Artikel

«Gösgen ist nicht gleich Gros-de-Vaud»
Neue Zürcher Zeitung

Vier Schweizer Star-Architekten betreiben Feldforschung: Aus 60 Momentaufnahmen vom Südtessin bis Basel-Nord entsteht das Porträt einer vollständig urbanisierten Schweiz.

7. April 2002 - Anita Vonmont
Mit Hochhäusern für die Schweinemast oder mit übereinander geschichteten Landschaften an der Expo Hannover haben holländische Architekten in letzter Zeit gezeigt, dass nicht nur Raumplaner eingehend über aktuelle räumliche Entwicklungen nachdenken.

Doch man braucht nicht unbedingt nach Holland zu blicken - auch in der Schweiz setzen Architekten in der Städtebauforschung neue Akzente. Vier international renommierte Vertreter ihres Fachs haben in Basel ein Lehr- und Forschungsstudio aufgebaut, das im kommenden Herbst zu einem neuen Institut für Städtebau erweitert werden soll (vgl. Kasten). Die Studiogründer sind die Pritzker-Preis-Träger Jacques Herzog und Pierre de Meuron, ihr Basler Kollege Roger Diener und der Zürcher Architekt Marcel Meili. Zu viert teilen sie sich seit Oktober 1999 einen ordentlichen Lehrstuhl des Departements Architektur der ETH, dem das Architekturstudio Basel angegliedert ist.


Urbanistik-Initiative

Der Städtebau entwickle sich in der heutigen komplexen Gesellschaft immer weiter weg von grossen gesamtstädtischen Planungen und hin zu einzelnen architektonischen Projekten, begründen die Architekten ihre Urbanistik-Initiative. Diese Entwicklung mache das Studium des städtischen Raums auch vom Bauen her interessant.

In einem Zeitalter der vollständigen Urbanisierung, in dem selbst Berggebiete über Telefonnetze, Strassen oder Wasserkraftwerke verfügen, wolle man überdies «grundsätzlich ein besseres Verständnis bekommen für das, was ‹Stadt› im 21. Jahrhundert eigentlich ist», erläutert Jacques Herzog im Gespräch. Mit einem neuen, frischen Blick sollen deshalb «Fragen zur Stadt» untersucht und über den akademischen Kreis hinaus thematisiert werden.

Seit der Gründung des Basler Studios 1999 richtet die Gruppe ihren Blick auf die verstädterte Schweiz. Unterstützt von den zwei Geographen Christian Schmid und Manfred Perlik sowie dem Architekten Emanuel Christ arbeitet sie mit jeweils 20 Architekturstudierenden der ETH an einem städtebaulichen Porträt des Landes, das aus 60 lokalen Einzeluntersuchungen entstehen soll und etwa Mitte 2003 in Buchform erscheinen wird. Ziel ist es, ein aktuelles Bild von der urbanisierten Schweiz zu zeichnen, ohne dabei allein von den baulichen Strukturen auszugehen. «Die Stadt hat heute keine klare Form und Architektur mehr, sie kann je nach Betrachtungsweise 200 000 oder zwei Millionen Einwohner umfassen und auch sonst stark variieren», sagt Marcel Meili. Die Untersuchung beschreibe den Raum daher vor allem «über Beziehungen, Bewegungen und Lebensweisen». Sie bedient sich dazu der drei Begriffe Grenzen, Netzwerke und Differenzen, die auf den verstorbenen französischen Philosophen und Soziologen Henri Lefebvre zurückgehen. Was für politische oder topographische Grenzen durchschneiden einen Ort? Wie reagiert dieser darauf? Welche Ausdehnung haben die Pendler- oder ÖV-Netze? Welche Unterschiede - von einer heterogenen Wirtschaftsstruktur bis zur Sprachenvielfalt - prägen ein Gebiet? Solche Fragen leiten die Betrachtungen. Sie geben nicht nur Aufschluss über den Urbanisierungsgrad der verschiedenen Gebiete, sondern auch über deren Selbstverständnis oder Entwicklungspotenzial.

Insbesondere Unterschiede aller Art können ausserdem ein Indikator sein für Urbanität: «Dort, wo Differenzen aufeinander prallen und produktiv werden, entsteht eine urbane Situation», sagt Christian Schmid, der im Team die methodischen Grundlagen einbringt.

