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Klassizistische Sportbegeisterung
Neue Zürcher Zeitung

Zu den Anfängen der modernen Stadienarchitektur

Mit einem rot glühenden Stadion von Herzog & de Meuron kann Basel seit einem Jahr auftrumpfen, ein fünfeckiger Hexenkessel von Meili Peter soll in Zürich entstehen, und im Hinblick auf die Fussball-WM wurden in Japan und Südkorea in den vergangenen Monaten nicht weniger als 18 Stadien fertiggestellt. Stadien sind die Kathedralen der heutigen Eventkultur. Ihre Wurzeln liegen jedoch in der französischen Aufklärung.

31. Mai 2002 - Ulrike Schuster
Im Zeitalter der «Encyclopédie» schwärmten progressive Geister von riesigen Zirkusstadien und Amphitheatern. Die Epoche, die dem Theater und den pompösen Festlichkeiten so sehr zugetan war, konnte an den antiken Sport- und Spielstätten nicht einfach vorübergehen. Während sich die ersten Altertumsforscher daran machten, deren monumentale Überreste zu vermessen, dachten andere Zeitgenossen bereits über den Bau moderner Amphitheater für Grossanlässe nach, denn schon das 18. Jahrhundert kannte ein Faible für Massenveranstaltungen. Das Wort «Amphitheater» war ein häufig gebrauchter Begriff in jener Zeit. Man bezeichnete damit alle Arten von Räumen mit stufenweise aufsteigenden Rängen, ob sie nun offen oder überdacht, elliptisch, rund oder rechteckig waren. Die Funktion des Amphitheaters war ebenfalls mannigfaltig: Es konnte sich um den Zuschauerraum eines normalen Theaters handeln, um Ehrentribünen bei öffentlichen Festen oder um Hörsäle für Vorlesungen an der Universität. Während der Französischen Revolution übertrug sich der Begriff auf den Sitzungssaal der Nationalversammlung.


Sport und gute Sitten

Darüber hinaus kannte man das Amphitheater auch im Sinne seiner eigentlichen Bestimmung: als Schauplatz von Spielen, Grossveranstaltungen und Festen. François de Salignac de la Mothe Fénelon beschreibt in seinem Erfolgsroman «Télémaque» Wettkämpfe des Titelhelden in einem Amphitheater auf Kreta. Die Schilderungen dieser humanistischen Exerzitien einer Phantasie-Antike waren offenbar so anregend, dass sie noch Jahrzehnte später den Architekten Antoine- François Peyre zum Entwurf eines Amphitheaters für Madrid inspirierten. Es war in erster Linie der pädagogische Aspekt, der die Vertreter der Aufklärung für die Wiedererrichtung der antiken Spielstätten plädieren liess: Öffentliche Schauspiele und Spektakel sollten der Unterweisung des Volkes dienen, die Liebe zur Tugend wecken und so zur Verbreitung guter Sitten beitragen.

Von diesen erzieherischen Intentionen waren die Zirkus- und Kolosseumsentwürfe des Akademieprofessors Marie-Joseph Peyre und des grossen Visionärs Etienne-Louis Boullée geprägt. Der Architekt Jean-Nicolas Servandoni verknüpfte die Vorstellung von der Wiederbelebung der klassischen Ideale durch öffentliche Spiele mit dem Symbol absolutistischer Machtfülle, als er um 1750 den Vorschlag zum Bau eines grossen Amphitheaters unterbreitete, in dessen Mitte die Statue des Königs errichtet werden sollte. Oftmals enthielten die Pläne für Monumentalbauten jener Zeit auch Galerien mit Büsten oder Porträts berühmter Militärs und Geistesgrössen und fungierten dadurch als eine Art säkularer Weihestätte. Ein Nachklang dieser Idee findet sich noch im Entwurf von Herzog & de Meuron für das Münchner Fussballstadion, wo die lokalen Favoriten ihre «Hall of Fame» erhalten sollen.

Solche Projekte hatten zwar keine Chancen, realisiert zu werden, übten jedoch einen unmittelbaren Einfluss auf die Entwürfe von Festdekorationen aus. Im Zuge der Vorbereitungen der Feiern zur Hochzeit des Dauphins und Marie-Antoinettes entstand 1769 am Rond-Point auf den Champs-Elysées das sogenannte Colisée, ein riesiges Gebäude im Stil des römischen Kolosseums. Eine Rotunde, flankiert von vier kleinen Cafés, diente der Veranstaltung von Bällen und Konzerten. Daran schloss sich ein offener Hof an, in dem sich ein Bassin befand. In dieser Halbrotunde fanden Feuerwerke oder Schifferstechen statt. Das hastig errichtete Bauwerk, dessen Bestimmung mit jener der Vauxhall von London vergleichbar war, blieb noch knapp über ein Jahrzehnt bestehen, verfiel jedoch rapide und wurde schliesslich wieder abgerissen.

