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4. August 2000 Neue Zürcher Zeitung

Ein Gebäude mit Rhythmus

Die Jugendmusikschule von Enric Miralles in Hamburg

Understatement ist in Hamburg oberstes Gebot - auch in der Architektur. Ausser entlang der Elbe, wo Otto Steidle 1991 für Gruner + Jahr ein Verlagshaus in Form einer nautischen Hightech- Maschine und kurz darauf William Alsop einen nicht minder technoiden Fährterminal realisierten, gibt sich die Hansestadt diskret: Das gilt auch für die neuen Kontorhäuser an den Kanälen, auf deren Klinkerkuben höchstens mal ein gläserner Dachaufbau tanzt. Doch seit die norddeutsche Metropole im Dreijahresrhythmus ihren Architektursommer feiert, scheint sich allmählich eine baukünstlerische Öffnung anzubahnen. So konnte jüngst im nördlich der Innenstadt gelegenen Nobelviertel Rotherbaum ein Glashaus von Norman Foster eröffnet werden. Es ist aber nicht dieser Bau, der wie ein Silberstreifen am Horizont leuchtet, sondern die nur wenige hundert Meter davon entfernte, im Juni eingeweihte Jugendmusikschule von Enric Miralles und Benedetta Tagliabue. Sie stellt nach dem frühen Tod des 1955 in Barcelona geborenen Meisterarchitekten dessen baukünstlerisches Vermächtnis dar.

Nähert man sich vom starkbefahrenen Mittelweg der Schule, so nimmt man zunächst nur eine Umfassungsmauer wahr, hinter der sich ein kleiner Patio öffnet. Dort sieht man sich dann ganz unvermittelt einem Architekturschauspiel gegenüber, das sich zu einem dekonstruktivistischen Feuerwerk aus einstürzenden Wänden und verkanteten Kuben steigert. Die bald expressionistisch, bald kubistisch anmutende Eingangsfassade aus Glas und bunt bemaltem Stahl erinnert an Miralles Sportpaläste von Valencia und Huesca, die wie geborstene Brücken bedrohlich in den Himmel weisen. Vor der nach Südwesten exponierten Aussenhaut aus Zinkblech und rosa Verputz denkt man hingegen an Bauten von Gehry, mehr aber noch an Raumstrukturen von Tschumi oder Eisenman. Hier wird deutlich, dass Miralles die beiden Formzertrümmerer seit seiner Zeit als Professor in Harvard und an der Columbia University kannte und ihnen viel verdankte. Allerdings verschmolz Miralles die Einflüsse, zu denen sich in Hamburg noch die Backsteintradition gesellte, zu etwas eigenständig Neuem. - Wie Miralles und sein Team auf den parkartigen Ort reagierten und daraus allmählich die eigenwillige Form des Schulhauses extrahierten, konnte man im Juli in einer kleinen, informativen Schau in der Galerie Renate Kammer am Hamburger Münzplatz sehen. Dem traditionsbewussten Katalanen blieb offensichtlich nicht verborgen, dass in einer Stadt wie Hamburg, die einst mit Fritz Schumacher (1869-1947) einen auch auf dem Gebiet des Schulhausbaus bedeutenden Architekten besass, Bauten für den Unterricht immer auch am Bestehenden gemessen werden müssen. So wirken denn die Klassen-, Übungs- und Versammlungsräume bezüglich Grösse, Belichtung und Zugang ganz vertraut - ausser dass sie im Grundriss ab und zu gegen das ungeschriebene Gesetz des rechten Winkels verstossen.

Der Unterschied zu herkömmlichen Schulbauten liegt in der Erschliessung. Diese erfolgt nicht wie bei Schumacher über integrierte Seitengänge, sondern durch eine Architekturlandschaft, die - wie an Mikadostäben aufgeständert - am eigentlichen Schulhaus klebt. Die als Laufstege inszenierten Zugangsplattformen der einzelnen Geschosse sowie die dazwischen vermittelnden Treppen und Rampen sind hinter die zum Patio hin so dramatisch in Erscheinung tretende Membran aus Glas und bunt bemaltem Stahl gesetzt. Was von aussen willkürlich wirkte und mitunter an die aufgerissenen Wände eines Bürohauses erinnerte, macht von innen gesehen plötzlich Sinn. Selten hat man sich in einem Schulhaus so leicht und unbeschwert gefühlt; selten auch konnte das Auge so frei wandern: hier ein Blick auf vorüberziehende Wolken, dort auf ein Stück mit Farn bewachsenen Waldboden und schliesslich auf eine historistische Kirche in warmem Backsteinrot. Allgegenwärtig bleiben dabei als zentrale Themen Rhythmus und Klang: Was Miralles hier geschaffen hat, tönt wie gebaute Musik. Dass dabei nicht alles bis ins Detail völlig überzeugt, dass man bisweilen glaubt, der Architekt zitiere sich selbst, spielt keine Rolle: Denn die Jugendmusikschule ist auch so ein Juwel. Gespannt wartet man daher auf sein Parlamentsgebäude in Edinburg, das nun ohne die leitende Hand des Meisters vollendet werden muss.

4. August 2000 Neue Zürcher Zeitung

Vertikale Stadt

Eine Landschaft hinter Glas von BRT in Hamburg

Kontorhaus, Backsteinfassade und zurückhaltende Details sind Koordinaten, entlang denen in Hamburg lange Zeit gebaut wurde. Inzwischen aber holt das Büro Bothe, Richter, Teherani (BRT) mit jedem neuen Gebäude ein Stück zeitgenössischer Architekturgeschichte nach: Mit seinem neusten, «Doppel-X» genannten Bürohaus blickt es nun in die Zukunft.

Vor Jahren, als Hadi Teherani aus Köln nach Hamburg gekommen war, um seinen ersten grossen Auftrag, einen Glaspavillon für das Luxusautohaus Car & Drive, zu realisieren, hatte er noch verstört auf die Hamburger Architekturszene reagiert. Festgefahren im Schematismus des Altbewährten, gleichsam eingeklemmt zwischen angstbenommenem Risikodenken und unbedingter Investorenhörigkeit, schien sie sich im Niemandsland experimentierfeindlicher Inspirationslosigkeit zu verlieren. Massige Kuben aus rotem Backstein waren die Folge. Ein Flugdach hier, ein verglastes Fassadenelement dort: Das war meist alles, woran sich das Auge festsehen konnte. Ein viel versprechendes Umfeld für einen jungen Architekten, der für sich selbst und das Bauen neue Wege suchte, war das nicht.

Zusammen mit seinen Partnern Jens Bothe und Kai Richter darf sich Teherani inzwischen längst zum Establishment der Hamburger Architekturszene zählen. Kaum ein Wettbewerb in der Hansestadt, in dem das Büro BRT nicht seine Formphantasien den Projekten seiner Konkurrenten entgegenhält. Immer mehr Baustellen werden es, an denen Teheranis Ideen in Beton und Glas Gestalt annehmen und der Stadt etwas von seiner Vision erzählen. Jüngstes Beispiel ist sein «Doppel-X»-Bürohaus in Hamburgs Gewerbewüste Billbrook. Vor dem Krieg lebten hier achtzigtausend Menschen. Nach den verheerenden Verwüstungen der Brandbombennächte blieb nur das rechteckige Strassenraster zurück, das nach und nach mit schlichten Lagerhallen, schäbigen Verwaltungskästen und grauer Hinterhoftristesse aufgefüllt wurde. Ein Hauch von der herben Verlassenheit der New Yorker Lagerhaus-Quartiere flieht über die leeren Knüppelpflasterstrassen. Vielleicht deshalb, weil hier der sonst in Europa überall gegenwärtige städtische Dirigismus beinahe fehlt: Keine ehrgeizigen Mindestanteile Wohnraum werden hier vorgeschrieben. Teherani, dem die Stadt dann doch noch eine Ecke seines Hauses zugunsten eines gebührlich breiten Bürgersteigs abschnitt, ist klar warum: Wer in diesem Umfeld leben will, der muss schon «speziell drauf sein». Denn an normales Wohnen ist in dieser Stadtlandschaft, in der ein simpler Kiosk schon zu viel verlangt ist, nicht zu denken.

Teheranis Antwort auf den urbanen Untergang draussen vor der Tür ist die Stadt im Haus drinnen. Über jeweils zwei Büroetagen stapelt er Gärten - und das über 12 Stockwerke. Dazu kommen Tiefgarage, Cafeteria und Lobby. Drumherum hat er eine transparente Haut aus Glas gezogen. Wer nicht unbedingt muss, verlässt diese Stadt im Haus nicht vor dem Feierabend. Die Perspektiven kehren sich um. Der Städter schaut verdutzt in das Haus hinein und sieht, was er draussen nicht mehr finden kann: ein urbanes Gefüge, mit Plätzen der Kommunikation und grünen Flecken des Ausruhens, Sichtachsen und wechselnden Perspektiven, eine offene Vernetzung zu einem funktionierenden Ganzen. Andersherum erscheint die Stadt draussen als eine Illusion, als filmartig vorüberziehende Szenerie.

Beim neuen Bürohaus am Heidenkampsweg bestimmt die Grundform des Doppel-X alles. Namengebend für den Bau, durchzieht dieses Motiv ihn bis ins letzte Detail, von den kariert ausgelegten Bodenplatten bis hin zur x-förmigen Deckenbeleuchtung in den Aufzügen. Wie ein futuristisches Pop-Zitat wirkt das - wie aus einem Science-Fiction-Film der siebziger Jahre, in dem ein Raumschiff namens «Doppel-X» in fremde Galaxien vorstösst. Neben solchen Weltraumphantasien ist die Formwahl erst einmal Garant für ein Maximum von 20 000 Quadratmetern Nutzfläche über der 30 mal 70 Meter messenden Rechteckform, der die zwei X eingeschrieben sind. So entstehen ein zentraler quadratischer Innenhof und sechs dreistöckige Höfe, verteilt an den Seiten. Diese Anordnung ist die eigentliche Überraschung dieses gedrungenen Hochhauses. Diese Form ist mehr als ein blosser Marketingschachzug. Sie bietet in Kombination mit den die Büroflächen durchbrechenden Gärten eine optimale Ventilierung des gesamten Gebäudes. Auf der verschatteten Hausseite tritt kühle Frischluft ein und senkt im Austausch mit der warmen Luft die Temperatur. Transparenz und Durchlässigkeit der Gebäudestruktur helfen künstliche Beleuchtung und Klimatisierung zu sparen. Mit diesem Haus zieht Teherani die Quersumme aus amerikanischem Strip-Philosophem und europäischem Anspruch an das intelligente Haus, aus Robert Venturi und Norman Foster.

Auf den einfachen Nenner eines jederzeit wiedererkennbaren Stils lässt sich Teheranis Arbeit keinesfalls bringen. Statt dessen regiert ein ungebrochen munterer Stilpluralismus die Entwurfsarbeit des Büros. Sie beginnt jedes Mal wieder mit Ort und Wesen der Bauaufgabe und lässt sich in jeder Entwicklungsstufe auf den Genius Loci zurückführen. Der hat Teherani in Köln zu einer Wiederauflage von El Lissitzkys Wolkenbügeln inspiriert - deren Bau entlang des Rheins wurde nach neunjähriger Vorlaufzeit jetzt einstimmig von allen Parteien der Stadt beschlossen. Für Frankfurt wurde ein ICE-Bahnhof im Stile des organischen Pop-Techs von Future Systems und für Berlin eine etagenübergreifende Raummodellierung à la MVRDV entworfen. Bei all diesen Gebäuden treiben ihn das Experiment mit den unterschiedlichsten Lösungsansätzen und der Wille, die Alltagstauglichkeit der besten von ihnen unter Beweis zu stellen.

20. June 2000 Neue Zürcher Zeitung

Sehnsucht nach Utopia

Die siebte Architekturbiennale von Venedig

Grösser denn je zuvor präsentiert sich die Architekturbiennale von Venedig. Unter dem hybriden Titel «Città: Less Aesthetics, More Ethics» werden vom diesjährigen Biennaledirektor, Massimiliano Fuksas, im italienischen Pavillon, in den Corderie und im Arsenal rund 90 Architekturbüros vorgestellt. Ausserdem zeigen 34 Nationen in den Giardini und in der Stadt eigene Beiträge.

Seit Jahren schon sind die Kunst- und Architekturbiennalen von Venedig umstritten. Da ist es gar nicht so absurd, wenn die Schweiz den Zaungästen, die sich das Eintrittsgeld sparen möchten, gleich neben dem Haupteingang zu den Giardini die Möglichkeit bietet, über ein Gerüst in ihren Pavillon zu steigen und so auf informelle Art etwas Biennaleluft zu schnuppern. Dank dieser Kletterei kann man Bruno Giacomettis Ausstellungsbau, einen der schönsten auf dem Biennalegelände, aus intimer Perspektive kennen lernen. Unten im Ausstellungssaal, wo in besseren Jahren Herzog & de Meuron und Luigi Snozzi geehrt wurden, umfängt einem dann aber Leere. Vorbei an rassistischen Graffities, die wohl auf die multikulturelle «Stadt Schweiz» verweisen sollen, gelangt man an das verschlossene Eingangsgitter. Dort sieht man sich ganz plötzlich vom bunten Treiben auf dem Ausstellungsgelände ausgeschlossen. Statt sich zu ärgern, sollte man die Gelegenheit nutzen, hier in aller Ruhe kurz über die Mostra nachzudenken: Fordert doch der diesjährige Biennaledirektor, Massimiliano Fuksas aus Rom, der als Altachtundsechziger gegenwärtig in Wien zwei kommerzielle Wolkenkratzer realisiert, mit dem hybriden Motto «Città: Less Aesthetics, More Ethics» eine neue Haltung der Architekten gegenüber der Stadt und ein damit verbundenes Engagement «per il bene della collettività».


Ethik statt Ästhetik

Erstaunlicherweise steht jedoch der traditionsgemäss dem Biennalethema gewidmete italienische Pavillon weniger im Zeichen der Ethik als vielmehr einer zukunftsgläubigen Ästhetik. Zwar vermögen die zehn Videostelen, auf denen von Fuksas gekürte Vordenker ihre Wortmeldungen abgeben, einen Eindruck von der babylonischen Sprachverwirrung in der heutigen Architektur zu vermitteln. Doch schon im nächsten Raum schwebt das Riesenmodell einer Raumstation über glitzerndem Boden und kündet mit Sphärenklängen von einer besseren Welt. Dann geht es hinunter zu den Computerterminals und Screens, auf denen man die Beiträge für den im Vorfeld der Biennale ausgeschriebenen Online-Architekturwettbewerb einsehen kann. Spätestens hier wird klar, dass diese Schau vor allem den Flirt mit der Hochtechnologie sucht: Allenthalben blitzen Bilder aus dem Dunkel auf, glotzen Roboter starr vor sich hin, ertönen Stimmen und dumpf dröhnende Rhythmen: Die klanglich auf die Betrachter reagierende Installation von Kas Oosterhuis wird zum Conversation Piece der Techno-Generation, und bei Ben van Berkels Manhattan-Projekt herrscht endgültig Partystimmung. Bezirzt von bald nachtschwarzen, bald gleissend hellen Raumsequenzen, in denen mit Greg Lynns «Embryonical House» oder Zaha Hadids Architekturkunstwerken auch inhaltliche und inszenatorische Highlights geboten werden, übersieht man leicht, wie sehr sich hier im Grunde alles um schöne Formen dreht. Mit dem Zugeständnis an seine dekonstruktivistisch, neo-organisch oder expressiv ausgerichteten Favoriten, die ihnen zugeteilten Räume nach eigenem Gusto zu bespielen, hat Fuksas die Möglichkeit vergeben, die von ihm so oft beschworenen Utopien von heute zu veranschaulichen. Es fehlen vor allem konkrete Themen, zu denen die 90 geladenen Architekten (darunter mit Ausnahme des Wahl-New-Yorkers Bernard Tschumi kein einziger Schweizer) Lösungen hätten finden können. Dabei stünden im Zeichen von Ethik und Ästhetik so brisante Aspekte wie die explodierenden Drittweltstädte, die Nord- Süd-Migration, die Investoren- und Spekulantenarchitektur oder die Vorzüge mittelgrosser Städte im Zeitalter der Vernetzung zur Diskussion. Allerdings hätte man dazu neben Architekten auch Urbanisten, Landschaftsgestalter und Soziologen einladen müssen.

Kein Wunder also, dass die Schau im italienischen Pavillon zu einem Sammelsurium selbstverliebter Inszenierungen und pseudokünstlerischer Attitüden ausuferte. Diese finden ihre Fortsetzung in den Corderie und im Arsenal, wo man mit enormem Materialaufwand den Mangel an konzeptionellen Inhalten zu überspielen suchte, dabei aber jeden Zusammenhang verlor. Dies trotz einer 280 Meter langen Leinwand, auf der - von schrillen Geräuschen untermalt - aus den Fugen geratene Megastädte sich als Orte menschlichen Elends zur erkennen geben. Die beklemmende Bilderflut findet eine Fortsetzung in Gary Changs grün erhellten Schlafkäfigen oder in den Ruinenwelten von Sohn-Joo Minn. Ihnen antworten die jungen Spanier von E-City und Metápolis mit einer dem Rationalismus verpflichteten urbanistischen Ethik, während japanische Stars von Hasegawa über Ito und Sejima bis Yamamoto ihre Entwürfe als magisch erhellte Idealwelten anpreisen. Mit seinem Kartonhaus für die Erdbebenopfer von Kobe holt Shigeru Ban diese Träumer zurück auf den Boden der Realität.


