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Suche nach der verlorenen Baukultur
Neue Zürcher Zeitung

Probleme der Stadtentwicklung am Beispiel von St. Gallen

In St. Gallen erhitzen sich seit Monaten die Gemüter über die verlorene Baukultur. Die Architektenverbände machen sich für einen unabhängigen Gestaltungsbeirat stark. Und sie wollen erreichen, dass die vakante Stelle des Stadtbaumeisters mit einer starken Persönlichkeit besetzt wird - für diese aber brauche es mehr Kompetenzen.

1. April 2005 - René Hornung
Die Bevölkerung von St. Gallen schimpft derzeit über Neubauten und Bauprojekte. Ein Stein des Anstosses ist der vom Generalunternehmer HRS ohne Wettbewerb gebaute Bürogebäudekomplex an der exponierten nordwestlichen Ecke des Bahnhofareals. St. Leonhard heisst der Bau, «St. Leopard» frotzeln die Stadtbewohner wegen der unregelmässig angeordneten Fassadenelemente, die an Militär-Tarnfarben erinnern. Das in einer späten Bauphase entwickelte Farbkonzept stammt aus dem Zufallsgenerator des St. Galler Künstlers Bernhard Tagwerker, doch Anerkennung findet die Gestaltung nicht. HRS und die städtischen Baubewilligungsbehörden müssen sich nicht nur wegen «St. Leopard» Kritik anhören: Auch das Stadionprojekt auf öffentlichem Grund im Westen St. Gallens wurde vom Generalunternehmer ohne Wettbewerb geplant. Wie beim «St. Leopard» stammen die Pläne aus einem Direktauftrag an den örtlichen Architekten Bruno Clerici. Gebaut ist die Kombination von Einkaufszentrum und Stadion noch nicht, die Rekurse sind aber bereinigt, und der Überbauungsplan steht kurz vor der Genehmigung.

Grosse Projekte

Solch grosse Projekte ohne Wettbewerbe zu realisieren. sei «Baupolitik, keine Baukultur», kritisiert der aus St. Gallen stammende Kultur- und Kunstwissenschafter Peter Röllin. Als Kenner der Stadtentwicklung vermisst er in den letzten Jahren einen «personell und fachlich kompetenten Diskurs». In Architektenkreisen diskutiert man zurzeit heftig über die Ursachen dieses Malaises: Der bisherige Stadtbaumeister Martin Hitz - er wechselt im März in die Baudirektion der Migros Ostschweiz - habe kaum architektonische Ambitionen gezeigt. SP-Baustadträtin Elisabeth Beéry kümmere sich zu wenig um Architektur und Stadtplanung. Und schliesslich entscheide die bisher politisch besetzte Baupolizeikommission jeweils nach der Maxime: Nur nicht die wirtschaftliche Entwicklung der Stadt durch Planungs- und Bauvorschriften hemmen.

Die Kritik blieb nicht ohne Wirkung: Die revidierte städtische Bauordnung, die noch dieses Jahr in Kraft gesetzt wird, soll eine grössere und neu zusammengesetzte Baubewilligungsbehörde bringen: Das Parlament kann dann nicht mehr Lobbyisten installieren. Künftig will die Stadtregierung externe Fachleute berufen. Damit werde der Architektur mehr Gewicht zukommen, so Stadträtin Beéry. Zusätzlich soll die Bauberatung verstärkt werden. Weiter soll St. Gallen einen Gestaltungsbeirat bekommen - dies fordern die Berufsverbände BSA, SIA, SWB, FSIA und das Architekturforum. Sie lobbyierten in den letzten Monaten bei Parteien und bei der Stadträtin. Wie rasch der Beirat installiert wird und welche Aufgaben und Kompetenzen er haben wird, ist noch offen: Die Architektenverbände verlangen einen «unabhängigen, externen Beirat», der sowohl zu Planungsfragen als auch zu Bauprojekten in einem frühen Stadium Stellungnahmen abgeben kann. Beéry hält nichts «von zu vielen Experten» und will den Beirat der Stadtplanung unterstellen und ihm nur Gestaltungs- und Überbauungspläne sowie Grossprojekte vorlegen.

Nun muss St. Gallen auch noch einen neuen Stadtbaumeister wählen. Die Architektenverbände fordern eine starke Persönlichkeit, die der Baulobby die Stirn bieten kann. Dazu aber eigne sich das schwammige Profil im Stelleninserat nicht, kritisieren sie: Um kompetente Diskussionen über gutes Bauen und Stadtplanung neu zu lancieren, brauche es mehr als einen Verwalter für die städtischen Liegenschaften. Fachkompetenz in Städtebau und Managementfähigkeiten wären gefragt, auch damit St. Gallen sein Image als «schwieriger Ort für kultivierte Investoren» wieder los werde, meint der Architekt Marcel Ferrier, einer der Initianten des Gestaltungsbeirates.

Die bevorstehende Umkrempelung der St. Galler Baubewilligungsinstanzen ist eine Reaktion auf bald acht Jahre Laisser-faire-Politik. Als 1997 der heutige Direktor des Zürcher Amtes für Städtebau, Franz Eberhard, sein Amt als St. Galler Stadtbaumeister verliess, nutzte die Baulobby die Gelegenheit und erreichte, dass die früher dem Stadtbaumeister unterstellte Stadtplanung abgetrennt wurde. Seither ist der St. Galler Stadtbaumeister nur noch für die stadteigenen Gebäude zuständig. Eberhard und der damalige Stadtplaner Fritz Schumacher (heute Kantonsbaumeister in Basel) hatten noch regelmässig Studienaufträge an die ETH und an Fachhochschulen vergeben. Die Resultate wurden öffentlich präsentiert und regten zu Diskussionen an. Inzwischen sind St. Galler Studienaufträge rar geworden und die Planungsdebatten verstummt.

