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Die Abstraktion der Berghütte
Neue Zürcher Zeitung

Deutsche Bewunderung für die Schweizer Einfachheit

Deutschland ist schon lange nicht mehr Ursprung eines erfolgreichen Architekturtrends gewesen. Umso aufmerksamer beobachtet man die internationale Szene. Derzeit besonders beliebt ist die in ihrem Ursprungsland bereits etwas in die Jahre gekommene Neue Einfachheit, die man den Deutschschweizern abgeschaut hat.

6. August 2004 - Falk Jaeger
Eine Aura umgibt derzeit die Schweizer Architekten, sobald sie den Rhein überqueren. Längst haben sie die Österreicher in den deutschen Preisgerichten abgelöst. Das leichtfertige Schwadronieren hat ein Ende; die Aufmerksamkeit gilt der sorgfältigen Verfertigung der Gedanken beim Artikulieren. Die Schweizer gelten beim Bauen als kompromisslose Hüter des „harten Kerns der Schönheit“ (Peter Zumthor), als Protagonisten der Neuen Einfachheit. Dass die Jungen sich dort bereits wieder von den einfachen Kisten verabschiedet haben, werden die nördlichen Nachbarn aufgrund der trägen Rezeptionsmechanismen erst mit Verzögerung gewahr werden.

Vereinfachung des Lebens

Der Begriff „Neue Einfachheit“ als Klassifizierungswerkzeug ist naturgemäss so wenig architekturspezifisch wie es jene der Postmoderne oder der Dekonstruktion waren. So heisst der Bestseller von Elaine St. James, der als Speerspitze eines Trends gegen den Kaufrausch gedacht ist, „Simplify Your Life“. Die darin propagierte Entrümpelung des Konsums, die nicht unbedingt mit Sparsamkeit einhergeht, ist in weitem Masse deckungsgleich mit den Denkmustern jener Architekturströmung, deren Quelle aus deutscher Sicht in der deutschsprachigen Schweiz gesehen wird. Das einfache Haus nach Schweizer Muster ist hingegen kein billiges, wie könnte es, sind doch die ihm zugrunde liegenden Schweizer Kardinaltugenden Solidität, Präzision und Dauerhaftigkeit keine Armutsverheissungen.
Die Gründe für die Popularität der Schweizer Gegenwartsarchitektur in Deutschland sind jedoch weiter zurückzuverfolgen. Es waren Architekten wie Luigi Snozzi, Mario Campi, ja auch der junge Mario Botta, die in den siebziger Jahren den Weg zur Askese empfahlen. Die Saat ging auf; das Interesse an der Schweizer Architektur hielt an, wurde zwar unterdessen etwas vom Blick nach Graz, dann nach Vorarlberg abgelenkt, um sich dann umso stärker auf die Deutschschweiz zu konzentrieren. Dort hat man in Perfektion vorgeführt, was deutschen Architekten am Herzen liegt: ordentliche Konstruktion und Materialgerechtigkeit quasi als moralische Imperative. Sahen sich deutsche Architekten oft aus Kostengründen zu leichten Fassaden und billigen Fenstern gedrängt, so schien dieses Schicksal den Schweizer Kollegen erspart geblieben. Und selbst die Reduktion auf konzeptionelle Archetypik schienen Schweizer Bauherren klaglos mitzumachen. Staunend beobachtete man aus dem Norden, wie Baukünstler wie Peter Märkli oder Peter Zumthor mit leichter Hand die Bilderflut abschütteln konnten, mit der die Architektur anderenorts als Konsum- und Modeartikel zu Erfolg zu kommen suchte. „Erst nachdem es uns möglich geworden war, die Fragen an den Ort, das Material und die Bauaufgabe schrittweise zu beantworten, sind nach und nach Strukturen und Räume entstanden, die uns selber überraschten und von denen ich glaube, dass sie das Potenzial einer ursprünglichen Kraft haben, die hinter das Arrangieren von stilistisch vorgefertigten Formen zurückreichen“, beschreibt Zumthor das Glücksgefühl, das die deutschen Architekten ihm neiden.

Gut möglich, dass es doch etwas mit dem Land zu tun hat, mit der Topographie, mit der Abgelegenheit vieler Baustellen, die es geboten erscheinen lässt, sich den Eigengesetzlichkeiten des Ortes anzuvertrauen, der Materie der Bergwelt. Es geht um Authentizität, wie sie Juhani Pallasmaa definiert, als „Eigenschaft des tiefen Verwurzeltseins mit den Schichtungen von Kultur“. Denn offenkundig in dem Moment, in dem internationale Erfolge die Aufgaben, die Aufträge und die Arbeitsweise globalisieren, werden die regionalen Eigenheiten aufgegeben, und es bleibt der spezifische Umgang mit dem Material als gepflegtem Charakteristikum gleich einem Individualstil. Herzog und de Meuron zum Beispiel verlassen auf dem Weg vom Körper zum Bild die Wertschätzung des einfachen Materials im Sinne Colin Rowes und ersetzen es durch Wirkungsmacht, die in der Folge Gefühle und Reaktionen steuert. Nicht der Dignität der einfachen Materialien eignet der Primat, sondern der Exklusivität der Wirkung des sorgsam ausgewählten Materials - koste es, was es wolle, könnte man scherzhaft sagen.