Urban in diesem Sinne sind in der Schweiz erwartungsgemäss vor allem die Städte Zürich, Basel und Genf. Dabei kommt es aber auch zu ungewöhnlichen Beobachtungen. Die Analyse von Differenzen hat Marcel Meili beispielsweise gezeigt, «dass Zürich sich zurzeit in horrendem Tempo auf eine Dienstleistungs- und Medienstadt zubewegt. Trotz des unglaublichen Hypes um die Kultur hat sie dabei auch wesentliche Teile ihrer Kultur verloren - praktisch die ganze Arbeiter- und Industriekultur beispielsweise. Die Stadt wird zwar grösser und bedeutender, doch möglicherweise nicht vitaler, weil eindimensionaler.»

Im Studio Basel wir aber keineswegs nur theoretische Arbeit geleistet. Den Studierenden, die jeweils ein Semester lang zu zweit einen vom Lehrkörper vorgegebenen Ort untersuchen, dienen die theoretisch-methodischen Begriffe vor allem als Hilfsmittel, um ihre Analysen einzugrenzen. «Wir haben uns das Gelände angesehen, photographiert, mit den Leuten geredet», beschreibt ein Teilnehmer der Gruppe «Appenzellerland» den Auftakt der dortigen Feldforschung. Die Studenten sollten herausfinden, ob es das Appenzellerland als Einheit überhaupt gibt. Ihre ersten Eindrücke haben sie später mit umfangreichem Informationsmaterial erweitert und analysiert, von der Dialektstudie aus der Bibliothek bis zu Familiennamen im Telefonbuch. Das Appenzellerland sei Realität, lautet das Fazit. Auch wenn die Pendlerverflechtung mit dem Raum St. Gallen oder das Fehlen eines einheitlichen Dialekts eher dagegen sprachen - das Gemeinsame überwog: die vielen Bräuche zum Beispiel, die typischen Streusiedlungen, die verbreiteten Familiennamen, die auf Sesshaftigkeit hindeuten.


Nicht nur Siedlungsbrei

Zurzeit liegen 50 solche «phänomenologische Momentaufnahmen» vor. Sie erfassen die ganze urbanisierte Schweiz, vom Südtessin bis zu Basels Norden, von den Alpensiedlungen bis zur Metropole Zürich. Ergänzt werden sie durch wissenschaftliche Analysen, welche die städtischen Agglomerationen vor allem über Pendlerbewegungen erfassen.

Welche Aussagen über die Schweiz lassen sich beim aktuellen Projektstand machen? «Die Karten zu den städtischen Agglomerationen zeigen zum Beispiel sehr deutlich, in welch paradoxer Situation wir heute in der Schweiz leben», stellt Jacques Herzog fest. «Wir nehmen ländliche Gebiete wahr, in denen es Städte gibt, dabei ist es genau umgekehrt: Wir leben in einem urbanisierten Netzwerk, das noch Reste von Landschaft einschliesst.» Auch wachse die Schweiz über alle Grenzen hinaus, ohne es zu merken. Nur eine der drei Metropolitanregionen Zürich, Genf und Basel liege beispielsweise vollständig in der Schweiz.

Dennoch seien bis heute die Gemeinden in ihren politischen Grenzen die Urzellen der Schweiz, deren Zonenpläne immer alles umfassten, von der Industriezone bis zum eigenen Wald; und die Bundesstatistiken lieferten nach wie vor nur binnenschweizerische Zahlen.

Die Schweiz-Porträtisten aus Basel und Zürich wollen ein differenziertes Bild von der real existierenden Schweiz vermitteln; sie wollen alte Bilder, die bis heute unser Denken und Handeln prägen, zurechtrücken. Solche Bilder betreffen auch die Urbanisierung selbst. Die Schweiz sei heute zwar vollständig urbanisiert, doch deswegen keineswegs ein einziger Siedlungseinheitsbrei, führt Marcel Meili aus: «Wir stellen innerhalb des urbanisierten Gebiets im Gegenteil eine grosse Differenzierung fest. Eine Gemeinde wie Gösgen etwa hat einen völlig anderen Charakter als die Gemeinden des Gros-de-Vaud. Begriffe wie Metropole Schweiz oder Stadt Schweiz sind daher irreführend, im Grunde genommen sogar falsch.»