Hang zum Sublimen

Als Verfechter eines nachhaltigen Urbanismus postuliert Richard Rogers einmal mehr die «Stadt für einen kleinen Planeten», die «schön, kompakt, gerecht, kreativ, ökologisch und vielfältig» sein soll, und illustriert sie mit seinem Projekt für das walisische Parlament in Cardiff. Den Meinungen von zwei weiteren Moralisten - Siza und Snozzi - begegnet man hingegen nirgends. Aber auch Rem Koolhaas, der an der letzten Documenta Asiens Riesenstädte bewunderte, wurde übergangen. Dafür spiegelt sich sein Hang zum Sublimen in Beiträgen von MVRDV, von Michael Chan aus Hongkong oder von Fernando Romero aus Mexiko. Auch an Stimmen aus Afrika und Indien war Fuksas offensichtlich nicht interessiert; und Südostasien, das im Malaysier Ken Yeang eine respektierte Stimme besitzt, kommt nur mit dem Postmodernisten William Lim aus Singapur und dem jungen Indonesier Eko Prawoto zu Wort. Stattdessen darf man mitverfolgen, wie der futuristische Formalismus der beiden Amerikaner Greg Lynn und Hani Rashid, der Stars dieser Biennale, in den organischen Architekturplastiken des Pariser Naço-Teams, der Londoner dECOi-Architekten oder des Holländers Lars Spuybroek weiterwuchert.

Auch die beim Publikum noch immer höchst populären Länderschauen werden von Lynn und Rashid dominiert, die mit ihrem Forschungslabor im amerikanischen Pavillon eindrücklich die Rückkehr der USA auf die Bühne der Architektur markieren. Sehenswert ist aber auch der Beitrag Rumäniens zur Neugestaltung von Bukarest, sind die Beiträge Deutschlands und Koreas zur Verwandlung von Berlin und Seoul oder derjenige Hollands, der den vernetzten Haushalt feiert. Übersichtsausstellungen bieten Belgien, England, Griechenland, Österreich und Spanien. Die Tschechen und Franzosen machen mit Worten auf die Probleme der Globalisierung und des Städtebaus aufmerksam, die Japaner fliehen unter der Ägide von Kazuyo Sejima in eine blütenweisse Mädchenwelt, und die Russen zelebrieren mit Zeichnungen und Fotos à la Piranesi den Respekt vor ihrem gefährdeten baukünstlerischen Patrimonium. Hier spätestens wird man wachgerüttelt aus der Theme-Park-Trance, in die einen diese Biennale mit Techno-Sound und Arbeiten wie dem im Hafenbecken des Arsenals schwimmenden Zen-Garten von Hans Hollein einlullt. Dass schliesslich die Jury den Goldenen Löwen ausgerechnet dem Global Player und Schönbauer Jean Nouvel verliehen hat, zeigt, wie wenig sie an Fuksas' Ethik-Appell glaubt. - Als Inspirationsquelle für Laien und Ideenbörse für angehende Architekten vermag sich diese Mostra aber durchaus zu behaupten.


[ Die 7. Mostra Internazionale di Architettura der Biennale von Venedig dauert bis zum 29. Oktober. Katalog 120 000 Lire. ]

17. June 2000 Neue Zürcher Zeitung

Ethik statt Ästhetik?

Die 7. Architekturbiennale in Venedig

Seit einigen Jahren sonnt sich die Architektur in neuer Popularität. Wortschöpfungen wie Star- oder Kultarchitekt zeugen ebenso von diesem Höhenflug wie etwa die jüngste Medienpräsenz der Tate Modern von Herzog & de Meuron in London oder des «Klangkörpers» von Peter Zumthor auf der Expo in Hannover. Doch nun soll am Status solcher baukünstlerischer Meisterwerke gerüttelt werden. Ort der Tat ist die 7. Architekturbiennale von Venedig, die heute Nachmittag in den Giardini feierlich eröffnet wird. Unter dem etwas bizarren Titel «Città, less Aesthetics, more Ethics» versucht der Biennaledirektor Massimiliano Fuksas in den offiziellen Bereichen der Leistungsschau - also im italienischen Pavillon, in den Corderie und erstmals auch im Arsenal - dem vorherrschenden ästhetischen und formalen Diskurs ethische Dimensionen entgegenzuhalten. Das museographisch wenig überzeugende und höchst heterogen umgesetzte Ansinnen stellt aber weder die Investorenarchitektur noch die wuchernden Megacities der Dritten Welt wirklich zur Diskussion, sondern gefällt sich in Beiträgen von rund 90 Architekten. Geboten werden weniger klare Lösungen als vielmehr - dem Weltbild des moderaten Dekonstruktivisten Fuksas entsprechend - möglichst exzentrische Arbeiten. Dass dabei im Bereich der neo- organischen Baukunst auch jüngere Vordenker, allen voran Greg Lynn und Hani Rashid, zum Zuge kommen, ist zweifellos das interessanteste Moment dieser Biennale.

Lynn und Rashid gestalteten zudem im US- Pavillon den wohl anregendsten Länderbeitrag in Form eines architektonischen Workshops. Dieser streift allerdings die Begriffe Stadt und Ethik kaum, bemüht sich dafür aber um eine neue Ästhetik. Da trifft die rumänische Schau, die die Entwicklungsprobleme des von Ceausescu gepeinigten Bukarest beleuchtet, das vorgegebene Biennale-Thema besser. Österreich hingegen zelebriert einmal mehr seine neusten architektonischen Sehenswürdigkeiten, nur dass sie diesmal nicht von Einheimischen stammen, sondern - im Zeichen Haiders - von internationalen Stars. Aus dem Konzert der insgesamt 34 Nationen, die ihre Beiträge in eigenen Pavillons präsentieren, muss ausgerechnet die Schweiz ausscheren und sich - ganz ohne Architektur, dafür mit rassistischen Graffities - als Insel der «Glückseligen» aufspielen. Diese ist allerdings nur über eine wacklige Bautreppe von ausserhalb des Biennaleareals zugänglich.


[ Die 7. Mostra Internazionale di Architettura dauert bis zum 29. Oktober. Katalog 120 000 Lire. Eine ausführliche Besprechung folgt. ]

1. June 2000 NZZ-Folio

Berliner Seenplatte

Seit der Wende hat sich Berlin verändert. Vorab im Bezirk Mitte hinterliessen Baukünstler aus aller Welt Duftmarken, welche die Sinne jedoch kaum betören. Gleichwohl glitzern im fragmentierten Stadtgefüge immer wieder Bauwerke wie Kleinodien - eines bei Sonnenschein so stark, dass man es schon beim Landeanflug wahrnimmt. Was aus der Luft an zwei geometrische Wasserflächen erinnert, entpuppt sich schliesslich als Sportanlage. Dies allerdings nicht gleich. Denn nähert man sich dem Baukomplex mit der Strassenbahn vom Alexanderplatz her, sieht man zunächst nur Brachen, Plattenbauten und eine lange Treppe, die auf ein baumbestandenes Plateau führt. Hier zeigt sich der modische Prenzlauer Berg noch fast so grau wie in DDR-Zeiten.

Doch schreitet man die Stufen hoch, so findet man sich unverhofft unter Apfelbäumen wieder. Die Sportbauten nimmt man erst später wahr. Wie Seen aus Blei liegen ihre Dächer plötzlich da: das eine rechteckig, das andere kreisrund; und dann bemerkt man, dass die Baukörper in steilen Kratern stehen, als wären sie aus der Weite des Alls auf dieses fast ländliche Idyll gestürzt. Für ihre extraterrestrische Herkunft sprächen auch die Aussenhüllen aus anthrazitfarbenen Metallgeweben, die auf jede Bewegung des Betrachters wie kinetische Kunstwerke reagieren. Beim Abstieg in den Krater entfalten sich die beiden Baukörper fast wie in einem Film. Zuunterst erst gewähren Fensterbänder Einblicke in das Innere der Gebäude, die sich nun als Schwimmhalle und als Velodrom zu erkennen geben.

Errichtet wurde die über 500 Millionen Mark teure Anlage in diesem Niemandsland, weil sich gleich daneben der S-Bahnhof Landsberger Alleebefindet. Ein Traum aber war Anlass für den Bau, bewarb sich Berlin doch 1992 für die Olympischen Sommerspiele 2000. Den damals ausgeschriebenen Wettbewerb für ein Velodrom mit Schwimmhalle konnte der Pariser Architekt Dominique Perrault für sich entscheiden. Sein an eine minimalistische Skulptur erinnernder Entwurf ging von der Idee einer Grünanlage aus, in der die Sportbauten wie Wasserflächen ruhen.

Der strenge Formalismus dieser aus Frankreichs rationaler Gartenkunst hergeleiteten Komposition wird aufgelockert durch Blumenwiesen und die frei gepflanzten Apfelbäume. Hier verschwindet - anders als bei den himmelstürmenden Türmen von Perraults Bibliothèque nationale de France - die Architektur. Denn Perrault verzichtete in seinem Siegerprojekt auf jedes Imponiergehabe: Die Grünfläche, in die die Sportpaläste versenkt sind, sollte als «Central Park» von grossen Wohn- und Geschäftshäusern gefasst werden und zur grünen Lunge eines neu zu schaffenden Quartiers werden. Doch wurden die urbanistischen Visionen auf ein realistisches Ziel hin gestutzt und die Neubauprojekte auf Eis gelegt, nachdem Berlin Sydney unterlegen war.

Obwohl es zunächst überraschen mag, steht keine andere Arbeit des heute 47jährigen Perrault der Pariser Bibliothek so nah wie das Berliner Sportzentrum. Beide Entwürfe basieren auf primären geometrischen Formen, und beide sind über eine erhöhte Plattform erreichbar. Andere Aspekte verhalten sich hingegen genau antithetisch zueinander. So umschliesst in Berlin der Park die tieferliegenden Bauten, während in Paris ein Sunken Garden den Hof der Bibliothek bildet. Dafür dominieren an der Seine die Türme die Umgebung. Hier aber verbergen sich die riesigen Volumen.

Nachdem das Velodrom bereits vor drei Jahren mit dem Sechstagerennen eingeweiht worden war, konnte Ende 1999 auch die Schwimmhalle eröffnet werden. Diese erreicht man von der S-Bahn aus auf einer tief unter dem Park liegenden, über Treppen und Lifte zugänglichen Erschliessungsstrasse. Quer durch eine lichte Halle gelangt man zum abgesenkten olympischen Becken und zur monumentalen, an Raumraster von Sol LeWitt erinnernden Sprunganlage.

Zurück auf dem Eingangsniveau, nimmt man durch Fensterwände ein weiteres 50-Meter-Becken wahr, an das eine Dreifachturnhalle anschliesst. Diese beiden Nebenhallen befinden sich im unterirdischen, die beiden Hauptkörper verbindenden Bauglied, das durch eine über 300 Meter lange Glasfassade von der Erschliessungsstrasse her Tageslicht empfängt. Hier ist auch der Haupteingang zum Velodrom, durch dessen sichelförmige Lobby man bereits die gigantische Deckenkonstruktion erblickt, die drohend wie ein Raumschiff aus «Independence Day» über der Radsporthalle zu schwebten scheint. Dieses expressive Stahlgebilde von 140 Metern Durchmesser wird am Rand von 16 Pfeilern in die Höhe
gehalten, so dass unter ihm durch ein Fensterband Licht in die Halle fluten kann. Von hier oben wird der Übergang vom Rund des Daches zur ovalen Fahrbahn zu einem Formenspektakel, das den Sportanlässen leicht die Schau stehlen könnte.

1. April 2000 NZZ-Folio

Ein Rahmen für den Genfersee

Die Landschaften am Lac Léman zählen seit Jean-Jacques Rousseaus «Nouvelle Héloïse» zu den meistgerühmten Europas. Davon zeugen nicht zuletzt die ungezählten Villen, die mit ihren Gärten die Ufer säumen. Hier zu bauen müsste der Traum jedes Architekten sein. Doch ist nach Jean Tschumis Nestlé-Haus in Vevey und Max Bills Théâtre de Vidy in Lausanne fast 40 Jahre lang direkt am See kein Bau von internationaler Ausstrahlung mehr entstanden. Nun aber liess die 1954 in Basel gegründete und bis zum vergangenen Oktober in Bern ansässige Europäische Fussballunion (Uefa) auf dem ihr von der Stadt Nyon angebotenen Seegrundstück «La Colline» einen Neubau errichten. Entworfen wurde der ebenso elegante wie repräsentative Uefa-Sitz von dem seit acht Jahren an der ETH Lausanne lehrenden Architekten Patrick Berger.

Der 53jährige Pariser zählt zu jenen französischen Baukünstlern, die mit suggestiven Bildern die Essenz eines Ortes zu visualisieren suchen. So präsentiert sich denn das durch alte Bäume verschleierte Gebäude - einer Metapher der Moderne folgend - mit seinen 80 Meter langen «Decks» zum See hin wie ein Ozeanriese. Dennoch empfindet man den sich klar von den Nachbarvillen abhebenden Bau weniger als Fremdkörper denn als Akzent, der auf Grund der gegeneinander verschobenen Fassadenschichten aus grossen Glasflächen und mattschimmernden Aluminiumbändern beinahe schwerelos wirkt.

Ein anderes Bild bietet sich von der Strasse her: Hier öffnet sich der dichte Grünvorhang der Villengärten kurz, um den Blick auf die bei klarem Wetter vom Mont Blanc dominierte Uferlandschaft freizugeben. Gerahmt wird diese Sicht vom Dach des sich ganz bescheiden in die Landschaft duckenden Gebäudes und von den beiden aufgesetzten Pavillons. Das klassizistische Thema von Laugiers Urhütte variierend, beziehen sich diese gläsernen Aufsätze auf Bergers tempelartige Gewächshäuser im Pariser Parc Citroën von 1992. Und sie beschwören - dank dem Repoussoir einer mächtigen Libanonzeder - eine dem Tempelhain von Paestum verwandte arkadische Stimmung, die der rationalistischen Architektur gezielt entgegenspielt.

Die leere Landschaftsbühne zwischen den Pavillons verweist zudem auf ein urbanes Vorbild: die vom Palais de Chaillot gefasste Inszenierung von Eiffelturm und Seine. Weiter verrät die strenge Komposition der Anlage Bergers Interesse an der auf Symmetrien und Blickachsen basierenden Beaux-Arts-Tradition. Das daraus entwickelte Raster wird allerdings im Untergeschoss gestört, denn der in den Hang getriebene Gebäudeteil weitet sich zu einem Auditorium und einem Court Room, während die seeseitigen Räume der vorgegebenen Ordnung folgen.

Doch das eigentliche Thema des Hauses ist die Transparenz. Kaum hat man den Eingang an der Nordfassade durchschritten, weitet sich das Blickfeld Richtung See. Dass sich die Fensterfronten wie endlose Membranen zwischen den Geschossplatten dehnen, ist einer ausgeklügelten Baustatik zu verdanken. Gleichwohl setzte Berger alles daran, dass der Bau kein «Opfer des technischen Fortschritts» wurde: Er verbarg die Kräfte, die das Haus zusammenhalten, so raffiniert hinter Eichentäfer, Glas und Kalkstein, dass man sich in der zentralen zweigeschossigen Halle wundert, wie diese sich mit einem 70 Meter langen und 3 Meter breiten Oberlicht zum Himmel öffnen kann, ohne dass das Gebäude auseinanderklappt.

Von der Halle geht es hinunter ins Empfangsfoyer, ins Restaurant, ins Auditorium und in den Garten - oder über eine der vier Treppen hinauf in die obere Büroetage, die durch gläserne Laubengänge erschlossen wird. Seitlich angeordnete Stiegenhäuser gewähren Zugang zu den Glaspavillons auf dem Flachdach. Dieses Belvedere, von dem ein atemberaubender Panoramablick auf Alpen, See und Jura geht, verkörpert zusammen mit dem von hier aus über zwei zierliche Brücken erreichbaren Zedernparterre eine höchst zeitgemässe, von allen Schlacken der Geschichte gereinigte Neuinterpretation der klassischen französischen Gartenarchitektur.

Berger hat am Villenufer von Nyon ein transparentes Haus von lateinischem Esprit geschaffen, das sich ganz entschieden gegen die Banalität anderer Glaspaläste wendet. Mit Rücksicht auf die einzigartige landschaftliche Situation will dieses Gebäude kein modisch eitler «Spiegel heutiger Realitäten» sein, sondern seine Präsenz nur diskret markieren. Dabei werden Themen wie Symmetrie, Dualität und Schichtung, die Berger schon beim Parc Citroën oder bei der Maison de l'Université in Dijon wichtig waren, zu neuer Gültigkeit erhoben. Darüber hinaus verkörpert der Uefa-Sitz die Quintessenz der am See allgegenwärtigen Prachtbauten internationaler Organisationen vom Genfer Uno-Gebäude bis zum Musée Olympique in Lausanne.

25. March 2000 Neue Zürcher Zeitung

Architektur als Mutter aller Künste

Gesamteröffnung des Kunst- und Kongresszentrums Luzern

An diesem Wochenende findet die Gesamteröffnung des Kunst- und Kongresszentrums Luzern mit einem «Kongress der Stimmen» statt. Nachdem im August 1998 bereits der vielgepriesene Konzertsaal eingeweiht werden konnte, ist nun der spektakuläre Bau des Pariser Architekten Jean Nouvel vollendet. Das Kunstmuseum wird allerdings erst ab Mitte Juni zugänglich sein.