Immerhin sind in den letzten Jahren auch in St. Gallen einige architektonische Vorzeigebauten realisiert worden, darunter die Erweiterung des Hauptsitzes der Helvetia-Patria-Versicherungen von Herzog & de Meuron oder das vom Wiener Heinz Tesar zur Stadtpolizeizentrale umgebaute ehemalige städtische Lagerhaus, das nun auch noch einen prägnanten Rundbau als «Kopf» bekommen hat. Zu den Vorzeigeprojekten gehören auch das zurzeit im Bau befindliche Polysportive Zentrum - das Resultat eines vom jungen St. Galler Andy Senn gewonnenen Wettbewerbs - sowie ein Bürohaus der Raiffeisengruppe, dessen Fassade der Künstler Olivier Mosset konzipierte. Jetzt werden Pipilotti Rist und Carlos Martinez noch die Umgebung des Bankenkomplexes gestalten: Sie wollen Strassen und Trottoirs, ja selbst Bänke mit einem roten Belag überziehen und so eine «Stadt-Lounge» einrichten - in einem Quartier allerdings, das nach Büroschluss kaum belebt ist. Ein anderes architektonisch verheissungsvolles Projekt für St. Gallen scheiterte: Der Erweiterungsbau für das Kunstmuseum Baumann Buffoni Roserens aus Zürich wurde von den Stimmberechtigten abgelehnt.

Galerie der Hilflosigkeiten

Neben den wenigen guten Bauen der letzten Jahre dominiere in St. Gallen zurzeit «die Galerie der Hilflosigkeiten», kritisiert Ferrier. Der mangelnde Mut der Bewilligungsbehörde habe eine Reihe von Belanglosigkeiten hervorgebracht oder zu Situationen geführt, die mit einer sorgfältigen Diskussion hätten verhindert werden können. Ein Beispiel ist der über die alte Baulinie herausragende Querbau, der an die städtischen Lagerhäuser im Stickereiquartier andockt und die Sichtachse unterbricht. Gebaut hat ihn das Generalunternehmen Gebrüder Senn - und einer der Brüder ist Mitglied der Bewilligungsbehörde.

In anderen Planungen seien Grundsatzdiskussionen verpasst worden, beanstanden die Architektenverbände. Etwa bei der angelaufenen Sanierung des Rathaushochhauses aus den siebziger Jahren. Auf eine grundsätzliche neue Lösung an diesem prominenten Standort direkt neben dem Bahnhof wollte sich niemand wirklich einlassen. Auch ein erstes Projekt am Rande der Güterbahnhof-Brache wurde ohne vorgängige Planungsdiskussion bewilligt: Baumschlager & Eberle werden dort einen nicht sonderlich geistreichen Bürobau mit strenger Rasterfassade bauen.

Neben umstrittenen Auslegungen des Altstadtschutzes taucht immer wieder die Frage auf, wie weit die Bewilligungsbehörde wirtschaftlichen Interessen nachgibt. Etwa im Falle des geplanten Kongressgebäudes beim Hotel «Einstein», das der Textilunternehmer Kriemler bauen will. Dazu wurde ein privater, eingeladener Wettbewerb organisiert. Das architektonisch umstrittene Siegerprojekt stammt von Hilmer & Sattler und Albrecht aus München. Weil es nach der Meinung der Opponenten auf die Massstäblichkeit des Quartiers zu wenig Rücksicht nimmt, muss es nun vom Bundesgericht beurteilt werden. Im Jahre 1999 hatte sich Stadtplaner Mark Besselaar strikte für die Erhaltung der Vorstadtstruktur mit Einzelbauten ausgesprochen. Doch jetzt plädiert er plötzlich für den 80 Meter langen Baukörper, der an der gleichen Stelle errichtet werden soll.

Den Behörden wird ausserdem vorgeworfen, sie hätten sich nie der Diskussion gestellt, wie man mit der Situation am Hangfuss und mit der alten Vorstadt umgehen wolle. Stattdessen hätten sie sich den Investorenwünschen gebeugt. - Neben solch konkreten Projekten geht es den Architektenverbänden aber auch um grundsätzliche Planungsfragen: Ist der Standort fürs kommende Bundesverwaltungsgericht wirklich optimal gewählt, oder handelt es sich bei der heute noch unbebauten Wiese mit Südexposition einfach um jenen Bauplatz, der am wenigsten Schwierigkeiten macht, weil er bereits der kantonalen Versicherungskasse gehört? Droht damit das scharf begrenzte Baugebiet des Stadtkerns auszufransen? Wären nicht auch die unternutzten Geleisefelder von Hauptbahnhof, Güterbahnhof und Bahnhof St. Fiden geeignete Standorte? Nur für jenes des Hauptbahnhofs gibt es ein Projekt. Giuliani Hönger aus Zürich gewannen den Wettbewerb für die Fachhochschule mit einem Hochhaus im engen Talboden der von zwei Hügelketten flankierten Stadt. Dessen Schattenwurf erhitzte die Gemüter schon in der Vorprojektphase. Und am Rande des Areals steht der Rundbau der Lokremise. Einige Jahren diente sie der Galerie Hauser und Wirth als Museum. Jetzt steht sie leer und sucht einen neuen Inhalt.

Schliesslich drohen an den Stadträndern langjährige Verdichtungsbemühungen zu scheitern. So wurde das aus einem Wettbewerb hervorgegangene Projekt für eine Blockrandüberbauung nahe der Empa von Theo Hotz mangels Investoren bisher nicht gebaut und dann abgeschrieben. Jetzt baut Lidl auf der Parzelle einen banalen, eingeschossigen Kubus, geplant vom Architekten und SVP-Kantonsrat Hans Richle.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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