nextroom.at

Profil

Architekturstudium in Berlin
1999 – 2006 Ausstellungsprojekt Sondermodelle, mit Oliver Croy
2003 – 2006 Architekturkritiker und Journalistin Wien (Der Standard, profil)
Seit 2007 Kurator am Deutschen Architekturmuseum (DAM) in Frankfurt / Main
2016 Kurator der Ausstellung des deutschen Pavillons der Architektur-Biennale 2016 in Venedig
2017 Co-Gründer des CCSA (Center for Critical Studies in Architecture)

Lehrtätigkeit

2006 – 2007 wissenschaftlicher Assistent an der TU Graz, Lehrstuhl Prof. Hild
2012 – 2013 Vertretungsprofessor für Szenografie, FH Mainz
2021 Vertretungsprofessor für Architekturtheorie, KIT (Karlsruhe)

Mitgliedschaften

AICA, BDA (a.o.)

Karte

Artikel

26. Juni 2004 Der Standard

Kupferscheune am Ende der Schotterpiste

Große Geste mit kleinem Budget: Das Filmkühllager in Laxenburg von Selfmademan Michael Embacher

Auf den letzten Metern der Fahrt zum neuen österreichischen Zentralfilmarchiv am Rande von Laxenburg kann es leicht passieren, dass der Besucher sich in ein Road Movie versetzt fühlt. Man verlässt die Landstraße an einer riesigen, senkrecht ins Feld gerammten Stahlplatte, die so schwarz und unbeschriftet in der Gegend herumsteht wie der rätselhafte Monolith in Stanley Kubricks 2001 - Odyssee im Weltraum, aber durch ihre seitlichen Perforationen verrät, dass wohl eher jemand an einen Filmstreifen gedacht hat. Der Wagen ist auf eine Schotterpiste geraten, die schnurgerade durch die Felder führt. Niederösterreich wird ein paar Herzschläge lang zu New Mexico, wo man auf einer „dirt road“ wie dieser eine Staubwolke aufwirbeln würde, die den Besuch schon von weitem ankündigt. Die Reise endet vor einem trutzigen, spätbarocken Hauskasten, ehemals Amtssitz des Laxenburger Parkförsters. Das Forstgut setzt an der Straße eine präzise Kante ins Nirgendwo, die der Neubau des Zentralfilmarchives aufnimmt und die Zufahrt noch ein Stück verlängert. Dann ist Sackgasse. Thelma und Louise bräuchten nur auf's Gaspedal zu treten und könnten in den Schlosspark durchbrechen, der hinter einem Wäldchen beginnt.

Die Laxenburger Niederlassung des Filmarchivs besteht seit 1971. Die Auslagerung in spärlich bebautes Gebiet war notwendig geworden, um für den großen Bestand hochgefährlicher Nitrofilme einen Aufbewahrungsort außerhalb der Stadt Wien zu finden. Das bis in die fünfziger Jahre verwendete Filmmaterial ist chemisch nahe mit Schießpulver verwandt und neigt bereits bei hochsommerlichen Temperaturen zur Selbstentzündung, die mit keinem Löschmittel gestoppt werden könnte. Der aus den Siebzigern stammende „Nitrobunker“ ist daher so konstruiert, dass bei einem Brand jeweils nur ein Segment der Außenhülle weggesprengt würde.

Wenn sie nicht vorher explodieren, dann zerfallen die Nitrofilme über die Jahrzehnte allmählich zu bräunlichem Staub. Das Filmarchiv sichert daher seine frühen Bestände durch Umkopieren auf heute übliches Filmmaterial. Doch auch das widersteht der Selbstzerstörung nur dann, wenn es optimal, bei konstanten vier Grad Celsius, gelagert wird. Weil dasselbe auch für alle anderen Filmmaterialien aus der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts gilt, wurden schon seit Jahren Pläne für einen Neubau gewälzt. Vorbild waren, man würde es nicht vermuten, die technisch aufgefeilten Lagerbedingungen bei der medienpolitisch höchst fragwürdigen KirchMedia in München.

Trotz eines minimalen Budgets von knapp 1,1 Millionen Euro konnte der Bau im Mai zur größten Zufriedenheit von Nikolaus Wostry, dem Chefrestaurator des Filmarchivs, fertig gestellt werden. Eine Reihe von Architekturbüros hatte abgewinkt und erklärt, dass für diesen Preis wohl nicht einmal eine simple Blechkiste zu haben wäre, ganz zu schweigen von einem Stück Architektur, wie es sich der Geschäftsführer Ernst Kieninger gewünscht hatte.

Es ist wohl ein Zufall, dass der Bau letztlich gar nicht von einem Architekten errichtet wurde, zeigt aber, dass mehr Wege zur Architektur führen, als mancher Architektenkammerfunktionär oder Ministerialbeamter sich vorstellen kann. Michael Embacher hat das Studium irgendwann entnervt aufgegeben, weil er längst als Ausstellungsgestalter im Wiener Museum für angewandte Kunst arbeitete und auch genügend Bauerfahrung sammeln konnte, um die Schubladenentwürfe an der Hochschule noch interessant zu finden. Er absolvierte dann die Baumeisterprüfung und legalisierte sich auf diesem Wege.

Sein Entwurf für das Kühllagerhaus ist von einer hemdsärmligen Pragmatik, die nur auf manchen Fotos so aussieht, als wäre es eine schmucke Designerkiste. Die schlichte Box aus Lecabeton mit Thermohaut wurde zusätzlich mit Kupferbändern in Filmstreifenbreite eingewickelt, die Schatten spenden und dem Bau von weitem das Aussehen einer recht leger aus Holzlatten zusammengenagelten Scheune geben. Wer unbedingt möchte, kann darin eine österreichische Antwort auf die akkurat mit Kupfer umwickelten Fassaden gewisser Schweizer Eisenbahnstellwerke sehen, aber auch da sind die Bilder trügerisch. Vor Ort zeigt sich der Bau sehr filigran, selbstbewusst und keine Spur epigonenhaft.

Das Innere besteht aus Rollregalen, die im unteren der zwei Geschosse um einen Tiefkühlraum herumgleiten, wo hoch empfindliches Negativmaterial gelagert wird. Alle technischen Geräte, wegen des intelligenten Energiekonzepts sind es erstaunlich wenige, wurden aufs Dach, Stiegen und Aufzug an die Außenseite der Box gepackt um mögliche Brandherde aus dem Lager fern zu halten.

Vielleicht hätte ein ambitionierter Jungarchitekt den Aufzugsturm nicht rot streichen lassen. Aber die emsigen Archivare haben es mehr als verdient, beim täglichen Hinauf und Hinab von einem vertikalen roten Teppich begleitet zu werden.

19. Juni 2004 Der Standard

Wohnst du noch oder lebst du schon wie Beckham?

Minidramen aus dem Wonderland: Ideen ohne Auftrag, gezeichnet von der Architektengruppe nan

Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen. Nur Architekten muss in diesem Fall dringend empfohlen werden, sich an den nächsten Ausstellungskurator zu wenden. Im Medium der Architekturausstellung können Größenwahnvorstellungen und Persönlichkeitsspaltungen („Womit ich Geld verdiene, ist
etwas ganz anderes, als mich wirklich interessiert“) ohne Risiken ausgelebt werden. Wenn das Publikum vor den Exponaten ein Schauder befällt, wie etwa 1921, als der junge Le Corbusier
der Stadt Paris den Krieg erklärte, die er unter den Fundamenten riesiger Hochhäuser begraben wollte, dann wird die Ausstellung sicher ein Erfolg.

Nur hat sich dieser Schockeffekt über die Jahrzehnte reichlich abgenutzt und die Architektur unter der Inflation der Visionen arg gelitten. Die jüngere Generation entwickelte daraufhin einen oft wohltuenden Pragmatismus und pfeift nun darauf, erst jahrzehntelang als Visionäre und Künstler durchgehätschelt zu
werden, um dann im Alter an die millionenschweren Aufträge heranzukommen. Die Immobilienindustrie ist ja noch immer höchst
konservativ und gibt nur gut abgehangenen Avantgardisten den Zuschlag.

Pragmatisch zu sein kann heute allerdings auch bedeuten, am Rockzipfel weltweit bewunderter Formjongleure klebend, kleine Blasengebilde und berstende Fassaden mit minimalem Aufwand aus dem heimischen Computer zu zaubern. So wird das edle Vorrecht der Jugend, radikal und dabei sogar akzeptiert zu sein, im sinnlosen Aufschäumen von Ideen verpulvert, auf die längst eine andere Generation die gestalterischen Patente erworben hat.

Bei der Ausstellung Wonderland, die gegenwärtig in Bratislava angekommen ist, bevor sie dann zu sieben anderen europäischen Stationen weiterzieht und bei jedem Stopp immer mehr Jungarchitektenteilnehmer zusammenbringt, wird viel in diesem Sinne Visionäres präsentiert. In einer für sich schon sehenswerten Industriehalle sind die Projekte von jeweils elf österreichischen und slowakischen Teams versammelt. Jedem stand eine Anzahl von „Pixeln“ zur Verfügung, auf dünnen Stäben schwankende Schautafeln, die etwa so groß sind wie die Hülle einer Langspielplatte. Die Gruppe nan hat ihre Pixel ganz in satte
Rosa getaucht und darauf verzichtet, sich mit Resultaten aus der täglichen Praxis zu präsentieren.

Bei den anderen pixelt es gewaltig, denn es werden abgelehnte Wettbewerbe und erste kleinere Realisierungen auf kleines Format gebracht, was in der Fülle der Arbeiten oft ein
heilloses Flimmern hervorruft. nan, das sind Nina Lorber, Amir Aman und Norbert Trolf, durchschnittlich circa 32 Jahre alt, zeigen hingegen
ganz schlicht Architektur, die zum Greifen nah zu sein scheint, aber ohne Auftrag entworfen wurde und bei näherem Hinsehen wohl
selten eine Chance auf Realisierung hätte. Ein Projekt pro Pixel, eine Idee pro Projekt, in einer Form, für die man nicht sehr tief in die Denkmuster eines Architekten eingedrungen sein muss, um sie zu verstehen. Es sind Einfälle, die bei anderen Projekten entstanden sind, dann aber zur Seite gelegt wurden und nun als kleine
Sammlung handfester Visionen in die Welt entlassen werden.

Bei den Gedankenspielereien kommt es weniger auf die architektonische Form an, sondern darauf, immer wieder „Was wäre wenn?“ zu fragen. Was würde passieren, wenn Israelis und Palästinenser in Terrassenhäusern entlang der Grenze wohnen würden? Wäre das eine besonders perfide Form von Kontrollarchitektur oder würde man irgendwann aufhören, auf den
Nachbarn zu schießen? Wieso könnte ein Hochhaus nicht für Extremsportarten genutzt werden? Warum baut man nicht Wohnblöcke um ein Fußballstadion herum oder begräbt die
Infrastruktur, die der Alpentourismus verlangt, unter einer dicken Abraumschicht aus dem Brennerbasistunnel und züchtet darauf
eine heile Instant-Natur? Und viele Fragen mehr, die keineswegs so rosarot-naiv sind, wie es einem die charmanten Zeichnungen auf den
ersten Blick nahe legen, denen anzusehen ist, dass die jungen Architekten Erfahrungen in den Niederlanden gesammelt haben.

Natürlich sind die Ideenskizzen auch aus der Not geboren, noch kein realisiertes Projekt im Portfolio zu haben. Bei zwei Wettbewerben, für
ein Hotel und ein Altenheim, gewannen nan den ersten Preis, warten jetzt auf ihre Beauftragung, machen weiter Wettbewerbe und lehren
zum Gelderwerb als Assistenten an der TU Wien und der Angewandten. Kurz: Sie teilen das Schicksal vieler anderer junger Büros, inklusive der prekären Situation, dass die Mitgliedschaft
in der Architektenkammer momentan zu teuer ist. Der kulturelle Nutzen einer vitalen Szene junger Architekten ist immens, aber der Schritt in die Professionalisierung wird von denen erschwert, die bereits oben angekommen sind.

Vielleicht entstehen Zeichnungsserien wie diese nur in den Warteschleifen der Berufsanfängerjahre. Später wird jede Gelegenheit genutzt, Gebautes auch zu zeigen. Andererseits
positionieren sich immer mehr Architekten als Regisseure urbaner Szenarien. An denen herrscht bei nan kein Mangel, und wie wenige
schaffen sie es, diese auch darzustellen. So können sich die Ideen von ihren Verfassern ablösen und Teil eines allgemeinen Architekturdiskurses werden.

12. Juni 2004 Der Standard

Auf der Moosrampe zur Kunstgrotte

Wer zur Ausstellung von Herzog & de Meuron nach Basel pilgert, sollte einen Abstecher nach Aarau einplanen, wo die Architekten ein Museum erweitert haben.

Unter den weltweit tätigen Stararchitekten, die mit Preisen überhäuft und an den Hochschulen hofiert werden wie Außerirdische, gibt es nur wenige, die ihr Publikum mit jedem Bau vor neue intellektuelle Herausforderungen stellen. Ob nun Hadid, Eisenman, Gehry, Meier oder auch Coop Himmelb(l)au zu einem Wettbewerb antreten - was dabei herauskommt, mag für sich genommen ganz fantastisch sein, wird aber mit Sicherheit eine unverkennbare Handschrift tragen, einen jeweils typischen Stil, der das Ergebnis so vorhersehbar macht wie das Amen im Gebet.

Zu den seltenen Ausnahmen zählen, neben Rem Koolhaas, auch Jacques Herzog und Pierre de Meuron, die längst auf die Feststellung Wert legen, sie seien eigentlich keine Schweizer Architekten, sondern Global Player, deren Büro sich aus alter Verbundenheit in Basel befinde. Nun hat Basel aber zweifellos die höchste Dichte an H&dM-Bauten und ist die erste europäische Station einer großen Werkschau, die dort bis 12. September zu sehen ist. Im Schaulager, einem vor einem Jahr fertig gestellten Zwitter aus Ausstellungshalle und Kunstdepot, das in dieser Form nur (als Direktauftrag) entstehen konnte, weil die Global Player über langjährige gute Kontakte zur Kunstszene in Basel verfügen.

In jeder Stararchitektenkarriere gibt es Ursprungsmythen, die oft ganz profan darin bestehen, der oder die habe jahrelang ein visionäres Projekt nach dem anderen zu Papier gebracht, einsam und unverstanden, bevor dann endlich der Durchbruch kam und damit die Chance, vom Träumen zum Bauen überzugehen. Meist geistern skizzenhaft formulierte Projekte jahrzehntelang durch die einschlägigen Magazine, bevor sie langsam von realisierten Gebäuden abgelöst werden.

Herzog & de Meuron haben diese Phase übersprungen und gleich nach dem Studium zu bauen begonnen. Ihr architektonisches Urerlebnis war keine Formvision, sondern eine Performance, bei der sie im Jahre 1978 anlässlich der Basler Fastnacht Joseph Beuys kennen lernten. Aus dem Pulverdampf der Postmoderne ragte mit Beuys' schwer verdaulichen, materialfixierten Arbeiten eine Position heraus, die die beiden kaum dreißigjährigen Architekten auf ihre ersten eigenen Projekte zu übertragen versuchten.

Während sich ihre Zeitgenossen an Giebel, Erker und Säule vergingen, griffen Herzog & de Meuron zwar nicht genauso wie Beuys zu Fett, Filz und Kupfer. Aber sie begannen, sich für die unmittelbare Wirkung von Materialien zu interessieren, für Stimmungsbilder und Situationen. „Ich glaube, die Architektur ruft in uns Erinnerungen an das eigene Leben wach, aber kaum Erinnerungen an die Architekturgeschichte“, schrieb Jacques Herzog 1982. Bis dahin hatten sie kaum etwas gebaut, doch die theoriefreudigen Schweizer Zeitschriften befassten sich bereits ausführlich mit den erklärten Antitheoretikern, die keine schön schraffierten Perspektiven, sondern spröde Werkpläne vorzuweisen hatten. Die von Künstlerhand gezeichnet waren, keine Frage, doch so cool und in harte Fakten verliebt wie die amerikanische Minimal Art der Sechzigerjahre und nicht dem schönen Schein postmoderner Pappmachéwelten verfallen.

Bis weit in die Neunzigerjahre hinein galten Herzog & de Meuron manchen Kritikern als trockene Minimalisten, deren Bauten beziehungslos und kistenhaft in der Gegend herumstehen, ausgefeilte Konstruktionen zwar mit immer wieder überraschenden Fassaden, aber innenräumlich völlig uninteressant. Alle warteten auf die nächste Außenhülle und freuten sich wohl insgeheim darauf, dass den beiden irgendwann nichts mehr einfallen würde. Aber die Auftragsbücher füllten sich, und nie wurde es langweilig, denn Herzog & de Meuron ließen sich nicht zum gefälligen Selbstzitat hinreißen.

Dann gewannen sie in London den Wettbewerb für Tate Modern, die Umnutzung eines Kraftwerks als Museum, und wurden in die erste Liga der international gefragtesten Architekturbüros hinaufkatapultiert. Ihr Entwurf war der mit Abstand zurückhaltendste. Aber der Medienrummel um die Stars aus Basel löste die Blockade, mit anderen Formen als der schon sprichwörtlichen Schweizer Kiste an eine Aufgabe heranzugehen.

