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25. November 2004 Neue Zürcher Zeitung

Kannibalisches Bauen?

Ein Dialog zwischen Architektur und Kunst in Genua

Die grosse Abschlussausstellung im Programm der diesjährigen europäischen Kulturhauptstadt Genua ist dem Dialog zwischen Architektur und Kunst gewidmet. Die materialreiche Schau im Palazzo Ducale und im Aussenraum der Altstadt versteht sich als eine mögliche Neuschreibung der Architekturgeschichte der letzten hundert Jahre.

Seit der diesjährigen Architekturbiennale von Venedig, die unter dem Titel «Metamorph» skulpturales Bauen ins Zentrum rückte, verspürt die in den neunziger Jahren propagierte Idee der Baukunst als kulturelles Leitmedium wieder Aufwind. Doch während das breite Publikum noch immer von den spektakulären Musentempeln Zaha Hadids, Libeskinds oder Nouvels schwärmt, signalisiert in diesen Tagen das MoMA in New York mit Yoshio Taniguchis diskretem Neubau, dass die Ära der exzentrischen Solitäre möglicherweise ihren Zenit schon überschritten hat. Dabei wollte uns Venedig doch davon überzeugen, dass nur noch die zwischen neokubistischer und biomorpher Plastik oszillierenden und sich gegenseitig übertrumpfenden Bauvisionen unseren Hunger nach jenen skulpturalen Ereignissen stillen können, um die sich die Kunst schon lange nicht mehr kümmert.

Der Traum vom skulpturalen Bauen

Jedenfalls ist der Glaube an den weltweiten Triumph einer skulpturalen Architektur ungebrochen, auch wenn mitunter behauptet wird, sie falle auf ihrem Höhenflug wie eine Kannibalin über ihre Schwester, die Bildnerei, her und verschlinge sie zum eigenen Vorteil. Gleichsam als historisch-theoretische Vertiefung dieses Vorgangs finden derzeit zwei gewichtige Ausstellungen statt, die sich mit den Wechselwirkungen von «freier» Kunst und «zweckgebundener» Architektur befassen. In der Fondation Beyeler in Riehen bei Basel wird unter dem an ein monströses Zwitterwesen gemahnenden Titel «ArchiSkulptur» eine zwischen klassischer Rationalität und barocker Expressivität pendelnde Zusammenschau von Baukunst und Plastik seit Borromini und Boullée gegeben (NZZ 6. 10. 04). Diese argumentiert mit suggestiven Rückblenden, Assoziationen und Gegenüberstellungen des Ungleichzeitigen und versucht so eine Theorie der skulpturalen Architektur anzudeuten. Gleichzeitig findet in Genua, das dieses Jahr mit Lille die Würde der europäischen Kulturhauptstadt teilt, die von Germano Celant im Palazzo Ducale inszenierte Ausstellung «Arti e Architettura» statt. Mit weit über 1000 Originalwerken soll die These, «dass heute Architektur mehr denn je in allen Künsten präsent ist und umgekehrt», illustriert und darüber hinaus eine Neuschreibung der Architekturgeschichte der letzten hundert Jahre aus dem Geist der Kunst gewagt werden.

Begeistert von der Idee der «Fusion», der Verschmelzung aller Kunstformen, träumte Celant bei der Zusammenstellung seiner Megaschau von einer künstlerisch-architektonischen Jam-Session. Entstanden ist aber nicht die geniale Improvisation, welche darlegt, wie «die Architektur ihr künstlerisches Territorium erweitert, indem sie zur Performance wird», sondern vielmehr eine streng chronologische Präsentation. Diese spürt mittels eines erschlagenden Aufgebots an Exponaten den Überschneidungen von Kunst und Architektur im 20. Jahrhundert nach. Trotz kostbaren Arbeiten von Sant'Elia, Finsterlin und Feininger über Malewitsch, Le Corbusier, Kiesler, Oldenburg und Gehry bis hin zu Dan Graham, Herzog & de Meuron, Pipilotti Rist und Greg Lynn bleibt am Schluss nicht viel mehr als ein reiches Sammelsurium. Dieses verdichtet sich leider weder zu einem kohärenten Bild noch zu einer Theorie des Künstlerischen in der Architektur oder des Architektonischen in der Kunst.

Gleichförmiger Erzählfluss

Den Auftakt zur dreiteiligen Veranstaltung, die neben einem historischen und einem zeitgenössischen Parcours im altehrwürdigen Palazzo Ducale auch eine Freiluftausstellung in der Genueser Altstadt umfasst, machen Légers «Constructeurs» von 1950. Dieses Riesenformat markiert geschickt die zeitliche Mitte der Schau sowie eine mögliche Verschwisterung von Architektur und Malerei. Danach aber entwickelt sich Celants Geschichte im engen Korsett der Stile und der Ismen: Ausgehend vom deutschen Werkbund (und nicht vom kurzerhand ausgeblendeten Jugendstil eines Gaudí oder Horta), werden architektonische Pläne und Modelle sowie Gemälde, Skulpturen, Fotos und Filme des Futurismus, Kubismus, Expressionismus, Purismus, Konstruktivismus und Rationalismus, der Nachkriegskunst, des Metabolismus, der Pop- und der Minimal Art sowie der aktuellsten Strömungen gezeigt. Da nichts hervorgehoben wird, geht Le Corbusiers Wallfahrtskirche in Ronchamp als seither nie wieder erreichter Höhepunkt einer Legierung von Architektur und Kunst im gleichförmigen Erzählfluss ebenso unter wie Tatlins unrealisiertes Internationale-Denkmal von 1919, in welchem El Lissitzky immerhin «einen der ersten Versuche einer Synthese des Technischen und Künstlerischen» sah.

Doch die oft etwas monoton wirkende Chronologie verunmöglicht nicht nur die gebührende Inszenierung von Sternstunden des raumkünstlerischen Erfindungsgeistes, sondern auch das Hervorheben der erstaunlichen Verwandtschaft zwischen den organisch-amorphen Blob-Entwürfen heutiger Architekten mit Werken von Arp oder Henry Moore. Überhaupt wird die Schau, je mehr sie sich im Piano Nobile des Palazzo Ducale der Gegenwart nähert, immer schriller und zusammenhangsloser. Dadurch kommt die Ausstrahlung der architektonisch konzipierten «Useful Sculpture» eines Dan Graham oder Siah Armajani ebenso wenig zur Geltung wie die Bedeutung der architekturkritischen Phantasien von Archigram, Superstudio, Site und der Metabolisten, die der Architektur in den sechziger Jahren den nicht unproblematischen Weg hin zur freien, die Stadt und den Kontext ignorierenden Kunst ebneten. In Simone Cantonis grandioser Sala del Minor Consiglio argumentiert Celant dann fast nur noch mit skulpturalen Modellen. Doch die Maquetten des Pekinger Nationalstadions von Herzog & de Meuron oder des Karlsruher ZKM-Entwurfs von Koolhaas stehen hier beziehungslos auf derselben Ebene wie James Turrells Ufo-Bauten oder Louise Bourgeois' weisse Puppenhäuser.

Konversation statt Kritik

In der Einführung zur opulenten Materialsammlung des zweibändigen Katalogs stellt Celant durchaus überzeugend fest, dass die heutige Architektur in gewissen modischen Bereichen zum Monument und zum Narzissmus neige, dass sie eine Weiterentwicklung der modernen Skulptur in neuem Massstab und Wirkungsfeld sei, dass ihr Interesse dem Äusseren statt dem Inneren, der Oberfläche statt der Struktur gelte und dass es ihr immer mehr um die Realisierung von medial verwertbaren, global zu konsumierenden Erscheinungsbildern gehe. Doch statt diese Einsichten kritisch und pointiert zu veranschaulichen, verharrt die Schau auf dem Niveau einer netten Konversation der Künste. Dabei verselbständigt sich der Flirt der Architekten mit dem Skulpturalen und jener der Künstler mit dem Architektonischen zusehends. Dies belegt jener Teil der Schau, in welchem grossformatige Arbeiten den Aussenraum Genuas besetzen dürfen. Während das rekonstruierte «Teatro del Mondo» von Aldo Rossi den alten Hafen von Genua im Geist de Chiricos zu verzaubern sucht und Anselm Kiefers weisses, für die tugendhafte Römerin Cornelia auf der Piazza San Matteo erbautes Steinhaus dem gotischen Herzen der Stadt einen noch morbideren Zug verleiht, inszeniert Renzo Piano im Corvetto-Park Originalbauteile seines Kulturzentrums in Nouméa auf Neukaledonien wie ein Kunstwerk. Hans Hollein hingegen verweigert sich mit seinem «Goldenen Kalb», welches die Piazza Fontane Marose in surrealistische Schieflage bringt, dem Dialog von Architektur und Kunst. Schliesslich prophezeit Rem Koolhaas mit seiner im Hof des Palazzo Lomellino präsentierten Skulptur der Togok Towers nicht ohne Ironie, dass die Architektur nach der Kunst wohl bald auch die Natur auffressen wird.

[Bis 13. Februar im Palazzo Ducale und in der Altstadt von Genua. Katalog: Arti e Architettura. Hrsg. Germano Celant. Skira, Genf und Mailand 2004. 2 Bände mit 784 S., Euro 49.-.]

22. November 2004 Neue Zürcher Zeitung

Stammeskunst beim Eiffelturm und Islam im Louvre

Seit de Gaulle hat sich jeder französische Staatspräsident auf die eine oder andere Art im Kulturbereich hervorgetan. Spätestens seit Mitterrand gilt der Brauch, sich durch «grands travaux» zu verewigen. Chirac hat den Bau eines Museums für Stammeskunst und die Schaffung einer Abteilung für islamische Kunst im Louvre angeordnet.

Die Verfassung der Fünften Republik - es ist ein Gemeinplatz - macht den französischen Staatspräsidenten zum sublimierten Nachfolger der Könige von einst. Wie diese als protecteurs des arts agierten, wird von jenem heute ein aktives Eintreten für Kunst und Kultur erwartet. Der besondere Platz, den la culture im öffentlichen Diskurs einnimmt, die weltweit beispiellose staatliche Kulturförderung gründen - auch - auf dieser nabelschnurartigen (und in mancher Hinsicht infantilen) Beziehung zwischen einer Nation und ihrem ersten Repräsentanten. «L'Etat c'est moi», beschied Ludwig XIV. - und noch heute identifizieren viele in Frankreich den Staat mit seinem Oberhaupt. Der Präsident ist kein auf Zeit gewählter Funktionär, sondern gleichsam der Depositär der Essenz des «Französischen». Er bekleidet eine Art laizistisches Priesteramt, dessen er sich auch im Kulturbereich als würdig zu erweisen hat.
Nachruhm durch Kunstförderung

Seit 1958 hat sich jeder Präsident dieser Aufgabe gestellt - jeder auf seine Art. Charles de Gaulle war als Schriftsteller ein Stilist von klassischer Grandeur; seine Memoiren haben die Weihen der prestigeträchtigen Bibliothèque de la Pléiade erhalten. Georges Pompidou veröffentlichte eine Anthologie der französischen Lyrik und interessierte sich für Malerei; das nach ihm benannte Zentrum in Paris war bei seiner Eröffnung 1977 richtungweisend und ist es noch heute. Valéry Giscard d'Estaings kulturelle Bilanz ist demgegenüber bescheidener; immerhin jedoch hat er das Projekt des Institut du monde arabe lanciert, mit Michel Guy einen der besten Kulturminister ernannt, die Frankreich je hatte - und Ende letzten Jahres den Sitz von Léopold Sédar Senghor in der Académie française übernommen. François Mitterrand endlich umgab sich mit einem Hof von Dichtern und Denkern; die im Lauf seiner beiden Amtszeiten realisierten grands travaux - der «Grand Louvre», die Nationalbibliothek, die Cité de la musique, das Musée d'Orsay . . . - dürften seinen Nachruhm als republikanischer protecteur des arts gesichert haben.

Und Jacques Chirac? Der sich gern hemdsärmelig gebende Präsident stand noch nie im Ruch, ein feinsinniger Ästhet zu sein. Wohl nur wenigen ist seine Liebe zu China und zu Japan bekannt - und zwar nicht nur zu dem Traditions- und Kultursport Sumo, sondern auch zur Kunst dieser beiden Kulturkreise. Ein staatliches Museum für asiatische Kunst existierte freilich bereits: das zwischen 1996 und 2001 summa cum laude renovierte Musée Guimet in Paris (NZZ vom 15. 1. 01). Doch zeigt dieses vornehmlich «Hoch- und Hofkunst», während Hunderttausende von Gebrauchsgegenständen - nicht nur aus Asien, sondern auch aus anderen Weltteilen - in den Reserven des Musée de l'homme und des Musée national des arts d'Afrique et d'Océanie lagerten. Diese beiden Pariser Museen harrten bei Chiracs Amtsantritt 1995 schon seit Jahren einer grundlegenden Neukonzeption; 1996 empfahl eine vom Präsidenten einberufene Kommission die Zusammenführung der beiden Sammlungen in einer neuen Institution. Im Juli 1998 wurde ein rechteckiger Baugrund direkt beim Eiffelturm ausgewählt, im Dezember das «Etablissement public du musée du quai Branly» gegründet. Damit war der Entstehungsprozess von «Chiracs Museum» lanciert.

Das Gros der vereinigten Sammlung stammt aus der Kolonialzeit und weist die entsprechenden geographischen Schwerpunkte auf: Nord- und Westafrika, Madagaskar, Naher Osten, Indochina und Polynesien. Lange Zeit als Kuriosa betrachtet und in ethnographischen Museen aufbewahrt, wurden die Objekte um 1905 von den Fauvisten, Kubisten und Expressionisten als «Art nègre» recht eigentlich neu entdeckt. «Der Louvre sollte gewisse exotische Meisterwerke aufnehmen, deren Anblick nicht minder ergreifend ist als der der schönsten Exemplare der westlichen Bildhauerkunst», schrieb Apollinaire 1909 - André Malraux und Claude Lévi-Strauss schlugen später in dieselbe Kerbe. 1990 forderte eine von dreihundert Kulturschaffenden unterzeichnete Petition die Gründung einer Louvre-Abteilung für die Kunst Afrikas, Ozeaniens, der beiden Amerika sowie des indischen Subkontinents. Der Initiator dieser Petition, der 2001 verstorbene Kunstsammler Jacques Kerchache, hatte Chiracs Ohr gewonnen, als dieser noch Bürgermeister von Paris war. Kerchache ist der geistige Vater des Musée du quai Branly - und auch des vor vier Jahren eröffneten Pavillon des Sessions im Louvre, wo 120 Meisterwerke der Stammeskunst zu bewundern sind (NZZ vom 17. 4. 00).
Auf dem Fluss der Zeit

Den internationalen Wettbewerb für den Entwurf des neuen Museums hat, wie bereits gemeldet, Jean Nouvel gewonnen. Sein Projekt dürfte, zumindest auf dem Papier, das Herz jedes Architekturliebhabers höher schlagen lassen. Wenn sich die Qualität eines Museums nicht nur an der Güte der Exponate misst, sondern auch und vor allem an der Übereinstimmung - oder aber an der produktiven Reibung - zwischen Form und Inhalt sowie am Reichtum des Dialogs (im weitesten Sinn) mit den Besuchern, könnte das Musée du quai Branly zum konzeptionell überzeugendsten Museum in Paris werden. Laut Nouvel ist «diese Architektur zuvörderst eine Hommage an Zivilisationen, die sich hauptsächlich entlang Flüssen, in Wäldern und in den Bergen entwickelt haben». Vor dem Autolärm und den Abgasen von dem an der Seine entlangführenden Quai Branly schützt eine 120 Meter lange und 12 Meter hohe Glaswand; auf diese sind die Blätter der Eichen und Ahornbäume serigraphiert, welche die hügelige Prärielandschaft hinter der «Palisade» säumen.

Der Weg führt den Besucher unter der auf Pfählen gebauten langgestreckten «Grande Galerie» hindurch zu einem Tal, das in die Eingangshalle mündet. Auf dieser Seite des von Gilles Clément gestalteten Parks wachsen Kirsch- und Magnolienbäume und bilden zwei grosse Becken mit Wasserpflanzen eine Art natürliche Grenze zur Rue de l'Université, die parallel zum Quai Branly im Süden das Gelände abschliesst. - In der Eingangshalle erblickt der Besucher als Erstes einen eiförmigen, verglasten Silo mit einem Umfang von 51 Metern. Dieser durchquert das Gebäude von unten bis oben und beherbergt auf acht Stockwerken 9500 Musikinstrumente. Eine Treppe führt hinab zum Foyer, zu den Atelier- und Unterrichtsräumen, zum Projektionssaal und zum Auditorium. Dieses ist dank einem ausgeklügelten Vorhangsystem modulierbar; die verglaste Fassade lässt sich auf ein Freilufttheater öffnen. Während die beiden «Module» für Wechselausstellungen auf dem Niveau der Eingangshalle liegen, ist das eigentliche Herz des Museums über eine sinusförmige, 3 Meter breite und 160 Meter lange Rampe zu erreichen - Nouvel spricht von einer «Reise den Fluss hinauf». Die auf Pfählen stehende «Grande Galerie» weist mit 170 Metern Länge, 9 Metern Höhe und 30 bis 35 Metern Breite gewaltige Dimensionen auf. Der 4500 Quadratmeter grosse Raum ist nicht unterteilt, wird wegen der Dichte der Museographie aber kaum mit einem Blick zu erfassen sein: Beabsichtigt ist ein (ur)waldähnlicher Eindruck.

Vier geographische Sektionen grenzen aneinander: Afrika, Amerika, Asien und Ozeanien. Die Nordfassade zur Seine hin weist 26 schachtelförmige Auswüchse von verschiedener Grösse auf: Die meisten dieser Räume sind einzelnen Ländern gewidmet, von Äthiopien bis Tibet. Laut Isabelle Guillauic, der Bauleiterin von den Ateliers Jean Nouvel, soll die wolkenähnliche Decke der «Grande Galerie» im Wechsellicht «wie der Bauch einer Sardine schillern», während sich am Boden künstliche Schatten abzeichnen. Statt Vitrinen im eigentlichen Sinn wird es drei Meter hohe und fünf Meter lange Glasplatten geben, die scheinbar frei im Raum stehen und mitunter im Dunkel verschwinden. Täuschung und Entmaterialisierung, zwei Kernbegriffe von Nouvels Ästhetik, dienen hier der Erzeugung einer traumähnlichen, gleichsam schwebenden Stimmung. Die oftmals unregelmässigen, zum Teil fast biomorphen Formen sind neu im Werk des Architekten. Park, Gebäude und Exponate sollen zu einer Art «Promenade artistique et architecturale» verschmelzen - Leitthema ist die (Entdeckungs-) Reise, der «Parcours initiatique».

Neben den grossen, internationalen Wechselausstellungen im Erdgeschoss und der Präsentation von eigenen Objekten sowie von langfristigen Leihgaben in der «Grande Galerie» sind auch thematische Ausstellungen vorgesehen und sogenannte Expositions dossiers, die einzelne Aspekte der Sammlung vertiefen. Für diese stehen zwei 800 beziehungsweise 670 Quadratmeter grosse Mezzanine zur Verfügung, die amöbenförmig die «Grande Galerie» überragen. Die dortigen Ausstellungen sollen nicht nur von Konservatoren konzipiert werden, sondern auch von auf Zeit ans Haus gebundenen Forschern. Die Institution versteht sich nämlich dezidiert als ein Ort des Dialogs zwischen den Welten des Museums und der Universität - ein Ort, wo nicht nur konserviert, sondern auch geforscht und gelehrt wird.


Islamische Kunst unter dem Glasdach

Rund zwanzig Forscher sollen für zwei bis zwölf Jahre vor Ort an individuellen Projekten arbeiten, die von der Sammlung ausgehen, dank der Vergabe von Börsen aber auch Feldforschung in den Ursprungsländern umfassen können. Parallel dazu werden sie im Haus unterrichten: Das Museum bietet in Zusammenarbeit mit Universitäten und mit der Ecole du Louvre Seminare vom Grundstudium bis zur Habilitation an. So soll am Quai Branly ein richtiger Campus entstehen.

Das zweite vom Staatspräsidenten initiierte Museumsprojekt ist zugleich bescheidener und ambitiöser. Bescheidener in seinen räumlichen und finanziellen Dimensionen. Ambitiöser, weil die Schaffung einer eigenen Abteilung für islamische Kunst im Louvre einen massiven Eingriff in das hochkomplexe (und -empfindliche) Innenleben des «grössten Museums der Welt» darstellt. Die - ebenfalls von Jacques Chirac angeordnete - Eröffnung des oben erwähnten kleinen Pavillon des Sessions im Südflügel des Louvre, einer Art Antenne des Musée du quai Branly, hatte vor vier Jahren zu erheblicher Nervosität unter den Konservatoren geführt. Das mit rund 3000 Quadratmetern mehr als doppelt so grosse neue Département des arts d'Islam könnte auf einen gnädigeren Empfang stossen. Zum einen findet sich islamische Kunst (im Gegensatz zur Stammeskunst) seit je in der Sammlung des Museums und wird dort auch in einer eigenen Raumfolge gezeigt. Zum andern soll mit dem geplanten Umbau eines grossen Innenhofs dem beengten Palast kein bestehender Raum weggenommen, sondern im Gegenteil neuer hinzugefügt werden.