Das Luzerner Kunst- und Kongresszentrum (KKL) ist wohl der seit langem aufregendste Neubau in unserem Land. Die widersprüchliche Entstehungsgeschichte, der vielgerühmte Konzertsaal, vor allem aber die starke architektonische Präsenz des Musentempels am Vierwaldstättersee (NZZ 18. 8. 98) führten dazu, dass Jean Nouvels Meisterwerk seit Jahren in aller Munde ist. Dabei hatte nach dem Wettbewerb von 1990 Nouvels wenig überzeugendes Siegerprojekt - eine flügellahme Ente in einem Glaskäfig - zu einem Scherbenhaufen geführt, den erst Thomas Held als deus ex machina beseitigen konnte. Dem obersten Bauherrn der Trägerstiftung gelang es 1993, den schmollenden Nouvel auf den Plan zurückzuholen und so den Weg für den Jahrhundertbau zu ebnen. Entstanden ist schliesslich eine futuristisch wirkende Megastruktur, die alle gewünschten Funktionen vom Konzertsaal über die Mehrzweckhalle und das Kunstmuseum bis hin zu den Kongressräumen, Bars und Restaurants unter einem riesigen Dach vereint.


Dunkel glühende Architekturlandschaft

Wie eine messerscharfe Klinge schwebt das rund 100 mal 100 Meter grosse Dach über den drei auf den See ausgerichteten Kulturbauten und dem quer dazu gestellten Betriebsgebäude. Die durch das weit auskragende Dach verschattete Hauptfassade erscheint vom Schweizerhofquai aus wie ein schwarzes Loch im Uferpanorama - oder wie ein monolithischer, aus den Weiten des Alls auf die Erde gefallener Fremdkörper, den man in seiner enigmatischen Abgehobenheit eher im Grossstadtdschungel von L. A. erwarten würde als im pittoresken Weichbild von Luzern. Dabei hat sich der Meister aus Paris in diesem Werk, das zweifellos die Quintessenz seines bisherigen Schaffens darstellt, ganz gezielt mit der Stadt, dem See und den Bergen auseinandergesetzt und zu einer Lösung gefunden, die je nach Licht und Witterung industrielle, nautische, kosmische oder gar sakrale Assoziationen weckt.

Aus der Nähe betrachtet, kommen dann aber auch die architektonischen Reize dieser Kulturmaschine zum Zug: Dunkel in Rot, Grün und Blau glühende Oberflächen wechseln ab mit Höhlungen und Vorsprüngen, mit Terrassen, Gangways und Treppentürmen. Zu diesem plastischen Gefüge gesellt sich nun als neuster Bauteil die transparente, von einem Aluminiumgitter umhüllte Glasbox des Westflügels. Unter seinem Dach wurde - gleichsam als Etagengeschäft - soeben das Kunstmuseum fertiggestellt. Wenn man vom Bahnhof kommt, betritt man diesen Bauteil nun als ersten. Hinter dem etwas geduckten Eingang explodiert die Eingangshalle förmlich nach oben, während man die räumliche Tiefe erst nach und nach erahnt. Durch Glastüren und über eine Holzbrücke, die einen der beiden ins Gebäude hineingezogenen (und dessen Dreiteilung in Kongresshaus, Luzernersaal und Konzertgebäude nachzeichnenden) Kanäle quert, gelangt man in die architektonische Staffage des eigentlichen Foyers. Durchblicke, Spiegelungen und die Vexierspiele von Licht und Material bewirken hier dramatische Effekte, verschleiern dabei aber ganz bewusst den konstruktiven Kraftakt.


Kultur in weissen Räumen

Mit seinen Wassergräben, Aussichtskanzeln, Steinschluchten und Raumgittern stellt diese an Science-fiction-Filme erinnernde Innenwelt eine künstliche Landschaft dar, die nur in der expressiven Eingangshalle von Frank Gehrys Museum in Bilbao ein Gegenstück findet. Nach solch baukünstlerischem Höhenflug wirkt die knochenbleiche «Salle blanche», die Nouvels ursprünglicher Idee eines dunkelblauen Konzertsaals diametral entgegensteht, ernüchternd. Dank seinen akustischen Qualitäten vermochte dieser Saal dennoch das Publikum zu überzeugen. Ob dies dem neuen Kunstmuseum, das weit klinischer ausgefallen ist, ebenfalls gelingen wird, ist fraglich. Unter dem Dach des Mittel- und des Westtrakts hat Nouvel nämlich zusammen mit Rémy Zaugg 20 abstrakte Museumsräume mit 2100 Quadratmetern Ausstellungsfläche kreiert, die noch ganz der puritanisch- minimalistischen Idee eines hermetisch von der Aussenwelt abgeschirmten «White Cube» entsprechen. Dass Ulrich Loock, der Museumsleiter, das Haus wie eine Kunsthalle bespielen will, in der Sammlungsbestände nur im Kontext der «rollenden Programmierung» zum Zuge kommen sollen, passt durchaus ins Bild dieser rigiden Säle.

Die Abschottung der Museumsräume geht so weit, dass selbst das durch die Decke einfallende Tageslicht mittels Prismen und Metallblenden extrem gedämpft wird. Dadurch entsteht eine bleierne Atmosphäre, die beim Besucher leicht klaustrophobe Gefühle auslösen kann. Mag sein, dass alles besser wird, wenn erst einmal Kunst die weissen Kuben belebt. Jetzt aber atmet man noch auf, wenn man im hintersten Raum plötzlich durch ein riesiges Fenster Calatravas Bahnhofsfassade und kurz danach von der «Seufzerbrücke», die in den östlichen Museumsbereich führt, den tief unten zwischen West- und Mitteltrakt stahlblau glitzernden Kanal sieht. Schade, dass Nouvel, der im Foyerbereich die Ausblicke wie Ansichtskarten zu inszenieren wusste, sich hier so verschlossen gibt. Dabei betonte er doch stets, dass im Zentrum seiner Recherche die Kommunikation mittels Bildsequenzen, Assoziationen und Stimmungen stehe. Hier aber setzt er zugunsten der Kunst ganz offensichtlich auf die Absenz von Architektur und Kommunikation.


Schwierige Bespielung

Obwohl Luzern dieses Wochenende die «Gesamteröffnung» des KKL feiert, ist noch nicht das gesamte Haus zugänglich. Wohl ganz nach dem Geschmack der festfreudigen Luzerner findet diese Eröffnung in Raten noch eine Fortsetzung, wenn am 19. Juni das neue Kunstmuseum eingeweiht wird. Dann kann Loock der zur «Art» nach Basel pilgernden Kunstgemeinde den internationalen Anspruch seines Hauses mit der Eröffnungsausstellung «Mixing Memory and Desire» demonstrieren. Auch danach will das Kunstmuseum mit einem ambitiösen Programm auf die Herausforderung von Nouvels Architektur antworten. Wie schwierig das ist, veranschaulicht die seit seiner Eröffnung nicht unumstrittene Bespielung des Konzertsaals. Dabei verweisen Kritiker immer wieder auf die eigenwilligen Praktiken der Betriebsgesellschaft, die sich nicht scheut, in der «Salle blanche» neben Festwochenkonzerten etwa auch Guggenmusiktreffen durchzuführen, obwohl dafür doch der Luzernersaal zur Verfügung stünde. Die Leuchtenstadt hat sich mit dem KKL einen grossartigen Traum erfüllt. Nun sollte es ihr oberstes Ziel sein, dieses so zu bespielen, dass es nicht nur durch seine chamäleonartige Erscheinung und die stupenden Raumsequenzen, sondern auch durch seinen Inhalt immer wieder neu zu faszinieren vermag.

24. March 2000 Neue Zürcher Zeitung

Vernunft und Mystik

Antoni Gaudí im Triennale-Palast in Mailand

Der Katalane Antoni Gaudí zählt zu den populärsten Architekten überhaupt. Da aber die meisten seiner Bauten in Barcelona stehen und zudem viele Dokumente im Bürgerkrieg verlorengingen, müssen sich Präsentationen ausserhalb seiner Heimatstadt weitgehend auf Photomaterial beschränken. Gleichwohl preist Mailand eine Gaudí-Schau als «bedeutende Retrospektive» an.

Fast ein Jahrhundert lang wusste Mailand seine Position als Hochburg der italienischen Architektur zu verteidigen. Hier fand das Vokabular von Liberty und Novecento zur Gültigkeit, hier triumphierte der Razionalismo und hier entstanden um 1960 mit der Torre Velasca und dem Pirelli- Hochhaus Europas schönste Wolkenkratzer. Doch kurz nach der Fertigstellung von Aldo Rossis neorationalistischem Wohnblock in Gallaratese setzte der Niedergang ein. Vom Glanz und Elend der Mailänder Baukunst zeugt gegenwärtig eine Ausstellung im jüngst von Gae Aulenti umgebauten Spazio Oberdan an der Porta Venezia. Unter dem Titel «Milano senza confini» präsentiert sie bis zum 25. April die photographische Annäherung von zehn europäischen Künstlern an die Stadt (Katalog: Silvana Editoriale, Milano). Während etwa Fischli und Weiss die pittoreske Sicht vom Dom auf die Turmlandschaft der Innenstadt zelebrieren, beleuchten Gabriele Basilico oder John Davies gnadenlos die neusten architektonischen Verirrungen. Mit diesen kommt in Berührung, wer auf dem Weg zur Gaudí-Ausstellung im Triennale-Palast die Metropolitana an der Haltestelle Cadorna verlässt, um sich nach einigen Treppenstufen unter den vor kurzem auf dem Bahnhofvorplatz errichteten, banal pseudo- postmodernen Glashallen wiederzufinden.


Das Baugenie aus Barcelona

Unweigerlich muss man da an Gaudís Heimatstadt Barcelona denken, die seit den achtziger Jahren mit wegweisenden Platzgestaltungen ihren traditionellen Ruf als internationales Architekturzentrum zu festigen wusste. Während in der lombardischen Metropole unter der Last der Korruption die baukünstlerische Kreativität erlahmte, gilt in Katalonien die Baukunst noch immer als Ausdruck des nationalen Selbstbewusstseins. Sie geniesst daher schon seit Ildefons Cerdàs legendärem Stadterweiterungsplan von 1855 und Lluís Domènech i Montaners Schrift «En busca de una arquitectura nacional» (1878) besondere Aufmerksamkeit. Dank grossbürgerlichen Förderern war es Domènech, Josep Puig i Cadafalch, vor allem aber Antoni Gaudí vergönnt, mit ihrem Modernisme - einer Sonderform des Jugendstils - in Cerdàs urbanistischem Schachbrettraster jene höchst extravaganten Akzente zu setzen, die heute noch den Stolz der Stadt ausmachen. Darüber hinaus begeistern Gaudís geniale Bauphantasien, 1969 zu Nationalmonumenten und 1984 zum Welterbe ernannt, als architectures parlantes Schwärme von verzückten Touristen.

Diesem höchst populären Giganten der Architekturgeschichte widmet jetzt die Mailänder Triennale im Palazzo dell'Arte eine «bedeutende Retrospektive». Doch Gaudí-Ausstellungen sind ausserhalb Barcelonas schwer zu realisieren. Denn die Stadt, in der mit wenigen Ausnahmen alle Bauten des Meisters stehen, trennt sich nur ungern von jenen Zeichnungen und Plänen Gaudís, die den Bürgerkrieg überdauerten. Die von Maria Antonietta Crippa in Zusammenarbeit mit Joan Bassegoda von der Cátedra Gaudí inszenierte Schau stösst in Italien dennoch auf beachtliches Interesse, obwohl sie nur wenig Originalmaterial bietet und auf eine Einbettung von Gaudís Schaffen in den katalanischen, den spanischen und den internationalen Kontext der Zeit verzichtet. Dabei hätte gerade mit einer weitergefassten Optik, zu der auch ein Ausblick auf die Gaudí- Rezeption von Le Corbusier über Eero Saarinen bis Calatrava, Hecker und Imre Makovecz gehören müsste, das Manko ausgeglichen werden können. Statt dessen hält man sich in dieser Schau vorab an die hervorragenden Grossaufnahmen von Marc Llimargas. Die der Begleitpublikation, einem mit wissenschaftlich wenig ergiebigen Texten angereicherten Bildband, entnommenen Photos lenken den Blick auf viele überraschende Details, die man vor den Bauten selbst leicht übersieht.

In sieben Etappen wird Gaudís Œuvre chronologisch aufbereitet. Nach einem den Studentenarbeiten, der noch stark maurisch geprägten Villa El Capricho in Comillas bei Santander und der Finca seines wichtigsten Förderers, des Textilindustriellen Eusebi Güell, gewidmeten Präludium werden frühe Meisterwerke wie der an Viollet-le-Duc und Ruskin, aber auch an Barcelonas mittelalterlichem Barri Gòtic inspirierte Palau Güell vorgestellt. Anschliessend veranschaulichen die an einen Riesensaurier erinnernde Strassenfassade der Casa Battló und die organisch durchgestaltete Casa Milà (im Volksmund «La Pedrera», der Steinbruch, genannt), wie der eklektizistische Überschwang nach der Jahrhundertwende einer skulpturalen Gesamtform weicht, deren Komplexität sich nicht auf das Dekorative beschränkt, sondern sich bis auf die Schnitte und die wabenartigen Grundrisse auswirkt.


Geheimnisvolle Kraftlinien

Die als abstrakte Bauplastik inszenierte steinerne Dachlandschaft der «Pedrera», die erst 40 Jahre später in Le Corbusiers Unité d'habitation in Marseille eine kongeniale Antwort erhalten sollte, korrespondiert mit der phantastischen, nach einer Aussöhnung von Natur und Kunst strebenden Gartenwelt des Park Güell (der in der Schau mit vielfältigen Exponaten besonders gut vertreten ist). Das grottenhafte Innenleben dieses Stadtpalasts hingegen wuchert weiter in der Krypta der unvollendeten Kirche von Santa Coloma de Cervelló. Wie kein anderes Werk des Katalanen veranschaulicht die empirisch aus einem Schnurmodell abgeleitete Baustatik dieses völlig aus den Fugen geratenen Gebäudes das Bemühen des Architekten, Konstruktion und Dekoration, Vernunft und Mystik - kurz: lateinische Rationalität und nordische Expressivität zu vereinen.

In jenen Jahren brütete Gaudí auch über dem aussergewöhnlichen Entwurf für einen Hotelturm in New York (1914), in dem er die konstruktiven Erkenntnisse von Santa Coloma, aber auch der Sagrada Familia für einen Profanbau nutzbar machte. Nachdem die hochfliegenden Pläne gescheitert waren, widmete sich der immer stärker in religiöse Dimensionen entfliehende Meister ganz dem Bau von Barcelonas neuer Kathedrale, von der bei seinem Tod im Jahre 1926 allerdings erst die vier bizarren Turmlanzen der Ostfassade standen. Seither wird an der «Planungsruine» langsam, aber stetig weitergebaut. Das mag richtig sein aus klerikaler Sicht und auch Gaudís Ideal einer mittelalterlichen Bauhütte entsprechen. Gleichwohl geht so jenes Fragmentarische verloren, das ein Charakteristikum von Gaudís Schaffen war. Dieser scheute sich nicht, arme Materialien wie Bauschutt, zerbrochene Fliesen oder Basaltblöcke mit viel Erfindungsreichtum fast schon in der Art von Installationen einzusetzen. Dennoch blieb sein Genie ohne direkte architektonische Nachwirkung, auch wenn von seinem Werk geheimnisvolle Kraftlinien zum espace fluide der Moderne, nach Ronchamp, ja bis hin zum Dekonstruktivismus zu führen scheinen. Derartige Assoziationen vermag die Mailänder Ausstellung durchaus zu wecken - und darüber hinaus den Wunsch nach einer wirklich gültigen Gesamtschau, die auch neue wissenschaftliche Erkenntnisse brächte. Diese könnte bald schon Wirklichkeit werden, hat Barcelona doch im Hinblick auf den 150. Geburtstag des Meisters im Sommer 2002 bereits einen grossen Ausstellungsreigen angekündigt.


[ Bis zum 30. April im Triennale-Palast (Palazzo dell'Arte). Begleitbuch: Gaudí, l'uomo e l'opera. Fotografie di Marc Llimargas. Hrsg. Joan Bergós i Massó. Vorwort von Maria Antonella Crippa. Jaca Book Editore, Milano 1999. 311 S., Lit. 160 000. ]

9. February 2000 Neue Zürcher Zeitung

Klarheit und Harmonie

Der Architekt Henning Larsen im Louisiana Museum in Humlebæk

Im vergangenen Jahr initiierte Dänemarks wichtigstes Haus für moderne und zeitgenössische Kunst, das Louisiana Museum in Humlebæk, unter dem Titel «The Architect's Studio» eine Ausstellungsreihe, in der nach Frank O. Gehry nun der dänische Altmeister Henning Larsen präsentiert wird. Zentrales Anliegen der Schau ist die Veranschaulichung des kreativen Prozesses beim Schaffen von Architektur. International bekannt wurde Larsen mit dem Bau des saudischen Aussenministeriums in Riad (1979-84). Danach konzentrierte sich der 1925 in Opsund geborene Architekt vor allem auf Schul- und Bibliotheksbauten, bei denen sein Streben nach Klarheit und Harmonie besonders deutlich zum Ausdruck kommt.

Als Larsens jüngstes Werk konnte vor wenigen Wochen in Kopenhagen das Dänische Designzentrum eröffnet werden; und in den kommenden Monaten soll die Adolf-Würth-Kunsthalle in Schwäbisch Hall eingeweiht werden. Die nächsten Architekten, die in der Studio-Reihe des Louisiana Museum mit einer Ausstellung geehrt werden, sind Norman Foster und Renzo Piano.

