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Wie die Stellung einer Schachpartie
Neue Zürcher Zeitung

Aufsehenerregende Kulturbauten der Madrider Architekten Mansilla & Tuñón

Architektur ist für die Madrider Architekten Luis M. Mansilla und Emilio Tuñón nicht so sehr subjektives Ausdrucksmittel als vielmehr der Ausgleich sich überschneidender Ideen und Interessen sowie der entspannte Umgang mit gegebenen Restriktionen und selbst auferlegten Regeln. An drei Museumsbauten und einer Reihe weiterer Projekte wird ihre Methodik ablesbar, die zu immer freier wirkenden Entwürfen führt.

28. Februar 2005 - Markus Jakob
Die beiden heute rund fünfundvierzig Jahre alten Madrider Architekten Luis M. Mansilla und Emilio Tuñón gehören einer Generation an, welcher aufgrund des Informationsflusses, der Unmittelbarkeit des Ideenaustauschs und des Wechselbads formaler Moden jedweder Versuch, sich durch eine wiedererkennbare Architektursprache zu profilieren, unsinnig erscheint. Es sind gerade die Auslöschung der persönlichen Handschrift und - paradoxerweise - die Zurücknahme der Autorschaft, durch die sie zu einer der auffälligsten Architekturfirmen im heutigen Spanien geworden sind. Einige der Stichwörter, die an ihre Planungsarbeit heranführen, lauten: Distanz und Disziplin, Serie, Regel und Konsens. Womit bereits gesagt ist, dass aller expressive Überschwang aus diesen Bauten verbannt ist. Es handelt sich jedoch weder um minimalistische Kisten noch um enigmatische Behälter, auch wenn Le Corbusiers «boîte à miracles» ihre Auffassung des Metiers mitprägt. Aus der von Mansilla & Tuñón angewandten Systematik resultiert vielmehr eine höchst eigenwillige Architektur.
Nonchalance und Soft Skills

Grundlegend für Mansilla & Tuñón war zunächst die konservative, kontextbezogene Praxis von Rafael Moneo, in dessen Studio beide längere Zeit gearbeitet hatten, bevor sie sich in den frühen neunziger Jahren selbständig machten. In einem Moment mithin, in dem der Kontextualismus vor der Macht des singulären Architekturobjekts zu kapitulieren schien. Nun waren - im Sinne einer dialogischen Einordnung - Entwürfe gefragt, die ihrerseits neue Kraftfelder zu generieren vermochten; Entwürfe, die Zeichen setzten und nicht nur versuchten, das hoffnungslos Disparate zu vernähen. Daher der Begriff der «Spur in der Stadt», der auf all ihre Projekte mehr oder weniger zutrifft. Dass diese Spur zunehmend vertrackte Formen annahm, ist die Konsequenz eines Entwicklungsgangs, in dem die anfängliche Rigorosität keineswegs aufgegeben, sondern in immer komplexeren, offeneren und flexibleren Systemen durchgespielt wurde, was zu immer freier anmutenden Entwürfen führte. Diese Architektur erzählt als Zufall getarnte Spiele, die jedoch nach sehr präzisen Regeln ablaufen.

Das Wort Disziplin entfaltet hier seinen doppelten Sinn - den des Metiers, wie es ihr Vorbild Moneo versteht, und den der strikten Einhaltung einmal gesetzter Spielregeln, deren Eigendynamik andernfalls gehemmt und verfälscht würde. Fast wie ein Labortechniker hat der Architekt seine formalen Experimente durchzuführen, unbeeinflusst von persönlichen Vorlieben und Obsessionen, aber aufmerksam für Einfälle und Reize, die sein Forschungsfeld durchqueren. «Soft Skills» nennt Richard Sennett solche Aufnahmefähigkeit, die unterschiedlichstes Fremdmaterial in die Gegebenheiten und das Grundgewebe eines Projekts einfliessen lässt. «Für uns besteht die Entwurfsarbeit darin, das Knäuel zu entwirren und die Linien zur Kongruenz zu bringen. Interessanterweise ist das erst der Fall, wenn das Gebäude fertig gebaut ist», sagen die Architekten.

Durch diesen Prozess auf unvertrautes Gebiet entführt zu werden, gehört für Mansilla & Tuñón zum «Berufsrisiko». Architektur habe viel zu tun mit Figuration und Abstraktion. Aus Metaphern aber baue man keine Häuser. Es seien abstrakte Ideen, die von Projekt zu Projekt ein Spielfeld eröffneten und sich durchsetzten, sobald die Grundregel auf ihre Tauglichkeit überprüft, synthetisiert, womöglich vereinfacht worden sei. Von da an jedoch erscheine es eher, als sei man im Begriff, die Grundidee auszulöschen. Sie werde immer unschärfer, bis zum Gefühl, das Ergebnis sei unabhängig von seinen Autoren, ja sogar vom Ort und vom Ideenkeim. «Es stimuliert uns und gehört zum Genussvollen der Büroarbeit, unsere eigenen Ideen allmählich zu verwischen.»