Wie bereits die Cours Marly und Puget dürfte die Cour Visconti mit einem Glasdach überbaut, im Gegensatz zu diesen aber auch mit einer internen Konstruktion versehen werden. Konkrete Gestalt wird das Projekt allerdings erst nächstes Jahr mit der Bestimmung eines Architekten annehmen. Fest steht hingegen bereits, wie der Leiter der Islam-Abteilung, Francis Richard, im Gespräch ausführt, «dass im Louvre die Quasi- Gesamtheit der 3000 Objekte umfassenden Sammlung der Union centrale des arts décoratifs (Ucad) deponiert werden wird». Die beiden Kollektionen ergänzen sich: Schwerpunkte des Louvre sind Werke des «klassischen» Islam zwischen dem 8. und 14. Jahrhundert: Metallarbeiten, Keramik und architektonische Dekorelemente; weniger gut vertreten sind Textilarbeiten - die einen Gutteil der Bestände der Ucad bilden. Richard verspricht sich von der partiellen Zusammenführung der beiden Kollektionen die Entstehung «eines der schönsten Ensembles islamischer Kunst in der Welt - wenn nicht das schönste». Ziel ist erklärtermassen, mit den entsprechenden Abteilungen des New Yorker Metropolitan Museum und des Londoner Victoria and Albert Museum rivalisieren zu können.

Der Louvre setzt dabei auch auf eine innovative Museographie. Der Zeitschrift «Connaissance des arts» hat der Direktor des Museums, Henri Loyrette, unlängst erklärt: «Die islamische Kunst wird von einer subtilen Kontinuität bestimmt, die uns eine segmentierte Präsentation wie anderswo im Museum verbietet, etwa eine Trennung zwischen den verschiedenen Glas- und Keramiktechniken. Wir müssen dem Besucher auf sinnlich nachfühlbare Weise die Idee vermitteln, dass das kleinste Objekt wie auch das monumentalste Bauwerk auf ein und denselben geistigen Raum verweisen. Das erheischt eine ganzheitliche Herangehensweise, die Philosophie wie Wissenschaftsgeschichte, Heilkunde, Kalligraphie, Textilhandwerk und noch viele andere Dimensionen mit einbezieht. Dieser Blick für das Gesamte, der justament dem Geist entspringt, von dem die islamischen Kulturen durchdrungen sind, sollte eine vorbildhafte Neuerung sein im Vergleich zur traditionellen Aufteilung der Départements des Louvre.» Dem Museum nicht bloss eine weitere Abteilung hinzugefügt, sondern zu einer eigentlichen Neukonzeption seiner Museographie geführt zu haben, wäre nicht das geringste Verdienst von Chiracs Initiative.


Zahlen und Fakten

zit. Das Musée du quai d'Orsay hängt vom Kultur- sowie vom Erziehungs- und Forschungsministerium ab. Es vereint die früheren Sammlungen des Ethnologielaboratoriums des Musée de l'Homme und des endgültig geschlossenen Musée national des arts d'Afrique et d'Océanie: insgesamt rund 300 000 Inventarnummern (wobei ein Kostüm aus sieben bis zehn Objekten besteht und die Sammlung rund 40 000 Tonscherben zählt). Direkt beim Eiffelturm auf einem Gelände von etwa 220 mal 120 Metern gelegen, wird das Museum von einem 18 Hektaren grossen Park umgeben sein. Jean Nouvels Bau umfasst eine Mediathek mit 25 000 frei zugänglichen Werken, ein modulierbares Auditorium, Atelier- und Büroräume, ein Dachrestaurant mit Panoramablick sowie Räumlichkeiten für Dauer- und Wechselausstellungen (knapp 7000 beziehungsweise 2000 Quadratmeter). Mehr als 4000 Objekte sollen in der «Grande Galerie» dauerhaft gezeigt werden. Der Rest der - mit der Software «The Museum System» von Grund auf neu inventarisierten - Sammlung ist für Forscher und für Angehörige der Ursprungsländer in vier «Studiensälen» zugänglich. Die Gesamtkosten sind auf 216,5 Millionen Euro veranschlagt - das Fünfjahresbudget für Ankäufe von fast 23 Millionen Euro nicht mitgerechnet. Die Eröffnung soll 2006 erfolgen.

Das Département des arts de l'Islam, die achte Abteilung des Louvre, wurde am 1. August 2003 geschaffen. Bis dahin war die 10 000 Objekte umfassende Sammlung ein Teil des Département des antiquités orientales. Derzeit sind im Richelieu-Flügel etwa 1300 Exponate zu sehen: Die dreizehn 1993 eröffneten Säle sind unterirdisch gelegen und räumlich beengt. Mit der für den Jahreswechsel 2008/2009 geplanten Eröffnung der im Denon-Flügel gelegenen Cour Visconti soll sich die Ausstellungsfläche (heute: 1108 Quadratmeter) verdreifachen, desgleichen die Zahl der Exponate. Der Architekt wird Mitte 2005 nach einem internationalen Wettbewerb bestimmt; die Baukosten sind auf 50 Millionen Euro veranschlagt.

11. November 2004 Neue Zürcher Zeitung

Berghütten, Villen und Museen

Eine Blütenlese zur neusten Baukunst im Tessin

Architektonischer Wildwuchs entstellte in den letzten fünfzig Jahren weite Gebiete des Schweizer Mittellandes. Aber auch die zwischen Schneebergen und Palmengestaden sich weitenden Landschaften des Tessins blieben von ihm nicht verschont. Dabei wurde der ungezügelte Bauboom schon in den sechziger Jahren von den Protagonisten der «Tessiner Schule» kritisiert. Mit harten Betonbauten setzten damals Aurelio Galfetti, Luigi Snozzi, Livio Vacchini und bald auch Mario Botta oder Ivano Gianola im amorphen Häuserbrei Zeichen, die jedoch die Zersiedelung nicht bremsen, sondern höchstens ästhetisieren konnten. Gleichwohl begründete ihr formal höchst unterschiedliches Schaffen, das 1975 dank der Zürcher «Tendenza»-Ausstellung fast über Nacht zu internationalen Ehren kam, eine in den Jahren der postmodernen Popularisierung der Baukunst vielbeachtete Tradition.

Obwohl diese bekannten Meister noch immer wichtige Projekte und städtebauliche Interventionen realisieren, vernimmt man vom Baugeschehen zwischen Airolo und Chiasso nur mehr wenig. Eine Ausnahme bildete vor zwei Jahren die Erweiterung der Universität Lugano. Deren Bauten konnten dank dem Einsatz von Galfetti, dem Urheber des Masterplans, an Architekten vergeben werden, die damals noch nicht vierzig Jahre alt waren. Dieses bedeutende, entfernt mit dem Tessiner Schulbauprogramm der sechziger Jahre vergleichbare Unternehmen bildet einen Schwerpunkt in der soeben erschienenen Publikation «Tessin Architektur - Die junge Generation». Weiter präsentieren darin Thomas Bamberg und Paola Pellandini anhand von guten Farbabbildungen, knappen Texten und etwas klein geratenen Plänen rund 40 Villen, Kindergärten, Sakralbauten, Museen, Hotels und Berghütten von 24 Architekturbüros. Mit diesem Material wollen sie aufzeigen, wie in den letzten Jahren «beinahe ‹unbemerkt› eine neue Generation junger Architekten nachgewachsen ist».

Auch wenn nichts leichter ist, als eine Auswahl zu zerzausen, muss doch die Frage erlaubt sein, warum unter dem gewählten Titel das Schaffen interessanter jüngerer Architekten wie Roberto Briccola oder Britta und Francesco Buzzi übergangen wird, dafür aber (zweifellos bedeutende) Bauten der Altmeister Galfetti und Gianola ebenso zur Sprache kommen wie etwa der mittelprächtige Neubau der Architekturakademie Mendrisio, dessen Entwerfer Soliman & Zurkirchen weder aus dem Tessin stammen noch dort ihr Studio betreiben. Wäre es da nicht ehrlicher gewesen, das Buch unter dem Titel «Neue Architektur im Tessin» anzubieten und dafür auf die Behauptung zu verzichten, hier würden die jungen Tessiner Architekten erstmals umfassend porträtiert?

An der Qualität der hier versammelten Gebäude vermöchte allerdings auch ein geänderter Titel nichts zu ändern. Als überdurchschnittlich bezeichnen wird man neben den Universitätsgebäuden in Lugano die Umbauten von Pia Durisch und Aldo Nolli in Mendrisio und Claro, die Raiffeisenbank von Michele Arnaboldi in Intragna, das Kirchlein in Porta und das ethnographische Museum in Olivone von Raffaele Cavadini, die Erweiterung des Kulturzentrums «La Fabbrica» von Giorgio und Michele Tognola in Losone, die Berghütte «Cristallina» bei Bedretto von Nicola Baserga und Christian Mozzetti sowie einige eigenwillige Villen von Andrea Bassi oder Giorgio und Giovanni Guscetti. Einen spannenden Ausblick in die Zukunft bietet zudem Gianolas Entwurf für das neue Luganeser Kulturzentrum in den Ruinen des ehemaligen Hotels «Palace». Schade nur, dass neben diesem keine weiteren wichtigen Projekte vorstellt werden - beispielsweise die organisch gewellte und mit einem Fassadenschleier versehene Umhüllung des Kongresspalastes in Lugano von Sandra Giraudi und Felix Wettstein oder das «MaxMuseo» von Durisch & Nolli in Chiasso. Dieses Museum, an dem zurzeit gebaut wird, ist ein Beweis dafür, dass sich auch ausserhalb Luganos in der entlang der Autobahn ungebremst weiter wuchernden «Città diffusa» des Tessins neue kulturelle Kristallisationskerne bilden. Doch statt solche zukunftsweisende Arbeiten zu erwähnen, wird in der vorliegenden Anthologie immer wieder Platz für banale Realisationen verschwendet, die weder dieser Blütenlese noch dem Ansehen der Tessiner Baukunst gut tun.

[ Tessin Architektur - Die junge Generation. Hrsg. Thomas Bamberg und Paola Pellandini: Deutsche Verlags-Anstalt, München 2004. 160 S., Fr. 120.-. ]

10. November 2004 Neue Zürcher Zeitung

Südländische Traumgärten

Ferdinand Bac und Luis Barragán in Lausanne

Obwohl von Klima und Natur verwöhnt, können die Gärten der Côte d'Azur nicht mit den berühmten Parks im Norden Frankreichs konkurrieren. Dennoch finden sich hier neben eklektischen Anwesen wie der vornehmen Villa Ephrussi Rothschild auf Cap Ferrat auch bedeutende, der mediterranen Tradition verpflichtete Anlagen: allen voran der Villenpark «Les Colombières» in Menton. Dieser vielleicht stimmungsvollste romantische Garten der Moderne steht nun im Zentrum einer Ausstellung der Archives de la construction moderne der ETH Lausanne, die sich mit dem landschaftsgestalterischen Schaffen von Ferdinand Bac (1859-1952) und Luis Barragán (1902-1988) befasst. Der gemeinsame Auftritt dieses auf den ersten Blick ungleichen Paars, des als Gartenkünstler fast vergessenen Karikaturisten und Schriftstellers Bac und des grossen Architekten Barragán, verdankt sich einem Zufall. Stiessen doch die Organisatoren der Schau, die ursprünglich nur auf Barragáns bereits gut dokumentierte Gärten ausgerichtet sein sollte, eher zufällig auf Bac und dessen Bedeutung für den Mexikaner.

Während seiner ersten Europareise entdeckte Barragán 1925 die Schriften zur Gestaltung südländischer Gärten von Ferdinand Bac. Der vornehme, aus Stuttgart stammende Bohémien lebte lange in Paris, bevor er 1912 mit der Transformation der Villa Croisset bei Grasse eine neue Karriere im Midi startete, um in der Nachfolge des Engländers Harold Peto zum bedeutendsten Erneuerer der mediterranen Gartenkultur zu werden. Begeistert vertraute ihm die Herzogin Thérèse de Beauchamp die Umgestaltung der Villa Fiorentina am Cap Ferrat an, und auch «la belle Madame Ephrussi» wagte einen vergeblichen Versuch, Bac für sich zu gewinnen. Mit dem Auftrag zur Neuanlage ihres Gartens im nordfranzösischen Compiègne wurden Emile und Caroline- Octavie Ladan-Bockairy um 1920 zu Bacs Freunden und Mäzenen. Für sie schuf der geniale Autodidakt anschliessend das 1925 vollendete Meisterwerk von «Les Colombières», dessen Thema die Welt der Odyssee ist. Unweit dieses Triumphs einer von den unterschiedlichsten Gestaden des Mittelmeers inspirierten Kunstlandschaft errichtete er sein kleines, orientalisch angehauchtes Gartenparadies «Bethsaïda» mit Sicht auf Menton, wo ihn 1931 Barragán besuchte. Hatte sich der Mexikaner schon zuvor durch Bacs Erkenntnisse zu den Gärten von Guadalajara inspirieren lassen, so interpretierte er diese fortan in den Grünräumen von Calzada Madereros, den Lavaschluchten von Pedregal, den surrealistischen Landschaften von San Jerónimo sowie den abstrakten Gärten von Los Clubes ganz neu.

Die Ausstellung, welche als Nachspiel zur diesjährigen Gartenschau «Lausanne Jardins» inszeniert wurde, erweist sich aber nicht wegen des Zugpferdes Barragán, sondern vielmehr wegen Bac als kleine Sensation. Denn hier begegnet man nicht nur den ebenso raren wie prachtvoll illustrierten Publikationen, sondern auch kaum je gezeigten Dokumenten und Skizzen sowie den poetischen nächtlichen Gartenzeichnungen aus «Les Colombières». Die romantisch-antikischen Visionen Bacs, die - aus Symbolismus und Jugendstil herausgewachsen - auf einer fast schon surrealistischen Ebene die Ideen der Moderne umkreisen, wurden vor allem in der lateinischen Welt diskutiert. So könnte Le Corbusier die geheimnisvolle Terrasse des Beistegui-Apartments in Paris und die «homerische Dachlandschaft» der Unité d'habitation in Marseille durchaus als Antwort auf Bac entworfen haben. Bacs Traumgärten scheinen aber auch auszustrahlen auf die Bildwelten des kanarischen Künstlers Néstor Martín, auf die Wüstengärten von César Manriques oder auf die tropischen Kompositionen von Roberto Burle Marx und Geoffrey Bawa. Von Barragán aber wissen wir mit Bestimmtheit, dass Bacs mediterrane Gärten in ihm «die Sehnsucht nach dem perfekten Garten weckten», wie er 1980 anlässlich der Verleihung des Pritzker-Preises festhielt.

[ Bis 20. November im Bâtiment SG der ETH Lausanne in Ecublens. Kein Katalog. ]

5. November 2004 Neue Zürcher Zeitung

Wie ein umgestürzter Wolkenkratzer

Ein brückenartiges Rathaus als Wahrzeichen der spanischen Touristenstadt Benidorm

Hotel- und Apartmenttürme verleihen Benidorm, dem grössten Ferienort Europas, eine Skyline, wie man sie sonst nur von Metropolen kennt. Nachdem im Stadtteil Cala mit dem «Gran Bali» das höchste Bauwerk Spaniens hat eröffnet werden können, setzt nun das neue Rathaus in Form eines gefällten Wolkenkratzers einen vieldeutigen Akzent.

Kaum eine andere Küstenlandschaft am Mittelmeer wurde von Planern und Spekulanten derart misshandelt wie die Costa Blanca, als deren Inbegriff Benidorm gilt. Dabei ist diese vielgeschmähte Hochburg des Massentourismus mit ihrer eindrücklichen Skyline, den weit geschwungenen Stränden und der bizarren Bergszenerie rein optisch nicht der schlimmste Ort der weissen Küste zwischen Valencia und Alicante. Dennoch vermag die von Urbanisten und Soziologen gleichermassen gelobte und von manchen gar als ökologisch sinnvoll gepriesene Verdichtung Benidorms nicht wirklich zu überzeugen, auch wenn ihr das trendige Rotterdamer Architekturbüro MVRDV mit dem im Jahr 2000 erschienenen Manifest «Costa Iberica» ein Denkmal setzte. Zwar stehen in keiner anderen Stadt am Mittelmeer die Hotel- und Apartmenttürme so eng zusammen wie in diesem 65 000 Einwohner zählenden Ferienort. Doch dahinter wird das Land nur umso mehr geschunden und verletzt. Lagerhallen, Shopping-Malls, überdimensionierte Erschliessungsstrassen und Verkehrskreisel sowie seit neustem der aus dem Gebirge herausgeschlagene Vergnügungspark «Terra Mítica» haben die einstige Gartenlandschaft völlig verunstaltet.

Das höchste Haus am Mittelmeer

Während an Benidorms äusserst betriebsamer Playa del Levante, wo in den späten fünfziger Jahren die erste städtische Erweiterung des alten Fischerdorfs vonstatten ging, sich heute Dutzende von 25- bis 40-stöckigen Wohntürmen auf wenigen Hektaren drängen, konnte sich das bürgerlichere Cala am westlichen Ende der Playa del Poniente ein vergleichsweise ruhiges Ambiente wahren. Nun aber wachsen auch hier im staubigen Niemandsland unmittelbar hinter dem Häuserkranz am Strand gleich mehrere leicht geschwungene Giganten in den Himmel. Ihre Betonskelette werden aber in den Schatten gestellt vom breitschultrigen Turm des «Gran Bali» auf dem Hügel von Cala, der mit seinen knapp 200 Höhenmetern und rund 50 Geschossen nicht nur das höchste Hotel Europas ist, sondern darüber hinaus das höchste Haus des ganzen Mittelmeerraums. Obwohl es sich bei diesem vom valencianischen Architekten Antonio Escario realisierten Turm um kein wirklich erstklassiges Bauwerk handelt, setzt es in der architektonisch und städtebaulich banalen, im Gesamtbild aber umso suggestiveren Ansammlung von gestapeltem Ferienraum als Eyecatcher genauso wie als gebaute Quintessenz der schrillen Tourismusmaschine Benidorm ein weithin sichtbares Wahrzeichen.

Zieht man in Betracht, dass heute in Benidorm rund 150 meist schlanke Turmhäuser von über 75 Metern Höhe sowie eine Vielzahl von Bauten mit «nur» knapp 20 Stockwerken wie Palisaden den Strand vom Hinterland trennen, so erstaunt es kaum, dass dieser jährlich von fast 5 Millionen Gästen besuchte grösste Ferienort Europas wie die meisten Küstenstriche Spaniens seit bald zwei Jahren in einer leichten Krise steckt. Denn obwohl hier auch wirtschaftliche Gründe mitspielen, wünschen sich viele Touristen nicht mehr nur Sonne, Sand und Wasser. Während MVRDV in ihrer «Costa Iberica» noch von unbegrenztem Wachstum ausgingen und vorschlugen, den gesamten spanischen Tourismus auf ein himmelwärts erweitertes Benidorm zu konzentrieren, das von einem mehrere hundert Meter hohen, entfernt an El Lissitzkys Wolkenbügel erinnernden Hochhausgitterwerk überfangen wird, versucht die Stadtverwaltung seit einigen Jahren, dem Stelenwald mittels ruhiger Refugien etwas Luft zu verschaffen.

So konnte Ricardo Bofill 1995 unmittelbar hinter dem historischen Zentrum im ehemaligen Geröllbett des Rio Seco den Parque de l'Aigüera als langgestreckte grüne Lunge gestalten. Mit seinen schattigen Zypressenalleen und Olivenhainen, mit seinem antikischen Freilufttheater und den Pavillons gleicht er einem mediterranen Versailles für das Volk. Dabei wirkt er trotz einer gewissen Vernachlässigung durchaus einladend - obwohl er kaum genutzt wird. Umso beliebter ist dagegen die Playa del Levante, die in den späten neunziger Jahren durch die katalanischen Altmeister Josep Martorell, Oriol Bohigas und David Mackay (MBM) sanft postmodern von einer ehemals engen und verkehrsbelasteten Uferstrasse in eine palmenbestandene, nachts heiter erleuchtete Strandpromenade verwandelt wurde.

Hier knüpfte 2002 Carlos Ferrater, dessen topographische Gestaltung des botanischen Gartens von Barcelona vor einigen Jahren Aufsehen erregte, mit seinem Vorschlag einer Umgestaltung der Playa del Poniente an - und zwar mit einer wie Höhenlinien schlängelnden Abtreppung zwischen der Strasse und dem tiefer gelegenen Strand. Diese urbanistischen Interventionen und Projekte fanden ihren Höhepunkt in dem vor einem Jahr eingeweihten Rathaus am südlichen Ende des Parque de l'Aigüera. Der Bau, der bereits mit mehreren Preisen und Ehrungen ausgezeichnet wurde, stammt erstaunlicherweise nicht von einem bekannten spanischen Architekten, sondern von Benidorms Stadtbaumeister José Luis Camarasa, der schon zusammen mit MBM an der Gestaltung der Strandpromenade arbeitete. Camarasa gelang es, mit einem 97 Meter langen, brückenartigen Gebäude, das wie ein gefälltes Hochhaus auf zwei Sockelbauten aufliegt, ein durchaus ambivalentes Zeichen in der urbanen Szenerie dieses Wolkenkratzerbabels zu setzen. Mit seiner Einsicht, dass ein Bauwerk sich in einer der Vertikalen verfallenen Stadt horizontal ausbreiten muss, um aufzufallen, gelang es Camarasa aber nicht nur, den schwierigen Baugrund über einer bereits bestehenden, ins einstige Bachbett eingelassenen Tiefgarage zu meistern, sondern auch, Bofills Parkanlage abzuschliessen und der Stadt einen öffentlichen Platz zu geben.

