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Die versteckten Gärten von Glasgow
Neue Zürcher Zeitung

Stadtdesign auf einem verfallenen Industrieareal

In Glasgow konnten im vergangenen Jahr die «Hidden Gardens», eine auf einem verfallenen Industriegelände im Südteil der Stadt realisierte Gartenanlage, eröffnet werden. Sie sind ein interessantes Beispiel postindustrieller Stadterneuerung, welche auf den Einbezug der multikulturellen Bevölkerung dieser Quartiere setzt.

30. Juli 2004 - Ignaz Strebel
Noch zu Beginn des Ersten Weltkrieges galt Glasgow als zweite Stadt des britischen Imperiums. Sie wurde reich durch Textilien, Kohle und Stahl sowie durch den Bau von Schiffen und Lokomotiven. Diese Spezialisierung erschwerte aber eine Anpassung der Wirtschaft an die sich allmählich verändernden Weltmärkte. So gingen zwischen 1961 und 1981 in Glasgow 200 000 Arbeitsplätze in der verarbeitenden Industrie verloren. Dieser Einbruch hinterliess seine Spuren auch bei der Bausubstanz. Verfallene Industriegebäude und verwilderte Flächen bestimmen das Bild der Vorstädte. Heute gelten nahezu 800 Hektaren innerhalb der Stadtgrenze von Glasgow als baufälliges ehemaliges Industrieareal. Diese Fläche entspricht ungefähr sechs Prozent des bebauten Stadtgebietes. Deren Verwendung und Entwicklung ist dem Spiel des Bodenmarktes ausgeliefert, und es ist schwierig, sie für öffentliche Zwecke zu erschliessen.

Stadterneuerung im Zwischenraum

Die Entstehung der Hidden Gardens ist vor diesem Hintergrund als ungewöhnlicher städtebaulicher Prozess zu bezeichnen. Diese Gartenanlage befindet sich zwischen den Stadtteilen East Pollokshields und Govanhill südlich des Clyde, der die Stadt in zwei Hälften teilt. Dieses vom Niedergang gezeichnete Gebiet schliesst direkt ans Zentrum an und gehört noch nicht zur Suburbia der 1,5 Millionen Einwohner zählenden Agglomeration. Neben den Industriebauten wurden hier auch viele Mietshäuser aus dem 19. Jahrhundert dem Zerfall überlassen. Damit sind die beiden Viertel die Negativbeispiele der in Fachkreisen sonst so gelobten postindustriellen Umwandlung Glasgows in ein Einkaufs- und Dienstleistungszentrum. Eine unbeabsichtigte Folge dieses Glasgower Umwandlungsprozesses und der damit zusammenhängenden räumlichen Dynamik sind die durch gestiegene Immobilienpreise bedingte Ausgrenzung finanzschwacher Bevölkerungsschichten und deren Abwanderung in jene Teile der Stadt, in denen noch günstiger Wohnraum zu finden ist. Unter diesen Bedingungen erstaunt es nicht, dass East Pollokshields und Govanhill heute zu rund 40 Prozent von Vertretern ethnischer Minderheiten bewohnt werden. So beherbergt East Pollokshields die grösste asiatische Gemeinschaft der Stadt. Hier wohnen vor allem Einwanderer aus Indien und Nepal, Pakistan und Bangladesh.

Die Hidden Gardens sind eine Antwort auf den Mangel an öffentlichen Plätzen und Erholungsräumen. Hinter dem Projekt steht die Kulturstiftung «Nva», welche vor allem kollektive, ortsspezifische Performancekunst fördert. Ein ehemaliges Industrieareal auf der Rückseite eines alten Tramdepots bot sich für deren Tätigkeit an. Darin befindet sich «Tramway», ein Veranstaltungsort für zeitgenössische Kunst. Besitzerin des Areals ist die Stadt. Laut dem Landschaftsarchitekten Rolf Roscher stand am Anfang des Projekts die Idee, aus diesem Gelände einen «spirituellen Garten» zu schaffen. Nva stellte ein Team aus den Landschaftsarchitekten der City Design Cooperative, zu denen auch Roscher zählt, sowie Künstlern und Künstlerinnen unterschiedlicher Nationalität zusammen. An der Finanzierung des eine Million Pfund teuren Projekts sind der Scottish Arts Council, die Stadt Glasgow sowie weitere öffentliche und private Institutionen beteiligt.

