Artikel

Quartier im Wandel
Neue Zürcher Zeitung

Ein neues München auf der Theresienhöhe

2. Juli 2004 - Oliver Herwig
Die Theresienwiese liegt da wie ein Bergsee. Jogger drehen ihre Runden, Rabenkrähen krächzen. Nichts erinnert an das bacchantische Vergnügen des Oktoberfests, an Bierschwemmen und Buden. Die Zeit scheint angehalten, das heisst fast. Über den Rand der Festwiese lugen grosse Baukörper. Drei graue Kästen bilden die Avantgarde eines neuen Quartiers westlich der Wiesn. Auf dem Areal der ehemaligen Messe München wächst die Theresienhöhe, 45 Hektaren gross, mit dem markanten Wohnturm des jüngst verstorbenen Münchner Architekten Otto Steidle als Wahrzeichen. - Nach Steidles Masterplan verketten sich auf der Theresienhöhe Wohnen und Arbeiten. Grün soll das Quartier werden, kompakt und zugleich offen für verschiedene Nutzungen und Veränderungen. Steidle ist das Kunststück gelungen, ein bisher in der Stadt-Topographie unsichtbares Gelände einzufangen und völlig neu zu definieren. Dazu hat der Münchner den Leerraum über der Wiesn nicht einfach gefüllt. Bürobauten an den Flanken wirken wie Wellenbrecher, die den Rhythmus der bestehenden Siedlungs- und Gründerzeithäuser aufnehmen und nach innen weitergeben, wo sich das Wohnen in Punktbauten rund um den alten Bavariapark konzentriert.

Am städtebaulichen Wettbewerb im November 1996 nahmen renommierte Architekten und Urbanisten teil: etwa Ortner und Ortner, Hilmer und Sattler, Albert Speer und Partner oder Herman Hertzberger. Ein sorgfältiger Blick auf ihre Arbeiten verdeutlicht die Andersartigkeit von Steidles Handschrift. Da wird kein Quartier mit starren Blockrändern festgezurrt. Steidle entwarf einen vergnügten Tanz der Themen Büronutzung und Wohngebiete. Nichts belebt die Theresienhöhe so sehr wie der Wechsel von geschlossenen Kanten und Wohnpunkthäusern, die Steidle wie Steine eines Schachspiels von Südwest nach Nordost angeordnet hat. Von aussen nach innen lösen sich die Blockränder auf, werden kleinteilig und luftig, damit der Blick bis zum Bavariapark reicht. Freiräume und Perspektiven bilden den elastischen Kitt zwischen Häusern, Hallen und Büros, ein flexibler Raster, der Umbauten, Erweiterungen und Neukonzeptionen locker in sich aufnimmt. Keine Frage: Die Theresienhöhe bildet ein Quartier im Aggregatszustand des Wandels.

Ihr Wahrzeichen dürfte der sonnige, 65 Meter hohe Turm werden, dessen Flanken in Gelb und Orange spielen. Es hätten ruhig noch ein paar Meter mehr sein können, aber Denkmalschützer fürchteten die optische Konkurrenz zur nahen Bavaria. Wie ein Jongleur Keulen lässt der Wohnturm Balkone wirbeln, so dass der Baukörper ständig in Bewegung scheint. Dieses fünfzehn Geschosse hohe, Park Plaza genannte Hochhaus bietet Ersatz für den alten Messeturm. Wer genau hinschaut, erkennt dieselben Rhythmen wie im angrenzenden Bürogebäude; Wohnen und Arbeiten werden optisch eins. Oben wird der Balkon zum Logenplatz über München. Vom Penthouse schweift das Auge über das Westend und die Altstadt bis hinüber nach Sendling. Zu Füssen stehen die alten Messehallen, in die das Deutsche Museum einzog, dann folgen die Bäume des Bavariaparks, der einst verborgen inmitten der Messe stand. Als grünes Herz des Quartiers öffnet er sich heute nach allen Seiten, vor allem aber zu den langgestreckten Wohngebieten der südlichen Theresienwiese. Von hier oben wird schlagartig klar: Da steht kein Viertel aus einem Guss. Steidle entwarf das Quartier nicht als Festkörper, der zwischen zwei bestehenden Vierteln hängt, zwischen Sendling im Süden und dem Westend im Norden, sondern als Scharnier, das Zonen hoher Dichte mit Freiräumen auflockert. 22 Hektaren bleiben unbebaut, fast die Hälfte des Viertels.

Nicht alles wurde fixiert, nicht jedes Detail formuliert. Mit dem grossen städtischen Freiraum der Esplanade nach Westen vertraute Steidle den Wünschen, Träumen und Vorstellungen der Bewohner, die ihr Viertel selbst in die Hand nehmen wollten, mehr als der Kraft seiner städtebaulichen Instrumente. Als Stadtplaner hat Steidle gelernt, sich im entscheidenden Moment zurückzunehmen. Schon vor seinem überraschenden Tod vor vier Monaten (NZZ 2. 3. 04) war die Theresienhöhe untrennbar mit ihm verbunden. Nun wurde sie sein städtebauliches Geschenk an München, die Stadt, in der er lebte.

teilen auf

Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

Ansprechpartner:in für diese Seite: nextroomoffice[at]nextroom.at

Tools: