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Träume und Realitäten
Neue Zürcher Zeitung

Design und Architektur in der Kulturhauptstadt

Lille setzt zum Abschluss seines ambitionierten Kulturhauptstadtprogramms einen Schwerpunkt auf Design und Architektur. Höhepunkt des Veranstaltungsreigens ist eine verspielte und farbenfrohe Ausstellung, die von Droog Design kuratiert wurde. Weniger überzeugend mutet dagegen die jüngere Entwicklung des Euralille-Areals an.

16. Oktober 2004 - Marc Zitzmann
Es ist ein wunderbarer Spielplatz für erwachsene Kinder: Über den ganzen zweiten Stock des Tri Postal, der früheren Briefverteilanlage am Bahnhof Lille-Flandres, erstreckt sich ein weiter offener Raum von etwa zwölf Metern Breite und etlichen Dutzend Metern Länge. Durch grosse Fenster auf beiden Längsseiten fällt Tageslicht. Überall stehen, liegen oder hängen seltsame Gegenstände, präsentiert in Vitrinen, mannshohen Häuschen oder auf hochsitzartigen Strukturen aus hellem Holz. Ein Podest aus demselben Material mäandert durch den ganzen Raum und strukturiert den Parcours. Die von Gijs Bakker und Renny Ramakers vom Amsterdamer Kollektiv Droog Design kuratierte Ausstellung «Design etc. - Open Borders» ist die erste Ausgabe einer Triennale, die unter dem Titel «Droog Event» jedes Mal in einer anderen Stadt stattfinden soll.

Kuckucksuhr und Totenkokon

Ziel der Schau ist es, einen Überblick über jüngste Entwicklungen des europäischen Designs zu präsentieren - ohne Anspruch auf Repräsentativität und, trotz gegenteiliger Behauptung im Katalog, auch ohne thematische Verklammerung. Etliche Objekte lassen sich mehrdeutig lesen, etwa unter dem Gesichtspunkt des Humors, der Gesellschaftskritik oder der Ästhetik: In Abwesenheit einer kuratorischen Leitlinie bleibt es jedem Besucher überlassen, sich seine eigenen Gedanken zu machen. Das ist keine Kritik: Angesichts der grossen Bandbreite der Exponate war es gewiss besser, sie nicht in mehr oder weniger künstliche Kategorien zu zwängen, sondern einfach nebeneinander stehen zu lassen.

Zu sehen sind Hochzeitskleider von Hamid Eddakhissi und Rachael Sleight aus alten Hemden und Wegwerfpapier (Stichwort «Recycling»), ein ausgestopfter Hase von Afke Golsteijn mit bestickten langen Ohren («Customising von Haustieren»), ein pädagogisches Handy von IDEO, das Elektroschocks abgibt, sobald sein Benutzer zu laut wird («Wer nicht flüstern will, muss fühlen») und ein zu einem MP3-Player umgebauter Plattenspieler von Max Wolf und Markus Bader («neue Technik in alten Gehäusen»). Eva Stenram hat die Fassaden der Modelle von sieben Hochhäusern mit Sozialwohnungen denen der offiziellen Residenzen der Königin von England nachgestaltet. Von Emiliana Design stammt ein Paar Schuhe, das sich während des Laufens mit Energie auflädt: Zu Hause lassen sich damit Glühbirnen betreiben. Anna Citelli und Raoul Bretzel wollen gar Tote in einem Riesenkokon aus Stärke und biologisch abbaubarem Plastic begraben, von welchem sich ein darüber gepflanzter Baum ernähren soll. Insgesamt ähnelt die Schau einer Wunderkammer, die von einer Überraschung zur nächsten führt. Darin entspricht sie dem Image von «Lille 2004», das ganz auf Buntes, Sinnliches und Experimentelles setzt.

Eine Brücke zur Architektur schlägt die vom Walker Art Center in Minneapolis übernommene Ausstellung «Etrange & familier» im mittelalterlichen Musée de l'Hospice Comtesse. Zwar finden sich auch dort «Gebrauchsgegenstände» wie die von «www.fortunecookies» gestalteten Filzquadrate «Felt 12X12», die sich zu Kleidern zusammenfügen oder auch als individuelle Hotdog- Halter verwenden lassen. Die meisten Exponate sind jedoch Bauten (im weitesten Sinn), darunter so bekannte wie Shigeru Bans «Paper Loghouse» aus Pappröhren und Bierkästen oder der «Pig City»-Entwurf sowie der niederländische Pavillon der Expo 2000 in Hannover von MVRDV. Neben mobilen Wohneinheiten, die wenig Neues bieten (fast immer handelt es sich um Variationen des Container-Prinzips), gibt es auch einige originelle Kreationen: etwa Martín Ruiz de Azúas «Basic House», eine aufblasbare, etwa mannshohe «Blase» aus metallischem Polyester, in die man hineinschlüpfen kann und die zusammengefaltet kaum grösser ist als ein Taschentuch.