Herzog & de Meuron haben das Augenmaß nicht verloren, aber sie sind freier geworden. Der Erfolg gibt ihnen Rückendeckung, um wie in Aarau zwei eigentlich einander widerstrebende Haltungen in einem Bau zu vereinen. Von außen ist schwer zu entscheiden, was hier neu ist und was nicht. Der Quader des Kunsthauses von 1959 könnte auch jüngeren Datums sein, aber die Architekten haben lediglich das Erdgeschoß aus dem vorhandenen Bau wie eine Schublade herausgezogen und mit einer umlaufende Glasfassade eingeschlossen. Dadurch verschwand der Vorplatz, den das Museum bislang für temporäre Kunstpräsentationen genutzt hat, der aber wegen seiner Lage an einer Umfahrungsstraße nur geringe Aufenthaltsqualitäten hatte.

Um die öffentliche Fläche zu erhalten, wurde der Platz um eine Etage nach oben verlegt. Neben dem Museumseingang führt nun eine mit grünem Glas umschlossene Wendeltreppe „ins Grüne“, das heißt zunächst aufs Dach des eingeschoßigen Anbaus. Als Material verwendeten die Architekten dort grobporigen Tuffstein, der schon mit Moos bewachsen auf die Baustelle kam. So haben zwar die Skateboardfahrer keinen Spaß an der größten Rampe des Kleinstädtchens Aarau, aber die Dachfläche wird zu einer Mischform aus städtischem Platz und angrenzendem Park. Nebenbei ist die Neigung des Dachs ein Kunstgriff, um das Entwässerungsproblem jeder begehbaren Dachfläche auf ganz einfache Weise in den Griff zu bekommen.

Herzog & de Meuron scheuen sich nicht, etwas zu tun, das den meisten Architekten nicht in den Sinn käme. Sie werden unscharf, lassen die Frage offen, wo das Gebäude aufhört und der Park beginnt, setzen die rustikale Steinrampe völlig unvermittelt auf die modernistische Glasfront, verwenden grünes Glas als Hinweis auf den Park am Fuße der Rampe.

Diese völlig unironischen Spielereien setzen sich im Inneren fort. Die Eingangshalle des Museums liegt unter der Rampe, also irgendwie auch unter dem Park und wurde daher behandelt wie eine künstliche Grotte, obwohl doch die großen Glasscheiben jede Düsternis ausschließen. Trotzdem war das Thema hier Grotte, und so krümmen sich die Wände, was etwas befremdlich wirkt, aber in Nischen und Rücksprüngen sämtliche Einbauten für Regale, Kaffeemaschine und Vitrinen verschwinden lässt. Man muss sich nur freimachen von der strikten Rechtwinkeligkeit, dann lösen sich viele Fragen von selbst. Der Rest des Hauses ist unauffällig und steht der Kunst zu Diensten. Nach der Erweiterung ist nun genug Platz geschaffen, eine der größten kommunalen Kunstsammlungen der Schweiz auszustellen.

8. Juni 2004 Der Standard

Andrang zu den Architekturtagen

Arme österreichische Architektur. Angeblich fehlt ihr ganz dringend ein Sigfried Giedion, ein parteiischer Theoretiker also, der in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts die moderne Architektur in eine Heldensaga verwandelt und alle Abweichler mit Ignoranz gestraft hat.

Fehlt wirklich ein Sigfried Giedion? Wolf D. Prix und Laurids Ortner jedenfalls riefen verzweifelt nach einem Chronisten seines Schlags, als sie am vergangenen Samstag ins Architekturzentrum Wien kamen, um durch die Ausstellung The austrian phenomenon zu führen.

Ein von den Architekturtagen sichtlich ermüdeter Direktor Dietmar Steiner hatte Mühe, die beiden davon abzuhalten, sich vor dem vollbesetzten Saal zu gebärden wie die beiden Alten aus der Muppets Show.

Über mangelnden Publikumsandrang konnten sich die Architekturtage ohnehin nicht beklagen. In ganz Österreich standen Architekturbüros offen, wurden Führungen und Feste geboten, fanden Workshops für Kinder statt.

Einige Stichproben in Wien ergaben ein sehr durchmischtes Publikum. Zu einer Führung durch die am Burggarten aufgestockten Luxusdachwohnungen waren rund fünfzig Interessierte aller Altersgruppen gekommen und wälzten die Frage, wer wohl der allein stehende Herr sein mag, der dort demnächst sein 520 Quadratmeter großes Heim beziehen wird.

Das Interesse beweist: Wenn es der österreichischen Architektur an etwas mangelt, dann an noch mehr Gelegenheiten, in die Öffentlichkeit zu treten.

Das Programm wurde durch Fahrten nach Bratislava ergänzt, die so überbucht waren, dass eine Fortsetzung wünschenswert wäre.

Wer alles verpasst hat: Bis zum 26. Juni präsentieren sich dort österreichische und slowakische Architekturbüros in der Ausstellung Wonderland.

5. Juni 2004 Der Standard

Vielfalt aus dem Systembaukasten

Freier Eintritt zu den Architekturtagen: Der Wohnbau von Nasrine Seraji in Wien führt vor, was sich mit einem großen Stapel gelochter Betonplatten anfangen lässt.

Architekten sprechen architektonisch. Für diese Sprache gibt es noch keine Wörterbücher, wird es vielleicht auch nie geben, weil die Dialekte so verschieden sind. Dabei wäre alles so einfach, wenn Architekten das Reden ihren Bauten überlassen würden. Bei den Architekturtagen, die am heutigen Samstag mit großem Programm (www.architekturtage.at) zu Ende gehen, besteht die seltene Gelegenheit, beides ineinander zu blenden und am selben Ort zu erleben: In einem Treppenhaus mit Tiefgaragencharme verpufft jedes Gerede von Konzepten, in einem gut proportionierten Zimmer mit atemberaubender Aussicht muss erst gar nicht zu hochfliegenden Erläuterungen angesetzt werden.

Adolf Loos, der Innovationsskeptiker, gab seinen Zeitgenossen, die jeden Montagmorgen die Architektur aufs Neue zu erfinden versuchen, den Rat mit auf den Weg, dass nur das Denkmal und das Grabmal zur Architektur zählen, alles andere sei mehr oder weniger durch Konventionen bestimmt. Loos verachtete das, was später Design genannt wurde, und dämpfte den Reformeifer seiner Kollegen, als er die mit Wohnungen voll gestopften Zinshäuser als ehrlichen Ausdruck der Zeit lobte.

Das Fertigteilsystem der Firma Mischek, so steht zu vermuten, hätte ihm gefallen, schließlich experimentierte er selbst mit vorfabrizierten Elementen und meldete ein Haus, das sich nur auf eine einzige Mauer stützen sollte, beim Patentamt an.

Seit 1968 produziert Mischek die Elemente für die so genannte Großtafelbauweise, umgangssprachlich „Plattenbau“. Allerdings kennt man in Österreich nicht die Imageprobleme dieses Bausystems, das im bundesdeutschen Sprachraum so fad nach DDR schmeckt wie „Sättigungsbeilagen“ oder „Broiler“. Zu Unrecht, denn hat sich nicht gerade der Kapitalismus die Rationalisierung aller Lebensbereiche und somit auch die des Bauens auf die Fahnen geschrieben? Nur beim Namen nennen sollte man die Dinge nicht.

Flankiert von ambitionierten Architekten hat Mischek den Sprung von der Baufirma zum Wohnungsunternehmen geschafft und ist in allen Stadtentwicklungsgebieten, sei es am Wienerberg oder auf der Donauplatte mit dabei.

Das dreigliedrige Wohnhaus mit 50 frei finanzierten Eigentumswohnungen der Architektin Nasrine Seraji ragt hingegen als strahlend weißes Massiv hinter einer Supermarktbaracke weit draußen an der Linzer Straße hervor. Rechts und links stehen Siedlungshäuser, es riecht nach Schnitzelpfanne.

Die Wohnungen sind fast alle zum Grünraum des Halterbachs orientiert. An dieser Seite zeigt sich das Haus offener und rückt mit seinem Geheimnis heraus. Denn Nasrine Seraji wollte kein Kartenhaus errichten, wie es das „Mischek-System“ eigentlich nahe legt. Ende März, auf dem von Margit Ulama organisierten Architekturfestival Turn-On nahm die bis vor kurzem an der Wiener Akademie lehrende Architektin einen weiten Anlauf, um ihr Konzept zu erläutern.

In Serajis geschliffenem Vortrag war so viel von individuellen Lebensstilen, dem Erbe von Le Corbusiers Wohnmaschinen und kleinen Triumphen über das Profitdenken ihres Auftraggebers die Rede, dass es einem leicht schwindlig werden konnte. Aber man muss das alles nicht unbedingt gehört haben, um sich dieser Tage ein Urteil bilden zu können, wenn für eine Ausstellung mit Architekturfotografien von Pez Hejduk anlässlich der Architekturtage die Türen offen stehen.

Wesentliches Element sind die „Voids“, doppelgeschossige Lufträume, die zwar profitable Wohnfläche verschwenden, aber gerade darin liegt ihre Qualität. Unübersehbar ist allerdings, dass man sich in einem „Konzeptbau“ befindet, einem riesigen, auf direktem Wege vom Modell in die Realität übertragenem Baukasten. Wegen der komplizierten Planung musste an anderen Stellen gespart werden. An der Fassade, deren Formengeschiebe nur mit pappigem Thermoputz gebändigt werden konnte, in den Stiegenhäusern und Eingangsbereichen. Auch ob die „Voids“ immer an der richtigen Stelle der Wohnung liegen, kann vor Ort überprüft werden.

[ Pez Hejduk, Viewpoints, heute ab 14.30 Uhr, bis 20. 6., Di-Fr 16-20 Uhr, Sa-So 11-17 Uhr, Linzer Straße 421A ]

29. Mai 2004 Der Standard

„Ich wollte den Krieg auf keinen Fall verherrlichen“

Klassik als Utopie? Der Architekt Friedrich St. Florian über sein Weltkriegsmemorial in Washington

Herr St. Florian, mit Ihren Entwürfen aus den Sechzigerjahren, die gegenwärtig in der Ausstellung „The Austrian Phenomenon“ im Architekturzentrum Wien zu sehen sind, haben Sie sich einen festen Platz unter den Visionären der österreichischen Architektur gesichert. Ihr „National World War II Memorial“ hingegen ist auch in den USA auf Kritik gestoßen - wundert Sie das?
St. Florian: Nein, das verstehe ich, denn eigentlich bin ich ein moderner Architekt. Aber das Memorial, zu dem ich den Wettbewerb 1997 gewonnen habe, liegt mitten auf der National Mall, der grünen Achse, die vom Hügel des Capitols nach Westen führt, über den Obelisken des Washington Monument und den Tempel des Lincoln Memorial hinaus in die Landschaft.

Ich hoffe, es stört Sie nicht, wenn ich immer wieder auf englische Worte zurückgreife und auch bei meinem Bauwerk weiter von Memorial spreche, im Englischen gibt es keine Unterscheidung zwischen Denkmal und Mahnmal.

Alle Bauten an der Mall sind im klassischen Stil errichtet, und dafür gibt es einen wirklich zwingenden Grund, der zurückgeht auf Thomas Jefferson. Er hat selbst Architektur entworfen, zum Beispiel die Universität von Virginia. Jefferson kannte Paris, er war Klassizist. Es gab ja zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit keine amerikanische Architektur. Jefferson wollte aus der Kultur der ersten Siedler etwas Verbindendes herausfiltern und wählte für Washington den klassischen „Greco-Roman Style“.

Nun hat sich nicht nur die Bevölkerung der USA seither verändert, sondern auch die Architektur. Selbst an der Mall entstanden zeitgenössische Gebäude wie die National Gallery von I. M. Pei, dem späteren Architekten der Louvre-Pyramide.

St. Florian: Das ist richtig. Es gibt ja auch das Vietnam Memorial. Aber diese Bauten stehen am Rand, nicht direkt in der Achse. In dem kleinen Buch Architektur und Utopie schreibt Manfredo Tafuri über die Mall in Washington, sie sei ein „zeitloser Olymp, für ewig utopisch, positiv, wo Amerika ängstlich Wurzeln zu schlagen versuchte“. Jefferson wollte, dass das Washington stabil bleiben, nicht von der gesellschaftlichen Entwicklung mitgerissen werden sollte, wie er das für New York vorausgesehen hat. Als „Ideal unbefleckter Vernunft“.

Aber selbst wenn man dies als Gründungsakt akzeptiert, der in seiner Architektur Vernunft und Aufklärung verkörpert, so bleibt doch die Frage, warum Sie nicht eine Form wie den Obelisken gewählt haben, der ja als altägyptisches Motiv weit hinter den Klassizismus zurückgeht und uns heute in seiner zeitlosen Form „moderner“ erscheint als der gegenüberliegende, erst 1922 eröffnete Tempel des Lincoln Memorial?

St. Florian: Aber die moderne Architektur geht langsam zu Ende. Es war eine der großen Epochen der Architektur, aber man muss sich fragen, wo wir heute stehen. Hat die moderne Architektur heute die Kraft und die Energie, die sie vor zwanzig, dreißig Jahren gehabt hat? Mit dem Memorial habe ich daher auf eine sehr amerikanische Form des Klassizismus zurückgegriffen.

Was bedeutet es denn, mit dem heutigen Wissen über Architektur in diesen Formen zu bauen? Oder ignorieren Sie die vergangenen hundert Jahre?

St. Florian: Es ist für einen modernen Architekten natürlich eine Herausforderung. Aber sehen Sie, alles besteht aus massivem Granit, nichts ist irgendwie verkleidet. Das ist doch eine kraftvolle Geste. Das Memorial wird so lange bestehen bleiben wie die Vereinigten Staaten von Amerika.

Die Geste, den Stein massiv zu verwenden, ist doch eine moderne. Zu Jeffersons Zeiten bestand der Klassizismus aus Ziegeln oder Holz, vereinheitlicht und überdeckt von einer Gipsschicht.

St. Florian: Das ist wahr. In der Massivität sehe ich auch einen Bezugspunkt zu Mies van der Rohe, zur Ehrlichkeit des Bauens. Ich muss sagen, ich bin sehr stolz auf das Memorial und die Steinmetzarbeiten. Aber ein wichtiger Bestandteil sind auch die Springbrunnen. Neben Granit und Wasser gibt es nur noch Bronze, als Material für die Lorbeerkränze an den Säulen, die jeweils einen Bundesstaat und in ihrer Gesamtheit die Homefront repräsentieren. Das Memorial konnte ja kein Gebäude sein und die Blickachse verstellen. Also rahmt es die Achse.

Sie versuchen, in einem optimistischen Sinne konservativ zu sein und orientieren sich an den Idealen der Architektur der Mall. Aber das Mahnmal handelt vom Krieg. Ist es ein Siegerdenkmal? Kommen die Opfer darin vor?

St. Florian: Ich wollte den Krieg auf keinen Fall verherrlichen. Die Opfer, auf amerikanischer Seite waren es rund 400.000 Soldaten, werden durch eine Wand mit 4000 goldenen Sternen repräsentiert. Diese Sterne wurden den Angehörigen der gefallenen Soldaten zusammen mit einer gefalteten amerikanischen Flagge überbracht.

Und die Opfer in der Zivilbevölkerung?

St. Florian: Eine Balance herzustellen und nicht nur den Sieg der Demokratie zu zeigen, sondern auch das Leiden, das dieser Krieg über so viele Millionen Unschuldige gebracht hat, war mir immer sehr wichtig. Das Memorial hat Inschriften an verschiedenen Stellen, dort sollte auch daran erinnert werden. Nur wurden diese Inschriften nach dem Amtsantritt von Präsident Bush ausgetauscht, das ist sehr bedauerlich.

Gibt es einen Zusammenhang zwischen Ihren frühen Arbeiten und dem Memorial?

St. Florian: Ich bin 1961 das erste Mal als Architekturstudent in die USA gekommen, seit 1967 lebe ich hier und bin seit fast vierzig Jahren Professor an der Architekturschule in Rhode Island. Damals war ich sehr von Buckminster Fullers Ideen beeinflusst und suchte nach einer Architektur, die nur da ist, wenn man sie braucht. Irgendwann in den Siebzigern ging es damit nicht mehr weiter, weil keine Technologien zur Verfügung standen, so eine Architektur zu verwirklichen. Die Lehre war mir immer wichtiger, als selbst zu bauen. Aber jetzt will ich damit beginnen. Ich habe den Entschluss gefasst, meine Professur niederzulegen und mit dem Bauen anzufangen.

Werden dabei die Erfahrungen bei dem Memorial eine Rolle spielen?

St. Florian: Ganz bestimmt. Ich werde eine Position einnehmen, die das Memorial als Statement berücksichtigt. Sonst würde mich das Bauen gar nicht interessieren.