Die Distanziertheit, auch Nonchalance, die sie ihren eigenen Projekten gegenüber an den Tag legen, trifft sich mit ihrer Definition der Architektur als Konsens verschiedener Interessen und als «Konversationsmethode». Deren Ergebnis - fern aller persönlichen Expressivität - kann zwar nicht als wissenschaftlich bezeichnet werden, erscheint aber doch als Etappe eines Erfahrungsprozesses, nämlich desjenigen des Fortschritts der Architektur in der Tradition der Moderne. Wie der Kritiker David Cohn anmerkt, fehlt hier indessen die Komponente des sozialen Engagements, das die formalen Forschungen der modernen Bewegung einst leitete. Es besteht keine Ausrichtung auf ein bestimmtes Ziel, es sei denn auf die Verfeinerung der eigenen kreativen Methode, wie die chronologische Entwicklung des Werks zeigt. Ist es pure Rhetorik, wenn Mansilla & Tuñón die Strategie des Verschwindens von sich selbst auf ihre Bauten übertragen? «Es wäre unser Ideal, wenn das Gebaute gar nicht gesehen würde.» Nicht im Zentrum des Blicks, sondern um dieses herum bauen - ein solches Haus erschiene lediglich als eine Art Rahmen des Umliegenden. Eine Metapher für den kreativen Prozess von Mansilla & Tuñón ist das Schachspiel, das gerade durch seine strikten Regeln unendliche Möglichkeiten eröffnet. Die Partie zu gewinnen, ist am Anfang zweifellos das Ziel. Bisweilen aber mündet sie in eine so schöne Stellung, dass man diese nicht mehr verlassen möchte und stattdessen das Spiel aufgibt.

Potenzial der Beschränkung

So wie Georges Perecs Roman «La disparition» sein erzählerisches Potenzial durch den Verzicht auf die Verwendung des Buchstabens E entfaltet und vervielfacht, so entwickeln auch viele Projekte von Mansilla & Tuñón ihre Kraft aus gegebenen oder selbst auferlegten Beschränkungen. Das exemplifizieren schon frühe Bauten wie das Provinzmuseum in der kastilischen Stadt Zamora (1992-96), die Schwimmhalle in San Fernando de Henares bei Madrid (1994-98) und das Museu de Belles Arts in Castelló (1996-2000). Das Museum in Zamora fügt sich als monolithischer Block, dessen einzig sichtbare und gesichthafte Fassade die Decke ist, in den Hang unterhalb des erhöht gelegenen Stadtkerns. Die immer gleichen länglichen Oberlichter, felderweise um neunzig Grad abgewinkelt und in verschiedener Höhe zueinander geordnet, strukturieren die darunterliegenden Räume und bilden eine fünfte Fassade, die den ganzen Bau definiert und anschaulich macht. Ebenso hermetisch erscheint das Kunstmuseum in Castelló. Zwar gliedern wesentlich komplexere Oberlichtstufungen die um einen zypressenbestandenen Kreuzgang angelegte Baugruppe, doch die Beschränkung auf lediglich zwei Aluminiumelemente, aus denen sämtliche Fassaden komponiert sind, sorgt für einen einheitlichen Charakter. Ein doppelgeschossiger Raum, stets gleich dimensioniert, jedoch von Stockwerk zu Stockwerk horizontal versetzt, öffnet diagonale Durchblicke durch das ganze fünfstöckige Ausstellungshaus.

Kein Bau demonstriert so klar wie das Hallenbad in der Nähe des Madrider Flughafens die Tendenz der Architekten, durch radikale Limitierung der Elemente, mit denen gearbeitet wird, deren Wirkung zu erhöhen. Ein einziges vorgefertigtes Fassadenteil, ein weisser Betonbalken, wird durch Reihung und vertikale Versetzung zu einem durchbrochenen Gewebe komponiert und bestimmt so nicht nur das Äussere des Gebäudes, sondern verleiht durch das Spiel des einfallenden Tageslichts auch dem Innern seine Stimmung. Bei Nacht erscheint die Halle als horizontal gemusterter Leuchtkörper.

