Artikel

Grün oder grau?
Neue Zürcher Zeitung

Chancen und Hemmnisse des ökologischen Bauens

Noch vor dreissig Jahren wurden Ökohäuser kaum ernst genommen: Zu erheiternd wirkte ihr Erscheinungsbild, und zu schlecht fielen die Kostenrechnungen aus. Heute sind Niedrigenergiekonzepte und grüne Wolkenkratzer zwar marktfähig, aber das Nachhaltigkeitspotenzial in Architektur und Städtebau ist noch nicht ausgeschöpft.

1. Oktober 2004 - Ursula Seibold-Bultmann
Erste Frage: Was trägt die Architektur zum Treibhauseffekt bei? In den Industrieländern werden bis zu 50 Prozent aller CO2-Emissionen von der gebauten und im Bau befindlichen Umwelt verursacht. Die Zahl schwankt je nach nationaler Situation, wobei zum Beispiel Transportwege noch nicht überall eingerechnet sind. Zweite Frage: Wie viel Litern Rohöl entspricht ein jährlicher Heizenergieverbrauch von 55,55 Kilowattstunden pro Quadratmeter? Leicht zu merken: rund 5,5. Dritte Frage: Ist das ein guter Wert? In der Schweiz und Deutschland unterschreiten ihn ausser Passivhäusern nur Mehrfamilienhäuser mit Niedrigenergie-Standard; Altbauten verschlingen das Drei- bis Fünffache, was ihre Wärmedämmung zur ökologisch wichtigsten Bauaufgabe der Gegenwart macht. Aber auch hinsichtlich einer für das 21. Jahrhundert vorhergesagten Erderwärmung von 2 bis 6 Grad ist der Bausektor in Umweltfragen mehr als nur ein bisschen gefordert.

High Tech, Low Tech

Wer andere vom nachhaltigen Bauen überzeugen will, muss Zahlen parat haben. Denn blosses Reden über allgemeine Ökoideale beschwört bei Bauherren, Nutzern und Politikern statt produktiver Neugier meist unweigerlich den Gedanken an alte Holzlatten, Hühnerdraht und krumme Wände herauf - Vorstellungen, die noch den ersten experimentellen Ökobauten von Bruce Goff, dem frühen Frank Gehry oder Paolo Soleri verhaftet sind. Man kann dann zwar mit dem Verweis auf umweltbewusste Virtuosen der High-Tech-Architektur wie Norman Foster oder Ken Yeang kontern. Doch auch hier ist Zahlenkenntnis geboten: Fosters 298 Meter hohe Commerzbank-Zentrale in Frankfurt am Main (1997), die - nicht ganz zu Recht angesichts der Leistungen Yeangs in Südostasien - als erstes grünes Bürohochhaus der Welt gilt, wurde auf einen Gesamtenergieverbrauch von 185 Kilowattstunden pro Quadratmeter und Jahr hin geplant, während der vom britischen Movement for Innovation (M4I) für Büros empfohlene Richtwert im Jahr 2001 bei 100 Kilowattstunden lag.

Nachhaltiges Bauen verlangt Umsicht und Schwung. In Fachkreisen wird erzählt, dass ein deutscher Solararchitekt jüngst den Auftrag zum Bau eines Ökohauses ablehnte, weil die Bauherrin von dort aus täglich vierzig Kilometer mit ihrem Wagen zur Arbeit pendeln wollte. Amsterdam zeigt ebenfalls Flagge: Unter Beteiligung des Architekten Kees Christiaanse ist hier aus einer Industriebrache das autofreie GWL-Viertel mit 600 Wohneinheiten geworden. Fragen der Verkehrsanbindung und Energieeffizienz sind beim grünen Bauen aber bei weitem nicht alles. Wie viel Wasser verbraucht ein Gebäude? Lässt es sich umweltschonend reinigen und warten? Welche Schadstoffe setzt es frei? Wie beeinflusst es das Mikroklima? Sind die Baustoffe nachwachsend, rezyklierbar oder selber schon rezykliert, gesundheitsverträglich und regional verfügbar? Und wie lang ist ihre Lebensdauer? Solche Fragen sind kniffliger, als man denkt. Während etwa Edelstahl, als Fensterblech verwendet, im Vergleich etwa zu Titanzinkblech die lokale Umwelt am wenigsten belastet, spricht die gesamthafte Ökobilanz gegen seine Verwendung zu diesem Zweck.