27. Mai 2004 Der Standard

Offene Häuser, offene Ateliers, offene Grenzen

Das Programm der diesjährigen Architekturtage könnte in seinem Umfang leicht mit dem Telefonbuch einer Kleinstadt konkurrieren. Es wäre unmöglich, im Rahmen dieser Beilage auch nur annähernd einen Überblick zu geben.

Aber ein paar Häppchen können vorab doch gereicht werden. Pro Bundesland beleuchten die Autoren und Autorinnen des STANDARD-Spezial jeweils ein Projekt, das im Rahmen der Architekturtage zu besichtigen ist, oder stellen einen Programmpunkt in den Vordergrund.

Wer sich über die zahlreichen anderen Angebote informieren möchte, dem stehen mehrere Möglichkeiten zur Verfügung.

Für jedes Bundesland gibt es einen eigenen Programmfolder. Die Folder liegen an vielen Orten aus, sind auf jeden Fall aber bei den Architekturzentren in den einzelnen Bundesländern erhältlich, deren Adressen in den Infoblöcken genannt sind.

Hotline

Ein andere Weg, Genaueres zu erfahren, ist die kostenlose Hotline 0800/67 61 20.

Und schließlich stehen die Informationen auf der Webseite www.architekturtage.at zur Verfügung.

Jedes Bundesland setzt eigene Akzente. In Kärnten gibt es ein Kinderprogramm, in Wien werden Spaziergänge als so genannte „Grätzeltouren“ angeboten, in Tirol bauen junge Architekturbüros auf dem Marktplatz von Innsbruck eine gemeinsame Riesentheke, das Burgenland lockt zu „geheimen Orten“ - um hier nur einige herauszugreifen.

Herausragend an den diesjährigen Architekturtagen ist vor allem, das die Angebote nicht nur in den Städten zu finden sind.

Im Gegenteil, es besteht vielerorts die Möglichkeit, sich ein wenig nahtouristisch zu orientieren und an einer Tour übers Land teilzunehmen. Und wer dort bereits sein Zuhause hat, umso besser - bei dem öffnet der Architekt nebenan sein Atelier oder ein Haus wird zugänglich, das sonst verschlossen ist.

Besonderes Highlight ist die Einbeziehung der Nachbarstaaten Slowakei, Ungarn, Liechtenstein, Schweiz und Deutschland, wo in den Grenzregionen ebenfalls Veranstaltungen stattfinden. Für grenzüberschreitenden Verkehr ist mit zahlreichen wechselseitigen Touren gesorgt.

Trotz EU-Erweiterung gilt: Reisepässe nicht vergessen.

nextroom.at

Für weiterführende Informationen zu den Gebäuden sei noch auf die österreichische Architekturplattform www.nextroom.at hingewiesen. Die meisten der in den letzten Jahren errichteten interessanten Gebäude sind dort zu finden, vorgestellt mit Fotos, Grundrissen und erläuternden Texten, ergänzt durch Artikel, die in Zeitungen darüber erschienen sind. Auch die Bauten in der Slowakei wird seit kurzem aufgenommen worden.

Doch wodurch unterscheidet sich eigentlich ein interessantes Haus von einem banalen? Bei den Architekturtage besteht die seltene Gelegenheit, dieser Frage meist bereits in der unmittelbaren Nachbarschaft auf den Grund zu gehen.

Stoff zum Schauen, Staunen, manchmal auch Spotten, aber in jedem Falle zum Nachdenken über die eigenen vier Wände und die von anderen ist genug vorhanden. Überall in Österreich.

27. Mai 2004 Der Standard

Eine Architekturschule des Sehens

Architektur lebt vom Vergleich. Die Architekturtage bieten die Möglichkeit, in kurzer Zeit viel anzuschauen, auf Touren zu gehen, Ateliers zu besuchen. Jeder ist in Architektur- fragen Experte, nur merkt man das erst, wenn die gewohnte Umgebung verlassen wird.

Tage der offenen Tür gibt es viele, und meistens haben sie einen wohl kalkulierten Zweck. Da werden Schüler oder Studenten umworben, Betriebe stellen sich vor und hoffen auf qualifiziertes Personal, oder Museen senken die Eintrittsschwelle und würden sich freuen, wenn man bald wieder kommt.

Immer geht es darum, Kontakt herzustellen, Bindungen aufzubauen. Aber die Architekturtage? Viele Bauten, die diesmal dabei sind, werden vielleicht nur ein einziges Mal, am 4. und 5. Juni, ihre Portale öffnen. Für die wenigsten Architekten, die an diesem Tag in ihre Ateliers einladen, dürfte die Hoffnung, dabei auf einen zukünftigen Bauherren zu stoßen, die Motivation sein.

Der Sinn der Architekturtage ist daher viel weniger einfach zu erfassen als bei anderen Tagen der offenen Tür. Man sucht ihn am besten zwischen den Stühlen, da, wo auch die Architekten sitzen.

Architektur ist einerseits eine Form der Dienstleistung. Aber ganz im Gegensatz zu vielen anderen Dienstleistungen wird die Architektur vor aller Augen vollzogen, hochgezogen, gebaut. Niemand kann einem vorschreiben, ob man sein Konto bei dieser oder jener Bank eröffnet, und auch nicht, welche Schuhe man zu kaufen hat. Geht es aber um Architektur, verlässt man die Privatsphäre und tritt unter die Augen der Öffentlichkeit.

Für viele Architekten, die sonst vielleicht eher Künstler oder „richtige“ Ingenieure geworden wären, besteht darin der Reiz ihres Berufes. Mit ihren Werken setzen sie ein winziges Steinchen in die äußere Welt, und dieser Baustein hat Bestand. Niemand baut nur für seinen Bauherren, es sei denn, das Haus entstünde auf einer einsamen Insel. Da dies selten der Fall ist, wird das Gebäude einiges durchzustehen haben. Fremde Augen werden sich darauf richten und darüber befinden, ob der Entwurf in die Welt gesetzt werden darf.

Wenn es um Architektur geht, fühlt sich jeder als Experte. Zu Recht und zu Unrecht. Die eigenen Erfahrungen beim Wohnen oder am Arbeitsplatz, als Stadtbenutzer oder Landbewohner sind wertvoll, aber warum sollte es nicht ganz anders aussehen?

Indem die Architekturtage meist neue, erst in den letzten Jahren fertig gestellte Bauten zeigen, bieten sie dem Publikum die Möglichkeit, die Welt durch andere Fenster zu betrachten.
Wobei ja Neues nicht automatisch besser ist. Aber Entscheidungskriterien zum Alltagsthema Architektur zu finden setzt voraus, sich auf andere Positionen einzulassen, zu vergleichen, kurz: sehr viel Erfahrungen zu sammeln.

Eindrücke sammeln

Die Architekturtage sind die ideale Möglichkeit, den Horizont zu erweitern, vielleicht Neues in der gewohnten Umgebung zu entdecken, mit Architekten und Nutzern zu diskutieren.

Wenn es um Architektur geht, ist jeder Experte. Aber das Wissen, das jeder besitzt, lässt sich nur in der Konfrontation mit anderen Positionen anwenden. Die Gelegenheit dazu sollte man sich nicht entgehen lassen.

22. Mai 2004 Der Standard

Fertigteilkeller mit Blickkanone

Das Weingut Leo Hillinger im burgenländischen Jois von gerner°gerner plus

Scheitern als Chance. Die burgenländische Gemeinde Jois am Nordende des Neusiedler Sees rutschte Anfang der achtziger Jahre in ein tiefes Schuldenloch. Die Errichtung eines Yachthafens und der Kanalbau brachten Jois erst an den Rande des Ruins und dann in die Schlagzeilen. Der schlechte Ruf klebte zäh an der Gemeinde. Auch als man gegen Ende der Neunziger aus dem Gröbsten raus war, wurde die Erinnerung an den Fast-Bankrott mit jedem Schlagloch auf der Joiser Hauptstraße wieder wachgerüttelt.

In dieser Zeit kam das Architektenpaar Gerda und Andreas Gerner zusammen mit einer bauwilligen Familie das erste Mal nach Jois. Für eine Umgebung, die aussieht, wie die 1:1-Version einer Modellbahnanlage, auf der jemand wahllos ein paar putzige Häuschen verstreut hat, entwickelten gerner°gerner plus einen Mini-Wolkenbügel. Das schlauchförmige Haus stemmt sich in den Himmel und reckt die Fenster, um Seeblick zu bekommen. Das verstieß gegen sämtliche Baubestimmungen, aber der Bürgermeister sah darin ein Chance, Jois positive Presse zu bringen, und peitschte das Vorhaben durch alle Instanzen.

Der Erfolg gab ihm Recht. Für das Wohnhaus „suedsee“ bekamen die Architekten 2002 einen Metallbaupreis und ernteten viel Lob.

Für Leo Hillinger, Joiser Winzerssohn mit Dressman-Allüren und angeborenem Sinn für Marketing, war das ein Coup ganz nach seinem Geschmack. Die Aufteilung seines Betriebs in vier Produktionsstandorte störte ihn seit längerem, und da keiner davon die nötigen Erweiterungsflächen bot, beauftragte er gerner°gerner plus mit dem Entwurf für ein neues, großes Weingut am nördlichen Ortsrand von Jois, mitten in den Weingärten.

Selbst ein Betriebsgebäude war in dem geschützen Landschaftraum schwer zu rechtfertigen. Aber zumindest in der Anfangsphase packte der architekturbegeisterte Bürgermeister noch einmal mit an. Für die Architekten begann der Weg durch die Instanzen.

Mittlerweile, so ist zu hören, bereuen die burgenländischen Landesbehörden die zahlreichen Ausnahmegenehmigungen. Nicht weil der Bau die Erwartungen verfehlt hat, sondern wegen der Schlangen von ebenfalls Bauwilligen, die einen Präzedenzfall wittern.

Ein großer Teil, etwa zwei Drittel, sind in den Weinhügel vergraben. Die Produktions- und Lagerhalle wurde im „Tagebau“ unter die Oberfläche versenkt und bildet den langen Schenkel eines „L“. Am einen Ende der lang gestreckten Halle führt eine Rampe in den Weinberg hinauf, über die die Anlieferung der Trauben erfolgt. An der gegenüberliegenden Seite fügten die Architekten eine Box an, die sich als Sichtkanone über den Weingarten erhebt. Die Landschaft des sanften, zum See hin auslaufenden Tals erscheint hier, im Verkaufs-, Verkostungs- und Seminarbereich, wie eine fast unwirklich liebliche Fototapete. In den Blick zum Seeufer hingegen, gerahmt durch eine weiteres Fenster, schiebt sich im Vordergrund der Joiser Einfamilienhaushügel. Der See schimmert am Horizont wie die Luftspiegelung auf einer heißen Asphaltstraße.

Der monitorhafte Verkaufsraum ist teilweise in den Hang gegraben. Vorne ragt er einige Meter über den kleinen Parkplatz, gehalten von zwei schrägen Stützen. Dass die konstruktive Herausforderung dieser Geste plausibel abgearbeitet und auch dargestellt wird - sonst ein Markenzeichen von gerner°gerner plus - lässt sich hier nicht sagen. Ganz im Gegensatz zur Produktionshalle, wo Fertigteile den Rhythmus vorgeben, sollte die Empfangsbox clean und cool sein, mit makellosen Wänden, ohne störende Stützen. Aber so sehr dieser Baukörper zur dramatischen Geste ansetzt, so wenig „Fleisch“ hat die Architektur an dieser Stelle.

Nichts gegen coole Kisten und cleane Innenräume, die hier sehr schlüssig gelöst sind, mit lederbespannten Paravents, in denen alle den Blick störenden Einbauten verschwinden. Das Unbehagen entsteht auf der haptischen und strukturellen Ebene. Eine Außenhaut aus Thermoputz, die beim Dagegenklopfen ihren tragenden Betonkern verleugnet, zählt zu den unangenehmsten aller Baumaterialien und war ursprünglich auch nicht vorgesehen. Der Bau(herr) muss sich die Frage gefallen lassen, wieso sein Weingut sich so anfühlt wie die Einfamilienhäuser in der Umgebung.

Die strukturellen Einwände gehen in einen Bereich, der möglicherweise nur für Architekten plausibel ist. Aber dennoch: Warum kann ein Bau, der in seinen „technischen“ Bereichen wie ein Baukasten aus Fertigteilen zusammengesteckt ist, diese Sprache nicht auch dort verwenden, wo er ans Tageslicht tritt? Noch dazu, weil die Ausnahmesituation, dass es ein Gebäude an dieser Stelle gar nicht geben dürfte, die Latte sehr hoch legt. Ein technischerer Zugang, für den gerner°gerner plus als Architekten sogar prädestiniert gewesen wären, hätte den Bau plausibler und „organischer“ erscheinen lassen und das Eingangsgebäude davor bewahrt, seine starken Seiten nur im Innenraum auszuspielen. Bei aller Kritik: Dort ist die Verbindung zweier grundverschiedener Bauweisen sehr geglückt.

15. Mai 2004 Der Standard

Ausflugsräume

Kurz vor dem Abriss des Kahlenberg-Hotels von Architekt Boltenstern meldete sich das Bundesdenkmalamt

Am 20. März diesen Jahres wurden auf dieser Seite in einem Vorher-Nachher-Vergleich die Planungen des Architekturbüros Neumann und Steiner für den Wiener Kahlenberg vorgestellt. Nach einem Totalabriss des Baus von Erich Boltenstern (1936), erweitert mit einem Hotel von Hermann Kutschera (1964), soll dort ein Komplex aus Tourismusschule, Restaurant, Gastgartenterrasse und Boardinghaus entstehen und somit auch der 270-Grad-Aussichtpunkt am Ende des Ensembles verschwinden. In der vergangenen Woche hat der Planungsausschuss der Stadt Wien die Abrissgenehmigung erteilt, „der Schandfleck muss weg“ tönt es aus SPÖ und FPÖ. In letzter Sekunde meldete sich das Bundesdenkmalamt. Neueste (!) Forschungen (!!) hätten ergeben, dass ja Erich Boltenstern, Architekt des Ringturms und des Staatsopern-Wiederaufbaus, auch für das Kahlenberg-Restaurant verantwortlich war, dem im kommenden Jahr eine Ausstellung im Wien Museum gewidmet wird. Um sich vor Ort zu der Behauptung des Architekten Steiner „vom ursprünglichen Bau ist eh kaum mehr etwas da“ (laut profil) eine Meinung bilden zu können, findet am 21. Mai um 17 Uhr am Kahlenberg eine Begehung statt, veranstaltet von der Österreichischen Gesellschaft für Architektur.

15. Mai 2004 Der Standard

Betonkeller mit eingebauter Tradition

Das Weingut Manincor von Angonese, Köberl und Boday in Fotografien von Walter Niedermayr

Als Nächstes, meint Walter Angonese, einer der drei, eigentlich vier Architekten, würde er gern eine Tiefgarage bauen. Er sagt es mit einem verschmitzten Lachen. Am großen Betonschlund des Weinguts Manincor hört sich das an, wie wenn jemand, der gerade von einer Amazonasexpedition zurückkehrt ist, nun behauptet, er möchte jetzt am liebsten an die Nordsee fahren.

Wahrscheinlich würde er wirklich gerne wieder in den Untergrund gehen, all die Fragen hinter sich zurücklassen, mit denen sich Architekten sonst abplagen. Entscheidungen zur Fassadengestaltung, zur Stellung der Baukörper, zum Ortsbezug - diese Themen, die nur in den wenigsten Fällen schlüssig aus einer spezifischen Bauaufgabe für einen speziellen Ort abgeleitet werden können und oft genug beim Blättern in aktuellen Architekturzeitschriften entschieden werden, spielen bei einem unterirdischen Bau einfach keine Rolle.

Als Baumaterial kam wegen der statischen Belastung nur Beton infrage. Das ist seit gut hundert Jahren ohnehin der Stoff, aus dem die Träume sind, aber nur in wenigen Fällen kann er in den hiesigen Breitegraden unverhüllt und ungedämmt verwendet werden. Es sei denn, der Bau ist eingegraben, steckt also in einer konstanten Klimazone, die seit jeher als Kühlquelle für die Weinlagerung angezapft wird.

Aber der Bau des Dreierteams aus Walter Angonese, Rainer Köberl und Silvia Boday ist mehr als nur ein Lager. Der Bauherr, Winzer, Ideengeber und in diesem Falle wohl wirklich vierte Architekt im Bunde, Michael Goëss-Enzenberg, wollte sämtliche Betriebsgebäude seines Weinguts unter die Erde verlegen, bis hin zum letzten Geräteschuppen.

Nicht weniger, aber auch nicht mehr. Es gibt keine Showelemente, um Bustouristen nach Kaltern in Südtirol zu locken. Manincor ist kein Loisium, wo die Stollen zur Multimedia-Geisterbahn zurechtgebogen wurden, und es hat kein Café, keinen Lehrpfad, nur einen kleinen Holzbau, ein Wachhaus an der Rampe zur Unterwelt, in dem die Weine verkauft werden. Hinein in den Berg gelangt man nur auf eigene Faust, oder wenn triftige Gründe vorliegen.