Ein anderes, diesmal vertikales und monumental dimensioniertes Muster aus Lichtschlitzen bildet beim Projekt für das Museum der Königlichen Sammlungen in Madrid (Projekt 1999; noch nicht ausgeführt) eine Art Jalousie vor der Stadt. Denn der Standort dieses Museums ist die Hangkante unmittelbar neben dem Königspalast und vor der unlängst vollendeten Kathedrale Almudena, einer eher peinlichen Baulichkeit. Mansilla & Tuñón gewannen den Wettbewerb vor allem wegen seiner intelligenten Integrierung in die Umgebung. Ebenso elegant wie die über dem Tal des Manzanares gelegene Schauseite ist nämlich die Art, wie sie den Bau stadtseitig zum Verschwinden bringen. Die Aussichtsesplanade zwischen den beiden bestehenden Kolossalbauten bleibt unangetastet, und die darunter erhaltenen archäologischen Schichten - Mauerreste der arabischen Stadt, spätere Befestigungen sowie habsburgische Stallungen - werden als Rückseiten der drei Ausstellungsgeschosse in das Projekt einbezogen, so wie der freie Blick über die Jardines del Moro und den Fluss die andere Seite kennzeichnet. Das Museum wird die derzeit nicht öffentlich zugänglichen Schätze der spanischen Monarchie - von Tapisserien bis zu Kutschen - aufnehmen.

Ist es Zufall oder Bestimmung, wenn ein Architekturbüro sich wiederholt vor topographisch ähnlich gelagerten Bauaufgaben findet? Jedenfalls legten Mansilla & Tuñón nach den Museen für Zamora und für die Königlichen Sammlungen zwei weitere Projekte vor, die an Hangkanten bzw. am Fuss historischer Altstädte angesiedelt sind. Den bisher nicht ausgeführten Entwürfen für die Provinzstädte Teruel und Logroño ist neben den topographischen Gegebenheiten eines gemein: die willkürliche, geometrische Zeichenhaftigkeit oberirdisch sichtbarer und gleichsam schwebender Bauteile. In Teruel ist es ein immenses Kreuz, dessen einer Arm den Fluss überspannt, während die unterirdischen Elemente der «Kulturzitadelle» in Logroño, wo gleichfalls ein Fluss überspannt wird, fast wurzelhaft ins ungewisse Erdinnere streben.

Verschwinden oder auftauchen, das ist die Frage. Beim Wettbewerb für die Erweiterung des Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofía in Madrid - das siegreiche Projekt von Jean Nouvel steht inzwischen kurz vor der Vollendung - setzten Mansilla & Tuñón ganz auf eine Medienfassade, ein System beweglicher Bildträger, bei dem der Architekt lediglich die Voraussetzungen dafür schafft, dass die Institution sich selbst in Szene setzt. Zugleich nahm dieser Entwurf Bezug auf einige wenig bekannte, aber vorzügliche rationalistische Bauten an der Madrider Hauptachse Castellana-Recoletos-Paseo del Prado.

Ein Anhängsel zu dieser Achse bildet heute etwas weiter südlich das Centro Documental de la Comunidad de Madrid (1994-2002). Es umfasst einen ganzen, einst von der Brauerei El guila eingenommenen Häuserblock. Die um mehrere restaurierte Ziegelbauten und Getreidesilos herum komponierten, teils turm-, teils riegelförmigen, jalousieartig verglasten Neubauten haben Madrid ein Ensemble beschert, das im gegenwärtigen Baugetümmel der Kapitale noch kaum wahrgenommen wurde. Dabei wirkt es durch die Verdoppelung der horizontalen Fassadengliederung imposanter, als es ist. Was uns in Zusammenhang mit dem Potenzial, das Restriktionen innewohnt, hier jedoch interessiert, ist die Aussage der Architekten, die räumliche Anordnung der Archiv- und Bibliotheksräume verdanke sich direkt der Einhaltung der Brandschutzbestimmungen für solche Anlagen. Das Centro Documental sei von ihnen im Grunde entlang der Vorschriften der örtlichen Feuerwehr geplant worden.

