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Licht und Sinn in Brissagos Kirchen
Neue Zürcher Zeitung

Ein Pfarrer als Bauherr

Insgesamt 54 Jahre hat Don Annibale Berla, Jahrgang 1922, in Brissago verbracht. Er war nicht nur Seelenhirte, sondern musste sich auch um rund ein Dutzend Kirchen und Kapellen kümmern. Darunter befinden sich zwei herrliche Renaissancebauten.

3. Mai 2002 - Roger Friedrich
Als Berla 1946 nach dem Priesterseminar Vikar in Brissago wurde, hatte die Kirche Madonna di Ponte dringendst ein neues Dach nötig, ein Geschäft, das der in die Jahre gekommene Prevosto Antonio Galli gerne seinem jungen Adlatus überliess. Als die Kirche ihr neues Dach hatte, musste sie innen und aussen restauriert werden. Nach dieser einen Beretta-Kirche kam die andere, die Dorfkirche, an die Reihe. Die kleineren Kirchlein und Kapellen mussten instand gesetzt werden. In Porta war der Zerfall so weit fortgeschritten, dass Berla einen Neubau durchsetzte. Erst als auch die Kirche und die Wegkapellen des Sacro Monte wieder in neuer Pracht erstrahlten, legte Don Annibale sein Amt nieder und kehrte vor anderthalb Jahren ins Bleniotal zurück.


Renaissance der Renaissance

Die Restaurierung der Kirche Madonna di Ponte, mit der sich der junge Priester als Erstes konfrontiert sah, war ein komplexes Unternehmen. Virgilio Gilardoni bezeichnet die Kirche in den «Monumenti d'arte del Canton Ticino» als «eines der klarsten Zeugnisse lombardisch-toskanischer Renaissance am Lago Maggiore». Mit dem Bau beider Kirchen von Beretta wurde im ersten Drittel des 16. Jahrhunderts angefangen, doch zogen sich die Bauarbeiten in den wilden Zeiten, die damals in Brissago herrschten (samt Mord und Brandschatzung), in die Länge. Giovanni Berettas Sohn Pietro vollendete schliesslich die Pfarrkirche um 1600 im Sinne des Vaters. Die Madonna di Ponte ist - unter anderem mit dem Wechsel von Kreuz- und Tonnengewölbe - dynamischer konzipiert als die strengere Pfarrkirche, in der sich die drei quadratischen Joche mit dem von der Kuppel überwölbten Presbyterium zu einem langgestreckten Raum fügen.

Die Madonna di Ponte stand bereits unter Schutz, als die Restaurierung vorbereitet wurde. Die von Linus Birchler präsidierte Eidgenössische Kommission für historische Kunstdenkmäler war involviert. Für die kantonale Kommission engagierte sich vor allem Piero Bianconi, während der Präsident, Francesco Chiesa, offenbar eher im Hintergrund blieb. Alberto Camenzind repräsentierte beide Ebenen. Die Projektierung war Rino Tami übertragen, der sie im Wesentlichen dem jüngeren Peppo Brivio überliess, als dessen Arbeit diese Restaurierung gilt. Camenzind plädierte, Brivios Projekt folgend, für eine «architektonische Restaurierung», in der sich - im Unterschied zur «historischen» - die verschiedenen Elemente der «Hierarchie der dominierenden Architektur» unterzuordnen haben. Dieser Weg wurde, gegen Bedenken Chiesas, eingeschlagen.


Architektonische und liturgische Mitte

Ältere Fotos zeigen, wie spätere Ergänzungen den ursprünglichen Kirchenraum verändert hatten. Barocke Dekorationen um einen der Seitenaltäre wucherten förmlich aus der Nische ins Schiff hinaus. Hinter dem Hauptaltar wurden Fresken aus dem 16. Jahrhundert entdeckt. Man entschloss sich zu massiven Eingriffen. Für den Hauptaltar, einen der prunkvollsten der Region, wurde eine vom Schiff getrennte, durch eine Türöffnung (anstelle des ursprünglich geplanten Korridors) erreichbare neue Kapelle erstellt. Die Pfarrkirche wurde später von Luigi Snozzi nach ähnlichen Grundsätzen restauriert. Unter anderem wurde der im 19. Jahrhundert veränderte Apsisbereich rekonstruiert.