Zum Beispiel bei der Traubenernte. Da werden die Tröge auf der breiten Rampe hinuntergefahren, in einen Lastenaufzug verladen und gelangen so im Hügelinneren in den obersten von drei fast identischen, übereinander liegenden Räumen. Der Weg der Traube verläuft ab hier entsprechend der Schwerkraft. Zwischen den verschiedenen Gär- und Pressstationen auf Pumpen völlig zu verzichten und stattdessen das Ergebnis eines Arbeitsschritts einfach durch Löcher in der Decke auf die nächst- tiefere Ebene sprudeln zu lassen, mag leicht esoterisch erscheinen. Ob es den Weinen genützt hat, so sanft behandelt zu werden, sollen andere entscheiden.

Für das architektonische Konzept war damit das Maß fixiert, wie tief in die Erde hineingebaut werden musste. Wären die drei Stockwerke oberirdisch errichtet worden, wäre zwangsläufig ins Landschaftsbild eingegriffen worden. Nur im Untergrund war es möglich, sich ohne Rücksicht so viel Platz zu nehmen, wie eben notwendig ist.

Um Raum im Hügel zu schaffen, wurde dieser zunächst in Teilen abgetragen, die Ränder der Grube wurden mit Spritzbeton gesichert und der eigentliche Bau als konventioneller Hochbau hineingesetzt. Dann erhielt das Ganze als Deckel eine Betonplatte mit so viel Erde darauf, dass wieder Weinreben angepflanzt werden konnten. Der geräumige Spalt zwischen den rauen Grubenwänden und dem fein verschalten Kerngehäuse dient als Klimaschacht. An einer Stelle taucht das Gebäude wieder auf, im Wurmfortsatz eines kleinen Pavillons für Degustationen. Er liegt am Ende einer Raumachse, die den Berg quer zur Hauptladerampe durchschneidet und die technischen Gär-, Press- und Lagerräume von der imposanten Eingangshalle trennt. Am einen Ende der Degustationspavillon, am anderen das historische Weingut, der Familiensitz der Goëss-Enzenbergs.

So viel Raumfülle entsteht nur bedingt als Abfallprodukt ausgetüftelter Produktionsanlagen. „Der Wein erzählt dir nicht wirklich, was du tun sollst“, meint Rainer Köberl, dessen M-Preis-Filialen auch nicht gehört haben, was Supermarktregale zu sagen haben.

Nichts an diesem Bau wirkt irgendwo abgelauscht, auch den Einflüsterungen der mächtigen Bauindustrie konnte widerstanden werden. Katalogdetails kommen nicht vor. Sämtliche Einbauten, sofern sie nicht dem Wein dienen, wurden aus angerostetem Stahl gefertigt. Um, wie Angonese sagt, Tradition und Patina gleich von Beginn hineinzuholen. Wenn es Vorbilder gibt, dann am ehesten bei Carlo Scarpa, dem Handwerksfetischisten aus Venedig, wo Angonese seine Studienzeit verbrachte.

Tradition und Neubeginn sind auch für Goëss-Enzenberg entscheidend. Manincor ist Jahrhunderte alt, aber erst seit knapp zehn Jahren wird aus den eigenen Trauben dort wieder ein eigener Wein hergestellt.

14. Mai 2004 Der Standard

Generalsanierung im Allerweltsdesign

Das Hilton am Wiener Stadtpark trägt jetzt die Handschrift Hans Holleins

Als das Hilton im Jahr 1975 eröffnet wurde, kehrte der Jugendstil nach Wien zurück. Oder jedenfalls das, was amerikanische Hotelmanager sich darunter vorstellten. Die Lobby war eine holzvertäfelte Höhle, von einer Tiffanyglasdecke in schummriges Licht getaucht, es gab einen Ballsaal mit Ornamenten frei nach Gustav Klimt und an der Fassade rankten sich Balkongitter, die eher nach Paris als an einen groben Betonklotz gepasst hätten.

Mit diesen trüben Erinnerungen im Kopf wird man erst einmal aufatmen, wenn das Hilton am Montag nach 18-monatiger Bauzeit wieder in Betrieb genommen wird. Ein Eigentümerwechsel, von der Immobilientochter der Swissair zu den Familien Dichand und Soravia, brachte frisches Geld, der Umbau hat 61 Mio. Euro gekostet.

Hilton ist weiterhin nur Mieter, konnte für die Innenausstattung aber das Architekturbüro Robinson Conn aus London nominieren, das bereits bei anderen Hilton-Hotels tätig war.

Mit der Bereinigung der Fassade und dem Einbau eines Konferenzzentrums wurde Hans Hollein beauftragt. Dessen ursprüngliche Pläne sahen die Aufstockung des Hotel mit einer „Wolke“ aus gläsernen Kästen vor, in denen Luxusappartements und weitere Suiten untergebracht werden sollten.

Es stand zu befürchten, dass Hollein nach dem umstrittenen „Soravia-Wing“ vor der Albertina der Stadt nun ein weiteres Zeichen aus seiner privaten Bauformschatulle aufprägen werde.

Aber das Hilton geriet in den Strudel der Hochhausdebatte am gegenüberliegenden Bahnhof Wien-Mitte und man ließ die Pläne fallen, um nicht in heikle Weltkulturerbe-Gefechte verwickelt zu werden. Nun erinnert nur noch ein vereinsamter Leuchtkasten auf dem Dach an die ehrgeizigen Pläne.

Die Struktur der Bettenburg mit ihren vormals 600 Zimmern (nun 579) wurde kaum angetastet. Im Wettbewerb mit anderen erstklassigen Businesshotels zählen die bescheidenen Zimmergrößen anscheinend weniger als die Zahl der Konferenzräume, die auf zwölf erhöht wurde.


Keine Sterne

Doch so bleibt es bei der kuriosen Situation, dass Wiens Hilton das Einzige ist, bei dem auf eine Kategorisierung nach Sternen verzichtet wurde. Für den Fünfsternestandard sind die Bäder zu klein.

Den Gast erwartet auf den Zimmern die neueste Kommunikationselektronik, bis hin zur „denkenden“ Minibar, die jede Flaschenentnahme elektronisch auf die Abrechnung setzt.

Bei den Möbeln hält sich die Modernität in Grenzen. Helles Holz, beige Vorhänge und Raufasertapeten entsprechen dem Allerweltsgeschmack von circa 1995. Aber es gibt ja noch die fantastischen Ausblicke und, als besonderen Hinweis, in welcher Stadt man sich gerade befindet, die eigens angefertigte Hotelkunst mit verwaschenen Wien-Motiven.

Der Konferenzsaal, mit einem Fassungsvermögen von 870 Personen der größte in einem österreichischen Hotel, würde auch als Kulisse für eine Spielhalle in Las Vegas durchgehen. Es ist paradox: Was an räumlicher Großzügigkeit durch den Umbau dazugewonnen wurde, wird mit aufdringlich gemusterten Teppichen und einer nach wie vor in Designerschnörkel verliebten Innenarchitektur wieder voll gestopft.

Dasselbe gilt für die Eingangsseite an der Landstraßer Hauptstraße. Als wären die Siebzigerjahre doch noch nicht vorbei, wurde der Sockel mit dunklem Spiegelglas eingepackt. Die davor gesetzten wellenförmigen Stahllamellen sind wohl die Rache dafür, dass die Glaswolke fallen musste: Ganz ohne Duftmarke ist ein Hollein nicht zu haben.

9. Mai 2004 Der Standard

„Ich hatte zwei Lehrer: Maria und Loos“

Ein Schatzhaus für die Geliebte: Friedrich Kurrents Kunsthalle in Sommerein

Sie war 19 Jahre älter als er. Kennen gelernt haben die beiden sich 1958 und fuhren noch im selben Jahr zusammen nach Sardinien. Maria Biljan-Bilger hatte gerade ihr dreißig Meter langes Wandrelief für Roland Rainers Wiener Stadthalle fertig gestellt und sich bereits mit zahlreichen Ausstellungen, darunter die Biennalen von Venedig und Sao Paulo, einen Namen gemacht. Sie zählte zu den Gründungsmitgliedern des Art-Club, der legendären Geburtsstätte der österreichischen Nachkriegsmoderne im Keller von Adolf Loos' Kärntnerbar. Der Ort war eher Zufall als Programm, denn das kulturelle Kurzzeitgedächtnis hatte den Namen Loos gelöscht. Ihn wiederzuentdecken, daran sollte der junge Architekt Friedrich Kurrent später einen nicht geringen Anteil haben, der eine Kirche gebaut und einen Auftrag für eine zweite in der Tasche hatte, als er 1958 bei der Innenarchitektin Anna-Lülja Praun auf die Künstlerin Biljan-Bilger trifft, da war er sechsundzwanzig.

Kurrent ließ sich einen Bart wachsen und packte die mit jeder großen Liebe verbundene Chance, dem Leben einen neuen Horizont zu geben. „Die Erotik, die in einem Moment alle hundertausend Teilaspekte zusammenfaßt, ist eine heiße, lebensspendende Blüte. (...) Erst dadurch wurde ich zum Mensch“, schreibt Kurrent in seinem autobiografischen Werkkatalog „Einige Häuser, Kirchen und dergleichen“ (Verlag Anton Pustet 2001, � 35,50) über die Begegnung.

Ohnehin vielseitig interessiert und keine Gelegenheit versäumend, aus dem engen Korsett des Bauens und Denkens der Nachkriegsjahre auszubrechen, führte ihn Maria Biljan-Bilger in ihre Welt archaischer Formen, die sie in Keramikskulpturen und Wandteppichen bearbeitete. Ornamente, das wusste auch Loos, waren nur dann ein Verbrechen, wenn sie ihre kulturellen Wurzeln verloren haben. Die Nachkriegsjahre boten für eine mythisch durchtränkte Kunst ein günstiges Klima. Im ideologiegeschüttelten Europa sehnten sich nicht wenige danach, unter den brüchig gewordenen Zivilisationsschichten ein neues Fundament zu finden. Es war andererseits aber eine recht überschaubare Gemeinde, die Maria Biljan-Bilgers Arbeiten zu schätzen wusste. Vom Kunsthandel hielt sie sich fern, arbeitete lieber mit Architekten zusammen und leitete von 1970 bis 1987 das Bildhauersymposion in St. Margarethen.

Nur wenige Jahrzehnte nach der Entstehung waren etliche Werke bereits akut bedroht. Die Sandsteinwand am Ausflugslokal „Bellevue“ des Architektenpaars Windbrechtinger, die Skulpturen im Kinderfreibad Floridsdorf, Pflanztröge aus dem Einkaufszentrum Hietzing - einiges konnte gerettet werden, aber wohin?

So entstand in den letzten Lebensjahren der Plan, in Sommerein ein Refugium geretteter und nie verkaufter Kunst zu errichten. Ab 1962 hatte sich das Paar dort in einer alten Kapelle am Rand eines aufgelassenen Steinbruchs ein Sommerhaus eingerichtet, später erweiterte die Gemeinde das Grundstück im Tausch für neue Kirchenfenster. 1997 verstarb Maria Biljan-Bilger im Alter von fünfundachtzig Jahren, da standen bereits die Bruchsteinmauern. Sieben Jahre später, am 1. Mai, ihrem Todestag, wurde die Halle mit einem Architektenvolksfest eröffnet.

Zunächst finanzierte Kurrent den Bau aus eigenen Mitteln, später gründete sich aus dem Freundeskreis ein Verein, der Spenden, Fördergelder und Preisnachlässe der Baufirmen einsammelte und weiterhin aktive Mitglieder sucht (maria-biljan-bilger.at).

Am Wochenende ist zwischen Mai und Oktober (10-12 und 14-18 Uhr) die Halle nun geöffnet. Auch in den restlichen Monaten ist das Gelände begehbar. Der Steinbruch wurde von der Gemeinde in eine Grünfläche verwandelt, die Felswände blieben roh und ungesichert.

Kurrents Halle nimmt die Rauheit ihrer Umgebung auf. Mit den Steinen eines Abbruchhauses mauerte sich ein Trupp türkischer Bauarbeiter, der sonst an der Hainburger Stadtmauer tätig ist, exakt an den Grenzen des Grundstücks entlang. Niemand sonst aus der an Steinbrüchen reichen Umgebung des Leithagebirges war dazu noch in der Lage. Mit der geschwungenen Dachkonstruktion antwortet der Bau auf die Gewölbe der Weinkeller in unmittelbarer Nachbarschaft. Die Halle sei eigentlich ein „Unterstand“, meinte der Filmtheoretiker Peter Kubelka bei der Eröffnung. Keine Wärmedämmung, rostige Lamellen statt Fenstern, mehr ein Werk- als ein Ausstellungsraum, kraftvoll wie die Kunst Maria Biljan-Bilgers.

2. Mai 2004 Der Standard

Mehr Rot stünde Innsbruck gut

Nicht nur ein Kaufhaus mit Gleisanschluss: Der neue Hauptbahnhof von Riegler Riewe

AA A B A B B A B - das ist keine Sequenz des menschlichen Genoms, das ist, von unten nach oben gelesen, der selbst für einen überdurchschnittlich architekturinteressierten Bahnreisenden sehr rätselhafte Rhythmus der Fassade beim neuen Hauptbahnhof in Innsbruck. Das 180 Meter lange und 12 Meter hohe Gebäude kommt mit genau zwei Fensterformaten aus, einem großen (A) und einem etwas kleineren (B).

Seit wann aber haben Bahnhöfe überhaupt Fenster? Besteht nicht die Gefahr, das Bahnhofsgebäude der Architekten Riegler Riewe für einen ungewöhnlich langen Bürotrakt zu halten? Der Ingenieursgeist, der einst die Eisenbahn vorantrieb, ihr Brücken schlug und Bahnhofshallen spannte, der Amerikas Westen und Österreichs Pässe eroberte - ist er müde und klein kariert geworden, zersplittert in tausend namenlose Schreibtischtäter hinter ebenso vielen Bürofenstern?

Die Architekten Florian Riegler und Roger Riewe haben sich weit vorgewagt. Jeder Architekt ihrer Generation kennt den Spott, der über zwei Gebäuden Mies van der Rohes ausgekippt wurde, die sich so ähnlich sahen, dass man sie verwechseln konnte. Nur steckte in der einen Hülle eine Kirche, in der anderen ein Kraftwerk. Der Schock, nicht mehr vom Publikum verstanden zu werden, fraß sich tief hinein ins Architektenselbstbewusstsein.

Aber für Riegler Riewe ist die Suche nach der einfachsten Form kein abgeschlossenes Kapitel. Die Architektur darf sich niemandem an die Brust werfen, sie ist kein flüchtiger Reiz wie eine gut gemachte Reklame. Die Glasorgien seiner Zeitgenossen seien ihm ein Graus, sagt Riegler, denn sie führten doch nur dazu, dass jemand kommen und eine gläserne Bahnhofshalle mit weithin sichtbarer Werbung vollkleistern werde. Glas sei ihm zu unentschieden und neutral, der Bahnhof aber solle Substanz haben und sich vor der Gebirgskulisse behaupten können.


Durchsichtig und massiv zugleich

Daher der rot gefärbte Beton, durchsichtig und massiv zugleich. Wäre ganz Innsbruck rot, würde es nicht manchmal so scheinen, als könnten die Berge die Stadt zerdrücken.

Die Farbe ist das einzig Expressive an diesem Bau. Ursprünglich sollte er viel kleiner sein, da war noch geplant, die bestehende Empfangshalle aus den fünfziger Jahren einfach weiterzubauen. Aber dann bot sich die Möglichkeit, durch einen Abbruch mehr Fläche auf dem Vorplatz zu gewinnen, der ebenfalls von Riegler Riewe gestaltet und im nächsten Jahr fertig gestellt wird. Von da an wurde die Frage entwurfsbestimmend, wie sich Bürobau und Halle in einer Großform verbinden lassen.

Die in Zeiten der „Bahnhofsoffensive“ geforderte Kommerzialisierung war ein weiterer zu integrierender Faktor. Um genügend Flächen für Geschäfte und Gastronomie in den Bahnhof hineinpacken zu können, ohne die Durchsichtigkeit der Halle zu gefährden, wurden diese ins Untergeschoss verlegt. Die Tiefebene, ein Lieblingskind der Stadtplaner der sechziger Jahre, ist hier sogar sinnvoll, denn wer zu den Zügen möchte, muss ja ohnehin unter den Gleisen hindurchtauchen. Das untere Niveau wird zusätzlich noch von der Tiefgarage unter dem Vorplatz beansprucht, sodass Reisende auf direktem Wege von den Zügen ins Auto umsteigen können.


nur bitte wo geht's hier zum Zug?

Ganz so einfach zu finden sind die Wege leider nicht für alle Reisenden. Kommt man von oben, betritt den Bahnhof also auf dem normalen Straßenniveau, dann liegt die Halle zwar in ihrer ganzen Reinheit vor einem, und man schaut auf die schrillen Shoppingangebote herab, als wären es Mosaike am Rand eines Swimmingpools. Bringt einen dann aber die Rolltreppe nach unten, soll man kaufen, kaufen, kaufen - nur bitte wo geht's hier zum Zug? Für ein Verkehrsbauwerk, bei dem die Übersichtlichkeit doch entscheidend sein sollte, ist das ein gravierendes Problem.