Übersetzen statt entwerfen

Einen Garten für eine multikulturelle Nachbarschaft zu projektieren, stellt eine besondere Herausforderung dar. Unter Mithilfe einer beigezogenen Verbindungsperson nahm das Team den Dialog mit der Bevölkerung auf. Zunächst wurde eine Umfrage bezüglich der Verbesserung des sozialen und materiellen Umfeldes durchgeführt und diese anschliessend in Workshops und Diskussionsrunden vertieft. Dabei wurden auch Themen wie die kulturelle Bedeutung von Pflanzen aufgegriffen. So gelang es dem Team, immer besser auf die Bedürfnisse der Bevölkerung einzugehen. Roscher weist darauf hin, dass das Partizipationsmodell die Teilnahme des Designteams an den Diskussionsrunden und Workshops verlange. Die Erfahrungen des Teams offenbaren ein neues Verständnis von Design. Erstens sind Räume, Architektur und Landschaft nicht das Resultat eines Entwurfes, sondern einer subtilen Übersetzung der Kommunikation mit der lokalen Bevölkerung. Zweitens ist partizipatives Design ein prozessorientiertes Problemlösungsverfahren. Die Arbeit mit den lokalen Akteuren brachte ständig neue Themen ein, die fortlaufend und gemeinsam diskutiert werden mussten. Musliminnen wünschten beispielsweise Nischen, die ihnen abseits des «Sehens und Gesehenwerdens» ein privates Zusammensein im öffentlichen Raum ermöglichen würden.
Herkunft und Entwurzelung

Die Hidden Gardens faszinieren gerade auch durch ihre Mehrdeutigkeit. Das Versteckte bezieht sich auf die nichtsichtbaren Bedeutungen, die dem Besucher eine Vielzahl von Lesarten des Ortes offen lassen. Das Areal wird von einem Hochkamin überragt, der vormals zu einem Kesselhaus gehörte. Dieser runde Turm ist das wichtigste visuelle Merkmal des Gartens. Abgesehen davon ist hier von der einstigen Bebauung nur noch das Fundament einer abgerissenen Industriehalle, eine das ganze Areal zudeckende Betonplatte, übrig. Diese wurde nur dort durchbrochen, wo man Bäume pflanzen wollte. Im Übrigen ist der gesamte Garten auf diese Platte gebaut. Die Blumenbeete sind hüfthoch angelegt, und im vorderen Teil des Gartens befindet sich ein grosser Rasenplatz, der auch für Feste und kulturelle Anlässe genutzt werden kann. Er wird von einem quadratischen Weg eingerahmt, der sowohl an einen mittelalterlichen Kreuzgang als auch an die islamische Gartenbautradition erinnert.

Die Bepflanzung spiegelt die Thematik von Herkunft und Entwurzelung. Dies lässt sich etwa an der Allee ablesen, in welcher einheimische und fremdländische Bäume wachsen. Gegenüber unserer Eberesche (Sorbus aucuparia) steht deren Verwandte aus Kaschmir (Sorbus cashmiriana), neben einer Kiefer (Pinus sylvestris) ist eine Himalaja-Kiefer (Pinus wallichiana) zu sehen. Der hintere Teil des Gartens, in dessen Zentrum ein Hügel aufgeschüttet wurde, ist einem typisch westschottischen Eichen- und Birkenwald entsprechend gestaltet. Zuoberst auf dem Hügel befindet sich eine bedachte Eichenholzkonstruktion, von welcher aus der Besucher durch die Bäume hindurch den Garten überblicken kann.

Partizipatives Stadtdesign sei ein fortlaufender Prozess, der nicht mit der Realisierung der Anlage beendet werde, betont Roscher. Die Leute können in die Nutzung, Gestaltung und den Unterhalt des Gartens auch nach der Eröffnung aktiv eingreifen. Im Gewächshaus des Gartens ziehen heute Leute aus der Nachbarschaft unter fachkundiger Anleitung des Gärtners eigene Pflanzen gross. Hinter dem Hügel führt ein Weg in die hintere Ecke der Anlage. Dort hört die Bepflanzung unvermittelt auf. Die Betonplatte und die alten, rostigen Tramschienen kommen zum Vorschein. Auf diesem kleinen Fleck, der in seinem ursprünglichen verwilderten Zustand belassen wurde, wird einem bewusst, wie sehr die versteckten Gärten selbst eine Schicht und Teil einer Geschichte von Glasgow sind.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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