Neuerfindung der Stadt

Vom Stadtzentrum her führt nun eine breite, von Dattelpalmen gerahmte Rampe hinauf zum Neubau, der wie eine Toranlage den Blick auf den Park, die Berge und die Hochhäuser im Hinterland rahmt. Der nur auf zwei Doppelträgern ruhende riesige Schwebebalken verschattet - im heissen Klima der Costa Brava durchaus vorteilhaft - stets einen Teil des Rathausplatzes. Während im linken Sockelbau ein Café, Verwaltungsräume und der Eingang zur Tiefgarage untergebracht sind, befindet sich im rechten eine elegante doppelgeschossige Eingangslobby, deren lichte Transparenz den Barcelona-Pavillon von Mies van der Rohe in Erinnerung ruft. Nach drei Seiten öffnet sich die Halle auf kleine Hofgärten, zwischen denen die beiden Versammlungsräume des Salo d'Actes und des Salo de Plens eingeschoben sind. Lifte garantieren die Erschliessung des aufgeständerten horizontalen Haupttrakts, dessen Grossraumbüros durch verglaste, tief eingezogene Loggien, Sitzungszimmer und durch die Repräsentationsräume des Bürgermeisters angenehm gegliedert werden. Das Stahlfachwerk dieser dreigeschossigen Brückenkonstruktion liegt auf der Schattenseite frei, während es nach Süden hin mit bedruckten gläsernen Sonnenblenden verschleiert ist, die sich zu immer neuen Bildern verstellen lassen. - Kurz: Benidorms neues Rathaus stellt als Ausdruck neu erwachten Bürgerstolzes den ersten Schritt in Richtung einer Neuerfindung der Stadt dar.

5. November 2004 Neue Zürcher Zeitung

Ein Wassergarten in der Felsensteppe

Der Ereta-Park von Marc Bigarnet und Frédéric Bonnet über der Altstadt von Alicante

Lange dämmerten die Altstadt von Alicante und die Hänge des über ihr wachenden Monte Benacantil vor sich hin. Doch in jüngster Zeit wurden viele der einst staubig grauen Häuser renoviert. Heute rahmen sie in frischen Farben steile Strassen und blumengeschmückte Treppenwege. Steigt man die Gassen hinauf, so gelangt man zuoberst in der Altstadt unvermittelt an eine Wand aus rostfarbenem Stahl mit eingeschweissten Piktogrammen. Sie ist verschlossen - und man denkt sogleich an eine Planungsruine. Doch wenige Schritte weiter, wo unter der hoch liegenden Santa-Bárbara-Festung neue, sorgsam in den kleinteiligen Altbestand eingepasste Häuser die Strasse zum Berg hin abschliessen, gewahrt man neben einem mit hellem Lattenwerk verkleideten Eckbau eine weitere rostbraune Schiebewand, die nun dem Besucher offen steht. Auf ihr verheissen erneut Piktogramme und poetisch klingende Wörter wie Jardín del angel oder Valle umbral del puente einen hier kaum erhofften Erholungsraum.

Trockenmauern und Terrassen

Man geht hinein, schreitet eine von Dattelpalmen gesäumte und von Steinmauern gefasste Rampe hinan. Dann weitet sich der Blick über ein kleines, mit Steinplatten bedecktes Plateau, das von stämmigen Johannisbrotbäumen überschattet wird. Eine Abstufung, auf der hölzerne Liegen in langgestreckter S-Form zur Siesta einladen, führt zu einem kleinen Geländeabsatz. Dieser wird von einer hohen, tischartigen Dachkonstruktion aus einem Geflecht von Holzlatten überfangen, das im gleissenden Mittagslicht ein rautenförmiges Schattenmuster auf ein ausgedorrtes Feld mit Zyperngras wirft. Dahinter setzt eine zweiarmige Marmortreppe mit Richtungswechsel einen fast sakralen Akzent. Sie endet vor einem mit dem niedrigen Pflanzenwuchs der Macchia bewachsenen Hang, über dem weitere terrassierte Flächen und eine Steinmauer mit Pergola folgen.

Die Regie der wie ein langgestreckter Teppich den Berg hinansteigenden Anlage ist so geschickt, dass stets ein neues Versprechen lockt. So vernimmt man bei der aus L-förmigen Holzträgern gebildeten Pergola erstaunt ein leises Plätschern, erblickt aber erst weiter oben die Spitzen kleiner Springbrunnen. Sie klatschen auf eine ebene Steinfläche, über der sich ein sandiger, von einem Pulverhaus aus dem 18. Jahrhundert begrenzter Platz weitet. Rechts, hinter einigen noch etwas schmächtigen Pinien, öffnen sich in einer Stützmauer hohe Läden, deren hölzerne Rahmen mit geflochtenen Zweigen gefüllt sind. Mit ihnen kann die Glasfront des in den Berg eingelassenen Ausstellungsgebäudes und des dazugehörigen Cafés geschlossen werden. Da dieses nicht bewirtschaftet wird, lässt einen der Durst besorgt nach oben blicken, wo man vor der mittelalterlichen, die Burg und das in einer Schlucht gelegene San-Rafael-Quartier verbindenden Wehrmauer ein Pavillonrestaurant erblickt. Das als verglastes, pergolaartiges Belvedere gestaltete, von der Nordseite des Benacantil her über eine Strasse zugängliche Bauwerk, das im vergangenen Juli eröffnet wurde, ist das architektonische Juwel der Gesamtanlage und beeindruckt in diesem kargen Felsenpark durch sein elegantes Interieur und seinen weiten Ausblick über Stadt und Meer.

Ein Europan-Projekt

Hier geht der formale Garten am Berg über in ein Wegnetz, welches ganz modisch in kubisch gebrochenen, der Topographie folgenden Formen den von ursprünglicher Trockenvegetation bewachsenen Abhang bis hinauf zur Burg erschliesst. Bei dieser ebenso eigenwilligen wie überzeugenden Landschaftsgestaltung des in Lyon tätigen Architekten Marc Bigarnet und seines Pariser Partners Frédéric Bonnet handelt es sich um das Resultat ihres erstprämierten Beitrags zum 3. Europan-Wettbewerb von 1994. Obwohl die meisten Siegerprojekte der zur Förderung des Architektennachwuchses eingerichteten Europan- Wettbewerbe leider nicht verwirklicht werden, gelang es den jungen Franzosen, den zuständigen Behörden einen überarbeiteten Vorschlag für das ehemalige militärische Sperrgebiet schmackhaft zu machen. Im Rahmen des Rehabilitierungsprogramms für das historische Zentrum Alicantes erteilten ihnen daraufhin die Stadt und die Comunidad Valenciana einen Bauauftrag. Im Sommer 2003 konnte der rund 12 Millionen Franken teure Landschaftsgarten, in dem über 300 meist einheimische Pflanzenarten gedeihen, der Öffentlichkeit übergeben werden, auch wenn damals das Restaurant «La Ereta» noch nicht vollendet war.

Traditionelle Elemente des mediterranen Gartens vom maurischen Wasserspiel über die barock inspirierte Treppenanlage bis hin zur rustikalen Pergola prägen diesen Park ebenso wie fast unberührt gebliebene Felsenhänge. Bald erinnert er an Carlos Ferraters wegweisenden botanischen Garten auf dem Montjuic in Barcelona, dann wieder an den unrealisierten Entwurf des jungen Valencianers Vicente Guallart für einen terrassierten Berghang über einer Tiefgarage in Denia. Er belegt aber auch Spaniens wichtige Position auf dem Gebiet der zeitgenössischen Landschaftsarchitektur, die in jüngster Zeit vermehrt das Zusammenspiel von harten architektonischen Elementen mit einer teilweise naturbelassenen Pflanzenwelt auslotet. Nach der in den Steilhang von Toledo eingekerbten Rolltreppenrampe von Martínez Lapeña & Torres Tur ist der Ereta-Park das vielleicht konsequenteste Beispiel dieses Trends, wobei hier die gestalterischen Elemente von Licht und Schatten, Architektur und Natur durch einen strengen, der französischen Tradition verpflichteten Formalismus noch verstärkt werden.

26. Oktober 2004 Neue Zürcher Zeitung

Wiederentdeckung eines grossen Klassizisten

Der Tessiner Architekt Simone Cantoni

Im Palazzo Serbelloni, der nach seiner Fertigstellung im Jahre 1793 wie kein anderes Bauwerk Mailands den Geist des liberalen Klassizismus verkörperte, nächtigten im Mai 1797 Napoleon und Joséphine de Beauharnais während ihres Aufenthalts in der lombardischen Hauptstadt. Einen Monat später, am 17. Juni 1797, besuchten sie Como, wo sie in einem anderen architektonischen Meisterwerk Wohnsitz nahmen: der direkt am See gelegenen Villa Olmo des Herzogs Innocenzo Odescalchi. Die beiden derart nobilitierten Bauwerke gelten heute ebenso wie der Palazzo Ducale in Genua oder die Pfarrkirche von Gorgonzola als Juwelen des italienischen Klassizismus. Ihr Schöpfer war der aus Muggio im Südtessin stammende Simone Cantoni (1739-1818). Trotz innovativen Bauten steht dieser grosse Architekt bis heute im Schatten Giuseppe Piermarinis (1734-1808), der als Architekt der österreichischen Verwaltung Mailands die prestigeträchtigen Aufträge für die Scala und den Palazzo Reale erhielt. Der republikanisch gesinnte Cantoni hingegen verkehrte in den aufklärerischen Kreisen der Österreich-feindlichen Eliten von Mailand und Como, die ihn mit dem Bau von Stadthäusern und Landsitzen betrauten.

Glänzende Karriere

Schon 1774 begründete Johann Caspar Füsslis «Geschichte der besten Künstler in der Schweiz» den Mythos vom Wunderkind, das früh die Heimat verlassen musste, um bei seinem Vater Pietro in Genua, wo die Cantoni seit Generationen als Architekten tätig waren, die baukünstlerischen Grundlagen seines Könnens zu erlernen. Später wurden seine Inventionen vom einflussreichen Theoretiker Francesco Milizia gewürdigt, so dass Cantoni im frühen 19. Jahrhundert höher geschätzt wurde als Piermarini - ein Urteil, das mit einem Blick auf den Geniestreich des Palazzo Serbelloni durchaus einleuchtet. Dennoch war es schliesslich Cantoni und nicht der Staatsarchitekt Piermarini, der ausserhalb von Mailand, Como und dem Tessin, wo seit den 1940er Jahren erste Studien und Monographien über ihn erschienen, in Vergessenheit geriet. Dies belegt etwa die Tatsache, dass er im 1998 veröffentlichten «Architektenlexikon der Schweiz» unerwähnt bleibt. Dabei können nur wenige Schweizer Architekten des 18. und 19. Jahrhunderts eine ähnlich strahlende Karriere vorweisen wie Cantoni.

Wegen seiner ungewöhnlichen Begabung wurde der Siebzehnjährige 1756 von Genau aus zum Studium nach Rom geschickt. Dort machte er sich mit den Bauwerken der Antike und mit der Klassik Vanvitellis vertraut. Mit dem Entwurf eines Krankenhauses konnte er 1766 den von der Accademia di Parma kurz zuvor eingeführten Architekturwettbewerb für sich entscheiden. Statt nach Genua zurückzukehren, suchte Cantoni nun in Mailand, dem aufblühenden Zentrum der italienischen Aufklärung, sein Glück. Nachdem er mit dem Palazzo Mellerio am Corso di Porta Romana eine eigenwillige Probe seines Könnens gegeben hatte, legte er 1774 die Pläne für den Palazzo Serbelloni vor. Dessen Säulenportikus nimmt - als offensichtlich bis heute unbemerkt gebliebene politische Aussage - Bezug auf die spätrömischen Kolonnaden von San Lorenzo, welche die Österreicher damals abtragen wollten.

Während der langwierigen Genese dieses bedeutenden Stadtpalastes wandte sich Cantoni anderen Projekten zu. Karrierefördernd war dabei zweifellos sein Sieg im Wettbewerb um den Neubau des 1777 abgebrannten Dogenpalastes in Genua. Dieses frühklassizistische Wahrzeichen, das Cantoni dank familiärer Zusammenarbeit von Mailand aus verwirklichen konnte, rivalisierte nach seiner Vollendung 1783 mit den legendären Barockpalästen der Hafenstadt. Obwohl man zur malerischen Ausschmückung der Säle des Maggior und des Minor Consiglio vergeblich den damals in Rom und Madrid als künstlerischer Wegbereiter umschwärmten Anton Raphael Mengs zu gewinnen suchte, entstanden im Palazzo Ducale dennoch vielbewunderte Interieurs, die ihre Fortsetzung in den Prunksälen der zwischen 1782 und 1794 realisierten Villa Olmo fanden. Zu diesem architektonischen Gesamtkunstwerk steuerte Cantonis Landsmann und Freund Domenico Pozzi olympische Freskenzyklen und Francesco Carabelli, der schon den Fries des Palazzo Serbelloni skulptiert hatte, Statuen und Cäsarenbüsten bei.

Bald konnte sich Cantoni der Aufträge kaum mehr erwehren: Wurde 1788 in Bergamo nach kurzer Bauzeit der heitere Palazzo Vailetti vollendet, so entstanden fast zeitgleich in Como die Stadtpaläste der Giovio, Mugiasca, Porro, Raimondi und Somigliana sowie Villen in der Brianza und bei Varese (darunter die monumentale Anlage der Scotti in Oreno und der neopalladianische Komplex für die Mugiasca in Mosino), aber auch Kirchen in Carate, Gorgonzola, Lomazzo, Morazzone, Ponte Lambro und im Tessiner Muggiotal. Abgesehen von diesen Sakralbauten und vom Palazzo Ducale in Genua konnte Cantoni nur wenige öffentliche Bauten errichten, darunter 1804 den Liceo von Como. Den ehrenvollen Auftrag zum Entwurf eines Pantheon degli Italiani in Mailand, den die französische Verwaltung ihm als wichtigstem Architekten der Lombardei erteilen wollte, lehnte er im Sommer 1809 aus Altersgründen ab und verwies auf seine «Schüler», von denen dann Luigi Cagnola mit einem letztlich unrealisiert gebliebenen Entwurf berücksichtigt wurde.

Cantoni hatte schon um 1795 begonnen, sich mit der Transformation seines Elternhauses in ein architektonisches Sanktuarium im heimatlichen Muggio ein Refugium zu schaffen. Vielleicht bemühte sich der für seine Zurückgezogenheit und Bescheidenheit bekannte Architekt deswegen nicht um eine Professur an der Brera, wo neben Piermarini auch der zum Arbiter elegantiarum von Mailand avancierte Luganese Giocondo Albertolli lehrte. Dennoch war Cantonis Einfluss auf jüngere Kollegen gross, so dass über Luigi Clerichetti und Giacomo Moraglia auch Lugano, das bald die Tessiner Hochburg des italienischen Widerstandes gegen Österreich werden sollte, zu vornehmen Bauten im Geiste Cantonis kam.

Vorbildliche Monographie

Nun liegt zum Schaffen von Simone Cantoni eine mit Quellenmaterialien, Gemälden, Skizzen und Plänen reich dokumentierte sowie mit neuen Farbaufnahmen von Lorenzo Mussi versehene Monographie von Nicoletta Ossanna Cavadini vor. Dank ihrer unermüdlichen Forschungsarbeit in öffentlichen und privaten Archiven sowie ihrer profunden Kenntnis der einzelnen Bauwerke gibt uns die an der Architekturakademie von Mendrisio lehrende Wissenschafterin nicht nur einen grossen Vertreter des lombardischen Klassizismus wieder. Sie versteht es darüber hinaus, ihre in einem thematisch-chronologischen Wechselspiel aufgebaute, durch viele neue Funde erhellte Werkanalyse zu einer komplexen kunstsoziologischen und gesellschaftspolitischen Epochendarstellung zu verdichten. Diese vorbildliche Publikation verhilft nicht nur einem Grossmeister des europäischen Klassizismus zu seinem Recht; sie setzt auch auf dem Gebiet der immer schnelllebiger werdenden Architekturpublizistik neue Massstäbe.

15. Oktober 2004 Neue Zürcher Zeitung

Schwarzbrot statt Patisserie

Die Basler Architekten Diener & Diener in München

Die Bauten des international angesehenen Basler Architekturbüros Diener & Diener gelten als Inbegriff der Deutschschweizer Einfachheit. Doch an die Stelle der einstigen Betonkuben treten nun vermehrt Bauten mit immateriell erscheinenden und neu auch farbigen Fassaden. All dies zeigt eine grosse Retrospektive in München.

In einer Zeit, da das Schrille, Laute und Exzentrische als Inbegriff des Neuen gilt, fallen Architekten, die sich bei jedem neuen Auftrag um eine exakt auf die städtebauliche, historische und gesellschaftliche Situation eingehende Lösung bemühen, kaum mehr auf. Dass man sich mit einem konsequent vorangetriebenen Werk aber dennoch stets von neuem Respekt und internationales Ansehen schaffen kann, beweist das Basler Büro Diener & Diener. Schon 1986 sorgten die Häuser im St.-Alban-Tal, die mit viel Gespür für den gewachsenen Kontext in einem modernen Idiom in das kleinteilige Altstadtviertel am Rhein eingefügt wurden, für kontroverse Diskussionen. Mit seinem kritisch-analytischen Ansatz machte der heute 54-jährige Roger Diener die Bauten des 1942 von Marcus Diener gegründeten Architekturbüros schliesslich zum Inbegriff einer neuen Deutschschweizer Einfachheit. Diese anspruchsvollen und oft auch unbequemen Werke, welche die Wahrnehmung des Ortes schärfen wollen, bedeuten eine Absage an alles Schnelllebige und Modische. Es erstaunt daher auch nicht, dass dieses architektonische Schwarzbrot gegenwärtig an der leichtfüssigen Architekturbiennale von Venedig nicht vertreten ist. Denn obwohl es sich auch durch eine hohe plastische Präsenz auszeichnet, hebt es sich deutlich ab von der Patisserie der heute aktuellen künstlerisch-zeichenhaften Architekturskulpturen, die sich nur allzu gerne als autistische Solitäre der Stadt verweigern.

Condition architecturale

Die mediale Vermarktung liegt Roger Diener nicht. So existiert zu seinem Œuvre noch immer keine repräsentative Werkmonographie. Das macht es schwierig, sein Schaffen in allen Dimensionen zu erfassen. Doch findet nun - nach der inhaltlich enger gefassten Zürcher Schau von 1998 - die erste Diener-Retrospektive statt, und zwar im Architekturmuseum der Pinakothek der Moderne in München. Dass es sich dabei nicht um ein Feuerwerk der Bilder handelt, versteht sich bei diesem Verfechter einer unaufgeregten, ethisch anspruchsvollen Architektur von selbst. Statt mit einer simplen Präsentation architektonischer Leckerbissen wartet die in enger Zusammenarbeit zwischen Winfried Nerdinger und dem Büro Diener entstandene Schau mit einer baslerisch intellektuell gefärbten Lektion zum Thema Architekturausstellung auf. Dabei geht es weniger um Augenlust, Spektakel oder Selbstinszenierung als vielmehr um das Reflektieren einer «condition architecturale».

Wie wichtig hier die Reflexion ist, macht schon der Spiegel klar, der am Eingang zur Schau den ersten Raum zunächst als Trugbild vorführt, bevor er als reale Gegebenheit in Erscheinung treten darf. Gezeigt werden hier «Stadtansichten», wie sie ähnlich schon in Zürich zu sehen waren. Bei den 24 tischgrossen Modellen von ganzen Stadtquartieren, auf denen die subtilen, erst aus den beigegebenen Lageplänen hervorgehenden Interventionen zunächst kaum wahrzunehmen sind, kommt das Verhältnis zwischen Einzelbau und Stadtraum, zwischen ereignishaftem Gebäude und statischem Städtebau zur Sprache. Riesige Fotos an den Wänden vermitteln zugleich einen Eindruck von wichtigen Werken und der von ihnen erzeugten Spannung im Stadtganzen. So gaben Diener & Diener dem Luzerner Hotel Schweizerhof die spätklassizistische Würde wieder, erweiterten den Komplex aber rückseitig zur Stadt hin um neue, dem Hier und Heute angemessene Baukuben, die mit ihren flaschengrün schimmernden Hüllen minimalistischen Skulpturen ähneln. Verglichen mit früheren Basler Arbeiten wie dem Geschäftshaus am Barfüsserplatz, dem Warteck-Areal oder dem Vogesen-Schulhaus, die sich in Sichtbeton, Ziegel oder Stein präsentierten, überraschen die Luzerner Kuben. Doch ihre städtebauliche Integration ist ebenso präzise wie die des in sich ruhenden Doppelwohnblocks im alten Amsterdamer Hafen.

Kernstück der Ausstellung bildet im nächsten Raum das «Archiv der Konzepte», das auf acht Tischen 67 von insgesamt rund 150 Projekten der letzten 25 Jahre präsentiert. Hier verweigern sich Diener & Diener der seit Jahrhunderten von den Architekten mit rhetorischem Geschick eingesetzten Macht der Bilder und fordern die Besucher auf, die in Mappen vorgelegten Werkdokumentationen zu studieren. Wer die Mühe auf sich nimmt, wird feststellen, dass für Roger Diener nicht nur das städtebauliche Umfeld, sondern auch die Reibung an der Geschichte wichtig ist. Sie prägte schon das Aachener Synagogenprojekt von 1991 und führte bei der Schweizer Botschaft in Berlin zu einem harten Anbau, der in Deutschland eine heftige Debatte auslöste. In Form einer Zeitungstapete präsent, veranschaulicht sie, dass die meisterhafte Strenge von Dieners Bauten oft kaum verstanden und ihre vorbildliche Einbindung in den urbanistischen Kontext nicht leicht erkannt wird.

