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Schrumpfen muss nicht nur schrecklich sein
Neue Zürcher Zeitung

Abriss, Umnutzung, Aufforstung - Halle an der Saale versucht den Stadtumbau

Die ostdeutsche Stadt Halle, zu DDR-Zeiten geprägt von den riesigen Chemiekombinaten Leuna und Buna, hat seit der Wende ein Drittel ihrer Bewohner verloren. Doch die einstige «graue Diva» will der Abwanderung schöpferisch begegnen und hat den Stadtumbau ins Zentrum ihrer Bewerbung als Kulturhauptstadt Europas 2010 gestellt.

17. Januar 2005 - Joachim Güntner
Silberhöhe soll Waldstadt werden. Wie romantisch das tönt. Die Wirklichkeit ist prosaischer. Über zwanzig Wohnblöcke des vorherrschenden elfgeschossigen Typs sind in der noch jungen, grossen und dicht bevölkerten Plattenbausiedlung bereits abgerissen worden. Mehr als die Hälfte der Anwohner ist abgewandert, und wenn die Stadtplaner ihre Konzepte nicht wieder korrigieren, nämlich die Zahl der Abrisse erneut heraufsetzen müssen, so wird die Trabantenstadt im Süden Halles im Jahre 2010 von ihren einst 15 000 Wohneinheiten ganze 7000 verloren haben. Auf den frei gewordenen Flächen hält der Wald Einzug. Bewachsenes Terrain ist pflegeleichter als Rasen. Zu einer ersten Baumpflanzung fanden sich Bürger und Sponsoren im vergangenen Oktober zusammen. Während am Rand der Siedlung ein naturnaher Wald wachsen darf, sollen zwischen den Häusern «lichte Haine» entstehen. Denn niemand soll sich beim Gang zum Postamt fühlen wie im finstren Tann.

Die Grosswohnsiedlung (vulgo «Platte») Silberhöhe, in der Spätphase der DDR als zugkräftige Offerte für Arbeiter der nahe gelegenen Chemiekombinate sowie als Alternative zu Halles maroden innerstädtischen Altbauten errichtet, gilt heute als sozialer Brennpunkt. Die Zahl der Empfänger staatlicher Fürsorgeleistungen ist die höchste in Halle, das Geburtendefizit und der Wegzug von jungen Familien und Menschen in arbeitsfähigem Alter lassen den Stadtteil unter Überalterung leiden. 18 von 22 Kindergärten mussten schliessen. Kein Stadtteil Halles wies zuletzt einen grösseren Leerstand an Wohnungen auf. Der Anblick «war wirklich gespenstisch», berichtet Ulrike Neubert vom Amt für Stadtentwicklung. Schon deshalb seien Abrisse nötig gewesen.

Den Stadtteil naturnäher machen

Dass nun ein grüner Verband die dem Stadtteil geschlagenen Wunden bedecken soll, begrüssen die Anwohner. Der Umbau steht offiziell auf zwei Säulen, «Rückbau» einerseits, «Aufwertung» andererseits. Die Baumpflanzungen fallen unter die Massnahmen zur Aufwertung und kommen bei den Adressaten gut an. Kontinuierlich durchgeführte Umfragen ergeben, dass die Zufriedenheit der Bewohner mit ihrem Stadtteil wieder wächst. Das hat auch mit der stärkeren Anbindung der Silberhöhe an die Aue der Saale zu tun. «Wir geben der Landschaft den Naturraum zurück», sagt Ulrike Neubert. Um das Defizit bei der Naherholung auszugleichen, ist ein neuer Rad- und Wanderweg entstanden, und das reizvolle Steilufer der Saale hat einen Aussichtspunkt erhalten - leider in typisch bundesdeutscher Machart: Den spartanischen Sitzbänken fehlen Rückenlehnen, und man kann nicht Platz nehmen, ohne dass ein wohl zum Schutz vor Abstürzen installiertes, indes überflüssiges Geländer das Blickfeld stört. Daneben, gleichermassen hässlich, Metallbügel zum Anschliessen von Fahrrädern. Bei aller Naturliebe: Ordnung muss sein.