Kultur und Topologie

Zwei Wege also, und beide haben in Deutschland ihre Anhänger. Die „wahre“ Neue Einfachheit, vorzugsweise an Architekturen kleineren Zuschnitts zelebriert, in Form schlichter Holzhäuser und erratischer Betonkuben unter Weglassen oder raffiniertem Wegkonstruieren aller Details, besitzt die Aura der Askese, die in Zeiten des Überflusses an Sinnesreizen ihren Charme entwickelt. Man darf die stereometrischen Gehäuse allerdings nicht mit den der Form entsagenden Kisten verwechseln, die Rem Koolhaas als „generic“ bezeichnet - als unspezifische, ortsungebundene „Container“, die flexibel zu verwenden sind, aber eben nichts darzustellen haben. Die „Schweizer Kisten“ sind zeichenhaft und haben trotz extremer Reduktion durchaus regional unterschiedlichen ortsgebundenen Charakter, denn sie sind aus der Interpretation der jeweiligen kulturellen und topologischen Situation heraus entwickelt.
Solche Differenzierungen werden aus der Ferne freilich kaum wahrgenommen. Was diese alpine Fels- und Bohlenarchitektur auch im niederdeutschen Flachland attraktiv (und anscheinend wiederholbar) macht, ist ihre Abstinenz an regionalistischem Formenvokabular. Die Abstraktion der Berghütte ist eine Schwester der abstrahierten Fischerkate. Vielleicht hat man nur die Dachneigung anzupassen. Und noch eines eint die Schweizer und ihre deutschen Jünger: ihr heimliches Auge auf Bewunderer. So simpel die Kisten erscheinen, sie sind nie gänzlich unspektakulär, sind oft sogar Inszenierung, nach aussen wie nach innen, für Beschauer und Bewohner. Selbst der Minimalist will gesehen werden. Das Haus S in Ludwigsburg (NZZ 6. 2. 04) etwa stellt sich richtiggehend in Positur. Es wurde von den örtlichen Architekten Giorgio Bottega und Henning Ehrhardt entworfen, wirkt wie aus Plastilin geschnitten und gibt sich als Archetypus eines Walmdachhauses, der auf so profane Dinge wie Dachrinnen oder Fensterbänke verzichten kann.

Doch auch der andere Weg, begangen von den Stars der Basler Szene, verführt zur Nachfolge. Das am archaischen Objekt eingeübte Materialgefühl schlägt oft genug in Materialverliebtheit um. Es ist nicht mehr die Wirklichkeit der Dinge, die zu Raum, sondern die Illusion der Materialien, die zum Schein des Raumes wird. Ob Edelstahl oder Gusseisen, ob Sperrholz oder Siebdruckglas, ob Sandstein oder Gabionen, es geht um das erzeugte Bild, es geht um Material als Dekor. Wie anders sollte man das "9×9-Haus" von Titus Bernhard in Stadtbergen bei Augsburg lesen, ein archetypisches Würfelhaus mit Zeltdach, das eine Gabionenfassade erhielt, ringsum und nahtlos übers Dach gezogen. Dabei handelt es sich im Inneren um ein komplexes Raumgebilde und um einen ökologisch optimierten Bau, bei dem keine im Interesse der Ästhetik notwendigen bautechnischen Kompromisse gemacht wurden.

Bei all den Beispielen geht es um einen aus der Neuen Einfachheit hervorgegangenen Minimalismus, hier und da sogar um die Rehabilitation des Ornaments, wie das Projekt Südwestmetall sehr eindrucksvoll zeigt, das die Münchner Architekten Allmann Sattler Wappner in Reutlingen gebaut haben. Es besteht aus drei schlichten Hauskörpern, deren alles umkleidende Edelstahlhaut sich im Erdgeschoss in durchbrochene Dekortafeln auflöst. - Und wieder haben die deutschen Architekten ein gutes Gefühl, sehen eine Chance, mit Hilfe der Schweizer Vorbilder dem rechtschaffenen Stahlprofil-Sandsteintafel-Pragmatismus bundesdeutscher Kommerzarchitektur zu entfliehen. Monopoly-Häuschen in Edelstahl, das vornehm geschneiderte Kleid aus simplen Eternitplatten, das Etagenhaus mit Lamellenhaut, ein Trend, eine Tendenz der Gegenwartsarchitektur ist zu konstatieren, die späterhin ohne Mühe datiert werden kann. Bis zur Rehabilitation des Ornamentes ist es nur noch ein Schritt. Herzog und de Meuron haben ihn, wie immer, schon getan. Die deutschen Architekten werden folgen, ohne Zweifel.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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