Nutznießer der Orientierungsschwäche sind vermutlich die Gewerbetreibenden, die sich den Reizen ihrer Umgebung aber strikt verweigern. Die Ausnahme ist der MPreis-Supermarkt, gestaltet von Rainer Köberl. Dort wird die Lage im Untergeschoss mit schwarzen Deckenspiegeln und einer guten Lichtregie aufgefangen und in eine funkende Höhle verwandelt.

Auch die Lage des Warte"saals" steht auf der Mängelliste. Nun kann man sagen, dass der Konsumzwang, der die Bahnhöfe in Shoppingcenter mit Gleisanschluss verwandelt, ein gesellschaftliches Problem ist. Aber ausbaden müssen es ja dann doch die Architekten. Die ÖBB wollten die Warteräume ursprünglich ganz streichen und ihre Problemklienten lieber an die Theken der schummrigen Tirolerstubenimitate verweisen, die der Bahnhof ebenfalls im Programm hat. Aber das war nicht durchzusetzen. Also wurde ein winziger Warteraum in die einzige nicht vermietbare Fläche hineingequetscht, unter eine Treppe. Dort kommt die Hälfte der Reisenden auf dem Weg zu den Zügen vorbei und darf sich das Elend ansehen. Für die, denen der Bahnhof den einzig warmen Ort bietet, ist das eine entwürdigende Vitrinensituation.

Zurück zu den großen Fragen der Architektur. Zu A A A B A B B A B. Das Spiel auf der Fassade folgt einer strengen Logik. Jede Büroetage hat drei Fenster bekommen (BAB), mal zwei, plus dreimal A für die Halle. Das ist das Geheimnis. Es bewahrt den Bahnhof davor, eine banale Großkiste zu sein, rationalistisch durchgeplant bis zur staubtrockenen Sprödigkeit. Die Vorbilder dieser Haltung sind von Innsbruck aus ohne Umsteigen mit der Eisenbahn zu erreichen. Im Italien der zwanziger und dreißiger Jahre blühte unter Mussolini ein eigenwilliger Zweig der modernen Architektur. Hier entstanden Betonkonstruktionen, die sich den Entwurfsdogmen verweigerten und dem Betrachter Rätsel mit auf den Weg gaben. Innsbruck wäre gut beraten, noch italienischer zu werden.

18. April 2004 Der Standard

Geplant - Errichtet - Verändert - Vernichtet

Roland Rainers letztes Werk ist ein Buch, so eigenwillig perfekt wie seine Architektur

Bücher zu machen, war ihm so vertraut wie die Arbeiten auf einer Baustelle. Nur musste der vor einer Woche verstorbene Architekt Roland Rainer beim Bauen schweren Herzens delegieren, während er sich bei seinen Büchern nichts, wirklich gar nichts aus der Hand nehmen ließ. Das ganze Jahr 2003 hindurch arbeitete der 93-Jährige mit Hochdruck an einem letzten Buch, das nun vom Umschlag bis zur letzten Seite seine Handschrift trägt. Der Untertitel ist das lakonische Fazit eines langen Architektenlebens: Geplant errichtet verändert vernichtet.

Jede Bildunterschrift, alle Projektbeschreibungen, die Auswahl und Zusammenstellung der Fotos - alles wurde von ihm selbst geschrieben, diktiert, entworfen. Der Springer Verlag legte unzählige Aus- und Andrucke vor, bis auch bei der Bildbearbeitung das gewünschte Ergebnis erreicht wurde. Fotografiert hatte Rainer seine Bauten ohnehin meist selbst, da er dem Blick professioneller Fotografen misstraute.

Die Bücher gingen seiner Architektur voraus. 1935 promoviert Roland Rainer mit einer Arbeit über den Wiener Karlsplatz. Es folgt ein Aufenthalt an der Deutschen Akademie für Städtebau, Reichs- und Landesplanung in Berlin, wo zwei Forschungsarbeiten entstehen, die für sein weiteres Werk die Richtung vorgeben: Die zweckmäßige Hausform (1944) und Die gegliederte und aufgelockerte Stadt (1944, erschienen 1957) sind Plädoyers für das Einfamilien-Reihenhaus als kompakteste und technisch sinnvollste Bauweise. Dass seine Studien in einem ideologisch stark aufgeladenen Umfeld entstanden und im Zusammenhang von „volksbiologischen Anforderungen“ weitergereicht wurden, mag ihn im Nachhinein gegen autoritäre Gesten immunisiert haben. Das Hochhaus als Macht- und Spekulationsobjekt verachtete er. „Ja, der Rainer ist der Häuslbauer“, zitierte er selbst lachend das Etikett, das ihm Kollegen aufgeklebt hatten.

Man könnte auch sagen: Rainer war bereits ein fertiger Architekt, als er in den ersten Nachkriegsjahren zu bauen begann. Das Fundament hatte er in seinen Schriften errichtet. Aber er publizierte weiter. Bei anonymen Bauten im Burgenland, im Iran und in China fand er über Generationen gewachsene Belege für die „verdichtete Flachbauweise“, die seine Siedlungen prägte.

Doch Roland Rainer war alles andere als ein „Häuslbauer“. Fast sämtliche seiner Arbeiten kreisen um die Frage, wie das Zusammentreffen vieler Menschen so organisiert werden kann, dass der Einzelne keinen Schaden nimmt. Städtebau unter den Bedingungen des Automobilzeitalters war eine noch junge Disziplin, als Rainer 1958 das Wiener Stadtplanungsamt übernahm und 1963 unter Protest wieder verließ, weil die Widerstände aus Politik und Verwaltung seine Entwürfe zum Scheitern brachten. Seither galt Rainer als unbeugsamer Kämpfer für eine menschliche Moderne. Warum, fragt Rainer in einem seiner vielen Texte, kann auch ein technisch hochkomplexes Gebilde wie die ORF-Zentrale auf dem Küniglberg (1968-76) nicht so einfach funktionieren wie eine Stube mit einem Kachelofen? Seine Bauten sind Lehrstücke über den manchmal verzweifelten Versuch, den Architekturmaschinen der zweiten Jahrhunderthälfte die haptischen Qualitäten eines guten Werkzeugs zu geben, das der Benutzer sofort versteht.

Die von vielen Architekten der Moderne bewunderte Gotik mit ihren unmittelbar einleuchtenden statischen Prinzipien erhält in Rainers letztem Buch einen besonderen Platz. Nur ein einziges Foto zeigt nicht Rainers eigene Bauten, sondern ein gotisches Strebewerk. Rainer stellt die dramatische Abbildung den Pylonen seiner Bremer Stadthalle gegenüber. Zwischen 1961 und 1964 entstanden, seither verändert und in ihrer kühnen Reinheit vernichtet zählt die Halle zu Rainers „idealsten“ Konstruktionen. Das hängende Dach besteht aus einer dünnen Betonschale und ist wie ein Baldachin zwischen den schrägen Außenträgern aufgehängt. Zug- und Druckkräfte bilden ein kühnes, trotz seiner gewaltigen Dimensionen aber spielerisch-anschauliches System.

Was auch immer den Bauten Roland Rainers in Zukunft widerfahren wird: Das Buch ist ein Bild- und Textmanifest ersten Ranges, kein Architektur-, sondern ein großes Architektenbuch. Hinter der unzeitgemäß trockenen Gestaltung brodelt das Leben, dem Rainer die Lebendigkeit immer belassen hat.

11. April 2004 Der Standard

Neuer Baustein für einen trostlosen Campus

Ernst Giselbrechts Biokatalyse in Graz nimmt Abschied von der Architektur der fetten Jahre

Biokatalyse? Eine auf naturwissenschaftliche Öffentlichkeitsarbeit spezialisierte PR-Agentur würde dieses chemische Verfahren vielleicht so beschreiben:

Erinnern Sie sich an den Chemieunterricht in der Schule. Daran, wie der Lehrer ein Stückchen Magnesium mit dem Bunsenbrenner erhitzt, das sich daraufhin mit einer grellen Flamme verabschiedet und zu weißen Krümeln verbrennt. Stellen Sie sich nun vor, dass solche Prozesse auch ohne die Energiezufuhr aus dem Bunsenbrenner ablaufen könnten. In den Zellen des menschlichen Körpers finden permanent chemische Reaktionen statt, die denen im Chemiesaal der Schule nicht so unähnlich sind. Ohne Hitze und also mit geringem Energieverbrauch. Bei normaler Körpertemperatur.

Die Biokatalyse versucht, diese lauwarmen und hoch spezialisierten chemischen Umwandlungsprozesse aus der Natur zu isolieren und „nachzubauen“. Aus der Energie verzehrenden und mit schadstoffreichen Resten nicht kleinlichen Chemieproduktion wird eine „sanfte“ Technologie. Die Körperzelle kann ja auch nicht unbegrenzt Müll ausscheiden.

Bei einem Gegner jeglicher Gentechnologie würde diese Erklärung womöglich eine verstärkte Adrenalinproduktion auslösen. Die Werkzeuge des Reaktionsprozesses, die Enzyme, müssen genetisch verändert werden, damit sie ihre Arbeit auch außerhalb ihrer natürlichen Umgebung verrichten.

Ein Architekt hingegen käme vielleicht in Versuchung, die Biokatalyse als Fundgrube für Analogien und Metaphern auszuschlachten. Die Naturwissenschaft ist seit einiger Zeit das bevorzugte Terrain, auf dem sich Architekten ihre beim Entwerfen anscheinend unerlässlichen Hilfskonstruktionen besorgen.

Was in den Siebzigern die Soziologie, in den Achtzigern die Geschichte und in den Neunzigerjahren die Kunst war, sind nun Biotechnologie und Informatik. Da werden, etwa von den Niederländern MVRDV, ganze Landschaften aus Datenbergen modelliert oder, wie bei dem an der Wiener Angewandten lehrenden Amerikaner Greg Lynn, Ausflüge ins Tierreich unternommen, bei denen er Fliegenbeine und Quallenhäute als Elemente einer neuen Architektur entdeckt.

Ernst Giselbrecht, der Architekt des Grazer Biokatalysegebäudes, hat ein sehr viel nüchterneres Verhältnis zur Wissenschaft. Und das ist überraschend, wenn man sich seine bisherigen Bauten vor Augen hält.

Denn Giselbrecht stand bislang für eine sehr cleane, leicht technoide, in jedem Falle strahlend weiße Architektur, die einem vor dem österreichischen Hintergrund mit einer fast preußisch-protestantischen Aufgeräumtheit ins Auge stach.

Nichts davon bei der Biokatalyse. Das nach seinem Forschungszweck betitelte Gebäude der Technischen Universität Graz wird am 19. April offiziell eingeweiht, aber von der Petersgasse aus, die den Campus der „Neuen Technik“ begrenzt, ist das Haus nicht als Neubau zu erkennen. Verschiedene Forschungsinstitute stehen hier als Solitäre herum wie die Kühe auf der Weide. Der öffentliche Raum ist fest in der Hand der Parkplatzbewirtschafter. Mitten hinein in diese Ödnis hat Giselbrecht seinen kubischen Neubau gesetzt, der auf drei Seiten an eine Fertigteilschule der Siebzigerjahre erinnert. Diese Zurückhaltung rettet zwar nicht das Umfeld, fügt den aber bereits sehr in die Jahre gekommenen Instituten von Domenig / Eisenköck (Mathematik, 1989) und Szyszkowitz + Kowalski (Biochemie, 1991) nicht ein weiteres hinzu, das ein Star sein will, mittlerweile aber nur mehr alt und abgelegt aussieht. In seiner unaufgeregten Sprödigkeit orientiert sich der Bau eher am benachbarten Chemie-Institut von Karl Raimund Lorenz (1960). Dessen Rasterfassade übersetzt Giselbrecht an der einzigen „spannenden“ Seite der Biokatalyse in ein Spiel mit Klappläden.

Die nüchterne Außenform verdankt der Bau nicht zuletzt dem sehr begrenzten Budget. So schade es aus der Betroffenenperspektive auch sein mag, dass bei den öffentlichen Bauten die fetten Jahre vorbei sind, so nützlich ist dies zur Klärung, was in der Architektur wirklich notwendig ist.

Die Biokatalyse führt es exemplarisch vor: große, robuste Räume, die verschiedene Nutzungen zulassen, weil alle Installationsleitungen offen verlegt wurden. Gänge und Stiegenhaus werden natürlich belichtet. Nebenräume für Kopierer, Kaffeeküche und WCs sind nicht hinter einem Türenwald versteckt, sondern stehen frei im Raum. Auf jeder Etage gibt es, an der Seite der Lamellenfassade, einen Balkon, wo geraucht werden kann.

Ist es dann noch relevant, dass in diesem Haus geforscht und nicht nur verwaltet wird? Wo bleibt die Verbildlichung eines unsichtbaren Prozesses, die doch seit jeher ein bestimmender Teil der Architektur war? Der Architekt selbst hält einige Metaphern parat und erklärt, dass die Lamellenfassade die Lebendigkeit der Forschung nach außen übersetzen solle. Schließlich sei die Biokatalyse ein Modellvorhaben, wo Kooperationsprojekte von Universität und Industrie sich für einige Jahre ansiedeln könnten.

Beim Entwerfen sind solche Bilder vielleicht nützlich. Aber der fertige Bau kann getrost auf Erklärungen verzichten. Diese Architektur bräuchte eigentlich auf Seiten wie diesen gar nicht erläutert zu werden, wenn sie nicht durch ihre stille Einfachheit Fragen hervorrufen würde. Doch das ist ein Problem des Publikums, das daran gewöhnt ist, Architektur wie ein Kunstwerk deuten zu sollen. Für Häuser von großer öffentlicher Relevanz mag das berechtigt sein. Aber hier, auf einem Universitätscampus, gibt es keinen Grund, mit einer besonderen Gestaltung hervorzustechen. Besonders wenn schon die Nachbarn rechts und links den Beweis erbracht haben, dass Architektur mehr sein kann als nur eine Kiste mit Fensterlöchern darin.

Bei aller Selbstbeschränkung darf nicht übersehen werden, dass mit der Biokatalyse eine Freiraumgestaltung angestoßen wurde, die noch eines viel wirksameren Katalysators bedürfte. Die Landschaftsarchitektur (Büro ko a la, Graz), so Giselbrecht, reagiere auf den Bau mit Wällen, die sich wie Wellen um den Kubus herum ausbreiten. Bisher wurde erst ein einzelner Wall aufgeschüttet. Ob das Bild vom „Stein, der ins Wasser fällt“, wirklich so wörtlich realisiert werden muss? Die Grazer Biokatalyse hat das Gewicht, um Wellen zu schlagen, und sollte der Anlass sein, über den trostlosen Freiraum der „Neuen Technik“ neu nachzudenken.

3. April 2004 Der Standard

Das Monument des Fliesenhändlers

Nachtrag zum Architekturführer Graz: Ein Schauhaus von Leeb Condak

Fliesen sind bei Architekten nicht sonderlich beliebt. In Badezimmern und Küchen meist unverzichtbar, stehen sie als „bekleidende“ Materialien aber unter starkem Behübschungsverdacht. Die Ideologie der Moderne hat alles verachtet, was an der Oberfläche haftet. Rein und nackt sei der Bau, seit gut einem Jahrzehnt sogar mehr denn je. Obwohl die große Säuberungsaktion weit zurückliegt, ist der Bannstrahl noch immer wirksam. Nur die Tapeten hat er noch schlimmer erwischt. Einst sogar eines der wenigen marktfähigen Produkte des Bauhauses, nimmt heute kein Architekt mehr die kiloschweren Musterbücher zur Hand.

Die clevere Industrie hat das brachliegende Feld zum Blühen gebracht und bietet Fliesen, Tapeten, Vorhänge und Bodenbeläge in ebenso vielen wie schaurigen Variationen. Paradoxerweise sind aber die Baumärkte, in denen all dies den gestaltungshungrigen Kunden erwartet, zunehmend sorgfältiger gestaltet. So sehr die Designoffensive von Baumax & Co zu begrüßen ist, die manche Blechkiste an der Peripherie in eine Perle der Baukultur verwandelt hat, so bizarr zeigt sich dort der Kontrast zwischen Produkten und Gebäude. Gartenzwerge und Jägerzäune vor Edelstahlfassaden.

Bei dem Ausstellungshaus der Firma Leeb in der Grazer Buchstraße waren die Architekten Peter Leeb und Christina Condak sich nicht zu fein, die Grenze zu überschreiten, den Graben zu füllen und die im Innern präsentierten Fliesen zum Thema des Entwurfs zu machen. Nicht ironisch oder zynisch - was Architekten mit der Postmoderne anzufangen wussten, ist zum Glück vorbei - und auch nicht anbiedernd.

