanden. Wie reflektiert die gewählte Geometrie Schall und Klang?

Das Oval ist die beste Form, um akustisch überhaupt nicht zu erscheinen, noch besser als die Kreisform. Man hört im Letzigrund förmlich, dass die Ecken fehlen, sie würden einen akustischen Fokus bilden. Akustisch gesehen hat der Torwart wahrscheinlich am meisten Sound, er steht im Brennpunkt der Kurven. Schön ist, dass man den offenen Raum auch akustisch spürt. Denn die Seitenwände sind so weit auseinander, dass sie bei der Dämpfung des Klangs keine Rolle mehr spielen. Hingegen ist der Raum auf der Nordseite des Stadions, dort wo die beiden Trainings-Spielfelder an die Nachbarhäuser grenzen, viel mehr akustischer Innenraum als das Stadion selbst. Wenn man so will, ist die Akustik umgestülpt: aussen der Innenraum, innen der Aussenraum.

Welche Wirkung hat die räumliche Offenheit auf die Akustik?

Das Stadion unterscheidet sich von anderen Stadien, in denen der Baukörper die Stimmen der Zuschauer zurückspiegelt und eine soziale Sphäre bildet. Im Letzigrund entsteht – nicht nur akustisch – kein Massengefühl und trotzdem entsteht keine Leere. Eine schöne Balance zwischen Offen- und Geschlossenheit.

Welche Rolle spielen Akustik und Klang für die Stimmung in einem Stadion?

Die akustische Orientierung ist eine Grundlage für Kommunikation und für Gemeinschaft. Für die Emotionen der Zuschauer ist die Akustik deshalb ein zentrales Element. In einem Stadion will sich der Zuschauer von den Emotions-Wellen, die das Spiel auslöst, mittragen lassen.

Was ist das Sportzentrum Letzigrund für ein Klangort?

Während einem Fussballspiel ist das Stadion ein intensiver Klangort, ich würde sogar sagen ein Ruf- und Gesangsort. Er unterscheidet sich von anderen Stadträumen durch seine Offenheit. Tagsüber ist er sogar öffentlich zugänglich und bekommt damit eine Art Parkcharakter. Er hat ein klar definiertes Aussen: Auf der ums Stadion herum geführten Zugangsterrasse sind die Geräusche der Stadt präsent. Dann geht man durch eine tunnelartige Betonschleuse, der einzige Ort, der bei mir akustische Verwirrung hinterliess. Höhepunkt aber ist die Arena selbst. Sie ist offen. Das Stadion ist akustisch gesehen eine spannende Mischform zwischen innen und aussen. Es verleiht dem Quartier eine eigene akustische Identität und ist einer der wichtigen Stadtklang-Brennpunkte von Zürich.

Die Form des Stadions ist aufgrund der Leichtathletikanlagen und der Sehwinkel der Zuschauer entstanden. Wie reflektiert die gewählte Geometrie Schall und Klang?

Das Oval ist die beste Form, um akustisch überhaupt nicht zu erscheinen, noch besser als die Kreisform. Man hört im Letzigrund förmlich, dass die Ecken fehlen, sie würden einen akustischen Fokus bilden. Akustisch gesehen hat der Torwart wahrscheinlich am meisten Sound, er steht im Brennpunkt der Kurven. Schön ist, dass man den offenen Raum auch akustisch spürt. Denn die Seitenwände sind so weit auseinander, dass sie bei der Dämpfung des Klangs keine Rolle mehr spielen. Hingegen ist der Raum auf der Nordseite des Stadions, dort wo die beiden Trainings-Spielfelder an die Nachbarhäuser grenzen, viel mehr akustischer Innenraum als das Stadion selbst. Wenn man so will, ist die Akustik umgestülpt: aussen der Innenraum, innen der Aussenraum.

Welche Wirkung hat die räumliche Offenheit auf die Akustik?

Das Stadion unterscheidet sich von anderen Stadien, in denen der Baukörper die Stimmen der Zuschauer zurückspiegelt und eine soziale Sphäre bildet. Im Letzigrund entsteht – nicht nur akustisch – kein Massengefühl und trotzdem entsteht keine Leere. Eine schöne Balance zwischen Offen- und Geschlossenheit.

Welche Rolle spielen Akustik und Klang für die Stimmung in einem Stadion?

Die akustische Orientierung ist eine Grundlage für Kommunikation und für Gemeinschaft. Für die Emotionen der Zuschauer ist die Akustik deshalb ein zentrales Element. In einem Stadion will sich der Zuschauer von den Emotions-Wellen, die das Spiel auslöst, mittragen lassen.