Immaterielle Fassaden

Die Schweizer Botschaft macht auch den Auftakt zur abschliessenden Präsentation von drei Schlüsselwerken, die anhand von Ausführungsplänen, detaillierten Modellen und originalen Bauteilen einen Einblick in den Realisierungsprozess geben. Bei der bevorstehenden Erweiterung des opulenten Belle-Epoque-Monuments der Galleria d'Arte Moderna in Rom um einen ebenso sachlichen wie zeichenhaften Anbau erhält Dieners rigorose Haltung, wie sie noch bei der Schweizer Botschaft zum Ausdruck kam, einen heiteren, erfrischenden Akzent: Mit einer Vitrinen-Fassade, in welcher dereinst die aus den Depots erlösten Marmorskulpturen des 19. Jahrhunderts zu neuem Leben erwachen sollen, wird dem Musentempel ein Signet von zeitgenössischer Frische verliehen. Diese neue Architektursprache bedeutet eine Abwendung von den einst kubisch geschlossenen, nur durch unregelmässige Fensteröffnungen beseelten Bauten hin zu einer abstrakten, immateriellen Gebäudehülle. Sie kam schon in Luzern zum Zug und wird sich in dem derzeit im Bau befindlichen Novartis-Hauptsitz als farbiger, von Helmut Federle künstlerisch überhöhter Fassadenschleier manifestieren.

Bei dieser bildhaften Klimahülle handelt es sich weniger um eine verspielte Phantasie als um den Versuch, Architektur und Kunst zu einer Einheit zu verschmelzen. Dieses wichtige Bauwerk, das von der Gestaltung der Grossraumbüros bis hin zum künstlerischen Überbau auf einem dichten Ideengewebe basiert, wird auf dem neuen Basler Novartis-Campus ein Firmenzeichen setzten und gleichzeitig an die Geschichte der hier einst ansässigen Farbenindustrie erinnern. Um Erinnerung geht es aber auch bei der Transformation einer Kriegsruine in das Naturkundemuseum der Humboldt-Universität in Berlin. Über diese seit 1997 nur langsam voranschreitende Arbeit und über das Universitätsprojekt in Malmö hätte man gerne mehr erfahren. So aber bleibt die Botschaft dieser Schau, dass Roger Diener seine Architektursprache in jüngster Zeit geöffnet hat, ohne dabei den Hang zur einfachen, prägnanten Form aufzugeben. Seine Bauten dürften demnach auch in Zukunft zeigen, wie sich unspektakuläre Architektur zur starken, die Stadt bestimmenden Aussage verdichten kann.

Bis 9. Januar 2005 im Architekturmuseum der Pinakothek der Moderne in München. Katalog: Diener & Diener. Von innen und aussen bewegt. Hrsg. Winfried Nerdinger. Architekturmuseum der TU München, 2004. 87 S., Euro 14.-.

1. Oktober 2004 Neue Zürcher Zeitung

Ein Kulturzentrum am See

Ivano Gianolas Projekt für Lugano

Zwei Themen beherrschen derzeit den Architekturdiskurs: der skulpturale, Image prägende Solitär und das Bauen im Bestand. In diesem Spannungsfeld soll in Lugano das ehemalige Palace-Hotel, der vornehmste Zeuge der frühen Tessiner Tourismusgeschichte, zu einem Kulturzentrum erweitert werden. Das im Juli 2002 gekürte Wettbewerbsprojekt des für seine Um- und Ergänzungsbauten in Mendrisio, Plochingen und München bekannten Ivano Gianola aus Mendrisio umfasst sowohl ein Sanierungskonzept für die denkmalgeschützten Fassaden des Palace und dessen Umbau in ein Wohn- und Geschäftshaus als auch einen zeichenhaften Neubau - bestehend aus einem Theatersaal, einem Kunstmuseum und einer grossen Eingangshalle, die als Scharnier zwischen den kulturellen Polen, der Piazza am See und dem hangseitigen Park dienen soll.

Mit dem Bau könnte nach der Mitte Dezember stattfindenden Versteigerung der Palace-Ruine, die von einen Investor revitalisiert werden soll, begonnen werden. Dabei sind die erhofften Einnahmen von mindestens 20 Millionen Franken als Starthilfe für den auf gut 150 Millionen Franken veranschlagten Neubau gedacht. Doch nun droht dieses grösste Kulturprojekt des Tessins wegen des jüngst ins Spiel gebrachten, höchst wünschenswerten Kaufs der Villa Favorita um seinen Museumsflügel amputiert zu werden. Dass dies Gianolas Entwurf nicht nur inhaltlich, sondern auch in seiner städtebaulichen und architektonischen Aussage beeinträchtigen würde, zeigt gegenwärtig eine Ausstellung in der Villa Saroli in Lugano. Sie dokumentiert anhand von Plänen und Maquetten das von Gianola überarbeitete Projekt, dessen neues, teilweise in den Hang eingelassenes Volumen dasjenige des Altbaus weit übertrifft. An einem grossen Modell lässt sich der flexible Theatersaal studieren, der sich in ein Kino, in einen Kongressraum oder in einen Konzert- und Opernsaal verwandeln lässt. Mit zwei übereinander liegenden, entfernt an Herzog & de Meuron erinnernden Oberlichtgeschossen überrascht der Museumstrakt. Ohne diesen skulptural den neuen Platz vor dem Palace einfassenden Bauteil würde die auf erfrischende Weise von modischen Attitüden freie Anlage, die Elemente von Louis Kahn und Le Corbusier mit Ideen des Tessiner Rationalismus vereint, zum Fragment. Dabei gäbe es in Lugano mit dem städtischen und dem kantonalen Kunstmuseum, der Villa Malpensata und der Brignoni-Sammlung genügend Kunstinstitutionen, welche in den Galerien der Villa Favorita und des neuen Palace ideale Räumlichkeiten finden könnten.

Die Ausstellung ist bis 5. November montags bis freitags von 9 bis 11 Uhr 45 und von 14 bis 16 Uhr 45 zugänglich.

20. September 2004 Neue Zürcher Zeitung

Kokons und Kristalle

Venedig im Zeichen der skulpturalen Architektur

Dutzende von meist noch ungebauten Projekten mit biomorphen oder kristallinen Hüllen bestimmen das Erscheinungsbild der diesjährigen, von Kurt W. Forster ausgerichteten Architekturbiennale von Venedig (NZZ 11. 9. 04). Viele dieser Entwürfe, «die das Gebäude nicht mehr als ein statisches Objekt, sondern als eine metabolische, mit der Umwelt interagierende Einheit verstehen», erscheinen als etwas seltsam Verwandeltes, das kaum mehr traditionellen Häusern gleicht und dessen Vorbilder im Skulpturalen zu suchen sind. Diese skulpturalen Formen kreisen meist um Positionen, die seit dem frühen 20. Jahrhundert im Bereich der abstrakten Kunst - vom Kubismus bis zum organischen Surrealismus - entwickelt wurden und aus heutiger Sicht doch eher überholt erscheinen. Es ist denn auch vor allem der Massstab, der diese gigantischen Gebilde interessant macht. Doch was in Modell und Rendering spektakulär aussieht, vermag in der gebauten Realität (trotz Beizug neuster Computertechnik und innovativer Baumaterialien) meist nicht wirklich zu überzeugen. Denn anders als etwa die suggestive, 1956-62 von Eero Saarinen geschaffene Betonskulptur des TWA-Terminals in New York, erinnern Peter Eisenmans brüchig- spröde Bauten stets an Bühnenbilder. Ähnliches gilt für die riesigen, mit Titanblech umhüllten Stahlgerüste von Frank Gehrys Kulturmaschinen in Bilbao und Los Angeles. Einen Mittelweg zwischen plastischer Beton- und additiver Stahlkonstruktion strebt nun Zaha Hadid beim Wissenschaftszentrum in Wolfsburg an, das vielleicht dereinst ähnlich überzeugen wird wie der skulpturale, sich logisch aus dem Skelett heraus entwickelnde Bau des Prada Store in Tokio von Herzog & de Meuron.

Architektur und Kunst

Dieser Hang zur plastisch-skulpturalen Architektur ist an sich nichts Neues. Schon Renaissance, Manierismus und Barock kannten mit Michelangelo, Raffael, Giulio Romano und Bernini den Künstlerarchitekten; und Borromini versuchte die Architektur aus Vitruvs technisch- ästhetischem Korsett von Firmitas, Utilitas und Venustas zu befreien und sie zur expressiven Raumkunst hin zu öffnen. Doch erst das 20. Jahrhundert zelebrierte in Werken von Gaudí, Mendelsohn, Le Corbusier oder Wright den abstrakten Solitär - und dies, obwohl die moderne Architektur mit ihrem Funktionalismus der Kunst im Grunde eine klare Absage erteilt und ihr Heil im Rationalismus der Ingenieure gesucht hatte. Diesem von Vernunft geprägten Bauen sollten sich ausgerechnet Ingenieure wie Pier Luigi Nervi, Félix Candela oder Eduardo Torroja mit monumentalen Betonkonstruktionen entgegenstellen.

Wenig später wagte Minoru Yamasaki mit den stelenartigen Zwillingstürmen des World Trade Center in New York einen Dialog mit der Kunst von Minimalismus und Konzeptualismus. Ideen der Land-Art schlugen sich hingegen im Werk der 1969 von James Wines gegründeten Architektengemeinschaft SITE nieder, um dann - mit Erkenntnissen von Terragni und den russischen Konstruktivisten aufgeladen - bei Eisenman und Hadid ganz neue Aktualität zu erlangen. Etwa zur gleichen Zeit gelang es Gehry, wohl angeregt durch Kurt Schwitters Merz-Bau, mit Material- Assemblagen die sachliche Nutzarchitektur zu überwinden. Mit den Bauten und Entwürfen von Eisenman, Gehry, Hadid oder Bernard Tschumi, die Philip Johnson 1988 in einer New Yorker Ausstellung als «dekonstruktivistisch» deklarierte, wurde das Plastisch-Skulpturale zu einem Hauptthema der zeitgenössischen Baukunst.

Während bei den von Forster in den Corderie von Venedig versammelten Werken die Minimal Art, welche seit den achtziger Jahren vor allem die Deutschschweizer Architektur zu neuen Höhenflügen anregte, keine Rolle mehr spielt, bleiben dekonstruktivistisch-topographische, auf die Land-Art zurückgehende Aspekte bei Eisenmans Entwurf für ein Kulturzentrum in Santiago de Compostela oder beim Novartis-Park von Foreign Office Architects in Basel weiterhin wichtig. Das Brüchig-Topographische wirkt - neokubistisch angereichert - aber auch in Ben van Berkels Projekt für den Ponte Parodi im Hafen von Genua weiter, während es sich in dem von Lab Architecture aus Melbourne geplanten BMW-Werk in Leipzig kristallin verhärtet.

Die von Eisenmans unrealisiertem Max-Reinhard-Haus von 1992, dem 1993 von van Berkel entworfenen Möbius-Haus oder Hadids dynamischem, 1999 eröffnetem Landesgartenschau-Pavillon in Weil am Rhein angekündeten fliessenden Formen und Faltungen wurden schliesslich von Greg Lynn und Hani Rashid mit Hilfe des Computers zu gallertartig wirkenden Blob-Formen weiterentwickelt, die allerdings kaum über die organischen Plastiken von Hans Arp oder Henry Moore hinaus weisen. Vor vier Jahren sorgten die Blobs von Lynn und Rashid auf der siebten Architekturbiennale von Venedig für Aufsehen. Seither liessen sich von ihnen ungezählte junge und reifere Architekten bis hin zum Altmeister Arata Isozaki anregen. So finden sich denn in Venedig derzeit allenthalben Modelle und Entwürfe, die bald an halb verwitterte Knochen, bald an verschlungene Knoten, Kokons, Wucherungen oder gar an Gigers Aliens erinnern.

Die bis anhin vielleicht expressivsten Lösungen im Reich der Blobs fand der Niederländer Lars Spuybroek vom Büro Nox. Er entwarf nicht nur in den Himmel züngelnde Schlangentürme für New York, sondern schuf mit den gläsernen Blasen des Son-O-House in der niederländischen Kleinstadt Son en Breugel eine faszinierende Klang- und Rauminstallation, bei der die Grenzen zwischen Architektur und Kunst endgültig überwunden scheinen. Sie erinnert aber auch daran, dass schon Hans Poelzig oder Friedrich Kiesler Konzerthäuser und Theaterbauten als Raumkunstwerke sahen, die dann mit Scharouns Berliner Philharmonie und Jørn Utzons Opernhaus von Sydney ihre volle plastische Präsenz erhielten. Heute sind die Musiktempel, wie Forster in Venedig anschaulich zeigt, neben Kirchen und Museen das liebste Spielfeld der Künstlerarchitekten. Aber auch Hochhäuser bestimmen seit Yamasakis New Yorker Twin Towers und der Transamerica-Pyramide von William L. Pereira in San Francisco als skulpturale Objekte das Bild der Städte, wie ein Blick auf Norman Fosters gurkenförmigen Swiss Re Tower in London oder auf Libeskinds Entwurf des Freedom Tower zeigen.

Der Blob und die Stadt

Die meisten dieser neuen architektonischen Skulpturen verlieren sich im Formalismus. Doch aus dem sich zwischen Blob und Kristall bewegenden Einheitsbrei ragt in Venedig der Entwurf von Toyo Itos nicht realisiertem Musiktheater in Gent heraus. Hier wird ein schwammartiges strukturelles Skelett, das entfernt an einen Emmentalerkäse erinnert, von einer ruhigen gläsernen Hülle umschlossen. Auch wenn dieser Blob im Glasschrein demonstriert, wie sich amorphe Architektur in historisch gewachsene Städte integrieren lässt, stellt sich angesichts der meisten Projekte die altbekannte Frage, wie viele selbstverliebte skulpturale Monumente eine herkömmliche Stadt verkraften kann. Denn futuristisch anmutende Bauskulpturen, die als Science-Fiction- Kulissen interessant und für den akademischen Zeitvertreib anregend sein mögen, überspielen letztlich nur die wirklichen architektonischen und planerischen Probleme der Städte, die nicht nur in der Dritten Welt unter Verarmung, Verslumung, Übervölkerung oder Verkehrschaos leiden. Diese Ansiedlungen verwandeln sich zurzeit rasend schnell in wuchernde Gebilde, denen die in Venedig beschworene Metamorphose von Bauten in schöne Skulpturen wohl keine Heilung versprechen kann.

11. September 2004 Neue Zürcher Zeitung

Baukünstlerische Metamorphosen

Eröffnung der neunten Architekturbiennale in Venedig

Mit der neunten Architekturbiennale öffnet heute in Venedig die weltgrösste Architekturausstellung ihre Pforten. Unter dem suggestiven Titel «Metamorph» präsentiert der diesjährige Ausstellungsdirektor, der Schweizer Kurt W. Forster, eine Blütenlese neuer Bauten und Projekte. Gleichzeitig zeigen die Länderpavillons eigene Beiträge.

Als Venedig 1980 mit der von Paolo Portoghesi unter dem Titel «Strada Novissima» veranstalteten Ausstellung die erste Architekturbiennale durchführte, glaubte wohl kaum jemand, dass dieses im Schatten der Kunstbiennale spriessende Pflänzchen wirklich gedeihen könnte. Die folgenden drei Veranstaltungen waren denn auch nicht mehr als Provinzereignisse; und obwohl die Architekturbiennale 1991 anlässlich ihrer fünften Ausgabe einen kräftigen Anstoss erhielt, sollte es noch neun Jahre dauern, bis die mittlerweile zum architektonischen Grossanlass gewordene Veranstaltung in der siebten Ausgabe (2000) ihren Zweijahresrhythmus fand. Gleichzeitig gewann die Architekturbiennale ein gewisses intellektuelles Profil. Waren die 1996 vom damaligen Ausstellungsdirektor, dem Wiener Hans Hollein, unter dem Titel «Sensori del Futuro» in Aussicht gestellten Zukunftsentwürfe nur ein Vorwand, möglichst eigenwillige und für ein breites Publikum attraktive Bauten und Projekte vorzustellen, so suchte sein Nachfolger, der Römer Massimiliano Fuksas, im Jahre 2000 mit «Less Aesthetics, More Ethics» den architektonischen Diskurs - wenn auch wenig überzeugend - vom Formalen hin zum Philosophischen zu lenken, während sich vor zwei Jahren der Londoner Deyan Sudjic damit begnügte, künftige architektonische Realitäten zur Diskussion zu stellen.

Schwanengesang auf den Blob

Nun wäre die Zeit zweifellos reif gewesen, um mit der neunten Architekturbiennale, die heute in den Corderie und in den Giardini feierlich eröffnet wird, dem baukünstlerischen Diskurs neue Impulse zu vermitteln. Der diesjährige Ausstellungsdirektor, der von seiner Tätigkeit in Los Angeles, Montreal und Zürich her bestens ausgewiesene Schweizer Kunsthistoriker Kurt W. Forster, schien dafür ebenso ein Garant zu sein wie das von ihm gewählte Thema «Metamorph». Mit diesem auf das sich stark wandelnde Erscheinungsbild der Architektur verweisenden Begriff, der gleichermassen biologisch-physiologische, geologische und mythologische Assoziationen weckt, versprach die Architekturbiennale eine derzeit höchst aktuelle Entwicklung kritisch zu befragen, die - ohne Rücksicht auf Vitruvs «Utilitas» - Nutzbauten bald in neo-kubistische, bald neo- organische Hüllen verpackt oder sie in blubbernde Blob-Formen oder gar in Aliens verwandelt.

Doch leider erweist sich der Ausstellungstitel auch diesmal als zu hoch gegriffen. Statt wie angekündigt «die fundamentalen, in der zeitgenössischen Architektur auf den Gebieten der Theorie, der Entwurfspraxis und der neuen Konstruktionstechniken stattfindenden Veränderungen» darzustellen, begnügt sich Forster mit einer reichlich diffusen Präsentation von Werken einer für Venedig rekordhohen Zahl von rund 140 Architekturbüros, von denen gut ein Drittel aus dem angelsächsischen, aber - mit Ausnahme einiger in den USA oder in London tätiger «Exoten» - keines aus Südasien, China, Afrika oder Südamerika stammt. Dazu lässt er in den Corderie eine betörende «Symphonie» anklingen, die mit «Transformationen» einsetzt und über die heute viel diskutierten Aspekte «Topographie» und «Oberfläche» zum leider etwas flachen Finale der «Hyperprojekte» führt. Die fast unendlich lange Halle der Corderie wurde vom trendigen New Yorker Büro Asymptote, das heute im Peggy-Guggenheim-Museum mit dem Friedrich-Kiesler-Preis geehrt wird, eingerichtet: Wie venezianische Gondeln scheinen die fischförmigen Präsentationstische zwischen den schweren Säulen zu tanzen. Sie tragen eine Vielzahl von Modellen, zu denen an den Wänden auf nüchternen Bildtafeln knappe Informationen gegeben werden.

Auffällig ist, dass Forster architektonische Metamorphosen vor allem mit amorphen Bauformen in Verbindung bringt. So wird denn die Schau über weite Strecken zu einer Hymne auf Raumhüllen, die sich frei von tektonischen Gesetzen entfalten. Doch all diese Schnecken, Knoten und Zerknitterungen ermüden das Auge bald. Damit wird - ungewollt - klar, dass organische Architektur sich in der Masse gegenseitig totschlägt und so keine Städte bilden kann. Gleichzeitig erweist sich die Schau als Schwanengesang auf die angesagten Blob-Formen, die kaum je expressive Raumerweiterungen bieten.

Dies wird leider im italienischen Pavillon in den Giardini, dem zweiten Austragungsort von Forsters theoretisch-rhetorischer Vorstellung, nicht besser. Hier hat Forster - wohl um seine alten Freunde Frank Gehry mit der Disney Concert Hall in Los Angeles, Peter Eisenman mit dem Kulturzentrum von Santiago de Compostela und Rafael Moneo mit dem «Kursaal» von San Sebastián ins rechte Licht zu rücken - inhaltlich nicht ganz konsequent den Fokus auf Konzerthallen gelegt. Dabei ging es erneut mehr um die Form als um den Raum, variieren doch die meisten Säle nur Scharouns Berliner Weinberg-Prinzip. Auch wenn die exzentrischen Hüllen im Zentrum stehen, hätten Jean Nouvels Luzerner Musiktempel, Santiago Calatravas Auditorium in Santa Cruz, vor allem aber Rem Koolhaas' nahezu vollendetes Musikhaus in Porto dabei sein müssen. Ohnehin sucht man Koolhaas und (von einigen kleinen Fotos abgesehen) auch Herzog & de Meuron, die das Architekturgeschehen der letzten Jahre weitgehend dominierten, vergeblich, während man allenthalben auf verwässerte Aufgüsse ihrer Erfindungen trifft.

Stattdessen versucht Forster die jüngste Architekturgeschichte neu zu schreiben, indem er den intellektuell brillanten, architektonisch aber nicht immer überzeugenden Eisenman, der den diesjährigen Goldenen Löwen für sein Lebenswerk erhält, zum Vater aller Blobs macht und dazu - im einzigen historischen Exkurs der Schau - Unrealisiertes wie den Frankfurter Rebstockpark oder das Berliner Max-Reinhardt-Hochhaus bemüht.