Gesetzlosigkeit der Serie

Noch vergnügter wirkt die Fassade des Auditoriums in León (1994-2002). Die Konzerthalle etwas ausserhalb des Zentrums der altkastilischen Provinzhauptstadt, direkt gegenüber dem barocken Prachtbau des Hostal de San Miguel, war diesem zweifellos eine zeitgenössische Antwort schuldig. Eine vieläugige Fassade ist das Ergebnis des ausgeklügelten formalen Spiels, bei dem ein dreidimensionales modulares System mit der Notwendigkeit von Fensteröffnungen und einem gesteuerten Zufallsprinzip gemischt wurde. Dabei durften nie zwei gleiche Fenster nebeneinander liegen - und einmal tun sie es aber doch, um auch dieses Prinzip zu durchbrechen. Ronchamp lässt grüssen, ohne den Architekten ihren kubistischen Geniestreich zu neiden. Gleichfalls in León haben Mansilla & Tuñón unlängst den Bau vollendet, der ihre bisherige Entwicklung (und vielleicht auch deren Gefahren) am genauesten spiegelt. Das kurz MUSAC genannte Museo de Arte Contemporáneo de Castilla y León (2001-2004) treibt die serielle Reihung - von den Architekten nicht ohne leise Ironie «expressives System» genannt und Grundlage vieler ihrer Entwürfe - in ihre beiden möglichen Extreme. Einerseits ist der Grundrissraster hier komplexer denn je, gebildet aus Zellen sich abwechselnder Quadrate und Rhomben; andererseits lud das Grundstück durch seine Grösse dazu ein, diese nicht orthogonalen Zellen einfach einmal wuchern zu lassen. Man weiss in einem solchen isotropen System immer, was unmittelbar nebenan vorgeht - nicht aber, wo der Perimeter verläuft und wie das Ganze aussehen wird. Mansilla & Tuñón führen den Vergleich mit einem Mosaik an, von dem nur ein Fragment mit einem zufälligen Umriss erhalten ist.

So stur die Matrix bis ins konstruktive System hinein wiederholt wird - die annähernd fünfhundert Stahlbetonträger sind identisch, wie die Furchen eines Ackers, die ja auch bisweilen die Richtung ändern -, so beliebig ist der Kompositionsmechanismus. Keine bestimmten Volumen, kein Vorn oder Hinten liefern Anhaltspunkte für die Gestalt des Gebäudes. Diese aus der Zellstruktur selbst abzuleitende Gestalt nimmt erst Wirklichkeit an, wo ihrem Wuchern Einhalt geboten wird. Freilich gibt es dafür gerade in Spanien auch ältere Beispiele, etwa die Moschee von Córdoba oder die mittelalterliche Werft von Barcelona.

Man hat in Zusammenhang mit Mansilla & Tuñón von anagrammatischer Architektur gesprochen, man könnte beim MUSAC auch an eine der Grundfunktionen der Informatik denken (ausschneiden, kopieren, einfügen) oder, wenn man den Zweck des Gebäudes ins Auge fasst, an Aldo Rossis Satz: «Wenn das Geschehen gut ist, ist auch der Ort gut.» Denn das MUSAC ist entgegen seinem Namen gar kein Museum - es existiert keinerlei Sammlung -, sondern ein Behälter für ausschliesslich temporäre Manifestationen der Gegenwartskunst. Dass diese gerade in León, einer doch eher spiessigen Stadt, dieses enorme Spielfeld erhält, kann einen skeptisch stimmen. Doch braucht uns hier nicht zu kümmern, wie das Moiré aus Rhomben und Quadraten, dieses vielfach aufgefächerte, durchbrochene und doch in sich befangene Plissee, schliesslich bespielt werden wird. Festzuhalten ist, dass Mansilla & Tuñón entgegen den stereotypen Erwartungen an eine solche Institution einen extrem introvertierten Baukörper geschaffen haben. In städtebaulich chaotischer Randlage errichtet, verweigert er unter dem Zickzack seiner Glasverkleidung jeglichen Kontakt mit der Stadt. Sieben willkürlich gesetzte Türme doppelter Höhe, die eine Art San Gimignano evozieren, lassen das Ensemble nur umso enigmatischer erscheinen. Selbst der durch Aussparung mehrerer Rasterfelder geschaffene Zugang wendet sich vom Stadtzentrum ab. Im Gegensatz zu den sonst kühlen Verglasungen wurden für die Fassaden, welche diesen Vorplatz oder Ehrenhof umgreifen, leuchtende Farben gewählt. Ihre Skala, so ist zu erfahren, entspricht einem in Pixel aufgelösten Glasgemälde in der Kathedrale von León. So wird die repräsentative Funktion in einem für die Architekten typischen Einfall über den abstrakten Raster gestülpt.

Wohin der Weg nach diesem Wagestück geht, scheint am ehesten ihr jüngstes Museumsprojekt anzuzeigen, diesmal in der kantabrischen Stadt Santander. Hier wird ein noch vertrackterer, aus unregelmässigen Trapezen gebildeter Raster zur künstlichen Landschaft, zu einem gebauten Gebirge ausgeformt. In den Worten von Mansilla & Tuñón: eine «Gruppierung gleicher und verschiedener Elemente, die eine verborgene Geometrie der Natur nachzuvollziehen versuchen».

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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