Ganz der Architektur gewidmet war jüngst eine Ausstellung in Lars Spuybroeks «Maison Folie de Wazemmes» (NZZ 14. 6. 04). Das neu eröffnete Kulturzentrum - die bleibende architektonische Initiative von «Lille 2004» - hatte für wenige Tage von deSingel in Antwerpen eine Werkschau der dortigen B-Architecten übernommen. Die Entwürfe der namentlich mit der Innengestaltung der Antwerpener Boutique von Walter Van Beirendonck und dem Umbau der Brüsseler Beursschouwburg bekannt gewordenen Architekten zeichnen sich durch jenen findigen Low-Budget- Minimalismus aus, der vielen flämischen Büros eigen ist.

Auch mit der Szenographie der Ausstellung «Lille, métropole en Europe» im Centre Euralille wurde ein Flame betraut: Stéphane Beel, einer der profiliertesten Architekten Belgiens. Doch leider enttäuschen hier sowohl die Form als auch der Inhalt. Die zu einer Art Strassenraster angeordneten übermannshohen weissen Lagerregale, auf denen sich Pläne, Modelle, Fotos und Videos befinden, spielen auf die urbanistische Thematik an und auf den Ausstellungsort (Jean Nouvels Einkaufszentrum), strahlen jedoch eine klinische Kälte aus. Inhaltlich stellt die Schau in sechs thematischen Sektionen - Kulturbauten, Wohnungen, Einkaufszentren - Projekte aus Lille und Umgebung solchen aus anderen europäischen Städten gegenüber. Da nicht herausgearbeitet wird, was genau die in jeder Sektion vereinten Arbeiten verbindet, wirkt die Auswahl beliebig. Trotz einer reichen Materialansammlung mutet das Ganze letztlich wie eine Übung in Sachen Eigenwerbung mit apologetischem Unterton an: «Lille ist auch eine grosse Stadt!»

Eine gewisse Grandezza

Gross ist eine Stadt freilich nicht nur durch die Quantität, sondern auch durch die Qualität ihrer Bauten. Da die Ausstellung sich, was Lille betrifft, auf das Euralille-Viertel konzentriert, bietet sich ein Rundgang durch das Areal an, um zu sehen, was sich dort in den letzten Jahren getan hat. Der von 1989 bis 1995 nach dem Masterplan von OMA / Rem Koolhaas aus dem Boden gestampfte «Secteur central» ist dank der kühnen Übereinanderschichtung von Bauwerken mit scheinbar unvereinbaren Funktionen wie Wohnen, Arbeiten, Einkaufen und Reisen weltweit bekannt geworden. Zwar finden sich dort neben Nouvels Centre Euralille und Christian de Portzamparcs Crédit- Lyonnais-Turm auch banale Arbeiten (etwa Claude Vasconis Tour Lille-Europe); auch fällt das Zirkulieren zwischen den verschiedenen Ebenen nicht immer leicht. Doch als Ganzes eignet dem Entwurf zweifellos eine gewisse Grandezza.

Nun besteht Euralille freilich nicht nur aus dem «Secteur central», der seit 1995 weiter gewachsen ist: etwa mit der wenig überzeugenden «Cité des affaires» von François Delhay (2002), dem weitaus gelungeneren «Souham 3»-Bürogebäude von Chaix et Morel (2003) und dem derzeit im Bau befindlichen vierten der fünf vorgesehenen Türme über Nouvels Einkaufszentrum. An den «zentralen Sektor» grenzen vier weitere Viertel an: im Südosten statt des geplanten Parks eine Peripherie-Einöde, ganz im Norden der architektonisch mediokre «Secteur du Romarin», südlich von Koolhaas' Grand Palais der neue «Secteur Euralille 2», wo neben einem klobigen Verwaltungskomplex 170 Wohnungen entstehen sollen. Im Nordosten endlich schliesst an die Gare Lille- Europe der «Secteur Saint-Maurice» an. Hier wurden seit 2000 acht Wohn- und Bürohäuser erbaut, zwei weitere sind im Entstehen. Von der Architektur her bieten die dicht gedrängten Bauten gehobenes Mittelmass; zumindest ein Bürohaus von Xaveer de Geyter vermag durchaus zu überzeugen. In urbanistischer Hinsicht bedenklich ist jedoch, dass der Häuserblock - wie auch das künftige Wohn- und Büroviertel von «Euralille 2» - sich von seiner Umwelt isoliert, auf Mono- oder Bifunktionalität setzt und für Menschen, die nicht dort wohnen oder arbeiten, kaum attraktiv sein dürfte. Die jüngere Entwicklung des Euralille-Projekts erscheint so in mancher Hinsicht geradezu als eine Negation seines ursprünglichen Geistes.

Ausstellungen bis 28. November (www.lille2004.com).

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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