[ Bis 27. Februar. Katalog: Henning Larsen. The Architect's Studio. Hrsg. Lise Kaiser. Louisiana Museum, Humlebæk 1999. 128 S., dKr. 135.-. ]

1. February 2000 NZZ-Folio

Pfahlbauten am Themseufer

Die dunklen Schatten der High-Tech-Architektur liegen seit langem über der britischen Baulandschaft, so dass selbst eine Kultfigur wie die Londoner Dekonstruktivistin Zaha Hadid in England kaum Aufträge erhält. Der vermeintlich frische Wind von Tony Blairs New Labour jedenfalls hat die baukünstlerische Verkrustung bisher noch nicht aufgebrochen. Architektonische Wegmarken muss man deshalb auf dem Inselreich weiterhin mit der Lupe suchen.

Fündig wird man dann an so überraschenden Orten wie dem Themsestädtchen Henley, wo die Königin im November 1998 David Chipperfields River and Rowing Museum eröffnete. Mit diesem Ausstellungsbau am alljährlichen Austragungsort der legendären Royal Regatta konnte der 46jährige Londoner Architekt, der sich mit Bauten in Japan und Projekten für die Berliner Museumsinsel sowie das Grassi-Museum in Leipzig einen Namen machte, nicht nur seinen ersten grösseren Auftrag in England, sondern auch sein bisheriges Chef d'¦uvre realisieren.

Nähert man sich dem Museum von Osten durch das Wiesland, so tauchen zwischen Weiden und Pappeln zwei Giebel auf, die man leicht für Bootshäuser halten kann. Diese poetische Architektur protzt nicht mit ihrem innovativen Potential. Dabei versteht es Chipperfield wie kein anderer, Überliefertes zeitgemäss zu interpretieren, indem er es «im Detail neu umschreibt». Nach dem Studium an der angesehenen AA holte er sich sein Rüstzeug bei den High-Tech-Päpsten Foster und Rogers, gebrauchte es dann aber höchst unkonventionell. Getreu seinem Motto «more with less» strebt er nach einer sinnlichen Einfachheit von Material und Form, die sich dann letztlich aber doch zu komplexen Raumgebilden verdichtet.

Das Museum, das aus zwei parallel angeordneten, über eine Passerelle mit einem Annexbau verbundenen Ausstellungstrakten besteht, antwortet auf die natürlichen Gegebenheiten der am Rande des historischen Städtchens Henley sich ausbreitenden Flussauen, indem es sich - ähnlich wie Glenn Murcutts australische Verandahäuser - auf Pfeilern über das Marschland erhebt. Es beschwört so die Idee der Urhütte und verweist auf Pfahlbauten, kann aber auch als metaphorische Anspielung auf die hier im Sommer üblichen Regatta-Zelte gelesen werden. Dennoch kommt es ganz ohne historisierende Zitate aus: anders als Terry Farrells postmodernes Meisterwerk, das etwas flussabwärts im Herzen von Henley gelegene, aber auf die alten Landsitze am Fluss Bezug nehmende Regatta-Hauptquartier von 1985.

Der von den Pilotis knapp einen Meter über das Sumpfland gestemmte Eingangsbereich, den man von den Uferwiesen her auf einer schmalen Brücke, vom Parkplatz aus auf einer Treppe oder Rampe erreicht, ist völlig verglast. Über dem durchsichtigen Fensterband scheinen zwei mit Eichenbrettern verkleidete Galerieaufsätze - die Gesetze der Schwerkraft auf den Kopf stellend - wie umgedrehte Ruderboote zu schweben. Damit wird aber schon von aussen die innere Aufteilung ersichtlich. Rechts vom Eingang befindet sich das Museumsrestaurant, das sich durch die Glasfront auf eine japanisch anmutende Holzplattform öffnet. Geradeaus erreicht man die Kasse, den Museumsshop und die Temporärgalerie, in der zurzeit eine kleine Chipperfield-Schau zu sehen ist.

Durch das Treppenhaus, das diskret auf die Raumsequenzen von John Soane verweist, steigt man hinauf zu den 36 und 48 Meter langen Oberlichtsälen. Vor der Ausstattung durch Land Design Studio erinnerten sie noch deutlich an Louis Kahns Galerien im Kimbell Art Museum. Obwohl die Raumwirkung nun durch Einbauten und Exponate, die die Geschichte des Flusses, der Stadt Henley und des Rudersports anschaulich illustrieren, etwas beeinträchtigt ist, lässt sich das Spiel mit Licht und Sicht noch immer nachvollziehen - dank gezielten, als Teil der Präsentation inszenierten Ausblicken auf die Auenlandschaft und den Fluss. Die ebenfalls an Kahn geschulte Unterteilung in dienende und bediente Teile lässt zudem parallele Gebäudeschichten und Achsen entstehen, wie man sie von Chipperfields japanischen Bauten oder von seinem «Wagamama»-Restaurant im Londoner In-Quartier Soho kennt.

Anders als bei den oft coolen Häusern der neunziger Jahre manifestiert sich in diesem unorthodoxen Museumsbau ein aus dem Entwurfsprozess gewachsenes Zusammenklingen von Ratio und Sentiment. Nicht zuletzt dadurch wird diese vielschichtige Architektur, in der man das Abbild einer demokratisch und ökologisch ausgerichteten Baukunst der Zukunft zumindest erahnen kann, zum Ereignis.

31. December 1999 Neue Zürcher Zeitung

Baukunst und Industrieruinen

Die baskische Metropole im Jahre drei nach Guggenheim

Kaum eine andere europäische Stadt hat ihren Eintritt ins 21. Jahrhundert so gezielt vorbereitet wie Bilbao. Nach einem katastrophalen Niedergang arbeitet die Metropole des Baskenlandes zusammen mit internationalen Architekten an einem neuen, für Investoren und Touristen gleichermassen attraktiven Image. Ein Rundblick im Jahre drei nach der Guggenheim-Eröffnung.

Düster waren noch vor wenigen Jahren die Bilder, die man sich von Bilbao machte. Verrottende Industrieanlagen, schwefliger Nebel, ein öliger Fluss und Terroranschläge liessen die Stadt am Nervión als gespenstische Kulisse für nachtschwarze Endzeitdramen erscheinen. Dabei genoss sie vor nicht allzu langer Zeit noch den Ruf eines pulsierenden Industrie- und Bankenzentrums, das sich auch durch Francos Demütigungen nicht in seinem Selbstverständnis irritieren liess. Dann aber geriet die russgeschwärzte Lokomotive der spanischen Wirtschaft ins Stocken, entlang der Ría genannten Mündung des Nervión schloss eine Fabrik nach der andern, und in den Hochöfen ging die Glut für immer aus. Fortan sorgte die graue Stadt am kantabrischen Meer nur mehr mit hohen Arbeitslosenquoten und brutalen ETA-Attentaten für Schlagzeilen.


Wunder von Bilbao

Was blieb Bilbao andres übrig, als sich nach vorn zu orientieren? Während die Anhänger von ETA und Herri Batasuna mit allen Mitteln einen eigenen Baskenstaat erzwingen wollten, versuchte die Stadtverwaltung mit der Förderung von Hochtechnologie, Dienstleistungen und Tourismus Arbeitsplätze zu schaffen und so eine neue Zukunft zu erfinden. Das Zauberwort im globalen Kampf um Standortgunst hiess (Bau-)Kunst. Nun besass die einst so reiche Stadt mit dem Museo de Bellas Artes (MBA) bereits eine der besten Gemäldesammlungen Spaniens und mit dem Arriaga-Theater eine altehrwürdige Institution. Als Identifikationsfiguren eines neuen Bilbao wirkten diese beiden Häuser aber etwas gar verstaubt. 1991 wurden deshalb Kontakte zum damals gerade mit Expansionsplänen liebäugelnden Guggenheim-Museum gesucht. Sie führten schnell zum Ziel: Für 150 Millionen Franken entstand - unter anderem mit Geldern der EU - ein spektakulärer Neubau von Frank O. Gehry für die im Turnus leihweise zur Verfügung gestellten Sammlungsbestände des New Yorker Kunstmultis. Als dann im Oktober 1997 das an ein Titangebirge oder eine stählerne Magnolie erinnernde «Guggenheim Bilbao» seine Tore öffnete, trafen zusammen mit den Liebeserklärungen der Kritiker auch schon die ersten Kulturreisenden ein.

Hunderttausende haben inzwischen Blockbuster Shows wie «5000 Jahre China» oder Richard Serra gesehen. Spätestens seit der Retrospektive des grossen baskischen Eisenplastikers Eduardo Chillida ist auch bei den Intellektuellen in der Region der Vorwurf des Kulturkolonialismus leiser geworden. Das MBA nahm die Herausforderung der neuen Konkurrenz an, konterte mit Ausstellungen wie Velázquez, Gentileschi oder Caravaggio und machte sich an eine bauliche Erweiterung. Dank der baskischen Geschäftstüchtigkeit, die auch nicht vor der Kunst zurückschreckt, stieg Bilbao gleichsam über Nacht als Juniorpartner von Madrid und Barcelona ins Dreigestirn des spanischen Ausstellungsbetriebs auf. Diese Position wird zurzeit mit einer Andy-Warhol-Schau (bis 13. Januar) und der Ausstellung «Stilleben von Zurbarán bis Picasso» (bis 19. April im MBA) eindrücklich verteidigt.


James Bond in Abandoibarra

Seit wenigen Wochen nun flimmern die Bilder des neuen Bilbao dank James Bond rund um den Globus. Denn der Geheimagent Ihrer Majestät hat es ausgerechnet mit gierigen Schweizer Bankiers vor Jeff Koons' zum Klischeebild eines neu erblühten Selbstbewusstseins avancierten Blumenhund «Puppy» und vor Gehrys schwindelerregendem Musentempel zu tun. Dabei hätte man ihn doch wohl eher im Geschäftsviertel an der Plaza Circular erwartet. Dieses erreicht man seit 1995 am schnellsten mit der hypermodernen, von Bonds Landsmann Norman Foster erdachten Metro. Aus der übersichtlich hellen Station Abando gelangt man durch «Fosteritos» genannte Glastrichter - kongeniale Neuinterpretationen von Guimards Pariser Métroeingängen, die an durchsichtige Insektenlarven erinnern - hinauf auf einen geschäftigen Platz, der mit dem minimalistischen BBV-Hochhaus und den gravitätischen Tempelfassaden für einen Augenblick an New Yorks Wallstreet denken lässt.

Von hier führt die Gran Vía quer durch die seit 1876 nach den Plänen von Achúcarro, Hoffmeyer und Alzola angelegte Stadterweiterung mit ihren Wohn- und Büropalästen aus allen Epochen, von der Gründerzeit über Jugendstil und Art déco bis zur Nachkriegsmoderne. Der Prachtboulevard endet an der Plaza del Sagrado Corazón, von wo aus man die obersten Ränge der etwas in die Jahre gekommenen Fussballkathedrale von San- Mamés erahnen kann, für die Calatrava und Foster 1995 im Auftrag von Atlétic de Bilbao zwei nicht realisierte Neubauprojekte vorlegten. In Richtung Ría hingegen erblickt man den vor wenigen Monaten eingeweihten jüngsten Prestigebau der Stadt: den Palacio Euskalduna. Dieser Kongresspalast und Opernhaus vereinende, formal höchst widersprüchliche Bau der jungen Madrilenen Federico Soriano und Dolores Palacios, der sich anstelle der ausgedienten Euskalduna-Werft als Collage aus rostigem Schiffsrumpf und nüchternem Bürohaus erhebt, ist mit seinen lyrischen Aufführungen und Tagungen Bilbaos neuster Trumpf im Streit um Standortgunst und Luxustourismus.

Am besten lässt er sich von der gekurvten Panoramastrecke der elegant überdachten Fussgängerebene von Javier Manterolas 1998 vollendeter Euskalduna-Brücke aus betrachten. Sie und der Gehry-Bau werden dereinst das neue, von Cesar Pelli unter dem vielsagenden Projektnamen Ría 2000 bereits 1992 geplante Abandoibarra-Viertel begrenzen. Auf dem zurzeit als Containerumschlagplatz genutzten Gelände sollen ausser dem von Javier López Chollet entworfenen Parque de la Ribera Stadthäuser mit 800 Wohnungen, Bürobauten, ein Museo Marítimo und die über eine neue Passerelle mit der Universidad de Deusto am anderen Ufer verbundene Universitätsbibliothek entstehen. Ein Tram wird das neue Quartier über die Plaza Circular mit den «Siete Calles» der pittoresken Altstadt verbinden, die im kommenden Juni ihren 700. Geburtstag feiern kann.

Bis diese Tramlinie im Jahr 2005 eröffnet wird, geht man von Abandoibarra am besten zu Fuss in Richtung Altstadt. Vorbei am Wasserbecken vor dem Guggenheim und unter der imposanten Salve-Brücke hindurch führt nämlich bereits eine neue Promenade dem Südufer der Ría entlang. Vorerst endet sie allerdings bei Calatravas weisser Zubizuri-Fussgängerbrücke, einem ingenieurtechnischen Juwel, das einer windgepeitschten Harfe gleich den Fluss überspannt. Am anderen Ufer flaniert man dann - mit Blick auf die Ruinen verlassener Handelshäuser - durch die historistische Arenal-Anlage bis zum Arriaga-Theater und zu den Siete Calles, die sich zwischen der klassizistischen Plaza Nueva und Pedro Ispizuas bizarrem Mercado de la Ribera erstreckt. Diese Markthalle liegt seit 1930 wie ein Schiff im trüben Nervión vor Anker; und es dürfte wohl noch Jahre dauern, bis sie sich in sauberen Fluten spiegeln wird. Schon jetzt aber verströmen der 1946 gegenüber der Altstadt an der Muelle Naja nach Plänen von Galíndez & Chapa realisierte Bailén-Turm und die an ihn angedockten Häuser zusammen mit dem neubarocken Bahnhof einen Hauch von Chicago und lassen erahnen, wie hier bereits einmal ein Boom architektonische Form annahm.


Eine Stadt des 21. Jahrhunderts?

Der phänomenale Wirtschaftsaufschwung der letzten Jahre findet seinen Niederschlag allerdings nicht mehr nur im Herzen Bilbaos, sondern auch an einem Eingangstor: dem Sondika-Flughafen, wo - unweit des Technoparks Zamudio - demnächst Calatravas neues, an den Falkenkopf des ägyptischen Sonnengottes Horus erinnerndes Terminalgebäude und ein Kontrollturm in Form einer weissen Calla-Blüte in Betrieb genommen werden können. Diese neuen Wahrzeichen sind ebenso unverwechselbar wie Gehrys Guggenheim. Sie zeigen aber auch, dass das gut zwei Millionen Einwohner zählende autonome Baskenland (von denen die Hälfte im Grossraum Bilbao lebt) nur mit Hilfe von Kulturimporten Grösse und Bedeutung demonstrieren kann. Das freut die nationalistisch gesinnten Kreise wenig. Doch nicht deswegen droht der Zukunftsoptimismus des kaum aus der Asche des Niedergangs erstandenen baskischen Phönix im eisigen Wind des Terrors zu erstarren, sondern einmal mehr politischer Händel wegen. Denn nachdem Anfang Dezember die ETA ihren Waffenstillstand aufgekündigt hat und die nationalistischen Parteien - gestützt von 15 000 auf die Strassen von Bilbao geeilten Demonstranten - wieder Unabhängigkeitsgelüste hegen, könnte die seit einigen Jahren so fruchtbringend sprudelnde Energie der Stadt erneut in Angst versiegen. Ob dann Gehrys selbst unter Bizkaias grauem Himmel stets heiter funkelnder Jahrhundertbau für Investoren und Touristen weiterhin als Symbol einer Stadt des 21. Jahrhunderts gelten könnte?

Roman Hollenstein

11. December 1999 Neue Zürcher Zeitung

Cool Britannia?

Der Architekt David Chipperfield in Henley-on-Thames

Dank Mode, Design und Kunst steht London gegenwärtig im Rampenlicht. Im Bereich der Architektur hingegen macht Cool Britannia fast nur mit schrägen Bar- und Restaurantumbauten Schlagzeilen. Die beiden wohl wegweisendsten neuen Gebäude aber sind das Medienzentrum von Future Systems in London und David Chipperfields River and Rowing Museum in Henley.

London rüstet sich auf das Jahr 2000, und allenthalben entstehen neue Bauten. Doch Begeisterungsstürme können sie kaum entfesseln. So wurde etwa das Royal Opera House in Covent Garden durch den postmodern anbiedernden Umbau von Jeremy Dixon und Edward Jones in eine gigantische Banalität verwandelt. Das mehr als eine halbe Milliarde Franken teure Machwerk veranschaulicht, dass die thatcheristische Theorie von der Architektur als überflüssigem und teurem Beiwerk zum Bauen grundlegend falsch ist.

Dennoch konnte oder wollte bisher auch New Labour nicht für eine Besserung sorgen, sehr zum Leidwesen der jungen Architekten, die sich - anders als die YBAs - mehr schlecht als recht mit Kleinstaufträgen über Wasser halten. Von ihnen stammen einige der schrägen Laden-, Bar- und Restaurantumbauten, die der gegenwärtigen Londoner Architekturszene einen Hauch von Cool Britannia verleihen. Sonst jedoch dominiert fast allenthalben Phantasielosigkeit, selbst wenn der dank James Bond nun auch ausserhalb Englands bekannt gewordene, nachts mit seiner silbrig schimmernden Kuppel und den rot glühenden «Landestegen» zum Ufo mutierende Millennium Dome von Grossmeister Richard Rogers durchaus Emotionen wachrufen kann.