Weil das Letzigrund in erster Linie eine Leichtathletik-Arena ist, sind die Fussballfans nicht glücklich über die Akustik. Was raten sie Ihnen?

Es stimmt, die Fans müssen sich mehr anstrengen als im alten Stadion, denn es ist viel schwieriger, im neuen Stadion Stimmung zu erzeugen. Doch ich würde ihnen empfehlen, ein paar Klangexperimente durchzuführen, um die Wirkung ihrer Chöre zu optimieren. Von einer baulichen Optimierung, beispielsweise mit Plexiglas-Platten rund um die obersten Ränge, halte ich wenig: Man könnte die Akustik damit zwar verbessern, aber wenn die Fans von sich aus eine freche Antwort auf das neue Letzigrund finden, ist das doch viel spannender. Denn das Stadion ist auch akustisch gesehen ein offenes Spielfeld.

Wie beschreiben Sie den Klang des Stadions?

Das Dach und die schrägen Stützen geben dem Stadion ein eigenständiges Klangprofil. Nur hier klingt Zürich so. Man spürt die Materialien, die man sieht: Den Rasen, die Holzdecke, die Stahlstützen, die Kunststoffstühle, die Betonkonstruktion – auch von der Stadt habe ich einen schönen Klangeindruck. Besonders gefällt mir, dass der Massengesang aus den Fankurven während eines Fussballspiels nicht akustisch verstärkt und doch sehr präsent ist. Diese Art der unverstärkten Gesangseinlagen ist der Pop- und Rockmusik abhanden gekommen. Kämen die Chöre aus Lautsprechern, wären sie banal.

In welchem Verhältnis steht die akustische mit der visuellen Direktheit?

Wir haben wenig Hörerfahrung mit so grossen Baukörpern, die derart gedämpft sind. Die akustische Dämpfung im Dach verstärkt den Eindruck des Schwebens. Das Dach gibt dem Raum also auch akustisch eine Weite. Nicht nur wegen der Architektur, sondern auch weil der Raum den Klang nicht so reflektiert, wie wir uns das gewöhnt sind – ich denke hier an die schrägen Stahlstützen –, entsteht der Eindruck der Weite. Sie entspricht dem, was ich sehe. Einige Irritationen entstehen bei den Materialien und der Technik: Ich kann die Durchsagen und die Musik nicht klar den Lautsprechern zuordnen und wir können aufgrund der akustischen Reflexionen nicht sagen, ob die Untersicht der Decke wirklich mit Holz verkleidet ist. Die Gestaltung fordert das Ohr heraus.

Wie steht es um die akustische und visuelle Transparenz?

Sie manifestiert sich beim umstrittenen Stahlzaun rund ums Stadion. Auch ich war am Anfang skeptisch. Ich fand die eng aneinandergereihten Stahllatten zu schroff und hart. Doch der Zaun entspricht der visuellen Durchlässigkeit des Stadions und lässt einen beim vorbeifahren mithören, was im Innern läuft. Insofern vermittelt das Letzigrund innen wie aussen die aktuelle Stimmung. Diese hohe Kommunikationsfähigkeit sollte ein öffentlicher Raum in der Stadt haben.

Bei der Planung des Stadions hat man in erster Linie darauf geachtet, dass möglichst wenig Lärm nach aussen dringt. Wie wird dieses Ziel eingelöst?

Das riesige Dach schluckt zwar viel Schall, das Stadion wäre aber noch weniger im umliegenden Stadtraum zu hören, wenn man auch noch die Fassade des Stadions gegen die Stadt hin schallisoliert und damit auch den Aussen-Resonanzraum gedämpft hätte.

Kann man differenzieren, was im Stadion Letzigrund Klang ist und was Lärm?

Die Gesänge der Fankurven kommen direkt und aktiv auf mich zu. Die Chöre haben eine Qualität, ich würde sie sogar als Musik oder zumindest als aktiven Stadtklang bezeichnen. Sobald sie aber nach aussen dringen und der Kontext verloren geht, werden sie zu Lärm. Unbeabsichtigter Klang, dem ich mich nicht entziehen kann, wird zu Lärm. Als Klangabfall würde auch ich die Musik, die Kommentare des Stadion-DJs und die Werbejingles bezeichnen, mit denen die Zuschauer vor und nach dem Spiel berieselt werden. Aber das gehört heute scheinbar zum Ritual einer Sportveranstaltung. Was aber nicht heisst, dass man nicht besser und intelligenter mit diesem Klang-abfall hätte spielen können: Wenn beispielsweise die Musik sich langsam bewegen und damit den Raum ein bisschen nachzeichnen würde, würde das der architektonischen Eleganz des Stadions entsprechen. Derzeit hat der Klangabfall mit dem Raum nichts zu tun, es herrscht Warenhausbeschallung.