Peter Leeb ist mit dem Fliesenverkauf seiner Eltern aufgewachsen. Er hat schon als Jugendlicher mitgeholfen, die Kojen mit Musterbädern einzurichten, von denen die meisten knallhart am Massengeschmack orientiert sind. Die Grazer Filiale ist bereits die dritte von ihm gestaltete, aber die biografische Verbundenheit vermag noch nicht zu erklären, wieso er zusammen mit seiner Frau in Graz ein Fliesenhaus entworfen hat, das in der österreichischen Gegenwartsarchitektur seinesgleichen sucht. Hier wird einmal nicht die fröhliche Platte mit den größten Hits irgendwie gewagter Konstruktionen und „schräger“ Räume („Grazer Schule“) oder der sauerstoffbeatmeten Neomoderne (der ganze Rest) gedudelt. Vielleicht war dies der Grund, warum dem Bau die Aufnahme in den neuen Grazer Architekturführer verwehrt wurde.

Die Wellenfassade mit den roten Glasmosaiksteinen erinnert auf Fotos an ein Parkhaus, nur ist das Gebäude in natura dafür viel zu klein. Die Fensterschlitze orientieren sich nicht an der Geschoß-, sondern an der Augenhöhe auf dem Eingangsniveau. Aber niemand wird aus dem Bau herausschauen, werden die Blicke doch durch verspringende Ebenen im Innern in den Raum hineingezogen.

Dem Haus die wenig originelle Dialektik von äußerem Schweigen und innerer Raumfülle zu bescheinigen würde zu kurz greifen. Auch außen schwingt die Konstruktion. Die kleinteiligen Fliesen sind ein ideales Material, um gekurvte Flächen damit zu bekleiden. Man könnte, dies wird in einigen der Musterkojen auch demonstriert, die Wände des heimischen Badezimmers mit Fliesen zum Fließen bringen.

Für rustikalere Bedürfnisse gibt der Bau ebenfalls ein Beispiel: Der zentrale Aufzugsturm erhielt ebenso wie die gesamte Tragstruktur aus Sichtbeton an der Seite einen Belag mit umgedreht verlegten Kacheln, deren geriffelte Unterseite nach oben weist.

Aber der „schlechte Geschmack“ kommt auch zu seinem Recht. Die Proben der Fliesenhersteller sind unübersehbar, die zu zeigen ja der Zweck des Gebäudes ist. Nur kennt das Haus keine Berührungsängste. Aus der so wenig geschätzten Welt der „Wohnkultur“ nimmt es auf, was sich verwenden lässt, und das ist bei näherem Hinsehen gar nicht so wenig.

27. März 2004 Der Standard

Das Symphonieorchester auf U-Bahn-Niveau

Die neuen Säle des Wiener Musikvereins von Wilhelm Holzbauer: Ein Besuch im Untergrund

Am Karlsplatz gleicht Wien einem Eisberg. Nur ein kleiner Teil der Gebäude schaut aus der Erde heraus, der überwiegende Anteil der Baumasse ist darin vergraben. Der unterirdische Raum umfasst die üppig dimensionierte Röhre für den hochwasseranfälligen Wienfluss, die drei Tunnel der U-Bahn sowie ein weit verzweigtes System aus Verbindungsgängen und Technikgeschossen, die bis zu neun Stockwerke tief hinabreichen. Würde eine gigantische Flutwelle dieses Bauwerk aus der Erde spülen, käme ein Gebilde zum Vorschein, das sich eine Zaha Hadid nicht bizarrer ausdenken könnte.

In einem sehr überschaubaren Teil des Geflechts sind nun weitere Räume hinzugekommen. Für die dringend benötigten Probenräume des Wiener Musikvereins kam nur eine unterirdische Lösung in Frage, da das Gebäude von Theophil Hansen nicht angerührt werden sollte. Zunächst war geplant, nur einen einzigen Saal unter der Platzfläche zwischen Musikverein und Künstlerhaus zu versenken. Aber da das Haus auch für die heute üblichen Formen der Fremdvermietung an Firmen oder Geburtstagsgesellschaften wenig Möglichkeiten bot, wurde das Raumprogramm erweitert.

Hinzugekommen sind nun ein großer und drei kleine Säle, die jeweils für Proben, Aufführungen und Veranstaltungen genutzt werden können. Auf zwei Geschossen füllen sie den Raum zwischen den Kellern von Musikverein und Künstlerhaus. Die Verbindung der Säle liegt im Altbau, dessen Kellerräume als lang gestreckte Foyer-Flure umgebaut wurden. Alles ist klar organisiert wie in einem überirdischen Gebäude. Wenn die Flutwelle eines Tages den unterirdischen Karlsplatz freilegen würde, müssten nur noch Fenster in die Betonwanne hineingeschnitten werden, dann stünde dort ein ganz normales, kubisches Haus.

Der Architekt Wilhelm Holzbauer ist nicht jemand, den das Bauen im Untergrund dazu anregen würde, den sehr speziellen Ort in den Entwurf mit einzubeziehen. Und die Gesellschaft der Musikfreunde in Wien ist kein Auftraggeber, der an Experimenten interessiert war, sonst hätte sie sich kaum für Holzbauer und seinen Partner Dieter Irresberger als Architekten entschieden.

Oberste Priorität hatte die akustische Qualität der Säle. Die besondere Herausforderung lag darin, den weltberühmten goldenen Saal des Musikvereins in seiner akustischen Wirkung zu kopieren, und zwar mit der verschärfenden Auflage, dass der neue große Probensaal exakt so zu klingen habe, wie das überirdische Original bei gefüllten Rängen. Der neue Saal im Tiefgeschoss ist daher in Breite und Höhe identisch, in der Tiefe aber ersetzen gebogene Glaspaneele mit Blattgoldbelag das Publikum. Ein symphonisches Orchester kann im „gläsernen Saal“ zwar proben, aber für Zuhörer wäre in diesem Falle kein Platz. Aufführungen werden dort nur mit kleineren Ensembles stattfinden. Die Idee der Erweiterung war nicht, die Kapazitäten zu verdoppeln, sondern neben den Probemöglichkeiten auch Raum für andere Musikformen anzubieten und, so der Generalsekretär Thomas Angyan, den Musikverein für ein jüngeres Publikum zu öffnen.

Die drei anderen Säle sind ebenfalls nach den Leitmaterialien des jeweiligen Innenausbaus benannt: Metallener, Steinerner und Hölzerner Saal. Das ist leider auch etwas hölzern auszusprechen, aber möglicherweise werden ja noch Sponsoren die Patenschaft übernehmen und einen Teil zum offenen Rest der Bausumme beitragen, wie das beim gläsern-goldenen „Magna Auditorium“ bereits geschehen ist.

Dass Glas, Metall, Holz oder Stein einen Saal dominiert, ist weniger minimalistisch umgesetzt, als es der Name verspricht. Einzig der dunkle Stahlsaal, der bei Festen auch als Disco betrieben werden kann, zeigt sich als Einheit aus schwarzem Noppenboden und gelochten Wandblechen. Im Steinernen Saal sind zusätzlich gläserne Vitrinen und ein wollener Spannteppich, im hölzernen auch eine Glasdecke zu finden. Möglich, dass dieser Mix, der akustischen Bedingungen folgt, zugleich sehr bewusst verwendet wird, damit die Architektur sich nicht durch eine ungewohnte „Konsequenz“ allzu sehr in den Vordergrund stellt, wie sie Architekten einer anderen Generation und Richtung nicht müde werden zu predigen. Ein wirklich prägnantes Raumerlebnis bietet nur der größte Saal, dessen goldverspiegelte Wände sich bei richtiger Beleuchtung aufzulösen scheinen. Die zu Foyers geweiteten Gänge sind in freundlichen Farben gehalten, die den Wunsch des Architekten erfüllen, es solle nicht so sehr nach Keller aussehen. Nun wirkt es nicht muffig, dafür aber recht bieder und harmlos. Herumgehen und staunen, wie bei Theophil Hansens Bau einige Stockwerke weiter oben, wird hier wohl niemand.

Andererseits: Warum sollte der Bau nicht dezent im Hintergrund bleiben und die Bühne frei lassen für die Musik? Vielleicht sollte er es - nur ist die Architektur heute meilenweit davon entfernt, einfach Selbstverständliches hervorzubringen. Das einzige Mittel, die Dominanz der 08/15-Details und gestalterischen Mätzchen abzuwehren, die den Architekten in jedem Baukatalog offeriert werden, der kostenlos ins Haus flattert, ist Haltung zu zeigen. Und daran mangelt es dem Bau. Er hat starke Momente, zweifellos. Und dann wieder Situationen, wie sie in jedem besseren Seminarhotel zu finden sind.

Wie eigenartig kräftig ist dagegen ein Teil, der dem Publikum nicht öffentlich zugänglich sein wird, aber die eingegrabene Fläche fast verdoppelt. Über dem Tunnel der U 2 entstand ein großer Lager- und Archivbereich. Hier werden unter perfekten klimatischen Bedingungen die wertvollen Notenbestände und Instrumente des Musikvereins aufbewahrt. Die Betonwände sind aus rein klimatechnischen Gründen mit einer zusätzlichen Backsteinschicht verstärkt. Die Materialität dieser nicht ganz raumhohen Wand hat ganz und gar nichts Rohbauhaftes, aber sie ist so ungewöhnlich wie die Bauaufgabe. Hier weiß man nicht nur, dass es ein besonderer Ort ist, tief unter der Stadt, sondern spürt es auch.

27. März 2004 Der Standard

Frauenräume

Für die Wiener Universität für Angewandte Kunst war es ein erfolgreiches Wochenende. Am vergangenen Samstag füllte das von der „Angewandten“ veranstaltete und von Margit Ulama organisierte Architekturfestival „Turn On“ den Saal des Radiokulturhauses. Einen Tag später wurde bekannt, dass Professorin Zaha Hadid mit dem Pritzkerpreis ausgezeichnet wird. Der Quasi-Nobelpreis für Architektur geht nun zum ersten Mal an eine Architektin. Hans Hollein, der in der nächsten Woche seinen siebzigsten Geburtstag feiert, erhielt den Preis 1985, auch er lehrte an der „Angewandten“. Zaha Hadid wird den Preis in St. Petersburg entgegennehmen. St. Petersburg? Auch diesmal hat der Architekturmäzen Pritzker ein sicheres Gespür für den passenden Ort. Unweit der Eremitage liegt das Kanonenboot, das die russische Revolution herbeischoss, der Zaha Hadid, zu Unrecht einst dem „Dekonstruktivismus“ zugerechnet, viel verdankt. Besonders die frühen Arbeiten zapfen ihre Energie aus der euphorischen Aufbruchsstimmung, die die Architekten nach 1917 beflügelte, in den Himmel zu bauen. Hadids Entwürfe sind mit der Zeit geschmeidiger geworden. Aber noch immer wird jeder ihrer Auftritte von einem Donnerhall eröffnet. oel

20. März 2004 Der Standard

Kein Licht am Ende der Höhenstraße

Das Kahlenberg-Restaurant soll durch einen Neubau ersetzt werden

Straßen, die nicht nur dazu dienen, von A nach B zu gelangen, sind ein Anachronismus, aber es gibt sie noch. Eines der wenigen noch im ursprünglichen Zustand befahrbaren Beispiele ist die Wiener Höhenstraße. Ihr touristischer Wert mag in Zeiten, in denen die jährliche Flugreise zu den Glücksdrogen breiter Bevölkerungsschichten zählt, ein wenig gesunken sein. Aber die zahllosen grünen Hinweisschilder, die den Autofahrer aus dem Stadtgebiet zur Höhenstraße leiten, gibt es noch und damit ein vages Bewusstsein, das auch eine „Straße an sich“ das Ziel eines Ausflugs sein kann. Die meisten Höhenstraßenbenutzer dürfte jedoch weniger das Knattern des Kleinsteinpflasters, die Haarnadelkurven oder die Landschaftsausblicke interessieren. Ihr Ausflugsverhalten wurde von der Generation der heute Siebzig- bis Neunzigjährigen geprägt, die mit dem ersten eigenen VW-Käfer aus der Stadt flüchteten, in einem Naherholungsgebiet ein bisschen herumspazierten, um dann in einem Gasthaus eine Jause zu sich zu nehmen.

Als die Höhenstraße und ihr touristischer Ziel- und Höhepunkt, das Kahlenbergrestaurant, entstanden, in den Jahren 1935 bis 1938, war die individuelle Massenmobilität noch ein visionäres Programm. Straße und Bauwerk scheinen eher zur Nachkriegszeit zu passen, wären da nicht die ideologische Nähe zur „Autowanderbewegung“ des NS-Regimes und die Vermutung, die Höhenstraße sei ein Arbeitsbeschaffungsprojekt gewesen, was von dem Historiker Georg Rigele (Die Wiener Höhenstraße, Wien 1993) aber bestritten wird.

Während die Straße noch weitgehend intakt ist und sofort in den Status des Weltkulturerbes erhoben werden könnte, bekam das von Erich Boltenstern 1936 fertig gestellte Restaurant die ganze Wucht der gastronomischen Moden zu spüren. Die verschiedenen Speisesäle und Gastgartenbereiche für jede Einkommensschicht wurden in den vergangenen Jahrzehnten in zwei kulinarische Gruselkabinette verwandelt, gegen die jede Rosenberger-Raststätte als Architekturperle durchgehen kann. Die Karikatur eines Heurigen auf der einen und ein schauriges Schlachtfeld in Pastellfarben, Chromleisten und Granitplatten auf der anderen Seite sind aber selbst an Werktagen für die zahlreichen Besucher kein Hinderungsgrund, auf den Kahlenberg zu kommen und den Blick auf Wien zu genießen. Immerhin bekommen die meisten einen Platz in der ersten Reihe.

Das soll sich nun ändern. Wie bereits vor einigen Wochen im STANDARD berichtet wurde, hat der Wiener Großbäcker Leopold Wieninger („Der Mann, der verwöhnt.“) das Gelände gekauft und will die bestehenden Gebäude abreißen lassen. Für etwa 20 Millionen Euro sollen dort eine Hotelfachschule, ein so genanntes Boardinghaus und wieder ein Restaurant mit großer Terrasse entstehen. Die Architekten sind Eric Steiner und Heinz Neumann, die in Wien mehrere Hochhäuser (Uniqa am Schwedenplatz, Justizzentrum im City Tower am Bahnhof Wien Mitte u.a.) errichtet haben und derzeit eine Umbauung des denkmalgeschützten Westbahnhofs planen.

Der Abriss des Restaurants und eines 1964 durch den Architekten Hermann Kutschera hinzugefügten Hotels sei unumgänglich, sagt Eric Steiner, der selbst noch bei Erich Boltenstern an der Technischen Universität studiert hat. Der vom Bauherren gewünschte Funktionsmix wäre die einzige Chance zur Wiederbelebung des Kahlenbergs, könne aber nicht im Bestand untergebracht werden, dafür seien die Anforderungen zu speziell.

Dagegen ist schwer zu argumentieren, liegen doch keinerlei Machbarkeitsstudien vor, denn der private Bauherr ist dazu nicht verpflichtet. Auf Seiten der Stadt Wien scheint das Interesse am Kahlenberg nicht sehr groß zu sein, denn Wieninger konnte mit dem Grundstück auch eine bereits genehmigte Planung (Architekten: Neumann und Steiner) erwerben, die eine viel höhere Bebauungsdichte vorsah, als jetzt realisiert wird. Doch auch diese moderate, die bisherige Silhouette nur geringfügig verändernde Variante birgt - vom Verlust des Boltenstern-Baus einmal abgesehen - einige Überraschungen, die nur im direkten Vergleich mit dem Bestand und auf den Plänen sichtbar werden. Da ist zum einen der Verlust der Aussichtsplattform am Ende des lang gestreckten Ensembles. Den Rundumblick über Wien und die Donaustadt haben zukünftig nur noch die Gäste des Boardinghauses, die in die eiförmigen Frühstückskanzel auf dem Dach des Hauses gelangen. Das Privileg, die Neubausiedlungen der sechziger Jahre auf der nördlichen Donauseite ausgeblendet zu bekommen, haben nur die Besucher der Sonnenterrasse vor der freigestellten Kirche. Vor ihnen öffnet sich ein für touristische Primärinteressen bereinigter Blickkorridor. Nur werden dort nicht mehr so viele wie bisher die Aussicht genießen können. Die „demokratische“ Sitzordnung Boltensterns, der die Tische in langen Reihe entlang der Hangkante auffädelte, um die besten Plätze zu maximieren, wird sich auf den Quadratflächen von neuem Restaurant und Gastgarten nicht realisieren lassen.

Mit Boltensterns Restaurant und dem immerhin recht kühn auf die Kante gesetzten Hotel von Kutschera droht nicht nur ein unter vielen Renovierungsschichten verborgenes Gebäude verloren zu gehen, dessen Wert für die Wiener Moderne die Architekturhistorikerin Iris Meder im folgenden Interview erläutert. Abriss und Neubau würden auch das ideelle Gegengewicht der Höhenstraße zerstören. Die Zeiten, in denen bis zu 4000 Gäste am Kahlenberg bewirtschaftet werden konnten, mögen zwar vorbei sein. Aber das Prinzip, den Wienern an einer einzigartigen Stelle ein einzigartiges Speisezimmer zu bieten, das auf historischen Fotografien so aussieht, als hätte man auf's Deck eines Flugzeugträgers eine endlose Reihe von Tischen gestellt, dieses Prinzip dürfte doch auch im Zeitalter der Privatisierung von Aussichtspunkten nicht ohne Reiz sein.