Frostiges Architekturklima

Doch vermag auch der Dome, für den sich sogar Stars wie Zaha Hadid als Innendekorateure zur Verfügung stellen, nicht dem Vergleich mit der am Südufer der Themse ihrer baldigen Eröffnung entgegenstrahlenden Tate Modern von Herzog & de Meuron standzuhalten. In der gegenwärtigen Krise der etablierten britischen Architektur sucht selbst die einst durch die exzentrischen High-Tech-Visionen von Archigram geprägte Architectural Association (AA), immerhin eine der führenden Architekturschulen weltweit, vermehrt bei Kontinentaleuropäern Inspiration: Nachdem sie bereits 1996 Peter Zumthors Thermalbad in Vals als Meilenstein zelebriert hatte, lässt sie zurzeit das wohl interessanteste Berliner Büro, Sauerbruch & Hutton, im hauseigenen Ausstellungssaal zu Wort kommen. In einer mitunter geradezu an Lohse gemahnenden Installation präsentieren die einstigen AA-Absolventen neben ihren bisherigen Hauptwerken, dem Berliner GSW-Hochhaus und dem Photonik-Zentrum, auch ihre neusten Projekte in Form von Plänen, Zeichnungen und etwas bizarren 3-D-Darstellungen: das Bundesumweltministerium in Dessau, eine Polizeiwache in Berlin, eine Fabrik in Magdeburg sowie zwei Londoner Wohnhäuser.

Die von Koryphäen wie Foster oder Rogers und einigen Grossunternehmern dominierte britische Architektur ist gegenwärtig derart ausgelaugt, dass für die Jury, die vor wenigen Tagen den begehrten Stirling Prize des Royal Institute of British Architects zu vergeben hatte, nur zwei Bauten ernsthaft zur Debatte standen: das modisch spektakuläre Retro Piece des über dem Lord's Cricket Stadium schwebenden Medienzentrums von Future Systems (NZZ 25. 11. 99) sowie das einem komplexen Minimalismus verpflichtete, John Soanes Raumgefühl mit der Materialsinnlichkeit der Neuen Einfachheit verbindende River and Rowing Museum in Henley-on- Thames von David Chipperfield - beides vergleichsweise preisgünstige Bauten, die für sogenannt konservative Auftraggeber realisiert wurden. Schliesslich fiel die Wahl auf Future Systems. Das hat wohl auch damit zu tun, dass man sich in Grossbritannien selbst dann noch an die High- Tech-Heilsbotschaft klammert, wenn sie - wie im Fall des preisgekrönten Medienzentrums - längst ironisch gebrochen wird.

Von seinen architektonischen und urbanistischen Qualitäten her kann das harmonisch in die Flussauen der Themse eingebettete River and Rowing Museum in Henley aber durchaus mit dem Medienzentrum rivalisieren, auch wenn es mit seinen steilen Giebeldächern und der das Obergeschoss umhüllenden Holzverkleidung zunächst eher etwas traditionell wirkt. Chipperfield hat das aus zwei parallel angeordneten Baukörpern bestehende Museum, seinen ersten Grossauftrag in England, sorgsam aus den Gegebenheiten des Ortes entwickelt. Doch anders als Terry Farrells etwas flussabwärts im Zentrum von Henley gelegenes postmodernes Hauptquartier der Royal Regatta von 1985, das auf die alten Landsitze am Fluss Bezug nimmt, ist Chipperfields neues Museum ebenso zeitgenössisch wie seine Bauten in Kyoto oder sein gigantisches Projekt für die Berliner Museumsinsel.

Ein Meisterwerk an der Themse

Indem das River and Rowing Museum sich auf massiven Pfeilern über der sumpfigen Flussaue erhebt, verweist es gleichermassen auf die Idee der Urhütte als auch auf die Häuser der Pfahlbauer, womit die Vergangenheit dieser alten Kulturlandschaft schon im Gebäude selbst angedeutet ist. Das in der Art eines Zentempels von einer hölzernen Plattform gerahmte Eingangsgeschoss im Hochparterre ist verglast. Darüber schweben wie umgekehrte Schiffe die an Louis Kahns Kimbell Art Museum erinnernden Galerien, die der Geschichte des Flusses und des Städtchens Henley, vor allem aber dem Rudersport - Henley ist jeweils im Juli Austragungsort der legendären Royal Regatta - gewidmet sind.

Das Museum besitzt auch eine Galerie für temporäre Veranstaltungen, in der zurzeit eine Ausstellung über Chipperfields jüngste Bauten und Projekte zu sehen ist. Der 46jährige Londoner Architekt beschränkte die für ein breites Publikum gedachte Schau weitgehend auf seine überaus attraktiven Holzmodelle. Sie repräsentieren realisierte Arbeiten wie die vieldiskutierte Villa in Berlin-Schöneberg oder das elegante Bürohaus am Düsseldorfer Hafen, aber auch die Entwürfe für ein Theaterzentrum in Bristol, die Friedhoferweiterung in Venedig, den Justizpalast und die Altstadtsanierung von Salerno, das Museum der Weltkultur in Göteborg sowie das Kunstmuseum in Davenport, Iowa. Die Modelle können zwar eine Vorstellung von Chipperfields formalem Erfindungsgeist, nicht aber von seinen Raumerfindungen vermitteln. Hier kommt nun das gleich mit zwei Modellen vorgestellte River and Rowing Museum, Chipperfields bisheriges Chef d'œuvre, als direkt erlebbares Originalexponat zum Zuge. Wer nach einem Rundgang durch das Haus Chipperfields atmosphärische Raumsequenzen auch noch auf einem alltäglicheren, aber nicht weniger gelungenen Niveau kennenlernen möchte, dem sei anschliessend zu einer Besichtigung des japanischen Nudelrestaurants Wagamama an der Lexington Street in London geraten.

[ Die Chipperfield-Ausstellung im River and Rowing Museum in Henley-on-Thames dauert bis zum 12. März; Begleitpublikation £ 18.50. - Die Ausstellung Sauerbruch & Hutton in der AA am Bedford Square dauert bis zum 22. Januar; kein Katalog. ]

7. December 1999 Neue Zürcher Zeitung

Piranesi-Preis an junge Slowenen

Die in Ljubljana tätigen Architekten Jurij Sadar und Boštjan Vuga erhielten am 28. November den Piranesi-Preis 1999. Dieser wird in Erinnerung an den aus dem slowenischen Piran stammenden Künstler für besondere Leistungen auf dem Gebiet der Architektur in den Staaten Mitteleuropas verliehen. Obwohl die beiden Architekten erst wenig über 30 Jahre alt sind, gelten sie in Insiderkreisen als die europäischen Newcomer des Jahres. Sie realisierten unter anderem einen spektakulären Bau für die slowenische Handelskammer in Ljubljana und ein gläsernes Kaufhaus in der dortigen Altstadt. Ihre Projekte für die Erweiterung der Nationalgalerie und für einen Sportpalast, beide ebenfalls in Ljubljana, sowie für den slowenischen Pavillon an der Expo 2000 in Hannover zeugen von einer zwischen Retro-Style und High-Tech oszillierenden Innovationsfreude, die gleichermassen den Einfluss der Londoner AA wie des slowenischen Meisterarchitekten Edvard Ravnikar verraten.

5. December 1999 Neue Zürcher Zeitung

Ups and downs

Museumsbauten von Herzog & de Meuron

Eben erst durfte das Basler Architekturbüro Herzog & de Meuron in Stockholm den Rolf- Schock-Preis entgegennehmen, da konnte es auch schon offiziell bekanntgeben, dass es für die Emanuel-Hoffmann-Stiftung in Basel ein «Schaulager» realisieren wird. Dieser neuartige Bautypus, in dem sich Eigenschaften des Depots mit jenen des Museums vereinen, soll in Münchenstein bei Basel entstehen und auf rund 20 000 Quadratmetern Fläche die modernen und zeitgenössischen Kunstwerke der Stiftung leichter zugänglich machen, die nicht permanent im Kunstmuseum oder im Museum für Gegenwartskunst ausgestellt sind. Der fünfstöckige Kunstbau wird im Sommer 2002 eröffnet werden. Zur gleichen Zeit hätte auch das Blanton Museum of Modern Art der Universität von Texas in Austin, der erste Museumsauftrag von Herzog & de Meuron in den USA, eingeweiht werden sollen. Doch Unstimmigkeiten zwischen den Auftraggebern, die den Entwurf offensichtlich dem amerikanischen Durchschnittsgeschmack anpassen wollten, und den Architekten führten vor wenigen Tagen zum Eklat, worauf die Basler den Vertrag aufkündigten. Das auf seinen Ruf bedachte Büro kann sich diese puristische Haltung erlauben, arbeitet es doch gegenwärtig in den USA an einem viel bedeutenderen Auftrag: dem Neubau des De- Young-Museums in San Francisco. Zudem wird im kommenden Jahr ihr spektakuläres Umbauprojekt für die Tate Modern in London eröffnet. Im Jahr 2003 dürfte dann auch in der Schweiz mit der Erweiterung des Aargauer Kunsthauses ein Museumsbau von Herzog & de Meuron eingeweiht werden, vorausgesetzt, das Projekt nimmt - wie zu hoffen ist - bald die politischen Hürden.

5. December 1999 Neue Zürcher Zeitung

Begegnung zweier Klassiker

Alvaro Siza in der Basilica Palladiana von Vicenza

Als einer der meistbewunderten Architekten unserer Zeit ist der 66jährige Portugiese Alvaro Siza längst nicht mehr nur in seiner Heimat tätig. Seinen Bauten, in denen sich rationale Geometrie und organische Form zur skulpturalen Architektur vereinen, begegnet man heute in halb Europa. Nun stellt Siza sein Schaffen in der Basilica Palladiana von Vicenza zur Diskussion.

Beim Namen Vicenza kommen Architekturliebhaber leicht ins Schwärmen. Sie denken an das Teatro Olimpico, den Palazzo Chiericati oder an die Villa Rotonda - kurz: an Palladios Meisterwerke, die in ihrer heiteren Pracht und Eleganz eine seltene Gipfelszenerie abendländischer Baukunst markieren. In deren Schatten zu bauen ist nicht einfach. Das musste schon Scamozzi erfahren; und die Architekten unseres Jahrhunderts waren so gelähmt, dass sie überhaupt keine nennenswerten Spuren hinterliessen. Doch statt sich wie andere italienische Städte mit der glorreichen Vergangenheit zu trösten, ergriff Vicenza 1995 die Flucht nach vorn. Seither lädt die Stadt einmal im Jahr zum Dialog zwischen heutigen Architekturpositionen und Palladios hoher Kunst: Hinter den Arkaden der Basilica Palladiana, des einstigen Palazzo della Ragione, veranstaltet sie zusammen mit der Architekturfakultät von Venedig jeden Herbst eine Ausstellung, die jeweils einem zeitgenössischen Architekten gewidmet ist. Darunter befanden sich bisher so bedeutende Figuren wie Ando oder Ungers.


Die Macht der Modelle

Auch der neuste Gast, der 1933 geborene und längst mit allen wichtigen Auszeichnungen seines Fachs dekorierte Portugiese Alvaro Siza, zählt zu den ganz Grossen der Gegenwartsarchitektur. Doch anders als Ungers, dessen jüngste Arbeiten mitunter einen minimalistisch versteinerten Palladianismus durchscheinen lassen, bieten Sizas Bauten - einmal abgesehen vom befremdlich monumentalen portugiesischen Pavillon der Expo 1998 in Lissabon - keinen aufgebrühten Klassizismus. Siza ist denn auch weniger durch formales Nachempfinden als durch seine Haltung Palladio nahe. Wie der Meister aus Vicenza zwischen Manierismus und Barock die Ideale von Antike und Renaissance nochmals zu beleben wusste, so versteht es Siza nämlich, die Quintessenz aus dem Werk der vier Giganten Wright, Loos, Le Corbusier und Aalto zu extrahieren und so der Moderne neue Wege zu eröffnen. Dies jedenfalls ist die verblüffende Einsicht, die einem diese Ausstellung vermittelt. Dabei ist die Schau, die der Architekt dem heimischen Publikum und den staunenden Palladio-Pilgern bereitet hat, nicht eben leicht zu konsumieren. Anders als die Retrospektive von 1995 in Sizas Centro Gallego in Santiago de Compostela muss die Veranstaltung in Vicenza ohne real gebaute Werke auskommen. Zudem setzt Siza, der Verführungskraft der Photographie misstrauend, ganz auf die Macht der Skizzen, Pläne und Modelle und verbannt die Abbildungen, die die Erscheinung eines Gebäudes leicht manipulieren können, in die Erdgeschossgalerie.

Die Exponate werden von Siza auf selbst entworfenen Tischen präsentiert. Diese floaten wie Inseln im gigantischen Salone der Basilica, der einer umgekehrten Arche Noah gleicht und entsprechend schwierig zu bespielen ist. Am Anfang der raumgreifenden Installation steht das längst legendäre, vor vierzig Jahren in Matosinhos entstandene Teehaus, in dem Siza - unter dem Einfluss seines Lehrers Fernando Távora - rationale Geometrie und regionale Tradition mit der organischen Formensprache von Wright und Aalto vermählte und so einen für die neuere portugiesische Architektur wegweisenden Bau schuf. Am Ende des gut 40 Modelle langen Parcours steht der eigenwillige Entwurf für das Kulturzentrum Iberê Camargo im brasilianischen Porto Allegre, dessen Kurven und Rampen an das vor 20 Jahren projektierte Bankgebäude in Vila do Conde und mehr noch an Le Corbusier erinnert, dem Siza schon 1992 mit dem La Tourette verpflichteten Projekt der Câmara Municipal von Evora seine Reverenz erwiesen hatte.

Neben den städtebaulichen Entwürfen für Berlin und Venedig dominieren in dieser Retrospektive die Einzelbauten. Es finden sich aber auch urbanistisch konzipierte Anlagen wie die Architekturschule in Porto. Von diesem in Form eines griechischen Tempelbezirks mit den prominent am Hang placierten «Schatzhäusern» der Lehrgebäude und dem «Theater» der Aula realisierten Schlüsselwerk fehlt hier leider das Modell. Dabei hätte sich an ihm Sizas Komponieren entlang von Achsen ebenso gültig ablesen lassen wie dessen subtile Auseinandersetzung mit dem Kontext und der Topographie eines Ortes oder die durch überraschende Winkel und tief heruntergezogene Wandschürzen betonte Plastizität der zwischen Kubismus, Art déco und klassischer Moderne oszillierenden Baukörper - ja selbst Sizas Vorliebe für jene maskenartigen Fassaden, die seit Cassiano Branco in der portugiesischen Baukunst immer wieder auftauchen. Was aber auch dieses Modell nicht hätte vermitteln können, ist die Lichtregie, die Sizas Bauten in eigentliche Raumerlebnisse verwandelt. Geradezu ins Spirituelle überhöht wird das Tageslicht in der 1995 vollendeten Kirche von Marco de Canavezes, die mit ihren breitschultrigen Eckrisaliten und der extrem überhöhten Zweiflügeltür an den Tempel Salomos gemahnt und allein schon damit einen der erstaunlichsten Beiträge zur Sakralarchitektur des ausklingenden Jahrhunderts darstellt.


Poetische Essenz

Wer Sizas Arbeiten im Original kennt, wird begeistert von einem Modell zum nächsten eilen und diese mit den Plänen und den virtuosen Skizzen, aber auch mit den eigenen Bildern vor dem inneren Auge vergleichen. Die anderen jedoch werden sich wohl etwas irritiert durch die spröde Präsentation kämpfen. Die poetische Essenz von Sizas Architektur lässt sich im Grunde eben weder ausstellen noch in der monumentalen Begleitpublikation einfangen. Über diese Tatsache hinweg trösten allerdings im Erdgeschoss eine Reihe stimmungsvoller Photos sowie ein Video von Sizas Arbeiten, vor allem aber ein Zyklus von intimen Handzeichnungen, die einen bald an den Golf von Lugano, bald über die Altstadt von Prag oder vor die Hochhauskulisse von Macao entrücken. All diesen inszenatorischen Widersprüchen zum Trotz dürfte es schwierig sein, in den nächsten Jahren eine würdigere Schau in die heiligen Hallen der Basilica zu bringen. Dies ist allerdings kein Grund, das Experiment hier abzubrechen. Im Gegenteil: Bedarf doch das zeitgenössische Schaffen des Vergleichs mit den Werken der Vergangenheit - und wo liesse sich dieser Paragone besser durchführen als in der Stadt Palladios? (Bis 30. Januar)


[ Begleitpublikation: Alvaro Siza. Hrsg. Francesco dal Co. Mit einem Essay von Kenneth Frampton. Electa, Mailand 1999. 603 S., L. 120 000.- (in der Ausstellung). ]

1. December 1999 NZZ-Folio

Ein farbiger Fassadenstapel in Ljubljana

Dem modernen Klassizisten Joze Plecnik verdankt Ljubljana viel. Mit Brücken, Markthallen und einem antikisierenden Wehr nobilitierte er den Flussraum der Ljubljanica und verlieh der Universität mit seiner Bibliothek ein Gesicht. Bis heute kommt in Sloweniens Hauptstadt kein Architekt um Plecnik und seine Zeitgenossen Ivan Vurnik und Maks Fabiani herum. Das gilt auch für die jüngsten Stars der Szene, den 36jährigen Jurij Sadar und den 33jährigen Bohtjan Vuga. Bei ihrem bisher wichtigsten Werk, dem neuen Sitz der Handelskammer, zollen sie mit der von Grün bis Orange changierenden, leicht aus dem Lot geratenen Südfassade dem Hang der grossen Meister zum Gesamtkunstwerk Tribut und arbeiten dabei doch ganz zeitgenössisch.

