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Zeiträume, gegenwärtig
Zeiträume, gegenwärtig, Foto: Margherita Spiluttini
Spectrum

Ingenieurbauwerke in der machtvollen Topographie der Alpen hat Margherita Spiluttini in Bilder verdichtet. Die komplex in die Tiefe gestaffelten Blickräume sind derzeit in einer Ausstellung im Technischen Museum Wien zu sehen.

13. April 2002 - Walter Zschokke
Auf ihren unzähligen Fahrten zu den Bauwerken, die zu photographieren Margherita Spiluttini beauftragt wurde, gab es ein Dazwischen: Gebirgsstraßen in Tirol und Vorarlberg - zuweilen auch weiter westlich oder südlich - als rasch zu bewältigende Wege zum Arbeitsziel oder nach Hause ins Photolabor. Aus den vielen geschauten Bildern, die, der Fahrgeschwindigkeit unterworfen, dicht aufeinander folgen, werden einzelne so wichtig, daß sie bald einmal anhält und das geschaute Bild mit der Kamera einfängt. Und so wird der Nebeneffekt zur selbstgestellten, künstlerischen Aufgabe.

Es ist seit Jahrhunderten bekannt: Das Gebirge (für uns die Alpen) ist gewaltig und erhaben. So wie beispielsweise das Meer und die Wüste auch. Sie bieten räumliche Erfahrungen in ungewohnten Dimensionen sowie eine Wahrnehmung von Nähe und Ferne, mit denen verglichen stadträumliches Erleben vielleicht sophisticated sein mag, aber nicht über diese Kraft und diesen Atem verfügt.

In diesem Kontext bleiben Kunstbauten wie Brücken und Tunnels oder Staumauern und Dämme, so groß und aufwendig sie auch sein mögen - und so bewundernswert die Ingenieurleistung -, schlicht Beiwerk. Weil aber dieses Beiwerk ingenieurmäßig zielgerichtet angelegt und nach technischem Aufwand und Kosten auf einen festgelegten Zweck hin optimiert wurde, erschließt sich uns seine unmittelbare Sinnhaftigkeit, und es entsteht jene einzigartige Spannung von kühnem, letztendlich begrenztem Menschenwerk und absoluter Naturgewalt.

Diese Spannung wird von Margherita Spiluttini emotionslos wahrgenommen und mit der Großformat-Kamera erfaßt und festgehalten. Und obwohl jeder Standpunkt mit dem Automobil erreichbar war, steckt in je-dem Bild die gespeicherte Energie dieses unauflösbaren Gegensatzes.

Die Arbeit mit der Großformat-Kamera ist eine andere als jene mit dem Kleinbildgerät. Den Kopf unter dem schwarzen Tuch, wird man viel stärker Teil des Verfahrens, ist mit sich und dem gestürzten Bild auf der Mattscheibe allein. Es werden daher zuerst einmal projektierte, das heißt vorausgeschaute und dann sorgsam erarbeitete Bilder geschaffen. Was in der „Frontscheibe des Autos, eine Art Bildschirm in einer bewegten Behausung“ (Spiluttini), begann, wird im Kopfraum unter dem schwarzen Tuch zum bleibenden Werk. Obwohl sie von graphischer Bildkomposition und von Ornament spricht, was als abstrakte Komponente zur Suggestivkraft der Bildwirkung beiträgt, sind es zugleich auch unterschiedliche Räume, die von ihrer Bildwahl erfaßt werden.

Vor allem in ihren Steinbruchbildern, aber auch bei Aufnahmen von Alpenpaß-Straßen, ist es der Tiefblick in einen landschaftlichen Großraum, der als Typus breit vertreten ist. Sie pflegt damit die Tradition des berühmten Gemäldes „Kreidefelsen auf Rügen“ (1818) von Caspar David Friedrich.