Gewiss, nichts ist einfacher, als in einer Übersichtsausstellung Auswahl und Gewichtung zu beanstanden. Und dennoch drängen sich Fragen auf. Etwa die nach der sozialen oder ästhetischen Relevanz der meisten Arbeiten, nach dem Sinn der hier gepriesenen Hyperprojekte oder nach dem heutigen Stand der Architektur, die zwischen pseudokünstlerischen Attitüden, Kommerzialisierung und dem Niedergang des Handwerks zu stranden droht. Da hätte statt der Flucht in eine Flut von Exponaten die Konzentration auf Schlüsselwerke ebenso nützlich sein können wie eine vertiefte Auseinandersetzung mit der niederländischen Kreativität, dem spanischen Sinn für Grösse und Eleganz oder der Schweizer Einfachheit, Detailsorgfalt und Ökologie. Aber die unaufgeregten Schweizer sind in dem in Venedig entfachten baukünstlerischen Wirbel offensichtlich fehl am Platz. Forster hat deshalb nur gerade Gigon & Guyer, Bernard Tschumi sowie das Büro AGPS Architecture eingeladen. Dessen kubisches Doppelhaus in Zürich wirkt denn auch in den Corderie geradezu erfrischend «fremdartig».
Phantasiearme Länderpavillons

Hier hätte der Schweizer Pavillon in die Bresche springen und zeigen können, dass es zwischen Basel, Genf und Lugano noch andere interessante Architekten gibt. Doch das Bundesamt für Kultur setzte auf den Baukünstler Christian Waldvogel. Das von ihm vorgestellte utopische Projekt einer Umstülpung und Vergrösserung der Erde, das gleichermassen naiv-verspielt und unheimlich anmutet, bildet zweifellos den eigenwilligsten Beitrag zum Thema «Metamorph». Auch andere Länder haben Forsters Motto aufgenommen: So träumt Frankreich von nachhaltigen Metamorphosen der nördlichen Stadtlandschaft von Paris, während Israel unter der Überschrift «Metamorphosisrael» Neuland für Tel Aviv im Meer sucht, Lettland «geschichtlich-kulturellen Metamorphosen» nachspürt, Slowenien «Metamorphosen der Erinnerung» vorschlägt, die Niederlande ihre Verwandlung in einen hybriden Städtecluster dokumentieren, aber auch amerikanische, brasilianische und skandinavische Metamorphosen Aufmerksamkeit erheischen. Die erstaunlichste Länderschau aber nennt sich «Deutschlandschaft» und zeigt ein riesiges collagiertes Vorstadtpanorama von geradezu erschlagender Präsenz, in welches ganz subversiv neue, in unserem Nachbarland viel diskutierte Bauten integriert sind. Damit findet im deutschen Pavillon - als einzigem Ort der ganzen Biennale - auf rein visueller Ebene eine überzeugende Kritik an der Gesichtslosigkeit der wuchernden Agglomerationen und am künstlerisch-individuellen Bauen statt, die sich spielend gegen den Lärm der sonstigen Veranstaltung zu behaupten vermag.

10. September 2004 Neue Zürcher Zeitung

Sinn für das gebaute Erbe

Genua feiert den Architekten Renzo Piano

Wenn der alte Kontinent am Wochenende den Tag des Baudenkmals begeht, kann Genua als diesjährige Kulturhauptstadt Europas stolz auf die Wiederbelebung seines reichen architektonischen Erbes blicken. Glanz verströmen die vor einer Dekade von Aldo Rossi transformierte Kriegsruine des klassizistischen Opernhauses von Carlo Barabino, der sorgsam restaurierte Palazzo Ducale oder die von Ignazio Gardella in das San- Silvestro-Kloster integrierte Architekturfakultät ebenso wie - als neustes Werk - das jüngst mit einer suggestiven Ausstellung über Ozeandampfer eröffnete Museo del Mare in der vom Spanier Guillermo Vasquez Consuegra umgebauten historischen Werfthalle auf dem Ponte Parodi. Die folgenreichste Intervention aber bleibt der im Hinblick auf die Kolumbus-Feiern von 1992 nach Renzo Pianos Plänen revitalisierte Alte Hafen. Mit ihm hat die wirtschaftlich angeschlagene Stadt eine Touristenattraktion erhalten und zugleich ihren seit Menschengedenken unzugänglichen Mittelpunkt zurückgewonnen.

Ausstellung im Alten Hafen

Renzo Piano, der heute 67-jährige Architekt aus Genua, musste lange warten, bis ihm seine Geburtsstadt - nach Ausstellungen in Bonn, Riehen, Paris und Berlin - die erste grosse Werkschau in Italien ausrichtete. Nun feiert er im Alten Hafen vor der geschichtsträchtigen Kulisse der «Superba» ein triumphales Heimspiel. Austragungsort ist die Porta Siberia, das prachtvolle, zum Ausstellungsgebäude umgewidmete Renaissance-Stadttor, das einst vom Meer her Einlass ins Hafenviertel bot. Diese Toranlage wurde von Piano ebenso restauriert wie die barocken Depots und der reich bemalte Palazzo San Giorgio, der schon im 15. Jahrhundert als Bankhaus diente. Pianos Eingriffe umfassten aber auch die Umgestaltung der riesigen Baumwollspeicher in ein Kongress- und Ausstellungszentrum, den Bau des Bigo genannten Aussichtskrans und des an ein Containerschiff erinnernden Aquariums. Als grösstes seiner Art am Mittelmeer lockt es jährlich über eine Million Besucher an und zählt heute zu den Hauptsehenswürdigkeiten Italiens.

Aber auch in die Piano-Ausstellung strömen zurzeit die Besucher, darunter viele Einheimische. Sie sind stolz auf ihren Landsmann, denn zurzeit ist kein Architekt aus dem italienischen Kulturkreis - der Tessiner Mario Botta ausgenommen - weltweit so erfolgreich wie Piano und sein Building Workshop. Das zeigt die Ausstellung, für welche die einst in Bonn entwickelte Präsentation in Form eines Ateliers erweitert wurde, eindrücklich. Im Zentrum der Haupthalle steht ein riesiger Tisch, an dem man sich fast wie in Pianos hoch über der Steilküste der Punta Nave gelegenem Genueser Studio fühlt. Faksimilierte Skizzenbücher, Entwürfe, Fotos und Modelle in jeder Grösse lassen Pianos gesamtes Schaffen Revue passieren: von der genialen Hightech-Ausstellungsmaschine des Centre Pompidou, die er zwischen 1971 und 1977 zusammen mit Richard Rogers realisierte, über das De-Menil-Museum in Houston, den bei Osaka im Meer schwimmenden Kansai-Flughafen, das Kulturzentrum von Nouméa auf Neukaledonien und den Parco della Musica in Rom bis hin zu den Projekten des New York Times Building, des London Bridge Tower oder des in Bern allmählich der Vollendung entgegengehenden Klee-Museums.

Immer wieder wird dabei deutlich, dass Piano aller Technikbegeisterung zum Trotz ein klassischer Baumeister ist, der für jede Aufgabe eine neue Lösung sucht und findet. Als solcher nähert er sich mit viel Sensibilität dem architektonischen und städtebaulichen Kontext, sei es in Umbauten wie dem Paganini-Auditorium in Parma oder dem Lingotto in Turin, sei es bei der Integration des Beyeler-Museums in die Parklandschaft von Riehen oder eines Wolkenkratzers in die Skyline von Sydney. Neben meisterhaften Museumsbauten oder dem eleganten San-Nicolao-Fussballstadion von Bari schufen Piano und seine Büros in Genua und Paris aber auch weniger überzeugende Arbeiten. Zu nennen wären einige der Häuser am Potsdamer Platz in Berlin, das Wissenschaftsmuseum in Amsterdam oder die vor wenigen Wochen eingeweihte Pater-Pio-Wallfahrtskirche im apulischen San Giovanni Rotondo.

Neue Visionen für Genua

Zu den Höhepunkten aus genuesischer Sicht aber zählt ein grosses, durch eine separate Publikation dokumentiertes Restrukturierungsprojekt für den gesamten Küstenbereich der ligurischen Metropole. Piano, der Architektur und Städtebau als eine Kunst zwischen Ökologie, Soziologie und Formgebung versteht, schlägt darin den Abriss der hässlichen Hafenhochstrasse und den Bau neuer S-Bahn-Verbindungen ebenso vor wie schattige Promenaden, Parks und die Schaffung einer Flughafeninsel. Gleichzeitig visioniert er mit dem auf dem Erzelli-Plateau hoch über Sampierdarena zu errichtenden Stadtteil Leonardo ein formal zwischen Flugzeugträger und Raumstation oszillierendes, in eine mediterrane Parklandschaft eingebettetes Technologiezentrum, das zu Genuas neustem architektonischem Aufbruchssignal werden könnte.

Bis 31. Oktober in den Ausstellungsräumen der Porta Siberia im Alten Hafen von Genua.

20. August 2004 Neue Zürcher Zeitung

Hofhäuser unter Kokospalmen

Der Architekt Geoffrey Bawa aus Sri Lanka in Frankfurt

Mit seinem modernen Regionalismus wurde Geoffrey Bawa (1919-2003) aus Sri Lanka für die Architekten in ganz Südasien zum Vorbild. Nun präsentiert das Deutsche Architekturmuseum in Frankfurt das Werk des in Europa kaum bekannten Baukünstlers.

Mit abendländischer Überheblichkeit glauben wir Europäer nur zu gerne, dass in Afrika und Asien - Japan ausgenommen - höchstens zweitklassige, mit lokalen Bauformen camouflierte oder aber banale Architektur betrieben wird. Um diese Annahme zu widerlegen, liessen sich neben dem Ägypter Hassan Fathy und dem Inder Charles Correa viele bedeutende Baukünstler aufzählen - bis hin zum Malaysier Ken Yeang, dem Vordenker eines ökologischen High Tech für die Tropen. Einer der engagiertesten und meistbewunderten Architekten Südasiens war der im Mai 2003 verstobene Geoffrey Bawa aus Sri Lanka. Er machte sich zeitlebens für einen klar durchdachten modernen Regionalismus stark, der auf einer kreativen Verschmelzung neuster architektonischer Erkenntnisse mit der baukünstlerischen Tradition seines Heimatlandes basierte.
Liebe zur Tradition

Der 1919 in Colombo geborene Bawa, der von alteingesessenen - väterlicherseits arabischen und mütterlicherseits holländischen - Einwanderern abstammte, liess sich zunächst zum Juristen ausbilden, bevor er in den frühen fünfziger Jahren an der Architectural Association in London studierte. Nach seiner Rückkehr ins damalige Ceylon konnte er die etablierte Architekturfirma Edwards Reid and Begg übernehmen. Zusammen mit seinem langjährigen dänischen Partner Ulrik Plesner formulierte er Anfang der sechziger Jahre das Vokabular einer auf die Bedürfnisse Sri Lankas ausgerichteten Moderne. Neben Villen, in denen Bawa eine überzeugende Verbindung des kolonialen Bungalows mit dem klassischen Hofhaus gelang, entstanden so unterschiedliche Werke wie die burgartige Klosterkirche in Bandarawela (1962), das Bishop's College mit den gitterartigen Sonnenblenden in Colombo (1963), ein Stahlwerk mit filigranen Betonfassaden in Oruwela (1969), der schwimmende buddhistische Seema-Malaka- Tempel in Colombo (1978), das aus mehreren in einem künstlichen See gelegenen Pavillons bestehende Parlamentsgebäude in Kotte bei Colombo (1982) oder die 1988 wie ein altportugiesisches Städtchen zwischen Hügeln und Meer arrangierte Ruhunu-Universität in Matara.

Das natürlich belüftete zwölfgeschossige Gebäude der State Mortgage Bank von 1978 in Colombo, das Ken Yeang als «das wohl weltweit beste Beispiel eines bioklimatischen Hochhauses» bezeichnete, ist mit seinem komplex verwinkelten Grundriss heute wieder voll im Trend. Und das leider nicht realisierte, streng kubische Hilton- Hochhaus (1967) mit den organischen Fassadendekorationen könnte man als einen Entwurf von Herzog & de Meuron halten. In seinem eigenen, durch ein modernes Raumkontinuum geprägten Hofhaus in Colombo und in seinem von europäischen Gärten inspirierten Landsitz Lunuganga in Bentota verwirklichte er den Traum vom tropisch- eklektischen Wohnen. Gleichzeitig strebte er in diesen lyrischen Gesamtkunstwerken nach der Einheit von From, Material und Raum. Hier integrierte Bawa aber auch ganz harmonisch Architekturteile von zerstörten Altbauten - eine Vorliebe, die er mit dem Bündner Rudolf Olgiati und dem kanarischen Baukünstler César Manrique teilte. Wie Manrique hegte Bawa zudem ein unermüdliches Interesse für den Bautyp Hotel, das zu Meisterwerken wie dem «Triton»-Hotel in Ahungalla (1982) oder dem an eine Star-Wars-Stadt erinnernden «Kandalama»-Hotel in Dambulla (1994) führte. Mit diesen sensibel in die Küsten- und Berglandschaften eingefügten Anlagen verwirklichte er für ungezählte Touristen das Idealbild des Ferienparadieses Sri Lanka.
Zurück zur Moderne

Nach einer Krise, die bedingt war durch die Auflösung seines bisherigen Büros, fand Bawa in den neunziger Jahren zu einer minimalistischen Moderne, die sich in geometrisch einfachen Hotels, vor allem aber in der hoch über dem Meer bei Mirissa gelegenen Villa Jayewardene manifestierte - einer gebauten Hymne auf die Transparenz der Moderne und die Schönheit der Natur, die vom Sri Lanker Michael Ondaatje in einem Gedicht verewigt wurde. Ähnlich klar und stimmungsvoll wie dieses architektonische Meisterwerk gibt sich zurzeit die grosse Bawa-Retrospektive im Deutschen Architekturmuseum in Frankfurt, zu der ein hervorragender Œuvrekatalog sowie ein kleines Begleitbuch vorliegen.

Mit Originaldokumenten, Modellen, suggestiven Fotografien, Kunstwerken und bald exotisch, bald modernistisch anmutenden Möbeln gelingt es der vergleichsweise konventionell inszenierten Ausstellung, eine Vorstellung von der Welt zu vermitteln, in der Bawa als Grenzgänger zwischen den Kulturen eine eigene südasiatische Formensprache entwickelte. Diese poetische Architektur, die auf vor Ort gefundene Materialien und auf klimatisch und kulturell bedingte Bauelemente setzte, aber den Raum ganz neu interpretierte, liess sich auch an die Erfordernisse anderer Länder anpassen. So wurden die 1975 von Bawa entworfenen Batujimbar-Häuser in Sanur auf Bali zum Inbegriff eines «balinesischen Stils». Heute gilt Bawas Architektur in ganz Südasien als vorbildlich. Hierzulande aber ist sie noch immer kaum bekannt, obwohl sie eindrücklich beweist, dass Schönheit und Feingefühl in der Architektur ebenso wichtig sind wie avantgardistische Theorien und Recherchen.

[ Bis 17. Oktober. Œuvrekatalog: Geoffrey Bawa. The Complete Works. Hrsg. David Robson. Tahmes & Hudson, London 2004. 278 S., Euro 67.- (in der Ausstellung). - Begleitpublikation: Bawa. Genius of the Place. An Architect of Sri Lanka. Deutsch und englisch. Hrsg. David Robson und Ingeborg Flagge. Deutsches Architekturmuseum, Frankfurt 2004. 111 S., Euro 12.-. ]

26. Juli 2004 Neue Zürcher Zeitung

Baltischer Architekturaustausch

Eine Ausstellung in Helsinki

Um 1900 bescherte eine Wirtschaftsblüte den Ostseestädten Helsinki, Riga, St. Petersburg, Stockholm und Tallinn einen architektonischen und urbanistischen Boom. Eine Ausstellung in Helsinki widmet sich nun diesen Erfolgsgeschichten, aber auch dem spannenden baukünstlerischen Austausch zwischen den baltischen Metropolen.

Obwohl unter kühlen Himmeln liegend, ist Helsinki eine klassische Stadt. Dominiert wird sie von der tempelartigen Kathedrale, die Carl Ludwig Engel im frühen 19. Jahrhundert im Auftrag von Zar Alexander I. mit den Säulenhallen von Senatspalast, Rathaus, Universität und Bibliothek zu einem grandiosen Forum vereinte. Die Holzhäuser, welche zur selben Zeit innerhalb des schachbrettartigen Strassenrasters entstanden, mussten hingegen nach und nach den monumentalen spätklassizistischen Wohn- und Verwaltungsbauten von Gustav Nyström und Carl Theodor Höijer weichen. Um 1900 wurde die Stadt, die bis zum Ersten Weltkrieg als Regierungssitz des Grossherzogtums Finnland zu Russland gehörte, das Zentrum einer durch Jugendstil, Nationalromantik und Neuklassizismus bestimmten baltischen Frühmoderne. Diese strahlte bald in die anderen Ostseemetropolen aus und weckte selbst in Zentraleuropa noch Interesse. Diesem erstaunlichen Phänomen geht nun im Finnischen Architekturmuseum in Helsinki eine Ausstellung mit dem Titel «Architecture 1900» nach. Gleichzeitig beleuchtet die von einem hübschen, nostalgisch-albumartigen Katalog begleitete Schau mittels historischen Plan- und Fotomaterials, Dokumenten sowie einiger Modelle die baukünstlerische und urbanistische Erneuerung von vier weiteren durch Wirtschaftsblüte und Bevölkerungswachstum geprägten Ostseestädten: Riga, St. Petersburg, Stockholm und Tallinn.

Der Erfolg der Nationalromantik

Seinen Anfang genommen hatte der architektonische Aufbruch in Stockholm, wo - in einer Zeit der Rückbesinnung auf Vasa-Renaissance und schwedischen Barock - Ferdinand Boberg 1892 ein vom amerikanischen Neuerer Henry Hobson Richardson inspiriertes, burgartig massives Elektrizitätswerk schuf. Kurz danach vollendete dort Isak Gustaf Clason den nüchternen, nur von wenigen neugotischen Dekorationen belebten Hallwyl-Palast. Dessen Sprache wirkte sich in Helsinki auf die Wasa-Aktie-Bank von Grahn, Hedman & Wasastjerna (1899) sowie auf das von Selim Lindqvist im Geist der Chicagoer Schule konzipierte Lunqvist-Geschäftshaus aus. Selbst Höijer wich von seinem antikisierenden Vokabular ab und errichtete 1897 das in der Ausstellung gut dokumentierte Norrmén-Haus. Dieser Bau, der mit seinen Türmchen und Giebeln einen Fremdkörper in Helsinkis klassizistischer Hafenfront darstellte, musste 1960 dem sachlich-klassischen Enso-Gutzeit-Haus von Alvar Aalto weichen - was letztlich zeigt, dass in der finnischen Hauptstadt architektonisch bis heute ein klassizistischer Geist tonangebend ist.

Dennoch sollte - als fruchtbares Intermezzo - die bei Richardson und dem frühen Boberg, bei der Arts-&-Craft-Bewegung und dem Jugendstil, vor allem aber bei der finnischen Tradition anknüpfende Nationalromantik um 1900 Triumphe feiern. Als Inbegriff dieser neuen Strömung, in der sich die finnische Sehnsucht nach staatlicher Unabhängigkeit manifestierte, galt der schwere, aus Granit realisierte Pohjola-Versicherungspalast von Eliel Saarinen, Herman Gesellius und Armas Lindgren an der zentralen Aleksanterinkatu. Dieses Trio, das sich schon bald auseinander leben sollte, sowie ihm nahestehende Architekten wie Selim Lindqvist und Lars Sonck bauten Villen, Stadthäuser, ganze Wohnquartiere, Verwaltungssitze sowie das kathedralartige Nationalmuseum in diesem neuen Stil.

Strahlte der Entwurf von Soncks Kallio-Kirche bis nach Stockholm aus, wo Israel Wahlman 1906 mit der Engelbrekt-Kirche ein erstaunlich ähnliches Projekt vorlegte, so sicherten sich seine Kollegen über Wettbewerbe vermehrt auch Aufträge in Tallinn. Neben den von Lindgren und Saarinen realisierten öffentlichen Gebäuden wurden in der estnischen Hauptstadt vor allem Jacques Rosenbaums zwischen finnischer Nationalromantik und St. Petersburger Jugendstil oszillierende Bauten zu einem den Zeitgeist verkörpernden Element. Die Nationalromantik fand ihren Niederschlag aber auch im Rigaer Jugendstil von Aleksandrs Vanags sowie in den phantastischen Bauwerken des Exzentrikers Eugen Laube, während Mikhail Eisensteins lettisches Neo-Rokoko dem Petersburger Vorbild von Alexander Dmitriyev folgte. An der Newa selbst waren es Architekten wie Fredrik Lidvall und Ippolit Pretro, die unter finnischem Einfluss einen der Nationalromantik nahe stehenden Jugendstil entwickelten.

Doch diese irrational-malerische Architektur war nicht wirklich tief im nordischen Denken verwurzelt, weshalb bald rationalistische und neuklassische Strömungen dagegen anzukämpfen begannen. In Finnland entzündete sich früh schon die Debatte: Anlässlich des Wettbewerbs für den neuen Hauptbahnhof, den Saarinen 1904 mit einem nationalromantischen Projekt für sich entschieden hatte, forderte Sigurd Frosterus in einem Pamphlet eine Architektur der Vernunft. Saarinen überarbeitete daraufhin sein Projekt und schuf damit eines der ersten wirklich modernen Gebäude, das schnell zu einer Ikone der europäischen Baukunst des 20. Jahrhunderts werden sollte. Bereits vor der Vollendung dieses Bahnhofs, der des Krieges wegen erst 1919 eröffnet werden konnte, errichtete der zum Rationalisten gewordene Saarinen 1912 die wuchtige Credit-Bank in Tallinn und widmete sich danach vermehrt dem Städtebau, wie in der Ausstellung etwa seine Visionen für Gross-Tallinn (1913) zeigen.