Das Team Sadar & Vuga ist zweifellos ein Phänomen, hat es doch in den vergangenen Jahren fast jeden grossen Wettbewerb im kleinen Land für sich entscheiden können. In cool aufgemachten Jahresberichten dokumentieren sie den Entwicklungsstand ihrer Arbeiten vom roten Fernsehstudio in Nova Gorica über das ufoartige Sportstadion oder die gläserne Erweiterung der Nationalgalerie bis hin zum kürzlich fertiggestellten Warenhaus «Dom Mueller» in Ljubljana mit seiner reflektierenden Moiréhaut. Im Büro reicht dann der bewusst in Prada und in Retrolook gekleidete Vuga Einzelheiten nach, etwa zum slowenischen Pavillon, der mit seiner irritierend sich bewegenden Membran zu einem Highlight der Expo 2000 in Hannover werden dürfte.

Wie überlegt Sadar & Vuga mit den Gewissheiten herkömmlichen Bauens brechen, zeigt ihre von der Londoner AA inspirierte, durch Teamarbeit und Diagramme geprägte Planungsweise, die jedes Gebäude anders erscheinen lässt. Damit passt das 1996 gegründete Büro vorzüglich in die zukunftsorientierte Gesellschaft des jungen Staats. So erstaunt es nicht, dass es mit dem Neubau der Handelskammer den Wettbewerb um den prestigeträchtigsten Bauauftrag Sloweniens für sich entscheiden konnte.

Gemäss dem Credo von Sadar & Vuga, die Bedürfnisse des Auftraggebers in einem Bau zu materialisieren, der mit gezielten Effekten Benutzer und Besucher zu begeistern weiss, entwarfen sie einen «Megastore des Kapitals». Dessen funktionale Identität ist nicht mehr der Maschinenideologie Le Corbusiers verpflichtet, sondern einem auf Austausch, Interaktion und schnellen Zugriff ausgerichteten Network. Kernstück der Anlage bildet daher eine mit ihren irritierenden Perspektiven an Science-fiction-Filme erinnernde Vertikalhalle, um die herum Bibliothek und Vortragssäle angeordnet sind sowie die einem Gang folgenden Büros im Nordteil des Baus.

Möglich wurde dieser futuristische Organismus dank einem Kunstgriff: Sadar & Vuga zogen - virtuell - den Sockel unter der gläsernen Scheibe des Bürotrakts hervor, klappten ihn auf und verbanden ihn mit dem nun etwas abgesunkenen Glashaus. Dadurch verkürzen sich im Innern nicht nur die mittels Treppen, Brücken und Raumschluchten dramatisch inszenierten Kommunikationswege. Aus dieser Lösung resultierte auch eine zur Dimiheva-Strasse hin sich öffnende, nachts wie eine Landepiste erhellte Plaza, die zusammen mit dem Neubau den eigentlichen Kondensationskern des schnell sich wandelnden Quartiers mit seinen Ministeriums- und Fakultätsgebäuden bildet.

Anders als die auf Interaktion ausgerichtete Vertikalhalle wollen die spektakulären Fassaden des aus zwei unterschiedlichen Hälften bestehenden Hauses dem Unternehmen auch nach aussen hin einen effektvollen Auftritt garantieren: Der aus einer Eisenbetonkonstruktion bestehende, achtstöckige Bürotrakt besitzt eine glatte, nach Freud das «männliche» Prinzip verkörpernde Haut, die die Geschosszahl völlig verunklärt. Die halböffentliche Südseite besteht hingegen aus einem Stahlskelett, das sich zu einem chaotischen Stapel farbiger Kisten formt, wobei deren «weibliche» Auskragungen wohl unbewusst auch eine Reverenz an die Bauten Edvard Ravnikars, des Meisters der slowenischen Nachkriegsmoderne, darstellen.

Diese Mehrdeutigkeit auf formaler, materieller und konstruktiver Ebene, die im Innern des Gebäudes noch durch räumliche Durchdringungen gesteigert wird, zeugt ebenso wie die Freude am Effekt von der Innovationslust des Büros. Dass dabei Kontext und Tradition - auch in historischer Umgebung, wie etwa das Warenhaus in Ljubljana zeigt - untergeordnete Rollen spielen, ist typisch für eine Generation von Architekten, die sich im Zeichen des Retrokults wieder für die Tabula-rasa-Ästhetik der unsentimental zukunftsgläubigen Seventies begeistern kann. Wie dem auch sei: Als architektonische Vorreiter des neuen Ostens dürften Sadar & Vuga mit ihrem Schaffen künftig wohl noch für manche Überraschung gut sein.

19. November 1999 Neue Zürcher Zeitung

Hochhäuser für die europäische Stadt

Ein zukunftsweisendes Projekt am Münchner Olympiapark

In den ersten Nachkriegsjahrzehnten erlebte die aus den USA importierte Hochhausarchitektur auch in Europa eine kurze Blüte. Ihre geglückteste Ausformung fanden die schnell zum Fokus einer Neuorientierung der abendländischen Stadt avancierten Türme wohl im Pirelli-Hochhaus von Gio Ponti und in der Torre Velasca von BBPR, die beide in den späten fünfziger Jahren in Mailand entstanden sind. Als Zeichen wirtschaftlicher Dynamik schossen damals Bürotürme in allen Dienstleistungszentren aus dem Boden: in Frankfurt, in London, ja selbst in Zürich. Doch als die Visionen der Planer und Architekten allzu futuristisch wurden, zog man nicht nur an der Limmat die Notbremse; und so wurde aus der zukunftsorientierten Baugattung ein Synonym für die Unwirtlichkeit der Stadt: Frankfurt, dessen Skyline trotz rotgrüner Kritik fröhlich weiter in den Himmel wuchs, wurde fortan abschätzig «Mainhattan» genannt; und in London wetterte Prinz Charles gegen die Zerstörung des Stadtbilds rund um St. Paul's Cathedral. Da hatte es immerhin die Grande Nation besser, verlegte man doch in Paris nach dem Schock von Montparnasse die Hochhauscity kurzerhand in die Défense.


Türme mit Sex-Appeal

Seit Mitte der achtziger Jahre machte sich dann allerdings ganz leise ein Umdenken bemerkbar: Fosters Hongkonger Bankenturm, das Londoner Lloyd's Building von Rogers oder Johnsons New Yorker Lipstick bewiesen, dass Himmelsstürmer auch sexy sein konnten. Bald darauf wurde in dem von städtebaulichen Skrupeln kaum geplagten pazifischen Raum eine neue Runde im Wettstreit um das höchste Haus eingeläutet. Nachdem Fosters Pläne für einen 750 Meter hohen Millennium Tower in Tokio in den Turbulenzen der Wirtschaftskrise untergingen, war es das Boomland Malaysia, das mit Cesar Pellis Petronas Towers einen neuen Rekord aufstellte, den ihm nun Chinas in den Himmel wachsende Städte, aber auch Melbourne und das entthronte Chicago mit neuen Entwürfen streitig machen.

Da bleibt Europa weit abgeschlagen, auch wenn sich die Finanzmetropolen Frankfurt und London in einen Höhenkampf verstrickten, bei dem weder Rotterdam noch die Wiener Donaucity mithalten können. Dafür sind auf dem alten Kontinent architektonisch und urbanistisch interessante Lösungen entstanden: etwa die Doppeltürme am olympischen Hafen von Barcelona oder das RWE-Hochhaus in Essen, die beide keine Skyline nach amerikanischem Vorbild anstreben, sondern wie die Kirch- und Rathaustürme der mittelalterlichen Stadt einen vertikalen Akzent setzen: in Barcelona in einem neugeschaffenen Wohn- und Geschäftsviertel weitab von den historischen Ramblas, in Essen im bisher eher gesichtslosen Zentrum. Der vielleicht von Iwan Leonidows Wolkenkratzerentwurf von 1934 inspirierte, 162 Meter hohe Essener Zylinderbau wurde 1996 zu einer kleinen Sensation, stahl doch das junge Düsseldorfer Büro Ingenhoven, Overdiek und Partner mit ihm sogar Fosters Frankfurter Commerzbank (bei deren Wettbewerb die Düsseldorfer 1991 den zweiten Platz belegten) die Schau. Seither haben Ingenhoven, Overdiek und Partner mehrfach für Schlagzeilen gesorgt, etwa mit dem Entwurf für einen 250 Meter hohen, an Peis Hongkonger China Bank Tower angelehnten Wolkenkratzer für Schanghai.

Nun haben die Düsseldorfer Spezialisten für Geschäftsbauten mit architektonischem Anspruch sogar eine traditionell hochhausfeindliche Hochburg des architektonischen Konservativismus von ihrem Können überzeugen können: München. Die Stadt an der Isar, die mit der Ludwigstrasse die schönste Architekturperspektive und mit dem Königsplatz das klassischste Forum Deutschlands besitzt, hatte sich nach der Fertigstellung des Olympiastadions von der baukünstlerischen Bühne verabschiedet. Seither sind höchstens noch ein durchschnittliches Haus von Richard Meier am Oskar-von-Miller-Ring oder die banale Staatskanzlei am Hofgarten entstanden; und auch die der Vollendung entgegensehende «Pinakothek der Moderne» von Stephan Braunfels dürfte kaum mehr als Münchens Hang zur Repräsentation befriedigen. Einzig der Max-Planck-Neubau des Münchner Büros Graf Popp Streib hinter der Residenz hebt sich in seiner klaren Setzung vom architektonischen Einerlei ab. Er verheisst zusammen mit dem an der noblen Theatinerstrasse entstehenden Hypo-Zentrum von Herzog & de Meuron baukünstlerischen Aufschwung.


Ein leuchtendes Glashaus an der Isar

Es ist ebenfalls die Hypobank, die Ingenhoven den Auftrag für ein Hochhaus mit Randbebauung am Georg-Brauchle-Ring erteilte. Hundert Meter hoch sollte das Haus ursprünglich werden - einem ungeschriebenen Gesetz folgend, dass kein Neubau die Türme der Frauenkirche überragen sollte. Nun wird aber das unweit des längst zum Wahrzeichen des modernen München avancierten Olympiazelts geplante Hochhaus acht Kilometer vom historischen Zentrum entfernt zu stehen kommen. Deshalb gab die Stadt schliesslich einem 146 Meter hohen Gebäude ihr Plazet; und die Stadtgestaltungskommission plädierte gar für mehr als 150 Meter. Da nun die vertikale Schallmauer durchbrochen war, riskierten die Architekten auch noch die Alternativen eines 168, eines 205 und eines 263 Meter hohen Turms, wobei sich zeigte, dass bezüglich Rhythmus und Proportionierung die mittlere Variante von 205 Metern, die der doppelten Höhe des zwei Kilometer entfernten BMW-Vierzylinders von Steidle und Thut aus dem Jahre 1972 entspricht, die ideale wäre.

Das veranschaulicht nun eine attraktive kleine Ausstellung in der Münchner Architekturgalerie anhand von Plänen, Modellen und suggestiven Photomontagen. Die durch einen handlichen Katalog dokumentierte Schau gibt eine Vorstellung von den ästhetischen Qualitäten des Projekts, aber auch von dessen technischen Aspekten. Dabei gibt sich der ökologisch durchdachte Entwurf als ein Zwilling des GSW-Hochhauses von Sauerbruch & Hutton in Berlin (NZZ, 3. 9. 99) zu erkennen. Nur dass das bunte Berliner Hochhaus mit dem Retro-Charme der fünfziger Jahre kokettiert, während das «intelligente Hochhaus» von Ingenhoven, Overdiek und Partner, das durch zwei aus der aufgeständerten Druckkonstruktion resultierende Wespentaillen rhythmisiert wird, die Proportionen einer klassischen Säule wahrt und sich mit seiner silberglänzenden Transparenz einer zeitlosen Eleganz verpflichtet weiss.

Die Reaktionen der Ausstellungsbesucher zeugen von einer neuerwachten Liebe der Münchner zum Hochhaus. Diese ist durchaus vergleichbar mit der Entwicklung im einst ähnlich hochhausfeindlichen Zürich. Nur kann man die bereits mehrfach vorgeschlagene Idee eines Glasturms hinter dem Zürcher Hauptbahnhof weder formal noch urbanistisch mit Ingenhovens Entwurf vergleichen, nicht zuletzt weil der massige Zürcher Bau das Gleichgewicht des kleinteiligen Quartiers stören würde. Ganz anders sähe es allerdings auf dem Hardturm-Areal aus, für das kein Geringerer als Rem Koolhaas eine veritable Skyline entworfen hat. Mit deren Realisierung wäre dann die Limmatstadt nicht nur der Isarmetropole um eine Nasenlänge voraus.


[ Die Ausstellung in der Architekturgalerie an der Türkenstrasse 30 in München ist bis zum 11. Dezember täglich ausser sonntags zugänglich. Katalog: Hochhaus am Olympiapark. Hrsg. Ingenhoven, Overdiek und Partner. Eigenverlag, Düsseldorf 1999. 72 S., DM 28.-. ]

9. November 1999 Neue Zürcher Zeitung

Palladio und Collage City

Architekturlehrer Colin Rowe gestorben

Mit einer gewagten Gegenüberstellung von Palladios Villa Malcontenta und Le Corbusiers Villa Stein-de-Monzie machte er 1947 als junger Mann schon von sich reden: der am 27. März 1920 im englischen Rotherham geborene Architekturhistoriker Colin Rowe. Später sollte Rowe, der unter Rudolf Wittkower am Warburg Institute in London studiert hatte, zu einem der einflussreichsten Architekturlehrer der zweiten Jahrhunderthälfte werden. James Stirling wurde von ihm ebenso geprägt wie die New York Whites, von denen heute Peter Eisenman und Richard Meier die bekanntesten Vertreter sind. In den fünfziger Jahren schloss er sich in Austin als Dozent an der University of Texas den rebellischen «Texas Rangers» an und wurde gefeuert, kehrte aber nach einem Lehrauftrag an der Cambridge University in die USA zurück. Während seiner von 1962 bis 1990 dauernden Lehrtätigkeit an der Cornell University in Ithaca, N. Y., legte der stark von der Renaissance geprägte Rowe zunächst das Schwergewicht auf die formalistische Analyse, die es ihm ermöglichte, entgegen dem Credo der Avantgarde die klassische Moderne in der architektonischen Tradition zu verankern. Doch bald schon führte ihn - zum Verdruss einiger seiner einstigen Schüler und Anhänger - die Auseinandersetzung mit der gewachsenen Stadt über den Formalismus hinaus zu einem neuen Interesse am gebauten Kontext. Daraus resultierte die zusammen mit Fred Koetter verfasste Schrift «Collage City», die, zu einem internationalen Standardwerk geworden, von Bernhard Hoesli betreut und von Birkhäuser/gta publiziert auf deutsch bereits in der fünften Auflage vorliegt. Der für seine Verdienste 1995 mit der «Gold Medal» des Royal Institute of British Architects geehrte Colin Rowe ist nun kurz vor seinem 80. Geburtstag am 5. November in Arlington, Virginia, an einem Herzversagen gestorben.

16. October 1999 Neue Zürcher Zeitung

Wie zwei Eisberge am Golf von Biskaya

Rafael Moneos Palacio Kursaal in San Sebastián

Vor zwei Jahren gönnte sich die baskische Metropole Bilbao mit dem Guggenheim-Museum ein neues Wahrzeichen. Nun besitzt seit einigen Wochen auch die Nachbarstadt San Sebastián einen Neubau von internationalem Rang: den Palacio Kursaal. Das gläserne Gebäude des spanischen Meisterarchitekten Rafael Moneo setzt einen mutigen Akzent ins gründerzeitliche Stadtgebilde.

Vor zwei Jahren gönnte sich die baskische Metropole Bilbao mit dem Guggenheim-Museum ein neues Wahrzeichen. Nun besitzt seit einigen Wochen auch die Nachbarstadt San Sebastián einen Neubau von internationalem Rang: den Palacio Kursaal. Das gläserne Gebäude des spanischen Meisterarchitekten Rafael Moneo setzt einen mutigen Akzent ins gründerzeitliche Stadtgebilde.

Gibt es ein schöneres Seebad als San Sebastián? An der Küste des Golfs von Biskaya spielt zwar das Wetter nicht immer mit, dafür sorgt es für jenes üppige Grün, das man in Spanien sonst vermisst. Die einzigartige Landschaft wird noch überhöht durch das Weichbild der Stadt: Wähnt man sich an der weit geschwungenen, durch einen Inselberg vom offenen Ozean geschützten Bahía de la Concha mitunter an den Quais von Genf, so evozieren die an den Steilhängen klebenden Villen den Belle-Epoque-Charme des Vierwaldstättersees oder des Borromäischen Golfs; und das nach dem grossen Brand von 1813 weitgehend neuerbaute Zentrum atmet noch heute den Geist des 19. Jahrhunderts. Zu Recht geniessen denn auch die von Antonio de Cortázar in einem orthogonalen Raster angelegten, durch Parkanlagen aufgelockerten Quartiere rund um das 1887 als Kasino errichtete Rathaus und das Teatro Victoria Eugenia das Attribut einer «romantischen Stadt». Die 1915 an der Mündung des Urumea erstellte Zurriola-Brücke führt hinüber zum Stadtteil Gros, dessen kurz nach dem Brückenschlag entstandene Atlantikkulisse an Nizzas Promenade des Anglais erinnert. Hier, zwischen Fluss und Strand, findet sich seit kurzem eine höchst eigenwillige Architektur: der Palacio Kursaal des Spaniers Rafael Moneo.