DER STANDARD: Frau Meder, Sie arbeiten zur Zeit an einer Ausstellung über Erich Boltenstern (1896-1991), die im Herbst 2005 im Wienmuseum gezeigt wird. Welchen Stellenwert hat die Kahlenberg-Anlage im Werk des Architekten?

Iris Meder: Sie ist zusammen mit dem Krematorium in Graz einer der wenigen Zwischenkriegsbauten Boltensterns. Die halte ich für bedeutender als seine zahlreichen, nach 1945 entstandenen Werke wie den Ringturm, den Wiederaufbau von Börse und Oper sowie die Gebäude für die Nationalbank. Das alles ist gute Nachkriegsarchitektur, aber nichts, was international wegweisend wäre. In der Ausstellung, die in Zusammenarbeit mit Judith Eibl- mayr entsteht, soll es nicht darum gehen, Boltenstern als genialen Architekten zu präsentieren. Er ist eine historisch interessante Figur: Ein Moderner, der nicht emigriert ist, aber seine Professur verloren hat. Nach 1945 wurde er einer der einflussreichsten Architekten Wiens.

Was macht dann das Kahlenberg-Restaurant so bedeutsam?

Meder: Ich würde es „reflexive Moderne“ nennen. Erich Boltenstern stand in der Tradition von Adolf Loos, Josef Frank und Oskar Strnad, die aber jeweils fast nur Einfamilienhäuser gebaut haben, in denen Moderne und Tradition zu etwas Neuem, sehr Einzigartigem verbunden werden. Das wurde seinerzeit auch international wahrgenommen. Das Kahlenberg-Restaurant ist einer der wenigen größeren Bauten dieser „Wiener Schule“.

Wäre das ein Argument, den Bau zu erhalten?

Meder: Ja, auf jeden Fall. Am Kahlenberg fehlt nur ein gastronomisches Konzept. Die Leute werden weder wegen Boltenstern, noch wegen Neumann und Steiner auf den Kahlenberg kommen.

13. März 2004 Der Standard

Architektur, zur besten Sendezeit im Bild

In den Abendnachrichten werden Bauten zu Bedeutungsträgern: Ein Fernsehprotokoll

Jeden Abend dasselbe Ritual: Um 19 Uhr und 30 Minuten färbt sich der Fernsehschirm nachtblau, die Nachrichtenhymne setzt ein, wir sehen die Erde aus der Perspektive eines Satelliten unter uns, der Schriftzug ZIB erscheint. Es folgen kurze Einspielungen zu den Nachrichtenthemen. Dann schwillt, während die Kamera von schräg oben ins Studio blickt, die Musik wieder an. Geübte Zuschauer können jetzt schon erkennen, wer die beiden Sprecher für Nachrichten und Kultur diesmal sein werden. Für ca. drei Sekunden ist zu sehen, dass beide am selben Tisch sitzen, der die Form eines zum Zuschauer geöffneten Dreiecks hat. Im vergangenen Jahr wurde das Studiomöbel der Architektengruppe veech.media.architecture mit dem Staatspreis Design ausgezeichnet. Schnitt. „Guten Abend, herzlich willkommen bei der Zeit im Bild.“

Bis hierher folgt die ZIB einer Choreografie des guten Geschmacks. Was nun kommt, ist in der Hektik des Tagesgeschäfts entstanden. Berge von Bildern werden Abend für Abend beim Zuschauer abgeladen. Die Zeiten sind längst vorbei, in denen die Nachrichtensprecher noch die Nachrichten gesprochen haben. Die Themen werden meist nur noch anmoderiert, dann ist ein kleiner Film zu sehen, ein so genannter „Einspieler“, der von einer Stimme aus dem Off kommentiert wird. Das Bildmaterial ist jedoch selten so interessant, dass es selbst einen Nachrichtenwert hätte. Viele Einstellungen sind reines Füllmaterial, angehäuft aus dem Zwang heraus, jeden Satz mit Bildern unterfüttern zu müssen. Und dabei kommt, häufiger als man vielleicht vermuten würde, die Architektur ins Spiel.

Freitag 5. 3., ZIB 1: „Einige ÖVP-Politiker vermuten, Franz Fiedler wollte mit der Bekanntgabe seine Kandidatur bis nach den Landtagswahlen warten.“ Wenige Sekunden zuvor noch sah man den möglichen Präsidentschaftskandidaten, wie er vor dem Marmorhintergrund der Parlamentswandelhalle ein Interview gibt. Dann werden die besagten Politiker zitiert, denen ein Auftritt vor der Kamera aber verwehrt bleibt. Also, so werden es sich der Redakteur und sein Kameramann gedacht haben, braucht es ein Bild, das den gesprochenen Text unterstreicht, ein echtes ÖVP-Bild. Jetzt hätte man auch einfach den Namen der Partei auf ein Papier schreiben und in die Kamera halten können. Stattdessen wird der Eingang zur Parteizentrale gezeigt und in einer zweiten Einstellung eine Ansicht der Fassade. Das Gebäude direkt am Wiener Rathaus ist wie geschaffen für den Sitz einer bürgerlich-konservativen Partei. Die Bilder sprechen durch das Medium der Architektur. Das allerdings nur, weil die Partei sich anscheinend sehr bewusst für ein Gebäude entschieden hat, das zu ihr passt.

Freitag 5. 3., ZIB 1: „Verbindliche Bildungsstandards für österreichische Schüler“ Kameraschwenk im Klassenzimmer, die Schüler stecken ihre Köpfe zusammen und „büffeln“. Die Off-Stimme erklärt, sie hätten nichts zu befürchten, getestet werden solle die Qualität der Schulen, nicht die der einzelnen Schüler. Trotzdem ist es ein trauriges Bild. An diesem Klassenzimmer mit seinen beklebten Militärspinden und den merkwürdigen Wandverkleidungen ist die Schularchitektur der letzten Jahre mit all ihren vorzüglichen Beispielen vorbeigegangen.

Freitag 5. 3., ZIB 1: „ÖIAG stellt weitere Privatisierungen für 2004 in Aussicht, darunter die Anteile an der Telekom“ Wirtschaftsnachrichten sind im IT-Zeitalter ein schwierig zu bebilderndes Thema. Postangestellte oder Bergarbeiter eignen sich für prägnante Bildmotive, aber womit die Telekom ihr Geld verdient, kann kaum gefilmt werden. Wieder ist die Architektur ein Umweg. Der Blick in die glasgedeckte Halle wäre auch an sich schon spektakulär, kann aber erst durch den grasgrünen Tresen mit roten Streifen ganz eindeutig zugeordnet werden. Schlechter ist es um die ÖIAG selbst bestellt. Die Holding der ehemaligen Staatsbetriebe ist so wenig greifbar, dass sich nur die videobestückte Gegensprechanlage in einem anonymen Bürobau zeigen lässt.

Freitag 5. 3., ZIB 1: „Russisches Parlament bestätigt Premier Michail Fradkow“ Korrespondenten führen mitunter ein hartes Leben. Der Architekturhintergrund, vor dem Susanne Scholl frierend posiert, erfüllt dieselbe Funktion wie einst die Urlaubspostkarte. Er dient als Beweis. Frau Scholl ist unsere Frau in Moskau.

Freitag 5. 3., ZIB 1: „Zwischenbilanz der Diagonale“ Der Grazer Uhrturm ist auch mit Doppelgänger ein Wahrzeichen. Er hat zwar nicht direkt mit dem Filmfestival zu tun, steht aber genauso prägnant für Graz wie für Kultur.

Montag, 8. 3., ZIB 1: „Die Kärntner SPÖ berät ihr Verhalten bei der Wahl Jörg Haiders“ „Hinter verschlossenen Türen“ ist sprachlich ein treffendes Bild. Und genau so wurde die interne SPÖ-Diskussion auch illustriert. Die Einstellung dauert nur wenige Sekunden. Erst in der Aufzeichnung wird erkennbar, dass die sozialdemokratische Partei ihre Eingangstür mit zwei Blumengebinden schmückt, als sei es die Einfahrt zu einer Villa am Land.

Montag, 8. 3., ZIB 1: „Reaktionen auf die Landtagswahlen: Kritik an der ÖVP kommt auch aus Niederösterreich“ Als neu gebaute Landeshauptstadt eignet sich St. Pölten hervorragend für Fernsehbilder. Erst wird der Regierungssitz von außen gezeigt, dann sieht man Landeshauptmann Erwin Pröll an seinem Arbeitstisch vor einer riesigen Glasfassade.

Montag, 8. 3., ZIB 1: „Immer mehr Österreicher sind Schmerzpatienten“ Wo gelitten wird, muss es anscheinend auch entsprechend aussehen, das hatte sich ja bereits bei den Bildern aus dem Klassenzimmer bewährt. Die Arztpraxis dokumentiert den Architekturalltag in seiner tristesten Form. Nicht nur Architekten sollten spätestens jetzt das Programm wechseln.

6. März 2004 Der Standard

Die tollkühnen Männer in ihren fliegenden Kisten

Für Querkraft ist kein Gelände zu steil

Der eine Auftraggeber ist Arzt und schraubt in seiner XXL-Garage an einem Flugzeug herum. Der andere ist das, was man einen „selfmade man“ nennt, und verkauft Wintergärten an Leute, die mit ihren Wünschen nie zu einem Architekten gehen würden. Der eine wollte hoch hinaus, der andere musste es. Beide brachten Grundstücke mit, die zu steil waren, um einfach ein Haus darauf abzustellen.

Beiden konnte geholfen werden. Nicht, indem sie horrende Summen auf den Tisch legen durften, um sich von der Erdanziehung freizukaufen. Sondern mit intelligenten Konzepten, die aus dem Zwang der Verhältnisse die Kraft gewonnen haben, die einen guten Bau von Architektur unterscheidet.

Beide Bauten waren teurer als normale Häuser. Aber nicht so viel teurer, als man es vielleicht erwarten würde. Bei beiden gibt es viele Stellen, die ausgesprochen billig sind. Das Budget ließ ein wenig mehr Spielräume zu als bei einem Standardbau, aber das Geld floss ins konzeptionelle Gerippe, nicht in edle Details.

Das Haus für den Arzt und seine Familie steht in Wien, an einer für das Stadtbild von Ottakring sehr untypischen Stelle, wo sich der Arbeiterbezirk ins Liebhartstal hineinschmiegt und die Hänge von ausgebauten Kleingärten bedeckt sind. Für den Baugrund gab es Auflagen, die nur ein Haus genau in der Mitte der Parzelle erlaubten. Bei voller Ausnutzung wäre der Garten zu einem schmalen Passepartout rings um das Haus geschrumpft. Also wurde das Haus angehoben, um den Außenraum unter das Haus fließen zu lassen. Aber es ruht nicht auf Stützen. Der leichte Hauswürfel steht zu einem Drittel auf einer Betonböschung, zu zwei Dritteln hängt er in der Luft. In den geschlossenen Seitenwänden steckt eine Konstruktion, die man mit einem Kran vergleichen kann. Sie besteht aus einem senkrechten Mast und einem horizontalen Ausleger. Damit ein Kran am langen Ende des Auslegers große Lasten transportieren kann, muss am kürzeren Ende nur kräftig gezogen werden.

Von Außen kokettiert das Haus damit, ein Würfel zu sein, den ein Windstoß dazu bringen könnte, den Hang hinunterzupoltern. Im Innern aber ist seine ingenieurhafte Bauweise, die dieses Wagnis erst möglich macht, deutlich abzulesen. Die silbrige Schatulle ist dort sehr direkt, man trifft auf Stahlträger und Zugstangen, die in den Räumen eine Industriebauatmosphäre geben. Hier wurde nicht auf perfekte Details geachtet, sondern hie und da ein bisschen Geld gespart um, sich den eigentlichen Clou des Hauses leisten zu können. Der ja nicht nur darin besteht, über dem Hang zu schweben, sondern das Haus so weit wie möglich in den Himmel zu strecken. Vom Wohnzimmer in der dritten Etage reicht der Blick bis zum Stephansdom, von der Dachterrasse darüber geht er über ganz Wien hinweg.

Pragmatismus wäre nicht das richtige Wort für diese Haltung. Maximalismus bei jeglicher Bausumme, ausgeführt mit pragmatischer Rauheit trifft es besser. Die Architekten Jakob Dunkl, Gerd Erhartt, Peter Sapp und Michael Zinner hatten seit der Gründung von Querkraft im Jahr 1998 fast ausschließlich mit Bauherren zu tun, die sich eigentlich keinen Architekten leisten konnten. Dass dabei trotzdem Architektur entstand, beeindruckte einen früheren Auftragnehmer so sehr, dass er Querkraft für sein eigenes Gebäude anheuerte.

Oswald Vit ist einer, der auch Kühlschränke in der Arktis verkaufen könnte, aber er handelt mit Fenstern, Türen und vor allem Wintergärten. Vit brauchte einen Showroom, der nicht zu viel kosten durfte, aber doch genug Prestige abwirft, um seinen Kunden für die ohnehin nicht billigen Wintergärten in Zukunft ein bisschen mehr berechnen zu können. Dass erklärt Vit so schelmisch, dass man es ihm nicht übel nehmen kann. Er weiß genau, wie viele Autos täglich auf der Landstraße an dem Gewerbegebiet in Asperhofen in Niederösterreich vorbeifahren und ihn zum Gespräch der ganzen Region machen.

Die absurde Situation, dass ein Hanggrundstück als Gewerbebauland dienen soll, führt im Normalfall zu hohen Kosten. Zuerst muss der Hügel begradigt werden, dachten sich die Nachbarn und zogen monströse Stützmauern hoch. Oswald Vit aber war so clever, sich überzeugen zu lassen, dass die Terrassierung nicht nur die Landschaft vergewaltigt, sondern auch genauso teuer ist wie eine auf vielen kleinen Stützen stehende Röhre, die am höchsten Punkt des Hangs startet und dann gerade in den Raum hinausschießt. Die Röhre endet bei einer Höhe von sechs Metern über dem Boden mit einem großen Fenster, durch dass die Autofahrer für einen kurzen Moment die Wintergärten sehen können. Besucher gelangen durch eine Art Rüssel, den der Bau nach unten streckt, über eine lange Treppe in den Showroom hinein. Schmuckloser kann man es sich kaum vorstellen und setzt schon zur Frage an, ob der Eingang denn nicht zu sehr am Geschmack der Leser von Architekturzeitschriften ausgerichtet sei. Da gibt Vit, dessen Büro im zweiten, nach oben gerichteten Rüssel untergebracht ist, eine entwaffnende Erklärung. Zu viele sollten ja gar nicht heraufkommen, die nur durchs Gebäude neugierig geworden sind, dann wär' bloß eine Beratung ohne Geschäftsaussicht fällig, und seine Leut' sollten sich ja auf die echten Kunden konzentrieren.

Der Geschäftsmann hat klar erkannt, dass die Postmoderne vorüber ist. Ein überdimensionaler Wintergarten hätte das Geschäft nicht angekurbelt, sondern zunichte gemacht. Mehr solcher Unternehmer vom Schlage eines Vit und der Wirtschaft des Landes ginge es besser.

6. März 2004 Der Standard

Geburtsstunden der Großstadt

Das Wiener Architekturzentrum zeigt die erste Etappe der seit langem geplanten Dauer- ausstellung zur Entwicklung der österreichischen Architektur im 20. und 21. Jahrhundert.

Wien - Es ist eine Binsenweisheit, aber sie kann nicht oft genug wiederholt werden: Architektur im Medium einer Ausstellung präsentieren zu wollen, stößt an die Grenzen des Darstellbaren. Gebäude lassen sich nicht ins Museum transportieren, nur abbilden, beschreiben, in Skizzen, Zeichnungen oder Modellen erfassen. Das Architekturzentrum Wien (AzW) hat sich in der Vergangenheit bemüht, das Dilemma zu umschiffen, und die Nebenprodukte der Architektur in den Mittelpunkt gestellt. Daraus sind wunderschöne Ausstellungen hervorgegangen, so etwa mit Skizzen von Steven Holl oder den Architekturbüchern der Sammlung Marzona.

Möglicherweise waren viele Besucher davon ein wenig irritiert. Es fehlte der Überblick, der Architekturbeitrag zum „Vienna in two days“-Programm. Mit der aschau bietet das AzW diesen Service nun an, entzieht sich gleichzeitig aber der schnellen Konsumierbarkeit. Die Ausstellung ist das Standbein auf etwa der Hälfte der verfügbaren Fläche und wird mit Sonderausstellungen kombiniert.

Die unsichtbare Basis des Großvorhabens, das ganze 20. Jahrhundert in einem Raum zusammen zu bringen, bildet das Archiv des Architekturtheoretikers Friedrich Achleitner, das sich seit einigen Jahren im Besitz des AzW befindet und in diesem Jahr in einer Online-Ausgabe zugänglich gemacht werden soll. Ausgehend von Achleitners prallgefüllten Zettelkästen haben die Kuratorinnen Gabriele Kaiser und Monika Platzer Berge von Material zusammengetragen. Sie präsentieren es auf einem Modulsystems der Gruppe Walking-Chair als dreidimensionalen Architekturführer. Die eigens entworfenen Stühle sind das wohl wichtigste Zubehör der aschau, der ein lesefreudiges Publikum zu wünschen ist.