Der Horizont liegt bei zwei Dritteln der Formathöhe, der Vordergrund umfaßt den Bildraum des scheinbar hochgeklappten Mittelgrundes, in den der Betrachter richtig hineingezogen wird, während der Horizont noch weiter in die Ferne rückt.

Das Weitwinkelobjektiv erfaßt mit Detail- und Tiefenschärfe wesentlich mehr, als das gewohnte Blickfeld des menschlichen Sehorgans einzugrenzen vermag, weshalb die Augen der Betrachtenden entweder im
Bild herumzuwandern gezwungen sind oder zu einem unbestimmten Schauen hinübergleiten wie im absichtslosen Zustand des Meditierens. Diese Bilder können kaum „zu Ende“ geschaut werden, man kann
sich immer aufs neue in sie versenken.

Sehr oft sind es Elemente des Bildinhalts, wie Straßenbänder, Wegführungen oder Fahrspuren, die in ihrer eindeutigen Lesbarkeit Tiefenwirkung und Räumlichkeit erzeugen, wo die kleinteilige Detailgenauigkeit zu jenem flächig ornamentalen Charakter tendiert, den die Photographin in ihren Erläuterungen anspricht. Auch aus diesen Gegensätzen nährt sich die im Bildfeld aufgebaute und verdichtete Spannung. Daß nur das Original in großformatiger Reproduktion diese Schärfe und Bildqualität aufweist, sei angemerkt.

Eine andere Gruppe Photographien vergegenwärtigt Zeiträume. Die Eingriffe in die Erdoberfläche liegen Jahre oder Jahrzehnte zurück. Pflanzenbewuchs und Verwitterungsspuren, Zeichen von Alterung im ursprünglich glatten Beton evozieren einen zeitlichen Raum, der von den bekannt ungleichen Geschwindigkeiten des Wachstums von Pflanzen, der Jahreszeiten oder der Erosion von Gesteinsschichten und Betonoberflächen aufgespannt wird.

Vergehen und Entstehen halten sich die Waage. Keineswegs wird romantische Trauer eingefordert. Die Momentaufnahme zeigt Sachverhalte, die wir als Betrachtende unschwer zu interpretieren vermögen. Unendlich angenehm, verstecken sich hinter den Bildern keine moralisierenden Vorwürfe. Es ist so, wie es ist.

Während nicht wenige der ausgewählten Photographien, bei herbstlich nebliger Witterung aufgenommen, spezifisch unbunt sind und vom Farbspektrum nur ein kleines Segment in Anspruch nehmen, heben bei anderen Schatten und Lichter die flache Raumschicht eines Reliefs hervor und überwinden auf diese Weise die Zweidimensionalität der Bildebene.

Für die von Elisabeth Limbeck-Lilienau kuratierte Ausstellung auf der ersten Galerie im Westflügel des Technischen Museums Wien hat die Architektin Elsa Prochazka ein Präsentationssystem entworfen, das den rahmenlos gehängten Photographien eigene Räume und Raumzonen schafft.

Boxen aus Stahlrahmen, an zwei Längsseiten bekleidet mit mittelgrauen Eternittafeln, erzeugen räumliche Verdichtungen für kleinere Ausarbeitungen, während große Bilder von den Außenflächen gleichsam gerahmt werden. Im neutralisierenden Feld dieser autonomen Körper kommen die von Margherita Spiluttini mit ihren Augen und Händen geschaffenen verschlingenden Bildräume bestens zur Geltung, und sie erweist sich damit als Meisterin im Herbeizaubern dreidimensionaler Wirkung aus der ebenen Fläche.

Die Ausstellung „Margherita Spiluttini: Nach der Natur - Konstruktionen der Landschaft“ ist bis 22. September im Technischen Museum Wien (Wien XIV, Mariahilfer Straße 212, Telephon 89998-6000) zu sehen (Montag bis Samstag 9 bis 18 Uhr, Donnerstag 9 bis 20 Uhr, Sonntag, Feiertag 10 bis 18 Uhr).

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