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Sitzangelegenheiten
Der Standard

Der Sessel kann Statussymbol, Ort für Trägheitsmomente oder Platz fürs Einander-näher-Kommen sein. Mit den Funktionen des Sitzens setzte sich Mareike Müller auseinander

16. April 2004 - Mareike Steger
Da sitzt man nun auf seinem Arne Jacobsen-Bürostuhl, leidlich bequem, weil der ein Flohmarktstück ist und ganz schön wackelt, und soll übers Sitzen schreiben.

Draußen scheint die Sonne, und wenn dort Menschen sitzen, tun sie das auch vor der Eisdiele, obwohl es dafür noch viel zu kalt ist. Da sitzt man nun also und ruft schließlich Thomas Düllo an, Kulturwissenschafts-Dozent im Studiengang „social engineering“ an der Universität Magdeburg, und auch wenn er nicht Wohnexperte genannt werden möchte, kennt er sich doch mit Alltagskulturen und deren Bedeutungen aus. Besonders mit der Kultur des Wohnens.

Sitzen Sie denn gut, Herr Düllo? Nein, auch Thomas Düllo sitzt nicht gut, sein Tisch ist zu hoch für den Stuhl, auf den er sich platziert hat. Warum sitzen wir dann überhaupt? Wo unser Rückgrat eh nicht dafür gemacht ist, sich ständig zu krümmen. „Sitzen gehört zu den jungen Erscheinungen unserer Zivilisation“, sagt Düllo, „zwar haben die Römer den Stuhl nach Europa gebracht, aber bis zum 15. Jahrhundert wurde er einfach vergessen.“ Erst als dann das Haus zum Zentrum des Lebens wurde, als sich Familienbewusstsein und Privatsphäre entwickelten, wurde Sitzen zu einem eigenen Wert.

Der Mensch, derart auf den Geschmack gekommen, sucht seitdem bis heute die drängende Frage zu lösen: Wie sitzt es sich am bequemsten? Das zu beantworten, ist jedoch gar nicht so leicht. Denn: „Von klein auf werden wir regelrecht zum ordentlichen Sitzen erzogen, ob in der Schule oder in der Familie. Stillhalten auf dem Stuhl ist gewissermaßen eine Sozialisationstugend“, sagt Thomas Düllo. Eine Tugend, die uns recht brutal erscheint, jemandem wie Mies van der Rohe allerdings recht am Herzen lag. Oder wie sonst lässt sich folgende Anekdote über den Architekten verstehen? Auf einer Veranstaltung im van der Roheschen Haus soll ein Gast im Gespräch ständig seinen Stuhl verrückt haben, bis der Hausherr ihn anfuhr und sagte, dass störe ihn doch sehr.

Im Sinne seines Funktionalismus hatte ein Stuhl einen unverrückbaren Ort ein-und sein Nutzer stillzuhalten. Wir aber, die Sitzen schon nach wenigen Minuten als quälend empfinden, kippeln und ruckeln und lümmeln, bis wir uns fragen, wer eigentlich auf die Idee gekommen ist, Sitzen auf Stühlen uns als bequem verkaufen zu wollen. Tatsächlich gilt in vielen anderen Kulturen das Sitzen, wie wir es kennen, als unbequem. Andere Nationen, ob nun in Mali oder Japan daheim, haben vielmehr das Kauern auf dem Boden kultiviert. Und bei uns zeigt sich seit dreißig Jahren, dass die Jüngeren diese Sitzform wieder zurückerobert haben. „Das hat mit den Wohngemeinschaften der 70er-Jahre zu tun, die alle Sitzgelegenheiten wegräumten und sich auf dem Boden niederließen, auch im Sinne einer Enthierarchisierung“, erklärt Thomas Düllo.

„Dahinter steckt gleichzeitig eine leicht künstlerische, unbürgerliche Attitüde.“ „Zum anderen“, so Düllo, „hat sich in unserer Moderne eine Daueradoleszenz etabliert, was auch Dreißigjährigen noch das Rumlümmeln auf dem Boden erlaubt.“ Gleichwohl galt Sitzen immer als Statussymbol: angefangen im Mittelalter in den Klöstern, in denen der Oberste, der Vorsitzende einen Stuhl mit ganz gerader, hoher Lehne hatte. Dass das Stehen im Vergleich zum Sitzen nicht unbedingt ein Privileg ist, zeigt sich auch nach wie vor in unserer Bürokultur.