Im Gespräch mit Berla taucht immer wieder der 8. August 1952 auf. Das Datum, an dem Camenzind seinen Bericht ablieferte, hat sich Don Annibale tief eingeprägt. Da habe er gespürt, dass die Weichen gestellt waren. Die gewählte Lösung bedeutete den Rückgriff auf die Renaissance, für die das Herz des jungen Priesters schlug. Sie öffnete zugleich den Weg für die Placierung eines neuen Altars unter der Kuppel. Dafür war er eingetreten, damit sich «il centro liturgico al centro architettonico» befinde. Damit war der Altar von der Wand weggerückt und konnte die Messe dem Volk zugewandt zelebriert werden, wie es dann ein Jahrzehnt später das zweite Vatikanum einführte.

Von jenem 8. August schlägt Berla in seinem inneren Kalender den Bogen zur Einweihung der restaurierten Kirche, im Tessin gewiss die erste mit neu gestelltem Altar. Ohne mit der Wimper zu zucken, erzählt der Achtzigjährige, habe Bischof Jelmini in der neuen Weise die Messe gelesen, wozu damals längst nicht alle Bischöfe bereit gewesen wären. Jelmini war da offener. Sein Name bleibt ja auch mit der damals entstandenen Kirche San Nicolao, einem modernen Bau von Giuseppe Antonini in Lugano-Besso, verbunden. Vom frei stehenden Altar, dem Lesepult und dem Stuhl des Priesters rückte Berla von da an nie mehr ab. In der Kirche des Sacro Monte liess er nicht locker, bis - zum Ärger der Denkmalschutzkommission - der bestehende Altar verkürzt und ein freistehender aufgestellt war.

Eine Restaurierung ist das Ergebnis eines komplizierten gruppendynamischen Prozesses. Don Berla, ohnehin eher verschlossen und von diskreter Natur, äussert sich bescheiden über die Rolle, die er darin zu spielen hatte. Doch er wusste, was er wollte und wovon er sprach. Er verfolgte aufmerksam die Diskussionen zur Liturgiereform ebenso wie die über die neue Kirchenarchitektur. Er reiste nach Strassburg und Brüssel zu Liturgiewochen und fuhr den neuen Kirchenbauten nach, nach Ronchamps, nach Branzate bei Mailand, zur Notre-Dame de Toute Grâce auf dem Plateau d'Assy und anderswohin - «bis 1954 auf dem Motorvelo, nachher im VW». Er wusste, was in Deutschland und in der Deutschschweiz vor sich ging, und liess sich anregen von den Bauten von Fritz Metzger und von Hermann Baur (der 1950 in der Basler Michaelskirche den Chor für die Zelebration gegen das Volk angelegt hatte). Es kommt nicht von ungefähr, dass man in der Pfarrkirche Glasgemälden von Hans Stocker begegnet.

Architektonisch und liturgisch wollte er auf die Ursprünge zurückgreifen und in die Zukunft blicken. Es drängte ihn zur Renaissance zurück, vor den Barock, vor die Gegenreformation, zu Klarheit und Transparenz. Ästhetisches und Religiöses gehören bei ihm zusammen. Mit Gespür zog er Architekten bei, die heute zur ersten Tessiner Garde gehören. Auf Tami und Brivio folgten Snozzi und Cavadini. Für den neuen Altar in der Pfarrkirche holte er Giovanni Genucchi, der im Nachbardorf von Ponto Valentino lebte. Genucchi schuf, den neunzig Zentner schweren Block aus dem Bleniotal zurückhaltend bearbeitend, ein Meisterwerk, ganz der «Philosophie» Berlas gemäss. «Man wollte», schrieb dieser, «nicht eine Skulptur zum Altar, sondern ganz einfach einen Altar durch eine Skulptur kostbarer machen.»

Neben und nach den beiden grossen Kirchen machte sich Berla an kleinere Renovierungen. Auch der profane Liegenschaftenbesitz der Pfarrgemeinde kam an die Reihe. Zusammen mit Snozzi realisierte er den Baukomplex zwischen der Pfarrkirche und der Kantonsstrasse. Berla hätte der Casa Bianchini nicht allzu sehr nachgeweint; Snozzi rettete sie auf seine Weise, indem er den Charakter der Fassade - sie formal dem benachbarten Neubau unterwerfend - völlig veränderte. Zum Abschluss wagte sich Berla nochmals an zwei bedeutendere Projekte: die neue Kirche in Porta und die Restaurierung des Sacro Monte.