Ein See für Basel

Solche Unterscheidungen können dann zur Qualität werden, wenn das Potenzial einzelner Gebiete erkannt und städtebaulich unterstützt wird. Das «romantische Ziel» ihres städtebaulichen Projekts bleibe die «föderalistische Schweiz der Regionen», erklärt Jacques Herzog. Dahinter steht die Überzeugung, dass eine monozentrische, zunehmend auf Zürich ausgerichtete Raumordnung die Entwicklung des Kleinstaats Schweiz ebenso hemmt wie eine ausgeprägte Gemeindeautonomie.

Wie dieses Ziel aussehen könnte, zeigen Projektvorschläge wie jener für einen See nördlich von Basel. Die Idee sieht vor, einen künstlich angelegten Nutzwald im Niemandsland zwischen den Städten Basel, Mülhausen, Strassburg und Freiburg i. Br. in eine neue Naturform überzuführen. Teile des Waldes würden dabei über mehrere Jahrzehnte hinweg schrittweise abgeholzt und die dortigen Kies-Seen zugleich zu einem einzigen Gewässer verbunden. Damit wäre nicht nur eine attraktive Erholungszone geschaffen, die vorhandene Kräfte nutzt. Der See würde vor allem auch die Dynamik des trinationalen Stadtraums Basel und den Zusammenhang zwischen den vier Städten verstärken.

Verglichen mit gewollt utopischen Raumvisionen wie den «Pig Towers» oder den Landschaften des Rotterdamer Büros MVRDV (Winy Maas, Jacob van Rijs, Nathalie de Vries) bauen die Visionen aus dem Studio Basel ebenso gewollt auf dem Vorhandenen auf. Es gehört zu den erklärten Anliegen des Studio Basel, die Öffentlichkeit und die Politik mit publikumsnah präsentierten Projektideen und Analysen zu beeinflussen.

Das «Städtebauliche Porträt der Schweiz» soll dereinst «wie das Dienstbüchlein in jedem Haushalt stehen», beschrieb Jacques Herzog in einem Vortrag seine Vorstellungen des künftigen Adressatenkreises. Selbst wenn dieser nicht ganz so breit sein sollte - auf gewisse Erfolge können er und sein Büropartner Pierre de Meuron jedenfalls zurückblicken: Vor gut zehn Jahren haben sie in einer Studie zur «trinationalen Stadt Basel» einen Begriff geprägt, der heute in den Köpfen tatsächlich verankert ist und auch die regionale Planung beeinflusst hat.


Vom Studio zum Institut

Das ETH-Architekturstudio Basel an der Margarethenstrasse 57 soll ab dem kommenden Wintersemester 2002 nicht mehr bloss Projekt, sondern fester Bestandteil des Departements Architektur der ETH werden. Ausgebaut zu einem eigentlichen Institut für Städtebau würde es zu einem neuen ETH-internen Netzwerk zum Thema Raumentwicklung gehören. Im neuen ETH- Institut würden diesen Plänen zufolge Studierende und Post-Graduates der ETH Zürich während ihrer Ausbildung in «Urban Planning» oder «Urban Design» semesterweise studieren und doktorieren.

Im Weiteren sollen laut Jacques Herzog «Fragen zur Stadt im 21. Jahrhundert» untersucht werden, auch ausserhalb der Schweiz und verstärkt in internationaler Zusammenarbeit. So zum Beispiel mit dem Architekten Stefano Boeri aus Mailand, dem amerikanischen Soziologen Richard Sennett und dem Architekten Richard Burdett von der London School of Economics. Für zusätzliche Drittmittel sind derzeit unter anderem Gespräche mit der Stiftung «Avenir Suisse» im Gang. Noch ist die Erweiterung vom Studio zum Institut nicht definitiv beschlossen. Der Entscheid der ETH-Schulleitung wird aber voraussichtlich in diesem Frühjahr fallen.

Von der Dialektstudie bis zu den Familiennamen im Telefonbuch:

Das Appenzellerland ist Realität, lautet das Fazit.

«Zürich wird zwar grösser und bedeutender. Doch möglicherweise nicht vitaler, da eindimensionaler.»

teilen auf

Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

Ansprechpartner:in für diese Seite: nextroomoffice[at]nextroom.at

Tools: