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Geborgenheit und Ordnung
Neue Zürcher Zeitung

Neumittelalterliche Architektur an Rhein und Maas

In Architektenkreisen gelten die Niederlande als Vorposten der zeitgenössischen Baukunst. Doch ausgerechnet hier feiert eine spätpostmoderne Architektur neue Triumphe: Wohnanlagen haben die Form von Kastellen, und eine Siedlung bei Helmond entsteht in den Formen einer brabantischen Kleinstadt aus dem 17. Jahrhundert.

29. Juni 2004 - Hubertus Adam
Gemeinhin gelten die Niederlande als Musterland der zeitgenössischen Architektur. Die Bauten von UN Studio, Mecanoo oder Wiel Arets, die Projekte von MVRDV und NOX finden international Beachtung, viele prominente niederländische Architekturbüros sind inzwischen weltweit tätig, und in Rotterdam konnte Rem Koolhaas, ohne dessen Wirken der Boom des «Superdutch» kaum zu erklären wäre, unlängst im Vorfeld seines sechzigsten Geburtstags mit zwei Ausstellungen einen umfassenden Überblick über sein Gesamtwerk geben (NZZ 15. 4. 04). So wichtig die architektonischen Impulse auch sein mögen: Eine vorbehaltlose Idealisierung der niederländischen Baukunst ist schwerlich angebracht. Die Zersiedelung des Landes schreitet voran, und es sind keineswegs die aus Fachzeitschriften bekannten spektakulären Gebäude, welche das Bild prägen, sondern Bauten ohne jeden gestalterischen Anspruch. Daneben ist zu konstatieren, dass kaum einer der Protagonisten, welche für die Boomphase der niederländischen Architektur stehen, an inländischen Fakultäten unterrichtet. Am meisten aber überrascht eine neotraditionalistische Architektursprache, die sich zurzeit im Land grosser Beliebtheit erfreut.

Neue Burgen

In formaler Hinsicht läutete das innerstädtische Revitalisierungsmodell «De Resident» in Den Haag, mit dessen Planung 1988 begonnen wurde, den Retro-Trend ein. Zwischen dem Zentralbahnhof und dem Stadthaus von Richard Meier ist in den vergangenen Jahren nach einem Masterplan von Rob Krier sowie unter Mitwirkung von Sjoerd Soeters und Michael Graves ein innerstädtisch verdichteter Büro- und Wohnkomplex in bizarren spätpostmodernen Formen entstanden. Gerade in einem Land, das sich als Kunstprodukt zu verstehen schien und dessen architektonische Exponenten die Last des Geschichtlichen überwunden zu haben behaupteten, musste die Vergangenheitsbeschwörung erstaunen. Dies umso mehr, als sich die Postmoderne im internationalen Diskurs diskreditiert hatte, nachdem ihre irrlichternd-ironische Frühphase in der Sackgasse eines radikalen Eklektizismus gescheitert war.

Der zeitgenössische Trend zum Neohistorismus ist zweifellos als Krisenphänomen zu werten. Parallel zu Globalisierung und gesellschaftlichem Wandel restabilisiert sich das vorgeblich Vertraute, auch wenn es lediglich zu synthetischen Bildern gerinnt. Das Phänomen lässt sich in den postkommunistischen Staaten Osteuropas ebenso beobachten wie in den Siedlungen des «New Urbanism» der Vereinigten Staaten; in Deutschland mag man auf das Haus Bastian von Paul und Petra Kahlfeldt oder die Villa Gerl von Hans Kollhoff und Helga Timmermann verweisen, aber auch auf die grassierende Rekonstruktionsmanie.