Das Kirchlein San Bartolomeo von Porta war schon früher verkürzt worden, damit die Strasse verbreitert werden konnte, und befand sich in einem bedenklichen Zustand. Immerhin schlug Snozzi eine Lösung vor, die den Bau zwar massiv verändert, aber teilweise erhalten hätte. Berla drängte auf eine radikalere Lösung und wandte sich auf Empfehlung Snozzis an Cavadini. Dieser projektierte einen kubischen Neubau (NZZ 3. 4. 98), der nun zu den interessantesten modernen Bauwerken im Tessin gehört.


Tessiner Spannungsfelder

Die Restaurierung des Sacro Monte - die Kirche hat unter Snozzis Leitung ihre rührende Festlichkeit zurückgewonnen - brachte Berla die Befriedigung, den lang gehegten Wunsch, dass Fra Roberto Pasotti die seit langem leeren Wegkapellen neu ausmale, erfüllt zu sehen. Der Kapuziner aus dem Kloster Bigorio hat die Aufgabe auf eigenwillige Weise angepackt und - wie Azzolino Chiappini interpretierte - mit grossen Gesichtern, die manchmal die ganze Bildfläche füllen, eine eigentliche «teologia del volto» entfaltet. Dem Kreuzweg, den Erdrutsche um drei Wegkapellen gebracht hatten, wurde dafür eine neue zugefügt, die nach Berlas Programm - eher ungewöhnlich für einen Kreuzweg - die Auferstehung darstellt. Sie besetzt nun als einfacher Betonblock den steilen Hang, den man, aus der Kirche tretend, bisher ganz natürlich vor sich hatte, wie es der subtil im waldigen Tobel inszenierten Anlage wohl besser entsprochen hatte.

Was in der Ära Berla restauriert und gebaut wurde, hat nicht nur Begeisterung ausgelöst. Die Ablehnung reicht von Bernhard Anderes' Urteil , die Madonna di Ponte sei «in übelster Weise purifiziert» worden, bis zu jenen Einheimischen, Zugewanderten und Touristen, die den Verlust der alten Kirche von Porta noch nicht verschmerzt haben und es nicht über sich bringen, ihren Fuss in die neue zu setzen. Wie auch immer: Wie sich in Brissago ein halbes Jahrhundert lang architektonischer und theologischer Erneuerungswille - zu einem guten Teil im Spannungsfeld von Renaissance und Barock - gegenseitig befruchtet und durchgesetzt haben, ist ein eindrückliches und spannendes Kapitel der Tessiner Geistes- und Kunstgeschichte.

Auf dem Vorplatz der Pfarreikirche, von dem aus sich der Blick über den Langensee weitet, stehen noch die über 400-jährigen Zypressen, die in der Bauzeit gepflanzt wurden. Welch ein Auftakt zum Kirchenraum, in dem Beretta «den Tonfall und die Modelle Brunelleschis im lombardischen Geschmack des sanften Kontrastes des Lichtes» (Gilardoni) aufzunehmen verstand! Nach einem Rundgang durch das von spekulativen Zufällen malträtierte Brissago atmet man freier auf in einem so kohärenten Raum, den so spürbar der Wille bestimmte, Sinn Gestalt zu geben. Da lässt sich die Linie ziehen nach Porta, wo der Kirchenraum auf das Wesentliche, auf wenige Elemente (Altar, Lesepult, Stuhl) und Mauerschlitze, auf Sinn und Licht reduziert erscheint.

Nun lebt Berla wieder in Ponto Valentino. In der Pension, die seine Mutter einst führte, sind Wohnungen eingerichtet worden. Nur wenige Schritte sind es zur kreuzförmigen Kapelle S. Francesco Saverio, die Cavadini restauriert hat. Dort liest Berla gerne die Messe, wenn er nicht in anderen Kirchen des Tales Priester vertreten muss. Die eine oder andere von ihnen wünscht er sich etwas heller und weniger museal. Er führte uns auch ins Nachbardorf Largario, wo sich die reizvolle elliptische Kirche Pietro e Paolo in bedenklichem Zustand befindet und eine Restaurierung dringendst nötig hat . . .

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