Fast ein Drittel seiner Bevölkerung hat Halle seit dem Ende der DDR verloren. Die Chemiewerke von Leuna und Buna - auf modernste Technologie umgerüstet - kommen heute mit einem Zehntel an Arbeitskräften aus. Halles Arbeitslosenquote liegt bei über zwanzig Prozent. Die De-Industrialisierung führte zur Abwanderung Arbeitssuchender nach Westen; sechzig Prozent der Einwohnerverluste allerdings gehen aufs Konto der Suburbanisierung: Sie sind Wegzüge ins Umland, zum Teil unterstützt durch eine (mittlerweile als übereilt erkannte) Förderung des Baus von Eigenheimen, womit man einem sehnlichen, in der DDR unerfüllten Wunsch nachkam.

Halles randständige oder jenseits der Saale liegende Plattenbausiedlungen unterliegen dem stärksten Aderlass, was allerdings nicht heisst, dass die Innenstadt von Abwanderung verschont bliebe. Deren Effekte begegnen auf Schritt und Tritt: hier ein schönes Bürgerhaus, frisch saniert, das dennoch leer steht, den Eingang mit Brettern vernagelt. Dort das Postamt, ein imposanter klassizistischer Bau, der nur im Parterre, auf einem Bruchteil seiner Fläche, genutzt wird. Oder die Universitätskliniken, die an den Stadtrand ziehen und ein reizendes architektonisches Ensemble ohne künftigen Nutzer hinterlassen. Am Francke- Platz hat sich die Kunst des Themas bemächtigt: Dort blickt ein unbewohntes Haus den Passanten nicht mit blinden Scheiben oder aus leeren Fensterhöhlen an. Vielmehr sind die Fenster so mit Pflanzen überwuchert, dass es scheint, als quelle das Blattwerk übermächtig aus dem Innern hervor. Ein Gleichnis vom Triumph der Natur über das städtische Wohnen? Warnung vor der Rückkehr der Wildnis? Oder ein sarkastischer Kommentar zu dem Umstand, dass Halle seine Bewohner verliert, die einst russgeschwärzte Chemiestadt dafür aber immer grüner wird?

Im Zweiten Weltkrieg kam Halle glimpflich davon. Eine Bombe zerstörte das Opernhaus völlig, so dass die Besucher heute mit einer Replik des Baus vorlieb nehmen müssen. Sehenswürdigkeiten wie Händels Geburtshaus, die Moritzburg, Franckesche Stiftungen, Dom und Roter Turm aber sind alle noch da. Wer es gut mit Halle meint und ein wenig Propaganda nicht scheut, nennt die Stadt wegen ihrer Dichte an historischen Bauten ein «geschlossenes Flächendenkmal». Immer wieder sind auch Plattenbauten in die Altstadt vorgedrungen. Das ändert jedoch nichts an der reichen Substanz. Die DDR liess Halle verkommen; kaum ein Haus war 1990 saniert. Mittlerweile sollen es, wiewohl selbst manch schöner Repräsentationsbau noch auf seinen Retter und ein Nutzungskonzept wartet, zwei Drittel aller Bauten sein. Der Stilmix ist beeindruckend gegensätzlich: Mal erhebt sich ein sozialistischer Plattenbau neben einem Zeugnis romanischer Architektur, dann wieder stammt sein Nachbar aus der Renaissance oder der Gründerzeit.

Kulturstolz

Für das Jahr 2010 bewirbt sich Halle um den Titel der Kulturhauptstadt Europas. Pfunde, um auf den Gebieten der Kunst und Wissenschaft zu wuchern, besitzt die Saalestadt zur Genüge. Sie kann auf eine mehr als dreihundertjährige Universitätsgeschichte verweisen, auf ihre Vergangenheit als Zentrum der Frühaufklärung und des Pietismus, auf die reichen Sammlungen des Landeskunstmuseums in der Moritzburg. Luthers Totenmaske befindet sich in Halle, die internationalen Händel-Festspiele sind hier zu Hause, und in jüngster Zeit macht das Landesmuseum für Vorgeschichte mit dem Fund der prähistorischen «Himmelsscheibe von Nebra» Schlagzeilen und sorgt für einen signifikanten Anstieg des Tourismus. Alle diese Register wird man für die Bewerbung selbstverständlich ziehen. Stolz verlautet seitens des Stadtmarketings, anders als mancher Konkurrent müsse Halle kulturelle Infrastrukturen nicht erst errichten, sondern könne einfach auf bestehende zurückgreifen. Aber die Schätze, Traditionen und Institutionen sind nicht das Wesentliche. Zur Kulturhauptstadt Europas will Halle als «shrinking city» gekürt werden. Dafür, wie sie als schrumpfende Stadt ihren Umbau betreibt. Das muss dringend auch anhand innerstädtischer Projekte demonstriert werden. Aber wo waren die Eingriffe bisher dramatischer als in den Problemzonen am Rande, in Plattenbausiedlungen wie Silberhöhe und Halle-Neustadt? Zu DDR-Zeiten hiess Halle-Neustadt nur Neustadt, war eine eigene kreisfreie Stadt und ein sozialistisches Vorzeigeprojekt. 1964 für die Arbeiter in Leuna und Buna gegründet, sollte sie licht, modern und komfortabel sein. «Vor 35 Jahren war das für uns ein Glücksgriff, hier eine Wohnung zu kriegen. Es war total top. Ein Neubau. Keine Kohlen schleppen. Kein Feuer machen in der Früh. Kein Wasser aufheizen müssen», erinnert sich Lutz Schendel, der einen Tag vor seiner Einschulung nach Neustadt zog und heute im Stadtteilbüro arbeitet.