Rückkehr zum Klassizismus

Aber nicht nur die Finnen wandten sich einem modernen Klassizismus zu, der in Soncks Bauten wohl seine eigenwilligste Ausformung erreichte. Laube verlieh 1913 dem Rigaer Hypotheken-Verein eine strenge Tempelfront, während Lidvall in St. Petersburg zur gleichen Zeit, als Behrens die Säulenfront der deutschen Botschaft baute, in seinem Tolstoi-Wohnblock vom Jugendstil zu einer fast schon die italienische Novecento-Architektur vorwegnehmenden Formensprache fand. In Stockholm schliesslich sollte Gunnar Asplund etwas später zum überragenden Meister der neuklassizistischen Moderne werden. Damit waren die baltischen Zentren weiterhin auf der Höhe der Zeit, die fast weltweit eine Abwendung von den Kapricen des Jugendstils und des Expressionismus hin zu einer rational geprägten Architektur der Ordnung sah.

[ Bis 26. August im Finnischen Architekturmuseum in Helsinki, anschliessend in Stockholm und Visby. Katalog: Architecture 1900. Stockholm, Helsinki, Tallinn, Riga, St. Petersburg. Englisch. Hrsg. Jeremy Howard. Museum für Estnische Architektur, Tallinn 2003 (ISBN 9985-9400-5-9). 127 S., Euro 26.-. ]

9. Juli 2004 Neue Zürcher Zeitung

Düstere Denkmäler und lichte Paläste

Der italienische Architekt Giuseppe Terragni in Como

Obwohl Giuseppe Terragni nur 39 Jahre alt wurde, gilt er als der wichtigste italienische Architekt des 20. Jahrhunderts. Anlässlich seines 100. Geburtstags feiert ihn nun seine Heimatstadt Como mit einem Veranstaltungsreigen, wagt es aber nicht, Terragnis Begeisterung für einen modernistisch ausgerichteten Faschismus kritisch zu beleuchten.

Lange musste er warten, bis seine Heimatstadt sich voll zu ihm bekannte: Doch 61 Jahre nach seinem Tod steht Como ganz im Zeichen von Giuseppe Terragni, dem grössten italienischen Architekten des 20. Jahrhunderts. Zwar fand hier schon 1949 eine von Pietro Lingeri inszenierte Terragni-Retrospektive statt, die sogar Le Corbusier überzeugte, und 1989 feierte Como seinen Sohn im Kontext des europäischen Rationalismus. Gleichwohl trug man schwer am Erbe dieses Architekten, der souverän mit den Grossmeistern der internationalen Moderne wetteiferte und dennoch ein glühender Anhänger der vom Duce propagierten, anfangs durchaus noch modernistisch ausgerichteten Italianità war. Man versuchte daher lange, den faschistischen Makel, der Terragnis Bauten anhaftete, zu überspielen, und verwies auf die Begeisterung, die seine Bauten in der Kulturwelt - von Peter Eisenman bis Günther Förg - auslösten. Denn kein anderer Architekt prägte Como so sehr wie Terragni, sieht man einmal ab vom Tessiner Frühklassizisten Simone Cantoni und dessen Stadtpalästen in der Via Volta sowie der grandiosen Villa dell'Olmo am See. Terragnis Hauptwerk, die Casa del Fascio, schönten die Comasker, erfüllt von Stolz und Scham, zur «Casa Terragni», lobten aber die heitere Poesie des Kindergartens, der nach einem anderen Sohn der Stadt, dem allzu jung im Ersten Weltkrieg gefallenen Architekten Antonio Sant'Elia, benannt ist.

Heitere Jubiläumsfeierlichkeiten

Noch ganz im Zeichen Sant'Elias standen die frühen futuristischen Entwürfe Terragnis, von denen zwei - ein Gaswerk und eine Fabrikanlage - den Eingang zur Schau «Terragni, Architetto europeo» in der ehemaligen Chiesa San Francesco markieren. Diese Ausstellung bildet gleichsam das Rückgrat der Festivitäten, die seit Terragnis 100. Geburtstag am 18. April (NZZ 18. 4. 04) die Stadt beleben. So wurden eigens Schilder an dreizehn Bauten - vom grossbürgerlichen Wohnblock Novocomum bis zum Arbeiterhaus in der Via Anzani - angebracht, Vortragszyklen veranstaltet, Konzerte im Teatro Sociale gegeben und ein Informationszentrum im mittelalterlichen Broletto neben dem Dom eingerichtet. Zudem findet bis zum 26. September allabendlich im Atrium der Casa del Fascio (wie die Ikone heute wieder heisst) eine Licht- und Bildschau zu deren Genese und Wirkungsgeschichte statt.

Auch wenn Como wie kein anderer Ort das Studium Terragnis direkt vor seinen besten Bauten ermöglicht, so lohnt sich ein Besuch der Hauptausstellung in der Chiesa San Francesco am Largo Spallino doch. In ihrer Konzeption knüpft sie an die Schau von 1949 an, bei der Terragnis Freund und Mitarbeiter Lingeri mittels einer transparenten Installation nicht das Einzelwerk, sondern die Wechselbezüge zwischen Bauten und Ideen, kurz den Kosmos des Architekten in den Mittelpunkt stellte. Die gegenwärtige Ausstellung folgt Lingeris hermetischer, auf sich selbst bezogener Inszenierung, indem sie Terragnis Werk einzig anhand von Plänen, Zeichnungen, Modellen und Fotografien sowie Originalzitaten des Meisters und seiner Mitstreiter (in Italienisch und Englisch) erklärt und es dem Besucher überlässt, sich aus dem Gesamtkontext heraus sein eigenes Bild zu machen. So lassen sich peinvolle Klippen mit Anspielungen umschiffen: etwa bei dem in einem schwarz glänzenden Schrein präsentierten spätfuturistischen Selbstbildnis, auf dem sich Terragni als Kanonen befehligenden (und somit potenziell Häuser und Menschen zerstörenden) Offizier darstellt.

Während im Hauptraum auf der einen Seite die wichtigsten Arbeiten vom frühen Umbau des Hotels «Métropole Suisse» bis hin zur genialen Casa Giuliani-Frigerio von 1940 anhand von neuen Farbaufnahmen dokumentiert werden, verdeutlichen auf der gegenüberliegenden Wand faksimilierte Zeichnungen Terragnis Aneignung der Welt. Im Zentrum des Saals aber wurde eine Art Spiegelkabinett mit originalen Präsentationszeichnungen und Modellen eingerichtet. Dieses soll wohl einerseits auf Terragnis Traum vom transparenten gläsernen Haus anspielen, anderseits mittels dynamischer Sichtachsen die Gesamtschau erleichtern. Hier offenbart sich, von Sirenenklängen begleitet, der kreative Zwiespalt eines Architekten, der gleichermassen Kriegsdenkmäler, die von der romanischen Architektur Comos und vom manieristisch übersteigerten Neuklassizismus der Novecento-Bewegung beeinflusst sind, und moderne, einer dezenten Polychromie verpflichtete Wohnhäuser schuf. Die Schau kulminiert in einer visuellen Analyse der Casa del Fascio, die in ihren vier unterschiedlichen Fassaden und dem komplex geschichteten Atrium mediterrane Traditionen mit modernen Vorstellungen vereint.

Dunkles Ende mit Lichtblick

Danach führt ein mit Kriegsfotos und Terragnis Zeichnungen von der russischen Front tapezierter Korridor, in welchem wohl die mutmassliche Läuterung des politisch irregeleiteten Wunderkinds angedeutet werden soll, zu den späten Projekten, die in der verdunkelten Apsis zu sehen sind. Hier trifft man auf das zweifellos gegen Piacentinis Monumentalismus gerichtete, gleichwohl aber nicht antifaschistisch zu nennende Projekt des Palazzo Littorio in Rom (1937) sowie auf die letzte Vision des krank von der Front Zurückgekehrten. Sie stellt eine sich aus dem Korsett des strengen Rationalismus lösende Kathedrale mit einem sphärisch gewölbten Dach dar, die kurz vor Terragnis plötzlichem Tod am 19. Juli 1943 wie ein nicht mehr einzulösendes Versprechen an eine sich ihm entziehende Zukunft erscheint. Den Ausklang der Schau bilden sechs Porträts des auch künstlerisch begabten Terragni, deren schwermütige Palette mit der subtilen Farbigkeit der Bauten in Bezug gebracht wird. Hier keimt eine Melancholie auf, die Como demnächst mit einer denkmalhaften Arbeit von Dan Graham vertreiben will. Wenn dessen «Half Square - Half Crazy» genannter Pavillon aus Glas und Stahl am 16. Juli vor der Casa del Fascio installiert sein wird, dürfte ein weitgehend rehabilitierter Terragni vom «Architetto italiano» nicht nur zum «Architetto europeo», sondern endgültig zum Heros der Moderne aufgestiegen sein.

[ Die Ausstellung in der Chiesa San Francesco dauert bis zum 30. November (www.gt04.org). Begleitpublikation: Atlante Terragni. Italienisch und englisch. Hrsg. Attilio Terragni und Daniel Libeskind. Skira, Mailand 2004. 276 S., Euro 55.-. ]

5. Juli 2004 Neue Zürcher Zeitung

Weisse Segel und Säulenhallen

Der dänische Architekt Jørn Utzon im Louisiana Museum in Humlebæk

Das Jahrhundertwerk des Opernhauses von Sydney machte Jørn Utzon früh berühmt. Bald danach wurde es jedoch stiller um den Architekten, obwohl er in Kuwait und in Dänemark weitere Meisterleistungen realisierte und für Zürich eine Theater-Akropolis entwarf. Nun widmet ihm das Louisiana Museum in Humlebæk eine Retrospektive.

Sein grösster Triumph wurde auch zu seiner schwersten Bürde. Nachdem der 1918 in Kopenhagen geborene Jørn Utzon als 38-jähriger Architekt im Wettbewerb für ein Opernhaus in Sydney mit einem spektakulären Entwurf und dank der Weitsicht des Jurymitglieds Eero Saarinen gesiegt hatte, schien einer gloriosen Karriere nichts mehr im Weg zu stehen. Er wurde eingeladen, Projekte für ein neues Opernhaus in Madrid (1962), ein Schauspielhaus in Zürich (1964) oder ein Theater in Wolfsburg (1965) einzureichen. Diese Entwürfe blieben Makulatur, obwohl er in Zürich mit einem aufsehenerregenden, vom Pfauen zur Kantonsschule hin ansteigenden Podiumsbau den ersten Preis erzielte. Auch in Sydney lief wegen politischer und bürokratischer Intrigen bald nichts mehr wie erhofft, so dass Utzon 1966 im Zorn die Stadt und sein Projekt verliess. Nicht einmal zur Einweihung des 1973 vollendeten Meisterwerks, das schnell zum Wahrzeichen eines Kontinents und zum Kronjuwel der Baukunst des 20. Jahrhunderts avancieren sollte, kehrte er nach Australien zurück. Da half auch die ihm vom Royal Australian Institute of Architects dargereichte Goldmedaille nichts. Utzon hatte sich zu jener Zeit bereits nach Mallorca zurückgezogen, von wo aus er fortan im Stillen wirkte. Dies erklärt auch, warum bis zum Erscheinen von Richard Westons monumentaler Monographie vor zwei Jahren keine fundierte Publikation über sein Werk existierte. Selbst die zeitgenössische Architekturgeschichte klammerte sein Schaffen bis auf das Opernhaus weitgehend aus. Erst unsere für Brüche offenere Zeit machte es möglich, dass Utzon im vergangenen Jahr den begehrten Pritzker-Preis erhielt. Mit dem Alter milde geworden, liess Utzon sich nun sogar dazu bewegen, an der Restaurierung und am Umbau des innen nicht nach seinen Plänen verwirklichten Opernhauses von Sydney mitzuwirken.
Klassisch und organisch

In diesem Denkmal einer organischen Moderne, das im Zeichen der heutigen Blob-Architektur ganz neue Aktualität erhält, erwies sich Utzon als virtuoser Eklektiker, der die Kunst des Schiffbaus mit der Betonarchitektur von Maillart und Nervi zu verbinden und die Theorien Le Corbusiers mit den fliessenden Bauformen Frank Lloyd Wrights und Saarinens zusammenzubringen wusste. Der eigentliche Clou des Opernhausprojektes war das für die Infrastruktur und die Eingangsfoyers des Musikpalastes genutzte Podium, auf dem Utzon hoch über Sydneys Hafen die geblähten Segel, in denen sich Opern- und Konzertsaal befinden, hissen konnte. Dieses über steile Treppen erreichbare Podest wird gemeinhin mit Utzons Studium der Maya-Tempel im Jahre 1949 in Mexiko zusammengebracht. Dabei wird übersehen, dass der stark vom Klassizismus Kopenhagens geprägte Architekt 1945 kurz in Helsinki bei Alvar Aalto gearbeitet hatte. Damals muss ihn auch die Kathedrale von Carl Ludwig Engel beeindruckt haben, die auf einem Sockel, zu welchem eine steile Treppenwand hinaufführt, hoch über der Innenstadt thront. Die weissen Säulenhallen dieses Tempels haben sich in Sydney dann ganz offensichtlich in segelartige Formen verwandelt.

Um die damals (ohne heutige Computertechnik) höchst aufwendige Umsetzung dieser Riesensegel, die er schliesslich mit weissen Fliesen verkleiden liess, bemühte sich Utzon seit den späten fünfziger Jahren zusammen mit dem Ingenieur Ove Arup. Gleichzeitig realisierte er in Elsinore und Fredensborg zwei Wohnsiedlungen, bei denen ihm das griechisch-römische Atrium- und das chinesische Hofhaus als Vorbilder dienten. Diese Spannung zwischen klassischer und organischer Formgebung, zwischen Miniaturstadt und skulpturalem Solitär, dominiert auch die vom Meister selbst mitkonzipierte Ausstellung im Louisiana Museum in Humlebæk. Sie setzt - erwartungsgemäss - mit einer fulminanten Präsentation des Opernhauses von Sydney ein und veranschaulicht die komplexe künstlerische, technische und politische Genese dieses Jahrhundertwerks mit Filmen, Fotos, Modellen, Plänen und Dokumenten. Daneben müssen die anderen Arbeiten gezwungenermassen etwas zurücktreten. Gleichwohl erfährt man, dass Utzon schon 1953 beim Entwurf des zwischen Wright-Hochhaus und Pagode oszillierenden Langelinie-Pavillons in Kopenhagen sich mit organischer Architektur befasste. Dieser magische, wie ein riesiger Brunnen wirkende Turm aus Beton und Glas wurde jedoch nicht gebaut. So vergab die Stadt die Chance, ein Meisterwerk von Utzon ihr eigen nennen zu können. Verwirklicht wurde zwischen 1968 und 1976 hingegen im nahen Bagsværd eine grandiose Kirche, die in ihrem leisen Äusseren dem dänischen Klassizismus ebenso verpflichtet ist wie der einfachen Industriearchitektur, während das Innere von einer wogenden, das Licht modellierenden Betondecke beherrscht wird.
Vision und Intuition

Der erste Grossbau, bei dem klassische Geometrien und gezielte Lichtführung im Zentrum standen, war aber die 1960 vollendete Bank Melli in Teheran, bei der Utzon seine Analysen orientalischer Basare einfliessen liess. Dennoch ist Utzon weniger ein Theoretiker als vielmehr ein Visionär, der in seinen architektonischen Kompositionen intuitiv nach gezielten Lösungen für neue Orte, Aufgaben und Menschen sucht. Dies zeigt etwa der im Ersten Golfkrieg beschädigte Palast der Nationalversammlung in Kuwait (1972-82), bei dem er vom Zelt über den Hofgarten bis hin zur überdachten Strasse arabische Bautraditionen aufnahm und sie in eine moderne Form aus vorgefertigten Betonelementen giessen liess. Das sich hier, aber auch in anderen Bauten manifestierende seriell-additive Vorgehen führte ihn zur Erfindung des intelligenten Fertighaus-Systems «Espansiva». Additiv gedacht sind aber auch seine beiden Villen auf Mallorca, die Can Lis von 1974 und die Can Feliz von 1995, die sich mit Säulen, Ziegeldächern und Peristylen fast wie pompejanische Herrensitze bald hoch über der Felsenküste, bald verborgen im Pinienhain erheben. Ihr Neoklassizismus findet ein Echo im wenig geglückten postmodernen Möbelhaus «Pausistan» (1987), welches er zusammen mit seinen Söhnen konzipierte. Die Zweifel an Utzons Meisterschaft, die hier aufkeimen, werden am Ende der Schau dann mit dem Entwurf für eine 1963 von Asger Jorn initiierte, leider aber nicht ausgeführte Erweiterung des Kunstmuseums von Silkeborg völlig ausgeräumt. Dieses weitgehend unter der Erde sich ereignende, ebenso musikalisch wie skulptural gedachte Raumwunder beweist, dass Utzon weit über das rein Architektonische hinaus ein Künstler ist.

[ Bis 29. August. Katalog: Jørn Utzon. The Architect's Universe. Louisiana Museum, Humlebæk 2004. 95 S., dKr. 148.- (ISBN 87-90029-93-3). - Ausserdem: Richard Weston: Utzon. Edition Bløndal, Hellerup 2002. 432 S., Fr. 250.-. ]

2. Juli 2004 Neue Zürcher Zeitung

Humane Baukunst

Richard Leplastrier erhält den Spirit of Nature Award

Die jüngsten Architekturtrends lassen auf den ersten Blick herkömmliche Baumaterialien als überholt erscheinen. Doch Werke wie die Kirche, die das junge finnische Architekturbüro JKMM zurzeit in Vikki, einer neuen, ökologisch konzipierten Vorzeigestadt im Nordosten Helsinkis realisiert, zeigen, dass man Bauten mit blobartig- organischen Aussenformen durchaus auch aus Holz herstellen kann. Die JKMM-Architekten benutzen dazu biegbare Balken, die sie - ganz ähnlich wie der finnische Nachwuchsstar Ville Hara bei seinem knochenförmigen Aussichtsturm im Zoo von Helsinki - zu korbartigen Hüllen verflechten. Darüber wird eine Haut aus Schindeln gezogen, die den unregelmässig gekrümmten Oberflächen ebenso gut folgt wie ein dank den Mitteln der Raumfahrtindustrie computertechnisch gebogenes Blech- oder Kunststoffelement.

Während der kreative Nachwuchs im Norden demonstriert, dass der Werkstoff Holz, welcher sich wie kaum ein anderer durch umweltfreundliche Eigenschaften auszeichnet, auch in komplexen Bauverfahren verwendet werden kann, setzt die finnische Holzindustrie neuerdings auf einen Preis, um auf die vielfältigen Möglichkeiten von Bau-, Sperr- und Schichtholz in der Architektur aufmerksam zu machen. Seit dem Jahr 2000 vergibt die von ihr getragene Finnish Forest Foundation zusammen mit der Wood in Culture Association den ökologisch ausgerichteten Spirit of Nature Award, welcher vergleichbar hohe Ansprüche geltend macht wie die ebenfalls von einer finnischen Institution vergebene Aalto-Medaille. Vor vier Jahren war Renzo Piano für seine technologische Erforschung des Baumaterials Holz als Erster mit dem Spirit of Nature Award ausgezeichnet worden; im Jahr 2002 ging dann die Ehrung an den Japaner Kengo Kuma, der unter anderem für seine Neuinterpretationen herkömmlicher Holzbautechniken bekannt ist. - Einen globalen Anspruch kann der mit 50 000 Euro dotierte Preis seit neustem geltend machen, wurde er doch anlässlich der World Conference in Timber Engineering (WCTE) Mitte Juni in der vor vier Jahren eingeweihten Sibelius-Halle von Lahti - einer kistenartigen, in Holz und Glas gehaltenen Erweiterung eines Backsteingebäudes am malerischen Vesijärvi-See - dem 1939 in Melbourne geborenen Architekten Richard Leplastrier übergeben. Ähnlich wie sein drei Jahre älterer, mit der Aalto-Medaille von 1992 und dem Pritzker-Preis von 2002 dekorierter Landsmann Glenn Murcutt fand Leplastrier in der Auseinandersetzung mit der architektonischen Tradition und mit der Kultur der Aborigines zu einer human geprägten, nachhaltigen Baukunst.

Nachdem er rund zwei Jahren auf der Baustelle von Jørn Utzons Opernhaus in Sydney gearbeitet hatte, liess sich Leplastirer Mitte der sechziger Jahre in Kyoto während 18 Monaten von Masuda Tomoya in klassisch japanischer Holzarchitektur unterweisen. Diese Erfahrung und die Beschäftigung mit dem australischen Verandahaus brachten ihn dazu, seine Wohnhäuser auf die nötigsten Funktionen zu reduzieren. Diese aus den alltäglichen Abläufen heraus entwickelten Bauten stehen in engem Bezug zur Landschaft. Berühmt wurde das 1982 vollendete Cammery House in Sydney, das aus drei mit Satteldächern versehenen, abgetreppt am terrassierten Hang errichteten Längspavillons besteht, in denen Struktur, Funktion und Ästhetik harmonisch zusammenfinden. Spannende räumliche Lösungen sind für Leplastriers Schaffen ebenso charakteristisch wie die Erkundung einfacher Materialien. So schuf er umweltverträgliche Häuser aus Holz und Blech, schon lange bevor Ökoarchitektur zum Modethema avancierte. Auch nach der Ehrung mit der Goldmedaille des Royal Australian Institute of Architects im Jahre 1999 hat dieser stille Einzelkämpfer seine architektonische Recherche konsequent weiterverfolgt. Damit ist er ein würdiger Träger eines Preises, bei dem es nicht nur um Architektur, sondern auch um Natur und Geist geht. Spannend wäre es nun, wenn die Jury, der diesmal unter anderem die Französin Anne Lacaton angehörte, im Jahr 2006 ein in Theorie und künstlerischer Formgebung entschieden zukunftsorientiertes Architekturbüro auszeichnen würde, das die nachhaltigen Eigenschaften des Werkstoffes Holz wiederum in einem ganz anderen Licht erscheinen lassen würde.