Sie haben Erfahrung mit Klanginstallationen an städtischen Brennpunkten. Was hätten sie anders gemacht, wenn Sie am Brennpunkt Stadion mitgeplant hätten?

Man muss zwischen dem ‹Instrument›, also dem Stadion, und wie man darauf spielt unterscheiden. Ich finde die Akustik und den Raum des ‹Instruments› toll. Die elektro-akustische Anlage hingegen empfinde ich als nicht zeitgemäss, es gibt Lautsprecher, die besser klingen. Beim Rasen hat man auch nicht auf Qualität verzichtet, wieso beim Klang? Ich denke, man hätte mit der Musikanlage gestalterischer umgehen können – man kann mit Klang sehr wohl soziale Räume mitgestalten. Das erlauben die Lautsprecher nicht und es wird hier nicht getan.

Das Künstlerpaar Relax hat als eine der Kunst-und-Bau-Arbeiten eine Klanginstallation fürs Stadion konzipiert: Gelächter und Weinen drehen ihre Runden im Oval. Ist ein Stadion der richtige Ort für diese Art Kunstinstallation?

Ja, ich glaube schon. Das Letzigrund ist sehr wohl ein Ort für Kunst und Kultur im Stadtraum, hier liegt sehr viel Potenzial brach. Doch die Kunst-und-Bau-Arbeit von Relax hört nicht zu, ist nicht interaktiv. Deshalb sind die Fanchöre im Vergleich frischer und frecher – elementare Emotionen bringen sie direkter.


Kommentar der Jury:
Überzeugt hat die Jury vor allem, dass das Stadion Letzigrund nicht nur eine elegante Architekturskulptur ist, sondern auch ein städtebauliches Projekt. Das eingegrabene Spielfeld macht der Zugang auf Strassenniveau möglich, eine Voraussetzung für die sanfte Einbettung ins Quartier. Die Arena besteht aus nur wenigen Elementen: die Mulde mit dem Spielfeld, die Erschliessungsrampe, die auf Strassenhöhe beginnt, zwei Geschosse ansteigt und wieder sinkt, und das schwebende Dach. Es ruht auf dem Ingenieursmeisterstück, den ‹tanzenden Stützen›. Das Oval ist öffentlicher Sportplatz, Austragungsort des internationalen Leichtathletik Meetings, Konzertarena und Fussballstadion.

Publikationen

2010

Zürich wird gebaut
Ein Führer zur zeitgenössischen Architektur 1990–2010

Der Architekturführer dokumentiert den Bauschub der letzten 20 Jahre. Vor allem in Zürich West und Nord entwickelt sich die Stadt in schnellen Schritten. 103 Bauten stellt das Buch in Bild und Plan vor. Der Architekturfotograf Roger Frei hat eigens für diese Publikation alle Objekte neu fotografiert.
Hrsg: Roderick Hönig, Hochparterre AG
Verlag: Scheidegger & Spiess

2009

Unterwegs in Zürich und Winterthur
Landschaftsarchitektur und Stadträume 2000–2009

Dieser Führer durch die Städte Zürich und Winterthur behandelt sechzig wegweisende Projekte zeitgenössischer Landschaftsarchitektur. Die Parks, Plätze und Gärten – viele von ihnen wurden in der Fachpresse lobend erwähnt – werden in Bild und Text eingehend vorgestellt. Der Bogen spannt sich von den Grünanlagen
Hrsg: Roderick Hönig, Claudia Moll, Hochparterre AG
Verlag: Scheidegger & Spiess

2004

Architekturführer Zürich

Der Architekturführer Zürich 1990–2005 dokumentiert den Bauschub der letzten 15 Jahre. Vor allem in Zürich West und Nord hat sich die Stadt in schnellen Schritten entwickelt. 75 Bauten und aktuelle Planungen sowie 32 Interiors (Hotels, Bars und Lounges) werden in Bild und Plan vorgestellt. Ein Essay
Hrsg: Roderick Hönig
Verlag: Hochparterre AG