Wie «De Resident» in Den Haag lehrt, fand der spätpostmoderne Neohistorismus in den Niederlanden sein Betätigungsfeld zunächst bei der Erneuerung der Innenstädte. Adolfo Natalini errichtete in historisierenden Formen nicht nur den Waag-Komplex auf dem kriegszerstörten Marktplatz von Groningen, sondern stampfte in Helmond rund um den Boscotondoplein mit seinen 120 Metern Durchmesser ein kulissenhaftes Plaza-Ensemble aus dem Boden, das aus Kulturzentrum, Bürokomplex, Kinocenter sowie 175 Apartments besteht. Noch erfolgreicher als Natalini ist Rob Krier, der durch seine IBA-Bauten in Berlin bekannt wurde und nach der Wende die Siedlung Kirchsteigfeld in Potsdam realisierte. Der Schwerpunkt des Schaffens von Krier und seinem Partner Christoph Kohl liegt inzwischen in den Niederlanden. Das umfangreichste der zahlreichen vom Berliner Büro aus betreuten Siedlungsprojekte ist Brandevoort bei Helmond, ein vollständig neuer Vorort, in dessen Mitte eine von Wassergräben umgebene «Veste» mit 600 Wohnungen realisiert wird. Tore, Türme und historisierende Ziegelsteinfassaden mit leicht variierenden Traufhöhen sollen das Bild einer mittelalterlichen Kleinstadt Brabants in Erinnerung rufen. Wie in den Niederlanden üblich, wurde der Rohbau in starkem Masse industrialisiert. Individualisierung entsteht durch die unterschiedlichen Fassaden und die - für niederländische Massstäbe - erstaunlich gut ausgeführten Werksteindetails. Brandevoort wirkt nicht billig, sondern steht für Wertbeständigkeit, Tradition und Kontinuität. Mit Geschäften und Schulen wollen die Planer einer monofunktionalen Schlafsiedlung vorbeugen, und in der Mitte der Veste errichten Krier und Kohl eine Markthalle wie aus dem 19. Jahrhundert.

Natürlich ist die autonome dörfliche Stadt eine Illusion, die der Lebenswirklichkeit ihrer Bewohner nicht entspricht. Aber Brandevoort, das auf die obere Mittelschicht zielt, ist äusserst erfolgreich. In Helmond, zu dem die synthetische Siedlung gehört, ist man stolz darauf, vermögendere Schichten in die Gemeinde zurückgeholt zu haben. Die «Veste» in Brandevoort steht nicht allein: In Almere, der geschichtslosen Stadt im Polder des IJsselmeers, lässt ein Projektentwickler eine «echte alte» Burg mit 46 Meter hohem Donjon errichten, die zukünftig als Hotel dient.

Populismus?

Noch bizarrer aber ist das Projekt De Haverleij nördlich von 's-Hertogenbosch: In der Wiesenlandschaft am Maasufer entsteht bis 2008 eine aus neun «Kastellen» und einer «Zitadelle» locker gefügte weitläufige Siedlung mit insgesamt 11 000 Wohneinheiten - gruppiert um einen Golfplatz, dessen Gestaltung ebenso wie das Landschaftslayout von Paul van Beek, einem früheren Partner im Büro «West 8», stammt. Jedes der Kastelle wird von einem anderen Architekturbüro realisiert, darunter Adolfo Natalini, Michael Graves, Claus en Caan und John Outram. Die Planer sehen in ihrem Projekt eine Kampfansage an den Flächenverschleiss der Streusiedlungen; doch nicht zuletzt in ökologischer Hinsicht ist De Haverleij fragwürdig. Eine Anbindung an den öffentlichen Nahverkehr existiert nicht, und unter den «Burghöfen» befinden sich Tiefgaragen.

Erklären lassen sich die neuen Kastelle vor dem Hintergrund der Deregulierung des Wohnungsmarktes in den Niederlanden - und einer politisch veränderten Situation. Der vollständige Rückzug des Staates aus dem sozialen Wohnungsbau Mitte der neunziger Jahre, die Zerschlagung der bisherigen Wohnbauträger und die Verwandlung bisheriger Mieter in Eigentümer lassen die Nachfrage steigen nach Häusern und Wohnungen, die Wertbeständigkeit simulieren. Eine Mittelschicht, die sich von der Gefahr des Abstiegs bedroht sieht, favorisiert ein Leben in Sicherheit - das sich baulich in Form von Festungen und präindustriellen Siedlungsstrukturen darstellt. Nicht ohne Grund fand diese Haltung auf der politischen Ebene Niederschlag im Sieg des Rechtspopulisten Pim Fortuyn, der im Kampf gegen die niederländische Liberalität einen überraschenden Sieg über die etablierten Parteien errang. Zwar ist die Bewegung nach dem Tod des charismatischen Protagonisten marginalisiert, doch der neokonservative Roll-back dauert an: Rotterdam wird inzwischen von «Leevbar Rotterdam» («Lebenswertes Rotterdam») regiert, und «Leevbar Almere» hat unlängst das Projekt für ein Kunstmuseum in Almere platzen lassen, um die Gelder stattdessen in Sicherheitseinrichtungen zu investieren. Der Rezensent des renommierten «NRC Handelsblad» zog daraus in architektonischer Hinsicht folgende Bilanz: Nach den «Fuck the Context»-Gebäuden des Supermodernismus folge nun eine neokonservative «Fuck the Zeitgeist»-Architektur.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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