[ Publikation: Richard Leplastrier. Spirit of Nature Wood Architecture Award 2004. Rakennustieto Oy Rati, Helsinki 2004. 80 S., Euro 44.- (ISBN 951-682-748-9). ]

18. Juni 2004 Neue Zürcher Zeitung

Sichere Höhle und schwankendes Schiff

Daniel Libeskinds Jüdisches Museum in Kopenhagen

Mit einer Architektur, deren Raumverschrankungen ebenso auf kabbalistische Zahlenmystik wie auf komplexe Erinnerungslinien verweisen, empfiehlt sich Daniel Libeskind seit geraumer Zeit als idealer Baumeister jüdischer Museen. Mehrere hat er bereits geplant; nun konnte er vor wenigen Tagen in Kopenhagen sein zweites eröffnen: das Dansk Jødisk Museum. Verwandtschaften lassen sich leicht ausmachen zwischen seinem Berliner Geniestreich und der Miniatur auf Slotsholmen. Doch die Stiftung für ein dänisches Jüdisches Museum, die sich seit 1985 für einen Ort der Geschichtsvermittlung stark machte, hat nicht einfach auf einen grossen Namen gesetzt.

Vielmehr nahm sie schon 1987, also bevor Libeskind den Berliner Wettbewerb gewonnen hatte, mit dem damals noch kaum bekannten Architekten Kontakt auf. Daraus ergab sich für ihn ein erster Studienauftrag für das geplante Jüdische Museum. - Eigene Ausstellungsräume hatten sich jüdische Kreise allerdings schon nach der ersten Judaica-Schau von 1908 gewünscht. Anlässlich der 300-Jahr-Feier der Jüdischen Gemeinde Dänemarks von 1984 hatten dann mehrere Veranstaltungen erneut gezeigt, wie reich das jüdische Erbe des Landes war. Mit dem Ziel, dieses Patrimonium permanent zugänglich zu machen, formierte sich im Jahr darauf die Stiftung für ein dänisches Jüdisches Museum. Realität wurde deren Traum am Ende einer langen Standortsuche aber erst, als der Staat das ehemalige, 1609 von Joseph Matzen realisierte Bootshaus von König Christian IV., das seit bald hundert Jahren ins Erdgeschoss der Königlichen Bibliothek von Hans J. Holm eingebaut ist, als Lokalität zur Verfügung stellte.

Neokubistisches Raumgefüge

Trotz der Denkmalwürdigkeit der aus der nordischen Spätrenaissance stammenden Halle erhielt die Stiftung die Erlaubnis, aufgrund der im Jahr 2001 von Libeskind vorgelegten Pläne einen ebenso sanften wie exzentrisch wirkenden Umbau des Interieurs vorzunehmen. Entstanden ist ein kleines neokubistisches Meisterwerk, das mit seinen abgewinkelten Wänden aus hellem Birkenholz, den blitzartig durch den Raum zuckenden Lichtbalken, den dunkel glühenden Vitrinen und den altehrwürdigen Backsteingewölben heiteres Geschichtsbewusstsein ausstrahlt. In seiner Atmosphäre unterscheidet es sich damit grundlegend von der düsteren Dramatik des Jüdischen Museums in Berlin. Anders als dieser Bau, bei dem sich alles um die Schrecken und Verbrechen des Holocausts dreht, ging Libeskind in Kopenhagen von der stark durch Ausgleich und Toleranz geprägten Geschichte der dänischen Juden aus. Diese setzte 1622 ein, als Christian IV. aus wirtschaftlichen Erwägungen sephardische Juden in das von ihm gegründete Glückstadt an der Elbe einlud.

Im Jahre 1675 erhielten sie in der auf Jütland neu angelegten Garnisonsstadt Fredericia sowie 1684 auch in Kopenhagen Aufenthaltsbewilligungen; und Anfang des 19. Jahrhunderts wurde ihnen dann das Bürgerrecht zuerkannt. Obwohl es später durch Einwanderung zu innerjüdischen Spannungen kam, verlief die Integration so selbstverständlich wie kaum anderswo. Das zeigte sich während der deutschen Besetzung, als die Dänen im Oktober 1943 die meisten ihrer damals knapp 8000 jüdischen Mitbürger nach Schweden retteten. Diese beherzte Tat, die aber ohne schwedische Grosszügigkeit nicht möglich gewesen wäre, nahm Libeskind als Grundlage seiner Planung. Dabei verwob er die vier Buchstaben des hebräischen Wortes «Mitzwah», dessen Bedeutung von Gebot bis hin zu gute Tat reicht, zu einem Wegsystem, welches labyrinthartig durch die Schluchten des Museums führt.

Zwar ist die neue Institution auch als Treffpunkt und Identifikationsort der heute überwiegend laizistischen jüdischstämmigen Dänen gedacht. Doch nach aussen tritt sie weniger als Begegnungszentrum denn als Schatzkammer in Erscheinung. Der kleine, mit Zacken und Linien zum Bibliotheksgarten sich weitende Vorplatz weist die Ankommenden in Richtung einer Tresortüre mit der Aufschrift «Mitzwah». Dahinter öffnet sich Libeskinds Welt, in der es auf knapp bemessenen 400 Quadratmetern neben dem Ausstellungsbereich auch Platz gibt für Kasse, Garderobe, Buchladen, Café-Ecke und Videoraum. Dennoch fühlt man sich nie eingeengt. Dies ist einerseits der spannungsvollen Rauminszenierung, anderseits den raffiniert in die stürzenden Wände eingebauten Vitrinen zu verdanken. In ihnen sind die Exponate - historische Dokumente, Bücher, Fotografien, Alltags- und Kultobjekte - nach den fünf Themenbereichen «Ankunft», «Standortfindung», «Flucht», «Dänemark und Israel» sowie «Tradition» geordnet.

Schätze jüdischer Kultur

Selbst wenn es die wenigen zum Stichwort «Tradition» gezeigten Kunstgegenstände, die teilweise aus den aufgelösten Synagogen in der Provinz stammen, kaum ahnen lassen, so können die jüdischen Dänen doch auf ein beachtliches künstlerisches Erbe zurückblicken. Nicht nur besitzt Kopenhagen mit dem 1833 eingeweihten ägyptisierenden Gotteshaus von Gustav Friedrich Hetsch eine der architektonisch bedeutendsten Synagogen Europas. Auch im Bereich der jüdischen Silberkunst wurde Grosses geschaffen. Dies veranschaulicht die von Mirjam Gelfer-Jørgensen herausgegebene Publikation über «Danish Jewish Art», in der sich auch Entwürfe berühmter Architekten und Künstlern finden. Mit Libeskinds meisterhafter Miniatur setzt nun das neue Museum die Tradition fort, und zwar in Form eines architektonischen Aufbruchzeichens. Dass diesem demnächst weitere Bauten folgen werden, welche der in Theorie und Ausformung etwas festgefahrenen Baukunst Kopenhagens neue Impulse verleihen dürften, zeigt noch bis zum 15. August die Ausstellung «Grænseløs Arkitektur» im Kopenhagener Architekturzentrum Gammeldok, in welcher auch Libeskinds Arbeit dokumentiert ist.

4. Juni 2004 Neue Zürcher Zeitung

Museen und umgestürzte Türme

Ein Rundgang durch Wiens blühende Architekurbiotope

Selbst eiligen Besuchern dürfte kaum entgehen, dass Wiens Innenstadt ein riesiges Architekturmuseum ist mit wichtigen Gebäuden von der Gotik bis zur Gegenwart. Dieses Ambiente bildet zusammen mit einer regen architektonischen Ausstellungs- und Vermittlungstätigkeit den Nährboden für eine florierende baukünstlerische Kultur.

In kaum einem anderen Land gedeiht die zeitgenössische Baukunst so üppig wie in Österreich. Während Graz und Innsbruck neuerdings auf Bauten internationaler Stars setzen, ist Wiens Innenstadt längst schon ein Freilichtmuseum mit Gebäuden von der Gotik bis heute. Darunter finden sich Juwelen wie die barocke Karlskirche von Johann Bernhard Fischer von Erlach oder Joseph Maria Olbrichs theatralische Secession, aber auch strengere Meisterwerke wie Theophil Hansens neuattisches Parlament oder die nüchterne Postsparkasse von Otto Wagner. Einzig die Gegenwart muss hier - abgesehen von Hans Holleins pompösem Haas-Haus - in Form diskreter Umbauten etwas im Verborgenen blühen. So wurde das im Klassizismus prachtvoll erneuerte Albertina-Palais jüngst subtil erweitert von Erich Steinmayr und Friedrich Mascher. Gleichzeitig durfte Hollein mit seinem vor fünf Monaten eingeweihten, die rosa Palastfassaden scharf durchschneidenden Flugdach ein Zeichen setzen. Diese provokative Geste demonstriert, dass es vor allem die Museen sind, die dem eiligen Touristen Eindrücke vom heutigen, zwischen Minimalismus und Dekonstruktivismus oszillierenden Architekturschaffen in der Donaumetropole vermitteln. Dazu gehören etwa das Museum am Judenplatz mit dem sachlich-eleganten Innenausbau von Jabornegg & Pálffy, der ähnlich zurückhaltende, vom Geist Mies van der Rohes durchdrungene Pavillon des «Kunsthalle Project Space» von Adolf Krischanitz sowie der mit einer gewissen barocken Opulenz von Laurids und Manfred Ortner zum einladenden Museumsquartier umgewidmete Messepalast Fischers von Erlach.

Zentren der Architekturvermittlung

Im Museumsquartier befindet sich neben den neuen Kunsttempeln auch das vor elf Jahren gegründete Architekturzentrum Wien (AzW), das mit einem regen Veranstaltungsprogramm den fachlichen Architekturdiskurs voranzutreiben und dem kritischen Wiener Publikum die Baukunst näherzubringen sucht. Im Rahmen der als Trilogie konzipierten «A-Schau» illustriert es zurzeit anhand von baugeschichtlichen Dokumenten der Zeit von 1850 bis 1918 das Seilziehen zwischen gründerzeitlicher Dekorationslust und Loos'scher Einfachheit. Wurde der Niedergang des Kaiserreiches von einer beispiellosen Bautätigkeit eingeläutet, so ging nach dem Zweiten Weltkrieg fast nichts mehr. Die jungen Architekten flüchteten sich vor der grauen Realität in eine Welt der Visionen. Den zwischen 1958 und 1973 von Architekten wie Raimund Abraham, Coop Himmelb(l)au, Hollein, Missing-Link oder Zünd-up ausgeheckten revolutionären Ideen, die sich an Aktionismus, Pop-Art, Metabolismus oder Raumfahrt entzündeten, nähert sich (noch bis zum 12. Juli) eine weitere Schau des AzW unter dem Titel «The Austrian Phenomenon».

Jahre bevor diese exzentrischen Bau-Künstler die Stadt ohne grosse Folgen anarchisch weiterdachten und sich Inspiration bei Friedrich Kieslers skulpturalen Raumgebilden oder den Hausmaschinen von Archigram suchten, hatte Erich Boltenstern mit dem modernistischen Ringturm einen der wenigen Grossbauten im Wien der Nachkriegszeit realisiert. Dessen Eingangshalle wurde vor fünf Jahren von Boris Podrecca zum Ausstellungsraum im Ringturm umgebaut, in welchem vor allem das internationale Architekturgeschehen zur Diskussion gestellt und damit Wiens Neigung zur Nabelschau etwas durchbrochen wird. Mittels Fotos, Plänen und Modellen werden hier bis zum 26. Juni «Europas beste Bauten» präsentiert, die in die Endrunde des Mies-van-der-Rohe-Preises 2003 gelangten. Zum Siegerprojekt gekürt wurde die von Zaha Hadid mit sparsamsten Mitteln realisierte Park-and- Ride-Tramstation Hoenheim-Nord in Strassburg, während der Anerkennungspreis für junge Architektur an das Stadthaus Ostfildern bei Stuttgart von Jürgen Mayer H. aus Berlin ging. Zusammen mit diesen beiden Arbeiten fanden auch jene der übrigen 39 Finalisten Eingang in die Schau und in den Katalog. Österreich ist - anders als die Schweiz, die sich an diesem Wettstreit leider nicht beteiligt - mit drei Bauten vertreten, darunter das Wiener Museumsquartier.

In dieser einfach und ohne jede falsche Attitüde inszenierten, dafür aber kostenlos zugänglichen Ausstellung dürfen die Wiener, deren «Geraunze über Neubauten» laut Friedrich Achleitner schon seit dem Mittelalter zu vernehmen ist, einmal mehr erleichtert feststellen, dass die von ihnen gerne als hässlich abgetane Architektur in der weiten Welt durchaus auf Interesse stösst. Das heisst nun aber nicht, dass alles, was jüngst etwa in den äusseren Bezirken ins Kraut geschossen ist und noch entstehen soll, vorbildlich wäre. So erscheint die «Donau-City» trotz gelungenen Miniaturen wie dem Christus-Kirchlein von Heinz Tesar als eine eher triste, auf einer Fussgängerplatte dösende Retortenstadt, die von Harry Seidlers verzweifelt optimistisch sich in den Himmel reckendem Wohnturm überragt wird.

Neubauten und ein Gartenpalais

Hochhäuser von Meistern wie Hollein und Gustav Peichl prägen nicht nur die Ufer von Donau und Donaukanal, sondern auch den Wienerberg. Hier sind vier bis zu vierzig Geschosse zählende Wohnhochhäuser im Bau, die schon jetzt mit ihrem exzentrischen Gehabe irritieren. Daneben erheben sich als Ruhepol die gut 130 Meter hohen, durch Skywalks miteinander verbundenen Twin Towers des Italieners Massimiliano Fuksas: zwei abstrakte Glasstelen, deren minimalistische Klarheit vor allem nachts zum Tragen kommt. Ihnen antwortet seit neustem am Ende des Rennwegs ein langer Bau auf Stelzen, der wie ein umgestürztes und in zwei Teile geborstenes Hochhaus wirkt. Sowohl dieser vom Grazer Günther Domenig in Anlehnung an Hadids Dekonstruktivismus realisierte liegende Verwaltungsturm als auch Fuksas' Twin Towers sind dem Publikum heute Freitag und morgen Samstag anlässlich der österreichischen Architekturtage (www.architekturtage.at) zugänglich. Zu ihnen führt aber auch ein neuer Wiener Architekturführer, der den zahllosen seit 1975 entstandenen Bauten gewidmet ist.

Beim Rundgang durch die Stadt trifft man dann aber immer wieder auf interessante Neubauten, zu denen sich kein Eintrag in diesem an sich nützlichen, mitunter aber etwas ungenauen Führer findet. So sucht man vergeblich nach dem der Vollendung entgegengehenden Wohn- und Geschäftshaus an der Schlachthausgasse von Coop Himmelb(l)au oder nach dem von Otmar Edelbacher und Peter Hartmann luxuriös erneuerten Gartenpalais Liechtenstein. Anlässlich der Eröffnung des hier eingerichteten Liechtenstein Museum ist in der von Joseph Hardtmuth geschaffenen klassizistischen Bibliothek (die aus dem 1913 abgerissenen Liechtensteinischen Stadtpalast in der Herrengasse stammt) noch bis zum 27. Juni eine kleine Schau zu sehen, die anhand von Originalblättern Johann Bernhard Fischers von Erlach, Domenico Egidio Rossis, Joseph Kornhäusels und Heinrich Ferstels die komplexe Genese des Gartenpalais veranschaulicht. Blieb das schliesslich um 1700 von Rossi und Domenico Martinelli in einem fast schon klassizistisch anmutenden Barock realisierte Bauwerk mit seiner reichen künstlerischen Ausstattung bis heute unverändert erhalten, so wurde der zugehörige, einst neben dem Belvedere-Park bedeutendste Barockgarten Wiens im 19. Jahrhundert in eine englische Anlage umgestaltet und Fischers Lustgartenpavillon durch einen monumentalen Neubau von Ferstel ersetzt. Damit zeigt dieser stolze Herrensitz, dass in Wien die stete Transformation wertvoller architektonischer Komplexe auf eine lange Tradition zurückblicken kann.


[ Kataloge: European Union Prize for Contemporary Architecture. Mies van der Rohe Award 2003. Actar Press, Barcelona 2003. 303 S., Euro 33.50. - Liechtenstein Museum. Ein Haus für die Künste. Hrsg. Johann Kräftner. Prestel-Verlag, München 2004. 64 S., Euro 7.95. - Architekturführer: Wien 1975-2005. Hrsg. August Sarnitz. Springer-Verlag, Wien 2003. 256 S., Fr. 51.-. ]

4. Juni 2004 Neue Zürcher Zeitung

Ein Fussgängertunnel auf der Prager Burg

Verleihung des ersten Brick Award in Wien

In unserer von Kunststoff und Computer geprägten Welt scheint der Ziegelbau vergangenen Zeiten anzugehören. Dass dem - allen dekonstruktivistischen und neoorganischen Formorgien zum Trotz - nicht so ist, zeigen die Resultate des ersten Brick Award für europäische Ziegelarchitektur, der vor einer Woche in Wien verliehen wurde. Der insgesamt mit 21 000 Euro dotierte Preis, der künftig alle zwei Jahre ausgeschrieben werden soll, wird vom weltgrössten Ziegelhersteller, der österreichischen Firma Wienerberger, gestiftet - und zwar mit dem Ziel, auf die Aktualität und Attraktivität eines der ältesten Werkstoffe überhaupt aufmerksam zu machen.

Insgesamt wurden mehr als 200 Bauten aus 20 europäischen Staaten zur Begutachtung angemeldet. Eine Blütenlese von 38 Arbeiten aus 18 Ländern fand schliesslich Eingang in ein reich dokumentiertes Übersichtswerk. Dieses vermittelt einen Eindruck von der Vielfalt des heutigen Einsatzes von Ziegeln von Frankreich bis Rumänien. Zu den interessantesten Bauten dieser Blütenlese zählen das Kontorhaus «Holzhafen Ost» von Kees Christiaanse in Hamburg, der Main-Plaza- Turm von Hans Kollhoff in Frankfurt, der Umbau der Gasometer in Wien-Simmering von Jean Nouvel und Coop Himmelb(l)au, die Feuerwehrzentrale von Neutelings Riedijk in Breda oder das Freilichtmuseum von Mecanoo in Arnheim. Aus der Schweiz vermochten die Mehrzweckhalle von Oeschger Erdin in Hirschenthal, die mit einer der 12 Anerkennungen geehrte, durch attraktive Höfe und Aussenräume geprägte Heilpädagogische Schule in Wettingen von Burkard Meyer Architekten sowie das mit einem der beiden Sonderpreise bedachte minimalistische Einfamilienhaus bei Aarau von Peter und Christian Frei Aufmerksamkeit zu erheischen: Den zweiten Sonderpreis erhielt Massimo Caramassi für seine sorgsam den historischen Kontext berücksichtigende Stadtreparatur in Pisa.

Von den Hauptpreisen ging der dritte an Cino Zucchis poetisches Wohnhaus auf der Giudecca in Venedig, der zweite an Benedict Tonons von bunten Fassadenmustern geprägtes Gefahrstofflager der Humboldt-Universität in Berlin und der erste an Josef Pleskot. Geehrt wurde der tschechische Architekt für seinen Fussgängertunnel, der beide Teile des Hirschgrabens auf der Prager Burg verbindet. Bei diesem oval gewölbten Durchgang, durch den sich neben dem Fussweg unter einem Gitterrost auch noch das Brusnitz- Bächlein zwängt, wurden die Betonwände mit Ziegeln verkleidet, um eine freundlichere Stimmung zu erzeugen. Diese Miniatur mit ihrer wie geflochten wirkenden Oberflächentextur führt ganz offensichtlich die architektonische Tradition der einst von Joe Plenik neu komponierten Terrassengärten des Prager Burgkomplexes weiter.

Auch wenn sich die Gültigkeit des Brick Award durch eine gezieltere Vorjurierung in den einzelnen Ländern qualitativ noch steigern liesse, ist es der Jury unter dem Vorsitz der Wiener Architektin Elsa Prochazka doch gelungen, durchwegs Arbeiten zu prämieren, die aufgrund ihrer formalen Schönheit und technischen Präzision weit über den Durchschnitt der alltäglichen Architekturproduktion herausragen.

Brick Award 2004. Die beste europäische Ziegelarchitektur. Callwey-Verlag, München 2004. 207 S., Fr. 102.-.

verknüpfte Publikationen
- Brick Award 2004

14. Mai 2004 Neue Zürcher Zeitung

Container und gebaute Landschaft

Das Rotterdamer Architektenteam MVRDV in Bern

Auf der Welle des Hypes, den sie mit dem niederländischen Pavillon an der Expo 2000 in Hannover erzeugten, surfen sie seit Jahren mit Geschick: Winy Maas, Jacob van Rijs und Nathalie de Vries vom 1991 in Rotterdam gegründeten Büro MVRDV. Als eine in mehreren Ebenen übereinander gestapelte Landschaft mit Wiesen, Wald und Windmühlen war dieses gebaute Manifest nicht nur eine mit Ironie vorgetragene Hymne auf Künstlichkeit und Machbarkeit, sondern auch eine Illustration ihrer Theoriebibel «Metacity/ Datatown». Wie sehr seither Themen wie Schichtung und Verdichtung ihren Entwurfsprozess bestimmen, lässt sich im Kornhaus Bern überprüfen, wo zurzeit die Wanderschau von MVRDV gastiert. Riesige Planen, auf denen in erschlagenden Dimensionen ihre Werke abgebildet sind, unterteilen den grossen Ausstellungsraum in vier lange Kojen. In diesen werden unter dem Titel «The Hungry Box - die endlosen Interieurs von MVRDV» Modelle von neun zwischen 1993 und 2002 konzipierten Bauten und Entwürfen präsentiert, die wie der VPRO-Hauptsitz in Hilversum dem Expo-Pavillon den Weg bereiteten oder die aus ihm hervorgegangenen Erkenntnisse weiterführen: etwa in dem als «Grüne Burg» gedachten Umbau des Den Haager Landwirtschaftsministeriums zu einem riesigen Gewächshaus.