Die Episode ist bezeichnend für das Schicksal der Zirkus- und Amphitheaterprojekte zur Zeit des Ancien Régime, aber auch später unter der Revolution: Man plante Monumente in Stein, bestimmt für die Ewigkeit - und errichtete allenfalls kurzlebige Bauten aus Ziegel, Holz, Gips und bemalter Leinwand. Aus dieser Not versuchte Bernard Poyet, Stadtarchitekt des Pariser Magistrats, eine Tugend zu machen, indem er 1792 die Konstruktion eines mobilen Stadions aus Holzfachwerk vorschlug, das man bei Bedarf abbauen und anderswo wiedererrichten konnte. Die Revolution erkannte rasch die Bedeutung von Massenveranstaltungen als politisches Propagandamittel und veranstaltete pompöse Feste, um das nationale Zugehörigkeitsgefühl zu fördern und das Volk zu «erziehen». Grosse Arenen spielten auch in diesen Inszenierungen eine wichtige Rolle, und provisorisch errichtete Stadien wuchsen in allen Städten Frankreichs aus dem Boden. Die Zirkusanlage auf dem Pariser Marsfeld, die anlässlich des ersten Jahrestages des Sturms auf die Bastille errichtet wurde, soll angeblich über 400 000 Personen aufgenommen haben.

Die Euphorie, die man den öffentlichen Feiern entgegenbrachte, lässt sich unter anderem daran ermessen, dass man auf dem Höhepunkt der Revolution sogar über die Wiederherstellung der antiken Sportschulen zur körperlichen Ertüchtigung der Jugend nachdachte, um diese bei öffentlichen Spielen antreten zu lassen. So schlug der Abgeordnete Thiessé im Jahr VI den Bau von Gymnasien in allen Kantonshauptstädten vor. Alle fünf Jahre sollten sodann die Sieger der einzelnen Schulen in den Hauptstädten der Départements zu Wettkämpfen zusammentreffen. Der Gedanke kam der Wiedereinführung von Olympischen Spielen bereits recht nahe. Letztlich produzierte die Schwärmerei von der Erschaffung eines neuen Rom oder Sparta vor allem eines: eine Flut an Denkschriften und Entwürfen, an deren Realisierung auf Grund der instabilen politischen Lage und der prekären finanziellen Situation des Staates jedoch nicht zu denken war.


Ertüchtigung und Unterhaltung

Gegen Ende des 18. Jahrhunderts löste sich die Vorstellung von Amphitheater- und Zirkusanlagen schliesslich aus dem politischen Kontext und stellte sich wieder in den Dienst der Unterhaltung. Die Architekten der Napoleonischen Ära liebten weitläufige Parkanlagen mit Bosketten, Konzertpavillons und Theaterbühnen, Hippodromen, Menagerien, Naumachie- und Zirkusanlagen usw. Sie schwelgten in kunstvollen Grundrisskompositionen auf der Basis einer fast schon inflationären Addition von Bauformen, deren Funktionen im Grunde genommen nicht so unterschiedlich waren, dass jede davon ihre eigene Anlage beansprucht hätte. Jean-Nicolas-Louis Durand, Verfasser eines der bedeutendsten Architekturlehrbücher jener Epoche, schlug das Modell eines idealen Palastes vor, der von nicht weniger als acht Arenen umgeben sein sollte. Dieser Entwurf sollte die Apotheose eines Gedankens sein, der beinahe über ein Jahrhundert lang nach seiner architektonischen Formgebung gerungen hatte - und stellt zugleich dessen Abgesang dar.

Denn für das nüchterne 19. Jahrhundert waren Zirkus und Amphitheater kein bedeutendes Thema der Baukunst mehr. Erst der Beginn der Olympischen Spiele der Neuzeit und der Triumphzug des Fussballs vermochten diese Einstellung wieder zu ändern. Von da an sollte es noch ein weiter Weg sein, bis die Bauaufgabe des Sportstadions erneut in die höheren Sphären der Architektur vordringen konnte.

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