Städtebauliche Identifikationsfigur

Das aus zwei leicht geneigten, eisblauen Glasblöcken bestehende Gebäude, das Ende September anlässlich des Filmfestivals erstmals im internationalen Rampenlicht stand, verkörpert gleichsam die Antithese zur Stadt der Gründerzeit und ist als Moneos neustes Meisterwerk das unterkühlte Gegenstück zu seinem grossartigen Antikenmuseum in Mérida. Trotz der abstrakten Form evoziert dieses doppelte Glashaus immer neue Bilder: Bei Tag glaubt man in ihm zwei gestrandete Eisberge, bei Nacht japanische Papierlampen zu erkennen. Moneo selbst betont, der Ort habe ihm die Form eingeflüstert, und verweist auf die ins Meer vorspringenden Berge. Interpretierte er vor dreissig Jahren noch mit dem am Fluss gelegenen Urumea-Wohnblock subtil den architektonischen Kontext, so suchte er nun beim Kursaal den Dialog mit dem Ort. Ähnlich wie dem als Felsenriff im Häusermeer von Barcelona schwimmenden Diagonal-Gebäude eignet den Glaskörpern daher etwas Geologisches. Indem Moneo sie «nicht zur Stadtstruktur, sondern zur Landschaft» in Bezug setzte, war es ihm möglich, die Uferlinie von Gros als Stadtkante zu bewahren.

Auf diese Weise kann sich der frei am Wasser stehende Kursaal wie eine autonome Skulptur in Szene setzen. Dem weithin sichtbaren Baukomplex kommt zudem - wie die Bezeichnung «Kursaal» antönt - die Aufgabe zu, an jene mondänen Zeiten des Ferienorts zu erinnern, als Königin María Cristina den Sommer über jeweils im Miramar-Palast residierte. Der dadurch ausgelöste Tourismusboom gipfelte 1921 im Bau eines neuen, «Kursaal» genannten Kasinos am Zurriola-Strand. Die glamourösen Tage des Glücksspiels fanden aber 1925 unter Primo de Rivera ein abruptes Ende. Aus dem Kasino wurde ein Theater und schliesslich ein Kino, das man 1972 zugunsten eines nie über die Fundamente hinausgediehenen Neubaus abriss. Der «Schandfleck» und die wehmütige Erinnerung veranlassten 1989 die Stadtregierung zur Ausschreibung eines Wettbewerbs für ein neues Kursaal-Gebäude, in dem das 1953 gegründete und bisher im Victoria- Eugenia-Theater untergebrachte Filmfestival und die seit 1966 durchgeführten Jazztage eine Bleibe finden sollten. Der Herausforderung des prominenten Bauplatzes stellten sich damals auch Grössen wie Botta oder Foster. Doch wusste Moneo, der sich bereits zuvor den Bau des neuen Auditoriums von Barcelona gesichert hatte, die Jury zu überzeugen. Nach einigen Verzögerungen konnte 1995 mit dem Bau begonnen und dieser im vergangenen August eingeweiht werden.


Gegenstück zum Opernhaus von Sydney

Die im Volksmund «los cubos» genannte Kulturbastion ist eine minimalistische Antwort auf das ebenfalls aus zwei Körpern über einem Sockelbau komponierte Opernhaus von Sydney. Auch wenn sich der Kursaal diskreter gibt als der Geniestreich von Moneos einstigem Lehrer Jørn Utzon, stellt er in seiner Klarheit und Konsequenz doch eine vergleichbare städtebauliche Identifikationsfigur oder eben ein «edificio-talismán» dar. Die gigantischen Stahlkonstruktionen lasen sich wie eine Antwort auf Eduardo Chillidas Windkämme an den sturmumtosten Küstenfelsen des Igeldo, bevor Hüllen aus gewellten Glasplatten wie eines jener quer plissierten Kleider von Issey Miyake darübergestülpt wurden. Wie gewagt das leicht dekonstruktivistisch angehauchte Projekt war, zeigte sich erst, als während des Baus die monumentale Freitreppe einstürzte. Dabei gilt Moneo, der 1937 in Tuleda in der Nachbarprovinz Navarra geboren wurde, als Meister seiner Zunft - auch wenn sein Schaffen vom Jahrhundertbau in Mérida über den neomaurischen Flughafen von Sevilla bis hin zur spröden Einfachheit des Auditoriums von Barcelona immer wieder starken Schwankungen unterlag. Gerade sie beweisen jedoch, dass ihm Architektur niemals nur intellektuelle Spielerei bedeutete, sondern ein stetes Ringen mit Bauprogramm und Ort.

Die aussen und innen verglasten Stahltragwerke bergen die holzverkleideten Betonkörper eines 1850 Personen fassenden Auditoriums und eines multifunktionalen Kongresssaals. Im Sockelgeschoss darunter, das sich mit einem Restaurant zum Urumea und mit einigen Geschäften zur Avenida hin öffnet, befinden sich zudem Ausstellungs- und Versammlungsräume, Cafeteria, Bankettsaal und Tiefgarage. Der mit seinen ornamentalen Natursteinmauern im Stil der fünfziger Jahre und den diskreten Wright-Zitaten wie die konkrete Basis eines abstrakten Überbaus erscheinende Sockel öffnet sich strassenseitig zwischen den Geschäften zu einem niedrigen Eingangsbereich. Er bietet zwar Schutz vor Sturm und Regen, würde aber eher zu einer Messe als zu einem Kulturpalast passen. Dennoch kommt dieser düsteren Zone eine architektonische Aufgabe zu, soll sie doch das erschlagende Raumerlebnis des 22 Meter hohen und 60 Meter tiefen Foyers dramatisch steigern. Diese vom hölzernen Klangkörper des Auditoriums und von japanisch inspirierten Glaswänden begrenzte, lichtdurchflutete Halle gewährt - ähnlich wie das Luzerner KKL - durch gezielt angebrachte Öffnungen Panoramablicke: bald auf das kantabrische Meer, dann wieder auf die Aussichtsplattform über dem Sandstrand. Freitreppen, Rampen und Passerellen führen in den wie ein Schiff in der Werft aufgestapelten Musiksaal, dessen schachtelartiger, ganz in Holz gehaltener Innenraum nach neusten akustischen Erkenntnissen ausgestattet wurde.


Neues Selbstverständnis

Die gegenwärtig von Pop und Modern Dance bis Kurt Weill reichende Programmierung des Kursaals lässt vermuten, dass hier - ähnlich wie bei Gehrys Guggenheim-Museum im benachbarten Bilbao - die Form wichtiger ist als der Inhalt. Schon jetzt sind die «Kuben» das neue Wahrzeichen der durch ein einzigartiges städtebauliches Ensemble, aber nur durch wenige prominente Einzelbauten geprägten Stadt. Ist der Kursaal von der Lage her mit dem 1893 im englischen Landhausstil errichteten Miramar-Palast vergleichbar, so übertrifft seine architektonische Bedeutung sogar den 1929 von José Manuel Aizpurúa vollendeten Segelklub, der als einziges Gebäude Spaniens in die legendäre New Yorker International- Style-Schau Einlass fand. Mit diesem architektonischen und urbanistischen Bekenntnis zur Zukunft der Stadt dürfte es San Sebastián - dem baskischen Donostia - gelingen, künftig eher mit Kultur als mit Terroranschlägen in Verbindung gebracht zu werden.

14. October 1999 Neue Zürcher Zeitung

«Borromania» am Ceresio

Ausstellung «Magistri Ticinesi» in Bissone

Die dem jungen Borromini gewidmete Schau im Museo cantonale d'arte in Lugano zählt mit ihrem hohen wissenschaftlichen Anspruch zu den schwierigeren Architekturausstellungen der vergangenen Jahre. Dass ausgerechnet sie breite Besucherkreise anlocken würde, hätte an der Vernissage niemand zu prophezeien gewagt. Es liegt wohl an Mario Bottas verführerischem Holzmodell von San Carlino, dass schon in den ersten drei Wochen mehr als 50 000 Besucher in die Ausstellung drängten. Gleichsam als Fortsetzung dieser Schau versteht sich die Ausstellung über die «Magistri ticinesi di Bissone» im Oratorio di San Rocco in Bissone, mit der sich der Borgo am Ceresio, in dem Borromini vor 400 Jahren geboren wurde, als Wiege grosser Künstler feiert.

Im Zeichen der allgemeinen «Borromania» zieht diese kleine, informative Schau, die eigentlich für ein lokales Publikum gedacht war, nun ebenfalls Scharen von Besuchern an. Eine kurze Einleitung thematisiert das soziokulturelle Phänomen der seit dem Mittelalter europaweit tätigen Tessiner Künstler und Architekten. Daneben bieten historische Stiche der römischen Hauptwerke Borrominis gleichsam eine visuelle Erweiterung der Luganeser Frühwerk-Ausstellung. Vier Videos beschwören ausserdem in einem endlosen Bilderreigen das künstlerische Potential des einstigen Fischerdorfs. Schon im 15. Jahrhundert brillierten Domenico Gagini und sein Sohn Antonello als Bildhauer in Palermo. Als virtuoser Maler in der Nachfolge Van Dycks war Valerio Castello, ein Zeitgenosse Borrominis, in Genua tätig. Wenig später begab sich Carpoforo Tencalla über Bergamo ins Habsburgerreich, wo er als Erneuerer der Freskenmalerei bedeutende Zyklen für die Schlösser Esterhazy in Eisenstadt und Trautenfels in Pürgg sowie für mehrere Wiener Kirchen schuf.

Zu erwähnen wären noch viele andere Künstler aus Bissone, die in Spanien und Russland, in Sizilien und Skandinavien ihr Glück suchten - von den Renaissancearchitekten Battista da Bissone und Bernardino Furlano bis hin zu Giacomo Pario, Giovanni Falconi, Stefano Maderna oder Santino Bussi. Die Ausstellung, als deren Begleitpublikation das soeben erschienene Bändchen «Bissone» der Schweizerischen Kunstführer dienen kann, gibt eine Vorstellung von der «Emigrazione artistica» und vermag als «virtuelle Kunstreise» die Luganeser Borromini-Schau auf leichtverständliche Art zu ergänzen.


[ Bis 18. Dezember, Dienstag bis Freitag 13.00-17.30 Uhr; Samstag und Sonntag 10.00-16.00 Uhr. - Ivano Proserpi: Bissone (ital. mit dt. und engl. Zusammenfassung). Schweizerischer Kunstführer GSK. Hrsg. Gesellschaft für Schweizerische Kunstgeschichte, Bern 1999. 56 S., Fr. 11.-. ]

5. October 1999 Neue Zürcher Zeitung

Die besten Einfamilienhäuser

Ein neuer Architekturpreis

Zur «Förderung von Architektur und Baukunst» initiierte die in Hamburg ansässige Reiner- Stiftung jüngst den «Architekturpreis Einfamilienhäuser», der künftig alle zwei Jahre für neue Bauten in Deutschland, Österreich und der Schweiz vergeben werden soll. Aus den rund 500 für die erste Vergabe eingereichten Arbeiten wählte die Jury 34 Werke aus. Diese werden im Sammelband «Die besten Einfamilienhäuser» vorgestellt. Die Publikation kann allerdings bei weitem nicht das ganze Spektrum des zukunftsweisenden zeitgenössischen Einfamilienhausbaus abdecken, denn die ganz grossen Architekten verzichteten - wie nicht anders zu erwarten war - auf eine Teilnahme an diesem Preisausschreiben. So sucht man denn auch in der Zusammenstellung innovative Meisterwerke wie das Haus Rudin in Leymen von Herzog & de Meuron vergeblich. Das Preisgeld von insgesamt 21 000 Mark geht zu gleichen Teilen an zwei Schweizer und ein Münchner Architektenbüro. Preisträger sind die Zürcher Angélil, Graham, Pfenninger, Scholl mit einem minimalistischen Holzkubus in Horgen, die Luganesen Giraudi & Wettstein mit einer Alvaro Sizas Bauten verwandten Villa im Sottoceneri sowie Heil & Aichele aus München mit einem in seiner Einfachheit an eine Kinderzeichnung erinnernden Haus in Regensburg. Die Preise werden am 5. Oktober in Hamburg überreicht.

1. October 1999 NZZ-Folio

Das Haus als riesiges Holzmöbel

An einen Japanischen Tempel erinnert sie entfernt, die 17 Meter hohe Holzwand des neuen Lehrgebäudes der Schweizerischen Hochschule für die Holzwirtschaft an Biels westlicher Ausfallstrasse.

Kein Fenster durchbricht diese massstabslose, aus riesigen Paneelen bestehende Nordfassade. Die Westseite der 94 Meter langen Eichenkiste hingegen gleicht sich mit ihren grossen Fensterflächen und den loggienartigen Vertiefungen den Bretterstapeln der nahen Sägerei an. Dennoch fällt das Haus, das die Zürcher Architekten Meili & Peter mit Zeno Vogel und dem Churer Bauingenieur Jürg Conzett am Fuss steiler Jurahöhen realisiert haben, mit seinen gigantischen Dimensionen in der von Fabrikhallen, Wohnblocks und Strassenrampen geprägten Vorstadt aus dem Rahmen. All dem vielen Holz zum Trotz lässt es keine beschauliche Atmosphäre aufkommen.

Doch mit Beschaulichkeit identifiziert sich die Holzwirtschaft schon lange nicht mehr. Da an der Hochschule nicht nur rund 300 Studenten eingeschrieben sind, sondern auch Weiterbildungsseminarien und Workshops durchgeführt werden, lag es nahe, die jüngsten Innovationen auf dem Gebiet der Holzbautechnik im Lehrgebäude selbst zu thematisieren. Der zweibündige Schulbau besitzt einen vom Keller bis zur Attika reichenden monolithischen Erschliessungskern aus Stahlbeton mit Treppenhäusern, Warenlift und Nassbereichen. Daran angedockt sind in sich ausgesteifte Schulzimmertürme, die - auf einem modularen Rastersystem basierend - mit Rammpfählen aus Beton tief im Erdreich verankert sind. Die sechs Holzkörper sind durch Aussenterrassen, die bis zur Erschliessungszone vordringen und diese natürlich belichten, in den drei unteren Geschossen voneinander getrennt, werden im zurückversetzten Attikageschoss dann aber zusammengebunden.

Dem formalen und technischen Experiment des Schulbaus ging im Schaffen der Architekten und des Ingenieurs der vielbeachtete Mursteg in der Steiermark voraus. Resultierte aus dem theoretischen Interesse der Zürcher - Marcel Meili war schon in den achtziger Jahren ein Vordenker der neuen Deutschschweizer Baukunst - bereits die grosse Geste der neuen Perronhallen des Hauptbahnhofs Zürich, so gelang ihnen in Biel neben dem Beweis, dass man hierzulande auch städtisch anmutende Holzbauten realisieren kann, ein urbanistisches Statement: Die alte Anlage, bestehend aus dem 1949 im moderaten Heimatstil erbauten Schulhaus mit Mensa sowie niedrigen Werkhallen und Schuppen, wurde so um einen Flachbau für Verfahrenstechnik und das Schulgebäude ergänzt, dass eine Komposition von unterschiedlich hohen Körpern und von Aussenräumen entsteht, die sehr suggestiv durch Weitungen und Engpässe dynamisiert wird.

Den zentralen Hof fasst nach Osten hin der viergeschossige Schulneubau. Der ganz klassisch in Sockel, Mittelteil und Attika gegliederte Skelettbau ist mit Holztafeln verkleidet, die die Statik illustrieren, der Versteifung dienen und grösstmögliche Fensteröffnungen bieten. Zwei als leicht erhöhte Terrassen ausgebildete Eingangsbereiche führen in den zentralen Erschliessungskorridor, der nach links in das räumliche Prunkstück des Gebäudes führt: das elf Meter hohe, mit der alten Mensa verbundene Foyer. In diesem mit Föhrenholz ausgekleideten Raum wähnt man sich in einer überdimensionalen Holzbox von Donald Judd; selbst die mannshohen Radiatoren und die weissen Trommeln der Beleuchtungskörper wirken wie Minimalskulpturen.

Der schon im Hof angeschlagene, bald surrealistisch wirkende, bald von Durch- und Ausblicken geprägte Wechsel zwischen hoch und niedrig, weit und eng durchzieht als Leitthema das Gebäude bis in die ganz in Holz gehaltenen und dennoch eleganten Schulzimmer und bis ins Attikageschoss. Dort gelangt man aus den lichten Büros und der Bibliothek auf die schmalen Terrassen unter dem auskragenden Dach hoch über der Peripherie der Stadt.

1. October 1999 Neue Zürcher Zeitung

Halb Ufo und halb Seifenblase

Eine Nationaloper von Paul Andreu für Peking

Peking ist heute - 50 Jahre nach der Gründung der Volksrepublik China - nicht mehr die verschlossene Metropole von einst. Die Öffnung der letzten Jahre manifestiert sich zunehmend auch in der Architektur. Vor drei Monaten fand in der Grossen Halle des Volkes am Platz des Himmlischen Friedens ein internationaler Architektenkongress statt, an dem Stars aus aller Welt über die Stadt der Zukunft debattierten. Und nun wurde rechtzeitig auf den 1. Oktober bekanntgegeben, dass an diesem Platz der Neubau der Chinesischen Nationaloper errichtet werden soll.