Bei den in Bern vorgestellten Arbeiten gehen die Architekten von der leeren Gebäudehülle aus, die mit Inhalten in Form von funktionsbezogenen Containern oder fliessenden Architekturlandschaften gefüllt wird. Eine Vorgehensweise, die sich schnell erschöpft, wie die unrealisierten Wettbewerbsentwürfe für den Palau de la Biodiversitat in Barcelona oder für das Musée universel in Paris belegen. Diese Projekte vermitteln - ähnlich den spektakulären neueren Forschungsarbeiten über Benidorm oder die 600 Meter hohen Schweinezucht-Türme - den Eindruck, bei MVRDV drehe sich alles fast zwanghaft um Originalität und Unkonventionalität.

Doch MVRDV sind keine Architektur-Neurotiker. In der bewusst konventionell gestalteten Schau, die in ihrer Konzentration auf das Wesentliche überzeugt, stellen die Architekten auch ihr bisher wichtigstes Werk zur Diskussion: den 10-geschossigen Silodam-Wohnblock im Amsterdamer Hafen. Dieses «Museum der Wohnungstypen» erweist sich als moderate, aber konsequente Umsetzung ihrer Forschungen. Schon 1998 hatten sie in der Schrift «Farmax» extreme horizontale und vertikale Verdichtung gefordert, um der Bevölkerung (und der Natur) mehr Raum zu geben. Auf die Schweiz bezogen bedeutete das in ihrem Beitrag zur Studie «Stadtland Schweiz» von 2003 Hochhauswälder am Zürichsee oder in der eine halbe Million Einwohner und 125 000 Hotelbetten zählenden «Matter City». Selbst wenn derartige Vorschläge irritieren, führen die Recherchen der hippen Rotterdamer immer wieder zu so erstaunlichen Resultaten wie dem Amsterdamer Altersheim mit den schubladenartig aus dem Baukörper herausgezogenen Wohnungen.

Neben den suggestiven Wohnbauten weisen vor allem die in der Ausstellung gezeigten Entwürfe des nicht realisierten keilförmigen Eyebeam-Minihochhauses in New York und des 240 Meter hohen Bücherturms von Eindhoven in die Zukunft. Hier scheinen MVRDV aus der etwas hohl gewordenen Vorstellungswelt der Container- Stapel auszubrechen. Diese Vermutung bestätigen zwei in Bern nicht präsentierte jüngere Projekte: das an Lissitzkys Wolkenbügeln inspirierte Opernhaus von Oslo und die in die Stockholmer Hügellandschaft eingegrabene, durch organisch geformte Öffnungen erhellte Höhlenwelt des Silicon-Hill-Gebäudes, in dem Erinnerungen an Oscar Niemeyers Pariser Sitz der Kommunistischen Partei mit subtiler Kritik an der aktuellen Blob-Architektur zusammenklingen. Obwohl es ruhiger geworden ist um MVRDV, beweist das neuste Projekt der Pariser Hallen, dass ihre Ideen weiterhin gefragt sind.


[Bis 31. Mai im Kornhausforum in Bern. Begleitpublikation: MVRDV Reads. Hrsg. Aaron Betsky und Winy Maas. NAi Publishers, Rotterdam 2003. 160 S., Fr. 45.-.]

7. Mai 2004 Neue Zürcher Zeitung

Bauen in der Vorstadt

Die Freiburger Europan-Projekte

Seit seiner Gründung 1987 wurde der internationale Europan-Wettbewerb im vergangenen Jahr zum siebten Mal ausgeschrieben und Ende 2003 juriert. Thema war diesmal der «Suburbane Challenge». Dazu standen dem Architektennachwuchs Dutzende von vorstädtischen Projektgebieten in halb Europa zur Verfügung. Anders als früher war das Schweizer Engagement diesmal bescheiden, vielleicht weil es bis heute trotz vielen guten Resultaten kaum je zu einer Realisierung kam. Dennoch wurden insgesamt 72 Projekte für die beiden Wettbewerbsareale im waadtländischen Renens und in Freiburg eingereicht. Doch während in der Lausanner Vorstadt kein Sieger ausgezeichnet wurde, konnte an der Saane mit dem unkonventionellen Entwurf von Roland Stutz und Martin Bruhin aus Schongau eine vielversprechende Arbeit triumphieren. Dies war nun dem vor einem Jahr gegründeten Freiburger Architekturforum und seinem initiativen Vorstandsmitglied Alain Fidanza Anlass, die fünf besten Projekte vor Ort im Monrevers-Quartier zu präsentieren, und zwar auf der Ringmauer neben dem Murtentor. Der gekürte Entwurf sieht neben einem Grünraumkonzept für das Vallée de Monrevers eine brückenartige, quadratische Plattform vor, die - auf Stelzen über dem Talgrund schwebend - fünfzig zweigeschossige Atriumwohnungen trägt. Aufmerksamkeit verdient die kleine Schau deswegen, weil die Stadt Interesse signalisiert hat, das innovative Konzept zu realisieren, in dem Ideen von Atelier 5 und den Metabolisten, aber auch von Herzog & de Meuron, Rem Koolhaas und MVRDV zusammenklingen.


[Die kleine Ausstellung ist am 8., 9., 15. und 16. Mai von 13 bis 17 Uhr gratis zugänglich (www.europan.ch). Eine reich illustrierte «Hochparterre»-Sondernummer (1-2/2004) liegt auf.]

7. Mai 2004 Neue Zürcher Zeitung

Geometrisch gezähmte Naturform

Norman Fosters Swiss Re Tower verändert London

Mit dem 180 Meter hohen, formal zwischen Tannzapfen und Ananas oszillierenden Swiss Re Tower in London ist es Norman Foster gelungen, die modische Blob-Architektur geometrisch zu zähmen. Städtebaulich von Bedeutung ist zudem, dass der perfekt proportionierte Wolkenkratzer harmonisierend auf die Skyline der City einwirkt.

Er ist nicht der höchste, aber zweifellos der einprägsamste und schönste Wolkenkratzer Londons. Mit Norman Fosters elegantem Swiss Re Tower, in welchem strenge Geometrie und organische Naturform zusammenfinden, wandelt sich die Skyline der City of London, die bis anhin kaum zu begeistern vermochte, in eine ausgewogene Komposition. Gleichzeitig beweist der 180 Meter hohe Londoner Verwaltungssitz des Schweizer Rückversicherers, dass das Büro Foster, welches mit Ikonen wie dem High-Tech-Turm der Hongkong and Shanghai Bank in der ehemaligen Kronkolonie berühmt wurde, auch noch heute mehr als banale Investorenarchitektur in der Art seines HSBC-Tower in den Docklands zu schaffen weiss. Die noble Adresse 30 St. Mary Axe, an welcher einst der im April 1992 durch ein IRA-Attentat schwer beschädigte Baltic Exchange stand, hatte Foster schon gereizt, bevor die Swiss Re sich um eine Baubewilligung bewarb. Nach seinen Visionen hätte hier der höchste Himmelsstürmer der Themsestadt entstehen sollen: der 386 Meter hohe, durch einen Abschluss in Form eines Kamelhöckers geprägte Millennium Tower. Dieser überdimensionierte, formal wenig überzeugende Bau hätte wohl das Erscheinungsbild der City völlig aus dem Gleichgewicht gebracht.

Erotische Essiggurke

Es war ein Glücksfall, dass dann die Swiss Re 1997 von Foster statt des megalomanen Millennium Tower den Entwurf eines Gebäudes erbat, das auch von den nicht gerade hochhausfreundlichen Londonern akzeptiert werden konnte. Foster liess von seinen Utopien ab und stellte sich den neuen Gegebenheiten. Diese verlangten von ihm die Implantation eines immerhin noch 40- geschossigen und rund 40 000 Quadratmeter Bürofläche bietenden Turms in der beengten City, welcher der Firmenphilosophie des Schweizer Unternehmens zufolge den aktuellsten ökologischen Standards genügen musste. Dabei konnte Foster auf den Erfahrungen aufbauen, die er mit dem von mehreren Sky-Gärten gegliederten Commerzbank-Hochhaus in Frankfurt gemacht hatte.

Aspekte wie breite formale Akzeptanz und Umweltverträglichkeit lenkten Fosters planerische Recherche zunächst auf die Aussenform: Ein die Gesamtfläche des einstigen Baltic Exchange ausfüllender Wolkenkratzer wäre als grober Klotz auf wenig Gegenliebe gestossen; ein runder Turm hätte zwar Freiraum für eine Plaza geschaffen und zudem kleinere Windlasten am Schaft bedeutet, doch wäre er wohl zum einfallslosen Glaszylinder oder aber zur Betonzigarre im Stil von Jean Nouvels Torre Agbar in Barcelona verkommen. Foster suchte deshalb in der Vergangenheit und Gegenwart nach Anregungen, verlangte doch dieser Ort in unmittelbarer Nachbarschaft zu Richard Rogers' 1986 vollendetem High-Tech-Wunder des Lloyds Building und zu Richard Seiferts kantigem Tower 42 (der seit der Eröffnung im Jahre 1980 mit seinen 183 Höhenmetern die City dominiert) nach einem Meisterwerk. - Beim Entscheid für die an einen Tannzapfen oder an eine Ananas erinnernde Gebäudeform, die über rundem Grundriss zur Schaftmitte hin an-, danach in Richtung Kuppe wieder abschwillt und auf der Hälfte des Grundstückes Raum freigibt für einen in der City äusserst raren Platz, orientierte sich Foster wohl an Christopher Wrens nie realisiertem Laternenaufsatz der benachbarten St. Paul's Cathedral. Noch offensichtlicher aber ist die Verwandtschaft mit dem 1996 vom Londoner Trendbüro Future Systems geplanten phallischen «Green Bird», der sich in Chelsea als von einer rautenförmigen Netzfassade mit Spiralaufsätzen umhüllter Wolkenkratzer 450 Meter über die Themse hätte erheben sollen. Fosters Verdienst ist es, die allzu vordergründig organische Form des «Green Bird» in dem bald schon «Erotic Gherkin» genannten Swiss Re Tower geometrisch gezähmt sowie ökologisch, aber auch konstruktiv verbessert zu haben. So ist dieser nun mit einem tragenden Fassadenskelett versehen, für das Foster und die ihm zur Seite stehenden Ingenieure von Ove Arup sich durch die auf Dreiecken und Rauten basierenden räumlichen Tragwerke von Buckminster Fuller inspirieren liessen.

Diese mit Hilfe des Computers leicht zu berechnende stählerne Wabenstruktur erlaubte eine vergleichsweise einfache Realisierung der komplexen, doppelt gekurvten Geometrie des Swiss Re Tower. In der so entstandenen modischen, aber im Windkanal aerodynamisch gestrafften Blob-Form finden das Klassische und das Barocke, das Minimalistische und das Organische zusammen. Auch wenn die Verbindung des Tragwerks mit der Plaza in Form einer umgekehrten Zackenkrone, die eine öffentliche Arkade bildet, nicht wirklich gelöst ist, vermag der Swiss Re Tower als perfekt proportioniertes Hochhaus zu überzeugen. Deshalb kann das von Foster als «technologisch, architektonisch, ökologisch, sozial und räumlich radikal» bezeichnete Gebäude harmonisierend auf die Komplexität der City einwirken und deren Skyline nachhaltig aufwerten.

Städtebauliche Erneuerung

Damit entspricht der Swiss Re Tower ganz den Anforderungen des «London Plan», welcher im Auftrag des für seine Hochhausbegeisterung bekannten Bürgermeisters Ken Livingstone erstellt wurde. Der Plan hält fest, dass die für die Konkurrenzfähigkeit einer globalen Metropole an gewissen Orten nötige städtebauliche Verdichtung unweigerlich zu sehr hohen Häusern führen wird. Deshalb verlangt er für neu zu bewilligende Hochhäuser neben architektonischer Spitzenqualität und Umweltverträglichkeit auch eine sorgsame Integration in die Londoner Skyline, damit die über Generationen gewachsene Stadtlandschaft nicht weiter leidet. Auch wenn es beim Swiss Re Tower wie bei allen Wolkenkratzern um «Macht, Prestige, Status und Ästhetik» geht - wie Anfang 2002 eine «Tall Buildings» betreffende Stellungnahme der Regierung ganz allgemein festhielt -, so erfüllt er doch viele Anforderungen eines zukunftsweisenden Hochhauses und trägt mit seiner Verdichtung in einem durch den öffentlichen Verkehr bestens erschlossenen Gebiet und mit der Schaffung öffentlicher Freiflächen zu der im Regierungsmemorandum geforderten «effizienten Entwicklung» bei.

Ökologisches Hochhaus

Beim Gang durch das Strassengewirr der City verliert man den Swiss Re Tower, der - von der Themse aus gesehen - dank seiner ungewohnten Form allgegenwärtig scheint, schnell aus den Augen. Doch plötzlich schiesst er, gerahmt vom expressiven High-Tech des Lloyds Building, wie eine Rakete in den Himmel. Steht man dann auf der Plaza, so ist die Masse des Gebäudes kaum noch fassbar, da aus der Untersicht betrachtet die geblähte Form des Turms den oberen Teil wegblendet. Trotz diesem angenehmen Effekt mag man kaum glauben, dass es sich bei diesem imposanten Himmelsstürmer um ein «grünes Hochhaus» handelt, und zwar um das erste in London. Gleichwohl können Architekt und Bauherrschaft neben der begrünten Plaza und der Tiefgarage, in der ausser einer beschränkten Zahl von Autoparkplätzen Hunderte von Velo-Einstellplätzen samt Umkleide- und Duschanlagen geschaffen wurden, eine Vielzahl ökologischer Errungenschaften auflisten, die der Stadt zugute kommen und gleichzeitig ein angenehmes Arbeitsklima schaffen.

Zwar ist die Lobby, wohl wegen schweizerisch- britischer Zurückhaltung, etwas gar nüchtern geraten. Doch die hellen, weiten Bürogeschosse gewähren freie Ausblicke über die Stadt. Die mehrschichtige Glasfassade, die individuell verschattet werden kann und dank schuppenartigen Klappfenstern eine natürlich Belüftung erlaubt, reduziert den Energiebedarf für Heizung und Kühlung gegenüber herkömmlichen Glashäusern um gut die Hälfte. Die sich ringförmig um den zentralen Erschliessungskern ausbreitenden Bürogeschosse werden ideal belichtet, weil die wabenförmige Tragkonstruktion an der Fassade nicht nur pfeilerfreie Arbeitsflächen möglich machte, sondern auch die Wegnahme von sechs dreieckigen Spickeln auf jeder Etage und dadurch die Schaffung von jeweils sechs angenehm dimensionierten Büroplattformen erlaubte. Die spickelförmigen Einschnitte werden zu Lichtschneisen, die sich durch eine leichte Drehung der Plattformen spiralförmig nach oben bewegen und dem Turm dank dem Wechsel von klaren und blau getönten Glasflächen eine dynamische, fast tänzerische Erscheinung verleihen. Die Kuppel, in der sich das höchstgelegene private Aussichtsrestaurant der Stadt befindet, überstrahlt nachts nach dem Konzept der Londoner Lichtarchitekten Speirs und Major die City wie ein Leuchtturm.

Als weithin sichtbares Zeichen zeugt der Swiss Re Tower gleichermassen von den ökologischen Ambitionen und der noch immer existierenden Innovationslust schweizerischer Unternehmen. Sollte der architektonische Erfolg der Swiss Re, welche sich spätestens seit ihrem von Meili & Peter neu gestalteten Prachtsitz in der Zürcher Seegemeinde Rüschlikon für wegweisende Baukunst einsetzt, nun auch hierzulande Firmen anspornen, ihre Corporate Identity mit qualitätsvollen Neubauten zu festigen, könnte davon die Allgemeinheit nur profitieren. Ungewiss ist jedoch, ob der harmonisierende Einfluss des Swiss Re Tower auf die Londoner Skyline von Dauer sein wird, weil in der City trotz Terrorangst allenthalben neue und vor allem höhere Bauten entstehen: etwa das Heron Building der New Yorker Kommerzarchitekten Kohn Pedersen Fox, das 183 (und mit der Antenne über 200) Meter hoch in den Himmel wachsen wird, und mehr noch die 217 Meter hohe Stele des Minerva Building von Nicholas Grimshaw, die stadträumlich höchst ungünstig den östlichen Rand der City akzentuieren soll. Diese Konfektionsware wird wohl gegenüber der Haute Couture des Swiss Re Tower blass aussehen. Mit ihm wird sich höchstens die «Glasscherbe» von Renzo Pianos unlängst bewilligtem London Bridge Tower messen können. Der unweit der Tate Modern in Southwark geplanten, spitz zulaufenden Pyramide von über 300 Metern Höhe dürfte es aber kaum gelingen, den Swiss Re Tower formal und ökologisch zu übertrumpfen.

15. April 2004 Neue Zürcher Zeitung

Rem Koolhaas total

Ausstellungen im NAI und in der Kunsthal Rotterdam

Wer «Content», die grosse Ausstellung des Architekturgurus Rem Koolhaas und seines Rotterdamer Büros OMA in der Neuen Nationalgalerie Berlin (NZZ 20. 11. 03) verpasst hat, dem bietet sich zurzeit Gelegenheit, den Besuch dieser ebenso genialen wie verwirrenden Schau in Rotterdam nachzuholen. Anders als an der Spree, wo Koolhaas die von ihm konstatierten «Mies-takes» der Neuen Nationalgalerie mit seiner chaotischen Installation zu übertönen suchte, durfte er in Rotterdam die Schau in seiner eigenen, von Mies van der Rohe beeinflussten, aber ironisch verfremdeten Kunsthal arrangieren. Mit Erfolg. Denn der in 20 Stationen unterteilte Ausstellungsrundgang wird zu einer schwindelerregenden Reise durch die widersprüchliche Welt des jüngsten, zwischen gebauter Kritik und Kommerzarchitektur schwankenden Œuvre von Koolhaas, seines Büros OMA und seiner städtebaulich-soziologisch tätigen Forschungsabteilung AMO.

Nach dem Projekt für das Universal-Hauptquartier in Los Angeles und mehreren jüngst eröffneten oder der Vollendung entgegengehenden Bauten wie der niederländischen Botschaft in Berlin, der Casa da Musica in Porto und der Stadtbibliothek von Seattle trifft man unvermittelt auf eine Sequenz aus jener «Sex and the City»- Folge, in der Carrie mit ihrem Lover Burger den von Koolhaas kreierten Prada Store in Manhattan besucht. Vom Glamour, der vom Label Koolhaas ausgeht, liess sich selbst Chinas Führung beeindrucken. Soll Koolhaas in Peking doch in ihrem Auftrag einen u-förmig gekrümmten Wolkenkratzer für China Central Television bauen. Am Ende des mit künstlerischen Interventionen aufgelockerten ausstellerischen Wechselbads findet man sich dann in einer Boutique wieder, wo man durch den Erwerb von entsprechend bedruckten T-Shirts oder dem äusserst schrillen Kultbuch «Content» (NZZ 26. 2. 04) die «Koolhaasmania» weiter anheizen kann.

Nach einer Verschnaufpause in Koolhaas' Kunsthal-Restaurant, das (neben dem Café Rotterdam am anderen Maas-Ufer) noch immer eines der angenehmsten Trendlokale Hollands ist, gelangt man durch den vom jung verstorbenen OMA-Wunderkind Yves Brunier gestalteten Museumspark zum Nederlands Architectuurinstituut (NAI). Ergänzend zur Kunsthal-Schau wirft dieses anlässlich von Koolhaas 60. Geburtstag einen Blick auf dessen zwischen 1978 und 1994 entstandenes Frühwerk, und zwar anhand von Zeichnungen, Fotos und Modellen aus den eigenen Beständen. Das NAI konnte nämlich zwischen 1984 und 1994 wichtige Teile von Koolhaas' Archiv erwerben. Deshalb wohl ist in der mit «Start» betitelten und in die Abteilungen «Design Process», «Discovery», «Innovation» und «Masterpieces» gegliederten Schau eine Art Depot eingerichtet, aus dem man sich von Archivaren Unterlagen zu verschiedenen Bauten reichen lassen kann. Im Mittelpunkt dieser Präsentation stehen neben dem noch einem sinnlichen Dekonstruktivismus verpflichteten Nederlands Danstheater in Den Haag und der Kunsthal Rotterdam die nicht realisierten Projekte für das Zentrum für Kunst und Medientechnologie in Karlsruhe, die Jussieu-Bibliothek in Paris und das Rotterdamer NAI (das jedoch nach Jo Coenens Plänen erbaut wurde). Diese Arbeiten zeigen, wie sehr Koolhaas den internationalen Architekturdiskurs nun schon seit über 25 Jahren vorantreibt.

[«Content» in der Kunsthal dauert bis zum 29. August, «Start» im NAI bis zum 31. Mai. Katalog: Content. Hrsg. Rem Koolhaas und Brendan McGetrick (englischsprachig). Verlag Taschen, Köln 2004. 544 S., Fr. 19.80.]

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