Das Projekt «Mietergärten»

Bis zur Wende lebten hier 94 000 Menschen, und mit ihren bepflanzten Innenhöfen, den Rasenflächen, Büschen und Bäumen ist diese «Platte» das grünste Neubaugebiet Deutschlands. Einige sogenannte Scheiben- und Punkthochhäuser, achtzehngeschossig, als Riegel aufragend die einen, als Türme die anderen, markieren das mehrheitlich aus weniger hohen Gebäuden bestehende Stadtbild. An ihnen, als den Wahrzeichen und Orientierungspunkten, soll der Abriss vorübergehen, der in Halle-Neustadt noch ganz am Anfang steht und bis anhin «nur» 800 Wohneinheiten vernichtet hat. Was in Silberhöhe «Waldstadt» heisst, hat in Neustadt im Projekt «Mietergärten» sein Pendant. Dabei konnten sich die Bürger um Parzellen auf durch Abriss frei gewordenen Flächen bewerben. Ob sie dort demnächst Liegestühle aufstellen oder Tomaten züchten, steht ihnen frei, nur Bauten dürfen sie keine errichten. - Die DDR war ein Land des Wohnungsmangels. Stadtplanung - das freilich war im Westen kaum anders - richtete sich auf Ausbau, nicht auf Rückbau. Was hingegen fängt man mit überschüssigen Bauten an? Ganz neue Dinge haben die Stadtplaner zu lernen. Man kann zum Beispiel nicht einfach Hochhäuser abreissen und an ihre Stelle Einfamilienhäuser setzen. Dergleichen geht nicht ohne Änderungen der Infrastruktur, ohne Anpassung der Versorgungsleitungen. Wird weniger Wasser verbraucht, weil es weniger Abnehmer gibt, müssen Rohre mit kleinerem Durchmesser her, um den richtigen Druck und die richtige Fliessgeschwindigkeit zu gewährleisten.

Der Rückbau verfolgt grundsätzlich ein Ziel: Der betreffende Stadtteil soll, indem er kompakter wird, lebensfähig bleiben. So trifft der Abriss vornehmlich die Peripherie. In Zentrumsnähe, wo nicht oder weniger abgerissen wird, sind für leer stehende Häuser alternative Konzepte gefragt. Ideen für «Umnutzungen» stehen hoch im Kurs unter Halles Stadtplanern, sind jedoch rar oder bieten oft keine langfristigen Lösungen. In Silberhöhe zog die Polizei in einen ehemaligen Kindergarten, musste ihr allseits begrüsstes Revier nach Stellenstreichungen aber bald wieder schliessen. In Halle-Neustadt liessen sich hochfliegende Pläne für die Umwidmung eines verlassenen Scheibenhochhauses zum Erlebniszentrum (mit einer durch alle Etagen führenden Rutsche) nicht umsetzen. Ein grosser Erfolg war «Hotel Neustadt», die Nutzung eines Hochhauses als von Jugendlichen geführte Herberge, um darin im Sommer 2003 alternative Lebensformen zu erproben und ein Theaterfestival zu veranstalten. Bei alldem überwiegt die befristete Zwischennutzung. Künstler finden Halle interessant, Studenten auch, das Freizeitangebot wächst, und Lokalmatadore titulieren Halle «die grüne Universitätsstadt am hellen Strand der Saale» (Peter Sodann). Nur Investoren stehen leider nicht Schlange.