Die schon kurz nach der Schaffung des Tiananmen-Platzes diskutierte Idee eines neuen Opernhauses war von der Regierung 1997 wieder aufgenommen worden. Im vergangenen Jahr schrieb sie einen international geladenen Wettbewerb aus, an dem sich etwa gleich viele chinesische wie ausländische Architekten beteiligten. Wie vor wenigen Tagen bekannt wurde, heisst - sehr zur Überraschung der vor der Entscheidungsfindung der Jury siegessicheren chinesischen Architektenschaft - der Preisträger Paul Andreu. Der 1938 in Bordeaux geborene Pariser Architekt, der bisher weniger als Vordenker, denn als Macher aufgefallen ist, zählt zwar nicht zu den Stars der französischen Baukunst, doch hat er sich mit seinen Bauten für den Flughafen Charles-de-Gaulle - etwa den TGV-Bahnhof - und als Partner von Spreckelsen an der Grande Arche einen Namen als Realisator grosser Bauten gemacht.

Diese Erfahrung wird ihm in Peking zweifellos zugute kommen. Denn das von ihm entworfene Projekt einer flach in einem künstlichen See gelegenen Schale aus Titan und Glas - halb Ufo und halb Seifenblase - hat gigantische Dimensionen. Der auf rund 500 Millionen Franken veranschlagte Neubau, der eine Oper, einen Konzertsaal und zwei kleinere Theater umfasst, soll dank einem Bautempo, wie man es bisher nur von Hongkong und Schanghai her kannte, bereits im Jahr 2002 eingeweiht werden. Dann wird dieser erste westlich inspirierte Monumentalbau Pekings im chinesisch-konservativ geprägten Ambiente zwischen der Grossen Halle des Volkes und den Mauern der verbotenen Stadt am Tiananmen zum Symbol der Öffnung, der Internationalisierung und einer an westlichen Vorbildern inspirierten Modernisierung einer lange auf chinesische Werte verpflichteten Gesellschaft.

20. September 1999 Neue Zürcher Zeitung

Borromini-Feier in Rom

Borromini-Feier in Rom. Rechtzeitig zum 400. Geburtstag des grossen Tessiner Barockarchitekten Francesco Borromini am 27. September können in Rom die durch Schweizer Gelder ermöglichten Restaurierungsarbeiten an seinem genialen und für den Barock nördlich der Alpen wegweisenden Jugendwerk, der Kirche San Carlo alle Quattro Fontane, abgeschlossen werden. Am Freitag, 24. September, wird das in neuem Glanz erstrahlende Gotteshaus von Bundespräsidentin Ruth Dreifuss und der italienischen Kulturministerin Giovanna Melandri eingeweiht werden.

3. September 1999 Neue Zürcher Zeitung

Eine Stadtcollage in Kreuzberg

Erweiterung des GSW-Hauptsitzes von Sauerbruch und Hutton

Während die beiden Berliner Bauskulpturen von Daniel Libeskinds Jüdischem Museum und Zvi Heckers Galinski-Schule sogleich internationale Anerkennung fanden, hielt die Kritik gegenüber dem potemkinschen Baugeschehen in Berlin-Mitte mit Tadel nicht zurück. Jetzt aber ist in Kreuzberg mit dem Neu- und Erweiterungsbau des GSW-Hauptsitzes von Sauerbruch und Hutton ein Bürohaus von internationaler Ausstrahlung entstanden.

Nach dem Mauerfall verwandelte sich das Zentrum Berlins fast über Nacht in eine gigantische Baustelle. Jetzt, da ein Grossteil der neuen Häuser steht, macht sich Ernüchterung breit. Denn die von der Sehnsucht nach einer heilen Welt geprägte Stadtreparatur führte nur allzuoft zu schmalbrüstigen Kompromissen. Doch unweit der potemkinschen Blockrandbanalitäten - selbst Aldo Rossi brachte es an der Schützenstrasse nur zu einer verzweifelten Fassadenmaskerade - ist in der südlichen Friedrichstadt eine zukunftsweisende Architekturcollage entstanden. Es handelt sich dabei um den Um- und Erweiterungsbau der gegenwärtig gut 450 Mitarbeiter zählenden Hauptverwaltung der Gemeinnützigen Siedlungs- und Wohnungsbaugesellschaft Berlin (GSW) an der Kochstrasse. Geplant hat diese aus einem alten und einem neuen Hochhaus sowie zwei Flachbauten bestehende, rund 30 000 m² Büro- und Ladenfläche bietende Anlage keiner der an die Spree geladenen Architektenstars, sondern ein 1955 in Konstanz geborener Süddeutscher und seine zwei Jahre jüngere englische Partnerin: Matthias Sauerbruch und Louisa Hutton.


Tradition des Hochhausbaus

Das an der renommierten Architectural Association in London ausgebildete und seit elf Jahren in Berlin und Grossbritannien tätige Team machte jüngst mit dem Photonik-Zentrum in Berlin- Adlershof Schlagzeilen. Diese innovative Glasarchitektur verrät ihren Glauben an die Stadt genauso wie das GSW-Hauptquartier oder das Haus am Checkpoint Charlie, das Sauerbruch Ende der achtziger Jahre zusammen mit Elia Zenghelis im Rahmen der IBA als Mitarbeiter von Rem Koolhaas' Rotterdamer Ideenschmiede OMA realisierte. Machte Sauerbruch sich damals mit den Eigenheiten des holländischen Architekturdiskurses vertraut, so setzte sich Louisa Hutton im Büro von Peter und Alison Smithson kritisch mit der englischen Nachkriegsmoderne auseinander. Vom beruflichen Werdegang her sind darum den beiden Architekten die Thesen von Le Corbusier ebenso geläufig wie die Theorien des urbanen Chaos und die Ideen der architektonischen Verdichtung oder des kontextuellen Umgangs mit den heterogenen Erscheinungsformen der Grossstadt. Es überrascht deshalb kaum, dass Sauerbruch und Hutton die städtebaulichen Bilder, die sie am Ort der künftigen GSW-Hauptverwaltung vorfanden, als «Konglomerat unterschiedlicher Elemente» akzeptierten, «zum Ordnungsprinzip erhöhten» und mit der Methode der Architekturcollage zu verdichten suchten. In ihrer Analyse berücksichtigten sie die hier sich überlagernden Stadtbilder des Barock, der Gründerzeit und der Nachkriegsjahre ebenso wie die gegenwärtige urbanistische Situation, die aus einer lockeren Bebauung mit verschiedenen Bautypen vom Hochhaus bis zum Hofrandfragment besteht.


Bauen im Kontext

Die regelmässigen Blöcke der nach rationalen Gesichtspunkten angelegten barocken Friedrichstadt wurden im 19. Jahrhundert zu geschlossenen Hofrandanlagen verdichtet. Nach den Verwüstungen des Zweiten Weltkriegs stellte das 1961, kurz vor dem Mauerbau vollendete Hochhaus des Graphischen Gewerbezentrums von Paul Schwebes und Hans Schloszberger - einem führenden Berliner Architektenteam der Wirtschaftswunderzeit - einen ersten optimistischen Akzent in der fast leergefegten Stadtlandschaft dar. Der isolierte Solitär signalisierte die bewusste Abwendung von der Enge und Geschlossenheit der einstigen Stadt. Gleichzeitig kam er einem weithin sichtbaren Versuch zur Wiederbelebung des alten Medienviertels rund um das legendäre Mosse-Haus von Erich Mendelsohn gleich. Als formale Weiterentwicklung des 1926 von Eugen Schmohl in Tempelhof realisierten Ullstein-Turms erinnerte er aber nicht nur an die Tradition des Berliner Druckwesens, sondern bezog sich auch auf die Architekturgeschichte Berlins.

In den achtziger Jahren übernahm die GSW das Hochhaus des Graphischen Gewerbezentrums mit der Absicht, hier ihren neuen Hauptsitz zu errichten. Der mit dem Bauprojekt beauftragte Helge Pitz schlug 1986 vor, das Turmhaus zu restaurieren und im Sinne der damals im Rahmen der IBA diskutierten «Kritischen Rekonstruktion» mit einer klassischen Blockrandbebauung zu fassen. Doch dem Entwurf erwuchsen Widerstände. Sie führten dazu, dass die GSW 1990 einen Wettbewerb ausschrieb, aus dem Sauerbruch und Hutton vor Benedict Tonon als Sieger hervorgingen. Kernstück ihres Konzepts war das Punkthochhaus von Schwebes und Schloszberger. Dieses war - obwohl in der Tradition der ersten von Schmohl in den zwanziger Jahren über quadratischem Grundriss realisierten Hochhäuser - schnell zu einer typologischen Ausnahmeerscheinung in der südlichen Friedrichstadt geworden: Alle danach in dieser Gegend entstandenen Wolkenkratzer gehören nämlich zum Typus des Scheibenhochhauses.


Typologische und historische Bezüge

Das erste Scheibenhochhaus war das von Axel Springer an der Grenze zu Ostberlin unmittelbar nach dem Mauerbau in Auftrag gegebene und 1966 vollendete Springer-Haus. Fünf Jahre später entstand dann am Landwehrkanal nach Plänen von Prosper Lemoine die 29geschossige Aluscheibe des Postgiroamtes. Auf die Provokation dieser Monumente des westlichen Wirtschaftswunders antwortete die DDR in den Jahren 1972-82 mit dem Bau von vier 25geschossigen Doppelhochhausscheiben. Die nach den Plänen von Joachim Näther und Peter Schweizer an der zum modernsten Boulevard Ostberlins umfunktionierten Leipziger Strasse erstellten Bauten sollten im Sinn eines kämpferischen «Dialogs über die Mauer» nicht zuletzt das 22stöckige, bronzene Springer- Hochhaus in die Knie zwingen.

Unabhängig von ihrem Standort in Ost oder West gleichen sich all diese Hochhäuser insofern, als sie jeweils aus einem Flachbau und einer dazu komponierten Scheibe bestehen. Indem nun Sauerbruch und Hutton das bestehende Punkthaus um eine Scheibe und zwei Flachbauten erweiterten, verknüpften sie es typologisch mit den benachbarten Hochhäusern. Gleichzeitig verankerten sie den Altbau in einem übergeordneten städtebaulichen System, aber auch im Œuvre von Schwebes und Schloszberger, von denen auch das Telefunken-Hochhaus am Ernst-Reuter-Platz und das Zentrum Zoo stammen. In diesen Bauten darf man den Schlüssel zur Konzeption des GSW- Blocks sehen. Ist doch eines der grossen Themen der GSW-Anlage die Neuinterpretation und Weiterentwicklung des Zukunftspotentials der Fünfziger-Jahre-Moderne.

Dieser kreative Umgang mit der Nachkriegsarchitektur, dem architektonischen Kontext und der gebauten Stadt wurde wegen des hochhausfeindlichen Berliner Klimas zunächst kaum verstanden. Doch die GSW erwies sich als vorbildliche Bauherrin, die ihr Projekt gegen alle Widerstände aus Kreuzberg und aus dem Berliner Senat durchboxte. Entstanden ist eine formal virtuose und dennoch sorgfältig ausbalancierte Komposition von alten und neuen Baukörpern, von horizontalen und vertikalen Volumen. Dem massigen Turm von Schwebes und Schloszberger antworten die beiden dreigeschossigen, mit dunkel glasierten Steingutplatten verkleideten Sockelbauten. Obwohl einer davon als leicht geschwungener, zum Eingang hin rhythmisch beschleunigter Flachbau die Kochstrasse fasst, handelt es sich hier nicht um eine sklavische Rekonstruktion des einstigen Blocks. Einzig die aufgesetzte «Pillbox» aus giftig grün bemaltem Wellblech spielt - gefährlich über den Gebäuderand verschoben - mit leichter Ironie auf die umstrittene Berliner Traufhöhe an. Der gleichermassen sinnliche wie theoretisch fundierte Umgang mit Materialien, Farben und Texturen zieht sich von hier als Leitmotiv durch die ganze Anlage hindurch. - Das neurenovierte Punkthochhaus, das einstmals etwas verloren in einer neorealistisch anmutenden Ödnis stand, wird zwar kontrastreich von der transparenten Scheibe und den erdenschweren Sockeln gefasst, bleibt aber von Süden und Osten her weiterhin als freistehender Solitär erkennbar. Das leicht und elegant, ja fast etwas frivol anmutende Scheibenhochhaus bedrängt den Turm nicht. Vielmehr rückt es dessen formale und konstruktive Qualitäten sowie seine fast minimalistische Strenge in ein neues Licht und lässt diesem Architekturdenkmal endlich Gerechtigkeit widerfahren. Die gemeinsame Erschliessung der beiden Hochhäuser im Verbindungsbereich führte zwar zu einer vom architektonisch-ästhetischen Standpunkt aus riskanten Verschmelzung, erlaubte es aber im Gegenzug, die alte Fluchttreppe, die zuvor den Grundriss des Turms verunklärte, zu entfernen und diesen seinem Idealzustand näherzubringen.


Schwebende Scheibe

Spektakulär gibt sich vor allem die seitlich auskragende Scheibe, die auf den beiden Flachbauten wie aufgesetzt scheint. Der Eindruck des Schwebens wird durch den bananenförmigen Grundriss, der dieser Glaskonstruktion die Starrheit älterer Hochhausscheiben nimmt, noch verstärkt. Allerdings ist das scheinbare Wunder der Schwerelosigkeit nur möglich dank der Tragkonstruktion von Ove Arup, die das Riesengewicht des gläsernen Kolosses auf wenigen Stützen und Mauern im Innern der Sockelbauten in die Tiefe führt. Nicht weniger interessant ist das auf einer «Low-Tech-Konzeption bezüglich Heizung, Lüftung und Belichtung» beruhende energetische Programm. Es wird für die Betrachter vor allem in der doppelschichtigen Konvektionsfassade des Glashochhauses sichtbar: In dieser steigt die durch die Sonneneinstrahlung erhitzte Luft auf, saugt - vereinfacht formuliert - eine Brise von der sonnenabgewandten Seite her durch das Gebäude und kühlt und belüftet so die Büros ganz natürlich. Als Zeichen dieser sanften Klimatisierung und als direkter Sonnenschutz der Arbeitsplätze fungieren die an der Westfront zu Dreiergruppen in den Farben Gelb bis Bordeaux angeordneten Lamellen aus Lochmetall, die individuell verstellt werden können. Obwohl die Farbflächen rein intuitiv verteilt wurden, entsteht ein stetig wechselndes Fassadenbild von fast konkreter Wirkung, dem jede preussische Strenge abgeht.


Verantwortung für die Umwelt

An schwülen, sonnenlosen Tagen unterstützt ein flügelartiger Dachaufsatz die Thermik der Konvektionsfassade. Der auskragende Spoiler an der Südwestecke des Gebäudes hingegen dient zum Auffangen der Fallwinde, die an jedem Hochhaus auftreten. Dieses Baudetail, das man an anderen Wolkenkratzern vergeblich sucht, trägt viel zur Annehmlichkeit auf der Charlottenstrasse bei. Aber auch sonst wurde dem Aussenraum viel Aufmerksamkeit geschenkt. Jeder der drei das Grundstück begrenzenden Strassenräume wurde individuell behandelt: Bald weitet sich an der Kantstrasse der Gehsteig, dann wieder tun sich an der Markgrafen- und an der Charlottenstrasse parkartige Freiflächen auf, und Durchgänge locken die Besucher wie selbstverständlich ins Innere. Hat man - vorbei an den Geschäften im Erdgeschoss - von der Koch- oder von der Charlottenstrasse aus die seitlich verglaste Eingangshalle betreten, befindet man sich unter einer expressiv aufgestülpten Dachlandschaft, die aussieht, also ob sich hier zwei tektonische Platten überlagerten. Durch die so entstandenen Oberlichter ergeben sich Ausblicke auf die sich darüber auftürmenden Baukörper.

Irritiert der lange Sockelbau im Innern durch seine fast metaphysischen Gangfluchten, so verführt der grosse Sitzungssaal im Sockelbau an der Charlottenstrasse mit seinem Fünfziger-Jahre- Charme. Verglichen mit der Grosszügigkeit dieses Saals wirken die Räume in der «Pillbox» geradezu verstellt. Denn statt den um einen zentralen Erschliessungskern auf eiförmigem Grundriss geplanten Grossraumbüros entstanden ausgerechnet in dieser «Folly» Kleinbüros. Die einzelnen Etagen des Glashochhauses hingegen wurden für Grossraum- oder für entlang einem Mittelgang aufgereihte Einzelbüros konzipiert, so dass in jedem Fall die Transparenz erhalten bleibt und das Prinzip einer möglichst natürlichen Belüftung und Belichtung nicht beeinträchtigt wird.


Dezentrales Projekt der Expo 2000

Zuoberst auf dem Glashaus findet sich statt der ursprünglich vorgesehenen corbusianischen Dachlandschaft die Haustechnik und das aerodynamische Segel. Dabei wäre dies ein idealer Ort gewesen für einen öffentlichen Raum - eine Sky- Bar etwa. Denn die Sicht von hier oben ist grandios: Man erlebt das Gebäude im Kontext der anderen Hochhäuser und sieht vom Potsdamer Platz über den Reichstag bis hin zum Fernsehturm am Alexanderplatz die Highlights der urbanen Landschaft. Vor allem aber kann man die Blitzform von Libeskinds Jüdischem Museum erkennen. Neben diesem gefeierten Meisterwerk darf sich das GSW-Hochhaus sehen lassen, hat doch diese zukunftsgerichtete und - wie in Kreuzberg kaum anders zu erwarten - ökologisch angehauchte Anlage bereits höchste Weihen erhalten: Als dezentrales Projekt der Expo 2000 in Hannover wird sie die architektonischen, urbanistischen und ökologischen Möglichkeiten der heutigen Metropole und Aspekte einer zeitgemässen, weder nostalgischen noch historisierenden Stadtreparatur veranschaulichen.