Und das, was leicht einen Nachmittag füllt, ist erst der Epilog und umfasst Bauten zwischen 1850 und 1918. Lediglich eine Sektion zum Wohnbau reicht an die Gegenwart heran.

Nach den Monumentalplanungen der Wiener Ringstraße verschob sich die Bautätigkeit um die Jahrhundertwende auf „Nutzbauten, die einen demokratischen Zug“ aufweisen, so ein Zeitgenosse 1895. Otto Wagners Postsparkasse und Joze Plecniks Zacherl-Haus mit ihren „montierten“ Fassaden, die Stadtbahn und das Secessionsgebäude sind Elemente der modernen Großstadt, die den „vertanen Chancen“ (Achleitner) bei Bauten wie dem Kriegsministerium gegenübergestellt werden.

Obwohl auch die soziologischen und kulturellen Bedingungen jener Zeit gestreift werden und nicht zuletzt die stadthygienischen Maßnahmen wie die Regulierung des Wienflusses, liegt der Schwerpunkt der Ausstellung auf einzelnen Baugeschichten. Pläne und Zeichnungen erscheinen nur als Faksimile, was zwar schade ist, aber andererseits passt so jedes Blatt ins dichte Layoutraster, das die Ausstellung bei aller Fülle angenehm kompakt macht.

In den nächsten Monaten wird nachverdichtet und das Ergebnis dann auf Jahre im AzW zu sehen sein. Soviel Zeit muss sein.

Begleitprogramm der Ausstellung unter: www.azw.at

28. Februar 2004 Der Standard

Goldnugget in der Schutzzone

Eine Villa in Hietzing von AllesWirdGut, Rainer Pirker und werkraumwien

Wer das Glück hat, hier bauen zu können, der hat es geschafft. Nur ein paar Häuser weiter liegt hinter einer Mauer der Schlosspark Schönbrunn. Die Seitenstraße ist ruhig, und es gibt kein Gegenüber. Auf dem Grundstück stehen alte Bäume, und die Nachbarn rechts und links sind freundliche Altbauten, die einem das Gefühl geben, dass Tradition hier geschätzt wird. Kein Neubau weit und breit, der als Parvenu aus der Reihe tanzt und die Aussicht stören würde.

Als die Architekten den Entwurf einreichten, wird manche Alarmglocke geschrillt haben. Nicht nur die Abteilung für Stadtbildpflege nahm sich die Pläne vor, auch der Gestaltungsbeirat der Stadt Wien trat zusammen und prüfte, was sonst nur bei größeren Projekten passiert.

Alle Rahmenbedingungen waren penibel, wenn auch manchmal mit etwas gewagten Argumenten eingehalten worden. Was innerhalb der Ermessensspielräume lag, die verschränkten Außenformen und die goldene Aluminiumfassade, fand die Zustimmung der Fachkollegen im Beirat. Bei einigen Nachbarn kamen die Pläne weniger gut an, aber das ist ja das Schöne an der Demokratie, dass einem die nicht vorschreiben können, wie man zu leben hat.

Das Bauherrenpaar, eine junge Familie mit zwei Kindern, lebte bisher in einer Vier-Zimmer-Altbauwohnung. Auf der Suche nach geeigneten Architekten beauftragten sie eine Auswahl von Büros mit einem Vorentwurf. Gegen Spesenübernahme, was in Zeiten, in denen nicht nur jüngere Architekten nach Aufträgen schnappen wie ein Ertrinkender nach Luft, keine Selbstverständlichkeit ist. Der Zuschlag ging an eine Arbeitsgemeinschaft aus Rainer Pirker, der Gruppe AllesWirdGut, kurz awg, und dem Statikbüro werkraumwien.

Damit begann eine Zeit, die Friedrich Passler von AllesWirdGut so beschreibt, dass es wohl keinen Bau auf der Welt gibt, bei dem die Bauherren so intensiv mit den Architekten über den Plänen und vor dem Modell gesessen hätten. Zeitweise habe sich der Ehemann quasi hauptberuflich um die Entstehung des Hauses gekümmert. Und für awg sei es eine Selbstverständlichkeit, auf die Wünsche der Auftraggeber einzugehen.

Die bisherigen Projekte der fünf jungen, um 1970 herum geborenen Architekten gingen fast ausschließlich auf Wettbewerbe zurück, bei denen die Bauherren eigentlich nicht so recht wussten, was sie sich wünschen sollten. Und awg zeigte ihnen, was sie haben können, wenn sie über den eigenen Schatten springen. Wird ja alles gut, und wirklich, das wurde es auch.

Bei dem ersten Bau, einem Dorfgemeinschaftszentrum in Fliess in Tirol, gelang einem dort geborenen Mitglied der Gruppe, den Bürgermeister zu überzeugen, doch lieber einen Wettbewerb auszuschreiben, statt beim erstbesten Baumeister anzuläuten. Der erste Preis ging an den Initiator des Wettbewerbs, der gerade in den Niederlanden arbeitete und mit dem Sieg in der Tasche ein paar ehemalige Studienkollegen aus dem Zeichensaal der TU Wien zusammentrommelte. Viel Erfahrung hatten sie nicht, dafür einen an der niederländischen Architekturszene geschärften Sinn, in Konzepten und Szenarien zu denken, die erst in einem zweiten Schritt zu gebauter Form konkretisiert werden. In das minimale Volumen des Baukörpers wurde ein Maximum unterschiedlicher Räume hineingepackt, ohne auf natürliche Belichtung in allen Bereichen zu verzichten. Niemals hätte man in Fliess so etwas zu träumen gewagt, aber für Ort und Aufgabe war das Resultat genau das Richtige.

Zurück nach Hietzing. Die Villa ist in ihrer Komplexität mit dem Dorfhaus in Fliess vergleichbar, obwohl awg seither auch viel einfachere Projekte verwirklicht hat. Hier trafen sich die Lust der Architekten an der Vielfältigkeit räumlicher Situationen und die sehr genauen Vorstellungen der Bauherren, was ihr Haus alles können sollte.

Alle Entscheidungen gingen vom Garten aus. Um diesen so wenig wie möglich anzutasten, steht der Baukörper an der vorderen Grundstückskante. Aufgrund der Hanglage bot sich im Erdgeschoß eine Garage an. Doch während die Nachbarn in dunklen Kästen parken, tritt man hier in einen offenen Hof, auf den das Haus so aufgesetzt ist, als würde es gleich abheben. Durch Glaswände hindurch zeichnet sich bereits der Garten ab, der sich in diesem Bereich senkt, um Licht hierher zu führen und einen Freiluftbereich vor der Sauna zu schaffen. Die Treppe ins erste Geschoß verläuft parallel zur Straße, ist aber nicht die einzige Möglichkeit hinaufzugelangen, da eine Option vorzusehen war, das Haus später teilen zu können. Der Küchen-, Wohn- und Essbereich liegt auf dem Niveau des Gartens und ist zu dieser Seite vollständig verglast. Darüber schwebt, nur von schlanken Stützen gehalten, das „Nugget“, ein eher geschlossener, mit goldenen Aluminiumplatten verkleideter Baukörper, der Bade-, Schlaf- und Kinderzimmer enthält. Jeder dieser Lebensbereiche ist fein ausdifferenziert. Mit Niveausprüngen im Boden, Einbaumöbeln und bisweilen ausgestülpten Fenstern, die beispielsweise eine Blickverbindung aus der Badewanne in den Garten schaffen. Dieselbe Sorgfalt wiederholt sich im Außenbereich: Es gibt eine Terrasse für das Frühstück, eine vor dem Essbereich, dann noch den Garten mit Pool, darin eingegraben die Saunaterrasse und schließlich noch die Dachterrasse.

Die Vermutung, dass der Gestaltungswille vielleicht ein wenig überhand genommen hat, stößt an die harte Grenze der Privatsphäre mit ihren unantastbaren Wünschen und Vorstellungen. Die gilt gleichermaßen für Architekten und Kritiker. In wessen Namen sollte man etwas anderes verlangen?

Die Bauherren haben bekommen, was sie wollten, und das in einer konzeptionellen und räumlichen Denkweise, die zum Interessantesten zählt, was die österreichische Architektur gegenwärtig zu bieten hat. Das Haus passt wie ein Maßanzug. Zu den Bewohnern, ihrem Grundstück und zum Gelbstich der Häuser in der Umgebung.

21. Februar 2004 Der Standard

Harte Schale, weicher Kern

Nachlese: Das Literaturhaus in Graz von Riegler Riewe Architekten

Einen Bau zu entwerfen, der nicht nach ganz vorne, am besten gleich aufs Titelblatt einer Architekturzeitschrift drängt, ist selten geworden. Das auch noch im Bewusstsein zu tun, dass das Gebäude ausgerechnet im Graz des Kulturhauptstadtjahres 2003 fertig gestellt werden und einen der kulturellen Anlaufpunkte bilden sollte, erfüllt den Tatbestand der unterlassenen Stadtmarketingleistung und wird in Zukunft sicher unter Strafe gestellt werden. Zu den mildernden Umständen könnte lediglich angemerkt werden, dass die Architekten Florian Riegler und Roger Riewe ansonsten zu den bekannteren Vertretern der Grazer Architekturszene zählen und bereits einiges dafür getan haben, dass die Stadt wie kaum eine andere in Österreich mit zeitgenössischem Bauen in Verbindung gebracht wird.

Seit Graz 03 hat dieses Image noch eine andere Richtung bekommen. Visionär sollte sie sein, die Architektur im Festivaljahr und brachte mit Murinsel und Kunsthaus zwei unbedingt covertaugliche, aber in ihrer visionären Kraft bereits arg in die Jahre gekommene Gebilde hervor. Beide wären in den 1920ern eine Weltsensation und in den sechziger Jahren immer noch ordentliche Knaller gewesen, entstanden doch seinerzeit Entwürfe dieser Art ausschließlich auf dem Papier. Aber erst im 21. Jahrhundert waren Bautechnik und Verrücktheit so weit entwickelt, es dann auch wirklich zu versuchen, organisch fließende Formen in ganz und gar nicht bewegliche Gebäude zu verwandeln. Mit zweifelhaftem Erfolg, aber überwältigender Resonanz.

Dem Grazer Literaturhaus ist zwar als neugegründeter Institution viel Interesse entgegengebracht worden, aber die Architektur ist dabei kaum mehr als am Rande erwähnt worden. Sie sticht ja zunächst auch gar nicht ins Auge. Wäre da nicht ein über die Straße gespanntes Transparent, würde sich das ehemalige Stadtpalais des Baron Mayr von Melnhof durch nichts von seinen Nachbarn in der Grazer Elisabethstraße unterscheiden. Die Anlage ist ein Eckhaus und bildet, mit dem Haupthaus und einem Seitenflügel entlang der Seitenstraße, die Form eines „L“. Dieser Figur haben Riegler Riewe einen weiteren Flügel hinzugefügt, so dass sich nun ein „U“ ergibt, das sich zum rückwärtigen Garten öffnet. Der neue Baukörper besteht aus gelb lasiertem Beton, wodurch eine Oberfläche entsteht, die an die vielen leicht vergammelten Fassaden im pseudo-barocken „Schönbrunner Gelb“ erinnert, denen Graz an manchen Tagen seine südlichen Reize verdankt.

Die einzelnen Teile des Anbaus sind von den Architekten wie Bauklötzchen zusammengestellt worden. Der breite Sockel enthält den Veranstaltungssaal und trägt den Gastgarten. Das darauf abgestellte und an die Grundstücksgrenze gerückte schmalere Klötzchen beherbergt das Café und in der obersten Etage das Archiv des Literaturhauses. Eine Funktion pro Etage, das lässt sich an Klarheit nicht mehr überbieten.

Im Innenraum zeigen sich die Tücken der bauklötzchenhaften Entwurfsweise. Dort hat der Entwurf nach dem Wettbewerb die meisten Änderungen erfahren. Hier zeigt sich auch, wie das Haus „angenommen“ wurde, denn seine Einweihung liegt gut ein dreiviertel Jahr zurück.

Es würde zu weit führen, die vielen kleinen Veränderungen aufzuzählen, die sich gegenüber dem ursprünglichen Konzept auf Wunsch des Bauherren ergeben haben. Da wurden Treppen umgedreht, Räume zusammengefasst und die Cafénutzung zu Lasten der Eingangssituation in den Veranstaltungsraum erweitert. Das alles war wohl möglich, weil die Raumaufteilung im Inneren auf dem Grundriss genauso schematisch erscheint, wie die äußere, auf den ersten Blick so lapidare Betonhülle. Was es wohl nahe gelegt hat, die Räume herumzuschieben wie die Elemente einer Einbauküche. Niemand hätte gewagt, so mit dem Altbau zu verfahren. Dort, wo Ausstellungsflächen, eine Bibliothek und die Räume des Franz-Nabl-Instituts der Universität Graz untergebracht sind, herrscht ein hohes Maß an räumlicher Klarheit. Alles ist um ein imposantes Treppenhaus mit anschließender Empore herum organisiert. Diese Raumform setzt einen Fixpunkt und erzeugt die Aufteilung der jeweiligen Geschosse wie von selbst. Die raumverschlingende Großzügigkeit des feudalen Palais entfaltet eine Kraft, die sich auf den Anbau leider nicht übertragen hat, weil das von den Architekten fein austarierte Gleichgewicht kein Zentrum hatte, aus dem heraus sich alles andere zwanglos ergibt. So hat man beispielsweise die Glasflächen im Terrassenboden, die ein darunter liegendes Foyer belichten sollten, nachträglich mit Folie verklebt, weil der Vorraum mittlerweile dem Veranstaltungssaal zugeschlagen wurde, und dort soll es ja dunkel sein. Wären die Räume ausformulierter gewesen, hätte das nicht passieren können.

Noch ist nicht alles verloren. Ein Rückbau, das ist der Vorteil weicher Raumaufteilungen, wäre jederzeit möglich. Die Nutzung des Literaturhauses hat sich in den Monaten seit der Eröffnung ohnehin verändert. Autorenlesungen benötigen in der Regel keinen so großen Saal. Andererseits werden nun Künstlergarderoben gebraucht, weil sich das Programm wegen des oft höheren Zuspruchs in Richtung Musik und Kabarett erweitert hat. Und dem Koch des Café Orange sollte auch nicht länger zugemutet werden, die Speisen vom Alt- in den Anbau durch den Außenraum zu tragen, da eine Küche in den ursprünglichen Plänen für das Café nicht vorgesehen war. Die Struktur ist da, nur noch nicht so recht das Bewusstsein, welche Qualitäten darin verborgen sind. Es wäre Zeit für ein Update.

Publikationen

2023

Protestarchitektur
Barrikaden, Camps, raumgreifende Taktiken 1830–2023

Protestbewegungen prägen den öffentlichen Raum nicht nur durch ihre Botschaften, sondern in vielen Fällen auch durch ihre – meist temporären – Bauten. Dieser These gehen das Deutsche Architekturmuseum DAM in Frankfurt und das MAK – Museum für angewandte Kunst in Wien in einem Ausstellungsprojekt nach,
Hrsg: Oliver Elser, Anna-Maria Mayerhofer, Sebastian Hackenschmidt, Peter Cachola Schmal, Jennifer Dyck, Lilli Hollein
Verlag: Park Books

2017

SOS Brutalismus
Eine internationale Bestandsaufnahme

SOS Brutalismus ist ein Notsignal. Seit den 1950er-Jahren sind weltweit Bauten bedeutender Architekten des 20. Jahrhunderts entstanden, die Ausdruck einer kompromisslosen Haltung sind. Oft, aber nicht immer, sind sie aus Sichtbeton (béton brut, daher der Begriff Brutalismus). Viele der oft kontrovers
Hrsg: Oliver Elser, Philip Kurz, Peter Cachola Schmal
Verlag: Park Books

2009

Wohnmodelle - Experiment und Alltag
Housing Models. Experimentation and Everyday Life

Die Spanne reicht vom chilenischen Sozialwohnbau zum Selbst-Weiterbauen über die Wiener Sargfabrik bis hin zu einer elitären Wohngemeinschaft in Tokio. Das Projekt Wohnmodelle. Experiment und Alltag geht anhand von elf internationalen Wohnbauprojekten der Frage nach, wie Architekturexperimente im
Hrsg: Oliver Elser, Michael Rieper, Künstlerhaus Wien
Verlag: Folio Verlag

2001

Sondermodelle. Die 387 Häuser des Peter Fritz

Peter Fritz war ein Bastler, der in seiner Freizeit Architekturmodelle entwarf und baute - doch »nicht alle Bastler sind harmlos«, wie Walter Grasskamp bemerkte. Dieses kuriose Bilderbuch für alle Kunstliebhaber und Architekturfreunde beweist diese These. Was tun mit 387 kleinen Architekturmodellen,
Hrsg: Oliver Elser, Österreichisches Volkskundemuseum, Oliver Croy