Dass das Gute in der Ökoarchitektur nicht automatisch auch das Schöne nach sich zieht, ist ein üblicher Einwand gegen die Änderung alter Baugewohnheiten. Zweifellos: Anforderungen der Umwelt können mit ästhetischen Idealen kollidieren. Anderseits schaffen gerade sie aber auch Raum für neue Formideen. Die Zeiten kühner Hässlichkeit sind heute passé: Ökologisch orientierte Bauherren haben nicht nur die Wahl zwischen glitzerndem High Tech und so schwerelos naturnahen Bauten wie denen des Australiers Glenn Murcutt - dem Gewinner des Pritzker- Preises 2002 -, sondern sie bekommen überdies einen immer breiteren Mittelweg geboten. Ein schönes Beispiel für die Verbindung von ökologischem Anspruch mit stringenter Formensprache ist die 1998 von Baumschlager & Eberle vollendete Öko-Hauptschule in Mäder, Vorarlberg. Es handelt sich dabei um einen kompakten Kubus mit schimmernder Doppelhaut aus Holz und Glas, die im Sommer dank der von unten aufsteigenden natürlichen Luftströmung Wärme abführt und im Winter Solargewinne optimiert.

In der Schweiz steht unter anderem das Architekturbüro Metron (Brugg) für gestalterisch zeitgemässe grüne Projekte. Die Looren-Siedlung in Affoltern am Albis (1997-99), Bestandteil des Programms EC 2000 für nachhaltiges Bauen, ist in Holzskelettbauweise errichtet, bietet die Option für Solarkollektoren auf den Dächern und verfügt über Pumpen, die warmes Solewasser aus 180 Metern Tiefe zum Heizen nutzbar machen. Aber auch an städtebaulich extrem exponierter Stelle sind Umweltkriterien heute mehrheitsfähig: Direkt neben dem Big Ben in London demonstrieren die dunklen Abluftschlote von Portcullis House, dem neuen Bürogebäude der britischen Parlamentarier von Michael Hopkins, selbstbewusst die Dynamik natürlicher Belüftung.

Kunst der Vermittlung

Grüne Optionen sind erschwinglich geworden. So betrugen die Baukosten für ein Fünf-Zimmer-Reihenhaus in der Affoltermer Siedlung von Metron 300 000 Franken - und Jacques Ferrier baute 1998/99 in La Tour-de-Salvagny bei Lyon im Auftrag der Firma «Total Energie» Werkhallen und Büros mit insgesamt 2200 Quadratmeter Nettogeschossfläche für 1,242 Millionen Euro, wobei die vom Bauherrn produzierten photovoltaischen Solarzellen zum Einsatz kamen. Gegen meist höhere Anfangsinvestitionen lassen sich langfristig günstigere Betriebskosten aufrechnen. Mit natürlichen Ventilationssystemen zum Beispiel kann man 20 bis 60 Prozent Energiekosten sparen. Am Einzelfall gezeigt: Den rund 8 Prozent Investitionsmehrkosten für das Gymnasium Léonard-de-Vinci in Calais von den Architekten Isabelle Colas und Fernand Soupey (1996-1998), das als grünes Pilotprojekt mit haustechnischen Besonderheiten wie einer Kraft- Wärme-Kopplungs-Anlage und einem eigenen Windrad ausgestattet ist, stehen 25 bis 30 Prozent niedrigere Energie- und Wasserkosten als in konventionellen Schulbauten gegenüber.

Dennoch: Das Interesse an nachhaltiger Architektur lahmt. Eine jüngst von der deutschen Bundesarchitektenkammer veranstaltete Tagung zum Thema «Umwelt bauen» in Dessau zog nur drei Dutzend Teilnehmer an, in Wettbewerbsausschreibungen gehören Umweltkriterien noch immer nicht automatisch zum Standard, und selbst Juroren von Architekturpreisen vergessen sie häufig. Was hemmt das Ökobewusstsein? Erstens mangelnde Übersicht. So sollten etwa die vielen Bewertungsinstrumente für grünes Bauen - das Schweizer Minergie-Label, der britische Breeam- und der holländische DCBA-Katalog, das französische HQE-Konzept, die Systeme Escale, Equer und so weiter - zwecks grösserer Einprägsamkeit zügig koordiniert werden. Zweitens wirkt das grüne Thema polarisierend, so dass manch grösseres Projekt nur schon wegen mangelnder Kompromissfähigkeit der Akteure demotivierende Schwierigkeiten macht. Und drittens krankt die Vermittlung. Wenn nicht alle Beteiligten - in der Politik, in der Bauindustrie, unter Investoren - die grösseren ökologischen Zusammenhänge begreifen, wird sich kaum etwas bewegen. Also müssen Architekten und Stadtplaner statt blosser Vorzüge ihrer eigenen Projekte auch die übergeordneten Gesichtspunkte erläutern können - mit präzisen Worten, guten Grafiken und vor allem mit Freude am interdisziplinären Horizont.

Literatur: D. Gauzin-Müller, Nachhaltigkeit in Architektur und Städtebau, Basel 2002; P. F. Smith, Architecture in a Climate of Change, Oxford 2001; Thermic Programme of the European Union. Hrsg. A Green Vitruvius, London 1999.

teilen auf

Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

Ansprechpartner:in für diese Seite: nextroomoffice[at]nextroom.at

Tools: