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Erste Bewegungen
Neue Zürcher Zeitung

„Le Plateau“ - Pariser Kunstraum mit Quartiergeschichte

7. Mai 2002 - Samuel Herzog
Die kulturelle Lebendigkeit einer Stadt hängt nicht allein von den grossen Häusern ab, - es braucht auch Strukturen, die für Experimente offen sind. Das gilt für Theater, Film, Musik und auch für den Bereich der bildenden Kunst. Gerade diesbezüglich hatte Paris bisher wenig zu bieten. Nun aber wurden zwei neue Institutionen eröffnet, die sich der zeitgenössischen Kunst verschrieben haben. Der Palais de Tokyo im Westen der Stadt (NZZ 25. 1. und 20. 3. 02) und im Osten der Kunstraum «Le Plateau».

Die beiden Pariser Kunstinstitutionen, diejenige im Palais de Tokyo wie auch der neue Kunstraum «Le Plateau», definieren sich als Laboratorien - ansonsten aber sind sie sehr unterschiedlich. Der «Site de création contemporaine» im Westflügel des Palais de Tokyo verfügt über eine riesige Ausstellungsfläche, viel Personal, einige Mittel, und seine Gründung geht auf eine Initiative des Kulturministeriums zurück.

«Le Plateau» hingegen ist in jeder Beziehung rund zehnmal kleiner und entstand aus dem Engagement der Quartierbevölkerung heraus. Dass sich die eigenwillige Geschichte rund um die Entstehung von «Le Plateau» ausgerechnet im neunzehnten Arrondissement abspielte, erstaunt kaum, war dieses Quartier doch immer schon ein Ort des Widerstandes: Hier in Belleville kämpfte die Pariser Kommune für ihre Rechte, hier wehrten sich die Anwohner in den letzten Jahrzehnten immer wieder mal - wenn auch nur teilweise mit Erfolg - gegen die Pläne einer zentralistischen Bürokratie.


Leben im Quartier

Die Geschichte von «Le Plateau» nahm ihren Anfang 1993, als die im Fernsehgeschäft tätige Société française de production (SFP) ihre Lokalitäten bei den Buttes-Chaumont im neunzehnten Arrondissement aufgab, um in einen billigeren Pariser Vorort zu ziehen. Auf dem drei Hektaren grossen Grundstück, das die SFP an der Rue des Alouettes hinterliess, plante daraufhin eine Tochtergesellschaft des französischen Bauunternehmens Bouygues die Errichtung von mehr als siebenhundert Luxuswohnungen in elfstöckigen Häusern - umgeben von aufwendigen Sicherheitsanlagen. Dies nun alarmierte die Quartierbewohner: Sie befürchteten, dass sich ihre lebendige und recht durchmischte Wohngegend in eine Art Edelschlafplatz verwandeln würde. Um das zu vermeiden, gründeten sie die Vereinigung «Vivre aux Buttes-Chaumont» - angeführt von Eric Corne, einem im Quartier wohnhaften Künstler.

1995 sprachen sich im Rahmen eines Referendums fünfundachtzig Prozent der Quartierbevölkerung gegen die Pläne von Bouygues aus und zwangen den Bauriesen so an den Verhandlungstisch mit dem kleinen Quartierverein. Verhindert wurde das Grossprojekt zwar nicht, und bald schon waren die ehrwürdigen Gebäude der SFP dem Erdboden gleichgemacht. Dem Verein gelang es jedoch, erhebliche Modifikationen des ursprünglichen Projektes durchzusetzen: So hat das neue Gebäude nun nur noch acht anstatt elf Etagen, ein Teil der Wohnungen soll sozialen Zwecken zugeführt werden, eine grosse Kinderkrippe sowie ein Raum für die Quartiervereine sind geplant, und nicht zuletzt stehen im Parterre des Neubaus sechshundert Quadratmeter Raum für ein Kulturzentrum zur Verfügung - unentgeltlich, auf dreissig Jahre hinaus.


Fragile Bezüge

Dass aus diesem Raum für Kultur ein Raum für zeitgenössische Kunst werden würde, war nicht von Anfang an klar: Der Entscheid wurde erst nach verschiedenen Umfragen unter der Quartierbevölkerung gefällt. Etwas mehr als eine halbe Million Euro von öffentlicher Hand stehen dem Zentrum mit seinen fünf Mitarbeitern pro Jahr zur Verfügung. Geleitet wird «Le Plateau» von Eric Corne und Bernard Goy vom Fonds régional d'art contemporain (FRAC) d'Ile de France.

Eine solche Entstehungsgeschichte eines Kunstraumes, die so eng mit dem soziokulturellen Umfeld verknüpft ist, schafft natürlich auch eine Reihe von impliziten Verpflichtungen. Und das merkt man auch der ersten grossen Ausstellung an, die sich unter dem Titel «premiers mouvements - fragiles correspondances» streckenweise vielleicht allzu umständlich bemüht, Brücken zwischen dem Alltag und der Kunst zu schlagen.

Überzeugend ist die Arbeit von Francisco Ruiz de Infante. Er hat eine Holzarchitektur in den Raum eingebaut und sie mit allerlei Überwachungskameras und Monitoren ausgerüstet: Beobachtet und beobachtend zugleich, irritiert von seltsamen Geräuschen, dringen wir mit jedem Schritt tiefer in diesen nach Tannenholz duftenden Körper ein - um schliesslich in einer Art Kellerverlies auf die Grossprojektion einer Ameise zu stossen, die de Infantes Welt im Innersten zusammenhält. Dokumentarspezialist Harun Farocki analysiert in der Doppelprojektion «Eye/Machine» die technikfreudige Verharmlosung in den Berichten rund um den Golfkrieg. Und Dana Wyse führt in einer Vitrine verschiedene Kleinstgegenstände zu einer ziemlich mädchenhaften Erzählung zusammen.


Absenz - Präsenz

Sehr gegensätzlich sind die Beiträge der zwei Schweizer Künstler in dieser Schau. Während sich Eric Hattan in die Absenz begibt, um seinen Platz per Postkarte an eine Künstlerin abzutreten, war Hans Jürg Kupper überaus präsent im Quartier: Auf Spaziergängen durch das Arrondissement hat er systematisch einzelne Architekturelemente photographiert und diese Bilder von Strassenschildern oder Fenstern zu grossen Bögen voller raffinierter Überschneidungen zusammengestellt.

Neben solch aktuellen Positionen allerdings, die teilweise mehr oder weniger direkt mit dem Leben im Quartier verknüpft sind, präsentiert die Schau quasi als ihr Zentrum eine grosse Anzahl von Arbeiten des 1987 verstorbenen Robert Filliou. Die meisten dieser Werke stammen aus den sechziger oder siebziger Jahren und sind durchwegs hochinteressant als Dokumente von Fillious Nachdenken über die Möglichkeiten und Grenzen einer Kunst, die im Alltag Verantwortung übernehmen will. Im Rahmen dieser Ausstellung aber mutieren diese Dokumente - wohl auch wegen der ihnen anhaftenden Spuren der Zeit - zu auratischen Vitrinenobjekten, die quasi zur Verbeugung zwingen.

Und genau da wird diese Ausstellung sich selbst und der Geschichte des Ortes auch nicht gerecht. Denn es wäre etwas ganz anderes gewesen, hätte man Ansätze von Filliou für die aktuelle Situation neu entwickelt, anstatt sie in dieser historischen Weise vorzuführen. Die Kunst sei dazu da, das Leben schöner zu machen als die Kunst, war Filliou überzeugt - sicher wird es «Le Plateau» in Zukunft gelingen, das Leben in Belleville auf noch überzeugendere Weise schöner zu machen als mit dieser ersten fragilen Bewegung.


[Premiers mouvements - fragiles correspondances. Le Plateau, Paris. Bis 1. Juni. Katalog Euro 7.50.]

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