"Jemand, der sich hinter einem großen Schreibtisch auf einem großem Sessel verschanzt und einen Mitarbeiter auf sich zukommen lässt, schafft eine riesige Distanz und drückt damit aus: „Ich darf mir diese Behaglichkeit leisten, darf mir den Vorsitz genehmigen“", sagt Düllo. Sitzen hat also durchaus ambivalente Züge: Spiegelt es doch nicht nur Autorität und Status wider, sondern im Wunsch nach Behaglichkeit auch ein gewisses Trägheitsmoment. Wer „sitzen bleibt“ oder „etwas aussitzt“, gilt als passiv, langsam, behäbig. „Und wenn wir erst einmal einen Sitzplatz ergattert haben, geben wir ihn auch ungern wieder her“, bringt Düllo die zwiespältige Seite des Sitzens auf den Punkt. Historisch betrachtet hat der Mensch zu Sitzgelegenheiten wie Stühlen ein besonderes Verhältnis.

Erst seit dem 18. Jahrhundert bildete sich ein intimes Verhältnis zu Möbeln, und da geriet neben dem Bett der Stuhl mit Armlehne zum besonderen Geliebten. Denn mit ihm ließ es sich herrlich symbolisieren: „Hiermit beanspruche ich meinen eigenen Platz“ - bis heute lässt sich das in Wohnzimmern an den mächtigen TV-Sitzschwingern ablesen. Von denen es im Übrigen stets nur einen gibt, und der gehört meist dem Familienpatriarchen. Aber Sitzen hat nicht nur mit Autorität zu tun. Düllo: „Außer im Schlafzimmer ist das Sitzen wohl die privateste Form, in der man zusammenkommt.“ Wer kennt nicht das Unbehagen, das uns in der Wohnung eines Freundes befällt, wenn man sich nicht endlich setzen darf: „Sitzen ist immer auch eine Einladungsgeste“, erklärt Düllo. Eine Wohnung, die keinen passabel großen Tisch mit Stühlen vorweisen kann, disqualifiziert sich so von vornherein als nicht sonderlich kommunikationstauglich - in Zeiten des Cocooning, des Rückzugs nach zu Hause, kein gutes Signal.

Und wie sitzt es sich in Zukunft? „Im Kommen sind jede Art von Bänken und Hockern“, meint Düllo. „Sie gelten nicht mehr als spießig.“ Doch nicht etwa die hölzerne Kücheneckbank oder der Herrgottswinkel liegt in der Gunst vorne, sondern gerade Bänke ohne Rückenlehne und kleine Sitzhocker aus den unterschiedlichsten Materialien.

Weiter anhalten wird ohnehin alles Retrohafte, vermutet Düllo: „Retro funktioniert dadurch, dass bestimmte Sitztraditionen in andere Räume transportiert, also uncodiert werden. Dadurch erscheinen sie neuer.“ Und auch die Bodenperspektive hält er für einen Trend: „Entweder sitzt man verstärkt auf dem Boden, auf Kissen wie in Asien. Oder man kommt dem Boden auf den derzeit beliebten Riesensofas näher. Denn deren Sitzflächen sind so tief, dass man auf ihnen weniger sitzt als vielmehr liegt.“ Aber das Sofa ist eine Sonderform des Sitzens, der Stuhl bleibt dasjenige Möbelstück, das ausschließlich zum Sitzen gedacht ist. Oder etwa nicht?

Hat er nicht vielmehr ganz viele Funktionen, so wie es etwa Philippe Starck behauptet, der gerade in der angeblichen Multifunktionalität eines Stuhls die Designherausforderung sieht? „Dass ein Stuhl im Wesentlichen funktional ist, stimmt kulturgeschichtlich nicht. Denn für dieses Objekt musste sich erst im Kopf die Kultur entwickeln, dass das Sitzen und insbesondere das behagliche Sitzen ein Wert für sich ist. Ein Stuhl ist also eher als Ausdruck von sich verfeinernder Kultur und Zivilisation zu sehen“, erklärt Düllo. Somit wäre ein Stuhl, anders als ein Kühlschrank, primär kein funktionaler Gegenstand, weil man das Sitzen auch immer woanders machen konnte. Pech also für Philippe Starck, der zwar auch Stühle entworfen hat, die aussehen wie Gartenzwerge (oder vice versa), doch im Grunde sind die Funktionen eines Stuhls eher endlich.

Es kommt darauf an, wohin man seine Funktion trägt, in welche Räume oder Kontexte. Das macht die ungeheure Vielfalt seiner Möglichkeiten aus. Deshalb freut man sich nun, daheim auf dem wackeligen Bürodrehstuhl, auf die wärmeren Tage, wenn die Cafés endlich ihre Sessel hinaus stellen und, mit den Worten des Kulturwissenschaftlers Düllo, so „dem Exterieur die Intimität des Interieurs geben.“ Sitzen bringt schließlich am allermeisten Spaß, wenn es mit keiner Arbeit verbunden ist.

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