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Die Rückeroberung des Flussraums
Neue Zürcher Zeitung

Fussgängerbrücken als urbanistische Wahrzeichen

19. April 2002 - Silvia Kobi
Bisher gehörten Fussgängerbrücken kaum zu jenen Errungenschaften, mit denen Metropolen für Lebensqualität und Originalität werben. Sie wurden weder von Stararchitekten entworfen, noch waren sie in ihrem Erscheinungsbild spektakulär. Jüngste Beispiele jedoch weichen von diesem Szenario ab. Zu finden sind sie an städtebaulich prominenter Stelle. Die zweifellos berühmteste ist Norman Fosters Millennium Bridge, welche die Tate Modern mit St. Paul's Cathedral verbindet. Foster konzipierte sie zusammen mit einem Ingenieurteam von Ove Arup als «Lichtklinge» - ein Ausdruck, der bereits andeutet, dass für diese Brücke kein Aschenputtel-Dasein vorgesehen war. Doch dann begann die Riesenklinge am Eröffnungswochenende unter den Besucherströmen zu schwingen, was weniger ein Sicherheitsrisiko darstellte als eine Komforteinbusse. Mit dem Konzept der Brücke - Ästhetik und Lebensqualität - war das natürlich nicht zu vereinbaren. Für Foster und sein Team begann nach der grossen Verlegenheit die Suche nach einem Gegenmittel. Nach der Installation von rund neunzig dem Auge unsichtbaren Dämpfern konnten die Schwingungen behoben und die Brücke am vergangenen 22. Februar wiedereröffnet werden. Foster gab sich gelöst, als er den Medienvertretern das Motto der Brücke in Erinnerung rief: «a bridge for people, a link for London, a symbol for Britain».


Gratwanderung im urbanen Milieu

Hinter diesem Motto steht zuerst einmal die Priorität der Fussgänger. Im Unterschied zu anderen europäischen Grossstädten hat sich London bisher kaum von einer fussgängerfreundlichen Seite gezeigt. Verkehrsdichte, Lärm und Abgase sind an der Grenze des Tolerierbaren, und Erholung vom Verkehrsgetöse bieten in der Innenstadt eigentlich nur die Pärke und allenfalls noch die Einkaufsgalerien rund um Piccadilly, allen voran die Burlington Arcade, sowie jetzt neu Fosters Themse-Überquerung. Ungewöhnlich ist nicht nur die Ruhe, die sie bietet, sondern auch die Aussicht - die Überquerung ist mit einer «Gratwanderung» im urbanen Milieu verglichen worden.

Seit der Eröffnung der flussabwärts gelegenen Tower Bridge im Jahre 1894 ist die Millennium Bridge der erste neue «link for London», jedenfalls im Stadtzentrum. Zwei höchst ungleiche Quartiere - die noble City of London und das ehemalige Arbeiter- und Industrieviertel Southwark - erhalten damit eine direkte Verbindung. Zwischen den beiden Stadtteilen könnte der Kontrast nicht grösser sein, wirtschaftlich, sozial und architektonisch. Seit der Eröffnung der Tate Modern im Juni 2000 haben sich diese Ungleichheiten etwas abgeschwächt, gilt doch der Bezirk Southwark seit der Eröffnung des Museums als «up-and-coming».

Eine ähnliche Wirkung erhofft man sich auch von der unlängst eingeweihten Gateshead Millennium Bridge über dem Tyne. Diese von der Londoner Architekturfirma Wilkinson Eyre konzipierte Fussgänger- und Fahrradbrücke mit eingebauten Sitzgelegenheiten verbindet den Hafendamm von Newcastle mit demjenigen von Gateshead, einem Industrieareal mit viel Potenzial. Dessen Wahrzeichen, eine stillgelegte Kornmühle, wird zurzeit in ein Zentrum für Gegenwartskunst umgewandelt, das in diesem Frühling als Baltic Centre for Contemporary Art eröffnet werden soll. Wie in London dürfte auch hier die Kombination von Kulturpalast und Designerbrücke - die Bogenstruktur gleicht einem riesigen Augenlid, wenn sie sich für den Schiffsverkehr öffnet - zu einer Belebung des Südufers führen.

Verglichen mit diesem surreal anmutenden Rotationsmechanismus, einer Weltpremiere, wirkt Fosters Millennium Bridge geradezu bescheiden, durfte sie doch die City-Skyline und St. Paul's Cathedral nicht stören. Doch welche Symbolkraft soll von ihr ausgehen, um zum letzten Teil ihres Mottos zu kommen - «a symbol for Britain»? Bisher haben Metropolen stets mit Konstruktionen rivalisiert, die in die Höhe schiessen: Türme waren die urbanen Statussymbole des 20. Jahrhunderts. Als Lord Beaverbrook 1931 den neuen Hauptsitz für seine Express-Newspaper-Gruppe in der Fleet Street in Auftrag gab, gelangte er mit einem präzisen Anliegen an die Architekten: Das Gebäude sollte höher und grandioser sein als der benachbarte Sitz des «Daily Telegraph». Auf die Spitze getrieben worden ist diese Konkurrenz um «Corporate Landmarks» zweifellos in New York. Diese Wettbewerbskonstellation dürfte sich auch in naher Zukunft nicht ändern. An der Themse sind zurzeit mehrere «herausragende» Firmenwahrzeichen in Diskussion, und Renzo Piano plant das neue Hauptquartier der «New York Times» (NZZ 7. 12. 01) am Hudson River.


Die Brücke als Attraktion

Doch künftig könnte auch die horizontale Dimension in diesem Wettbewerb um urbane Statussymbole eine Rolle spielen. Architektonisch gewagte und ästhetisch anspruchsvolle Fussgängerbrücken - «design-driven», wie sich die Engländer ausdrücken - sind immer häufiger Bestandteil einer Imagekorrektion. Grossstädte geben sich damit ein «People-first»-Image. Sevilla, Bilbao und London sind die bekanntesten Beispiele. Weniger mediatisierte, aber von nicht weniger bekannten Grössen entworfene Fussgängerbrücken sind überraschenderweise auch im Norden Englands zu finden. In und um Manchester allein sind seit 1995 deren vier entstanden, darunter die von Santiago Calatrava konzipierte Trinity Bridge und Daniel Libeskinds Lifting Footbridge, denen die Idee, ein brachliegendes Quartier neu zu beleben, gemein ist. Diese Idee wird zweifellos Schule machen.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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