Vielleicht bald eine der schönsten deutschen Städte

Peter Sodann, Sie kamen 1980 als Theaterdirektor nach Halle und haben hier die Kulturinsel aufgebaut, ein Karree aus mehreren Häusern mit verschiedenen Bühnen, Bibliothek, Lesesaal, Kneipe und Café. Sie sind wahrscheinlich Halles bekanntester lebender Kulturaktivist. Wie sollte sich Halle als Kulturhauptstadt bewerben?

Das Wichtigste ist, dass sich die Stadt mit ihren Schätzen auseinandersetzt. Was könnten wir vorzeigen, wenn wir die richtigen Einrichtungen dafür hätten. Im malerischen, bildhauerischen, wissenschaftlichen Bereich. In Weimar, das Kulturhauptstadt war, ist das vielleicht augenfälliger. Aber wir haben hier in Halle Persönlichkeiten, die in der Wissenschaft, an der Universität, ein grosses Wort mitgesprochen haben. Oder in der Malerei, von Cranach bis Feininger. Bisher ist das unter Wert geschlagen worden.

Halle, die graue Diva.

Da wirken Umstände, in die Halle nicht erst 1945, sondern schon im 19. Jahrhundert geraten ist. Die Entstehung der Chemiewerke von Leuna und Buna löste eine riesige Migrationsbewegung aus. Halle ist eine der schwierigsten Städte, die ich kenne. Sie war die Hauptstadt eines Chemie- Dreiecks, das ungeheuer viel Dreck geschleudert hat. Der Dreck ist jetzt weg, in der Saale kann man wieder fischen gehen, und viele der einst russgeschwärzten Fassaden strahlen wieder. Wir hatten in der DDR den Wahlspruch «Trümmer schaffen ohne Waffen». Diese Stadt, die vom Zweiten Weltkrieg kaum zerstört wurde, hat sich selbst verfallen lassen. Weil aber verfallene Häuser, anders als zerbombte, gerettet werden können, hat Halle die Chance, eine der schönsten Städte Deutschland zu werden.

Die Kulturhauptstadtbewerbung stellt den Stadtumbau ins Zentrum. Das ist mutig. Man hätte ja nur Schätze zeigen und in Historie machen können.

Die Strukturprobleme sind aber für die Zukunft entscheidend. Seit 1990 sind über 100 000 Menschen weggezogen, teilweise ins Umland oder abgewandert nach dem Westen. Das ist ein Schwund, der sich auf die Kultur und alle anderen Einrichtungen der Stadt auswirkt. Und da ist Halle insofern eine bewundernswürdige Stadt, weil wir trotz Abwanderung keinen Publikumsschwund hier im Neuen Theater haben.

Weil das kulturinteressierte Publikum das ältere ist - und die Alten bleiben ja.

Ich muss Sie widerlegen. Sechzig Prozent unserer Zuschauer sind im Alter von 17 bis 35 Jahren.

Die DDR war kein Gebiet, das der Einrichtung der bürgerlichen Klasse besonders förderlich war. Gibt es dennoch so etwas wie Bürgersinn, der sich bis ins Kulturelle erstreckt?

Den gibt es. Allein schon durch die Universität. Es ist ja eine sehr intelligente, ich sage immer: eine verproletarisierte intelligente Stadt. Die Stadt einzuschätzen, fällt mir wirklich schwer. Dazu muss man die Vergangenheit bemühen. Einst eine normale Provinzstadt mit einer Universität, siedelten sich bei ihr riesige Werke und Einrichtungen an, die für den Ersten oder Zweiten Weltkrieg Verwendung fanden. Und wo früher 20 000 Menschen gearbeitet haben, arbeiten heute 1500. Trotz hoher Arbeitslosigkeit ist es erstaunlich, was alles hier stattfindet.

Keine Niedergeschlagenheit.

Überhaupt nicht. Die Hallenser meckern auch nicht. Dabei weiss man bei vielem noch gar nicht, wie das richtig geht. In der alten Bundesrepublik ist ein Arbeitsamt entstanden, und es hat Jahre gebraucht, und es ist normal gewachsen mit seiner Arbeitslosigkeit. Hier ist dies alles auf einen Schlag geschehen. Von heute auf morgen sind die Leute nicht mehr in ihre Betriebe gegangen, sondern mussten aufs Arbeitsamt. Selbst wenn sie im Betrieb manchmal auch schon keine Arbeit hatten, so gab es doch einen Zusammenhalt. Sie trafen sich jeden Tag und konnten die Probleme diskutieren. Auf dem Arbeitsamt trifft man sich anders. Und das hat die Bevölkerung etwas schockiert. Mutlos aber ist man nicht in dieser Stadt.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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