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Rhythmen des Werdens und Vergehens
Neue Zürcher Zeitung

Massimo Carmassis Restrukturierung in Pisa

Nachdem 1944 Bomben hinter der Kirche San Michele in Borgo ein Stück der Altstadt von Pisa zerstört hatten, wurde zwischen den Ruinen ein Parkplatz angelegt. 1985 konnte mit der Realisierung von Massimo Carmassis Projekt begonnen werden. Obwohl die Neubauten viel beachtet wurden, stehen sie noch immer leer.

6. Mai 2005 - Roger Friedrich
Wer in Pisa nicht nur den Dom, das Baptisterium und den Schiefen Turm anschaut, wird auf seinen Rundgängen auch an der Kirche San Michele in Borgo vorbeikommen. Die Geschichte der Kirche soll bis in die karolingische Zeit zurückreichen. Die heutige Fassade mit den drei eleganten Säulengeschossen über drei fein gestalteten Portalen stammt aus der Zeit des Übergangs von der Romanik zur Gotik. Sie wird von zwei leicht vorspringenden Wohnhäusern eingerahmt. Der Vorplatz verbreitert hier - unweit des Ponte di Mezzo und der Piazza Garibaldi - die lebhafte Ladengasse Borgo stretto. Als 1944 der Arno während 45 Tagen mitten in Pisa die Kriegsfront bildete, fielen bei einem Luftangriff auf die Brücke auch Bomben auf die Kirche und die dahinter befindlichen Häuser. Ein Seitenschiff und die an die Rückwand angebaute, seit der Säkularisierung Ende des 18. Jahrhunderts als Schule genutzte Klosteranlage wurden zerstört.

Schwierige Lage nach dem Krieg

Die Kirche wurde bald wieder aufgebaut. Hinter der Kirche hingegen wurde vom Kloster weggeräumt, was der Krieg hatte stehen lassen. Damit wurde der Blick frei auf die Rückwand der Kirche. Früher hatten - abgesehen vom kleinen Klosterhof - zusammenhängende Bauten bis zur Via degli Orafi die Sicht auf die Kirchenrückseite verdeckt. Nach der ersten Räumung wurde ein Platz frei, wie es ihn bisher nicht gegeben hatte und für den es nun Konzept und Funktion zu finden galt. Fürs Erste eroberten ihn die Autos, und während sich die Planungen ablösten, blieb das Bild des von Ruinen umstandenen Parkplatzes bis in die achtziger Jahre erhalten.

1975 richtete der damals 32-jährige Toskaner Massimo Carmassi in der Stadtverwaltung ein Studien- und Projektierungsbüro ein, das er bis in die neunziger Jahre leitete. Es verlieh der urbanistischen Reflexion neue Impulse. Carmassi hatte bereits zuvor mit seiner Frau Gabriella, die ebenfalls als Architektin tätig ist, baugeschichtliche Studien durchgeführt. Das neue Büro ging daran, umfassendere baugeschichtliche und urbanistische Grundlagen zu erarbeiten. Diese zielten darauf ab, das Bauerbe, unter anderem die erhaltenen Befestigungen, in die Stadtentwicklung einzubeziehen und zur Geltung zu bringen. Eine erste Initiative des Programmes für Altstadterneuerung war dem Areal hinter der Kirche San Michele zugedacht, damals die «gewiss am meisten heruntergekommene Zone des historischen Zentrums». Die Bauarbeiten begannen 1985.

Das erste von Carmassis San-Michele-Projekten sah Neubauten über den stehengebliebenen Ruinen vor. Dann wurde der Wunsch laut, auch der Kirche gegenüber eine Häuserzeile zu erstellen. Damit konnte die Via degli Orafi als enge Gasse wieder hergestellt werden. Gleichzeitig entstand so ein geschlossener Hof. Die vier Flanken des unregelmässigen Vierecks stellten völlig verschiedene architektonische Aufgaben. Der dominierenden Rückfassade der Kirche gegenüber musste von Grund auf neu gebaut werden. Auf beiden Flanken erhoben sich noch Ruinen, auf der einen standen einige Mauern, auf der anderen Reste von Turmhäusern («case-torri»).

Alt und Neu

Es bot sich die Möglichkeit, Alt und Neu auf verschiedenste Weise ins Verhältnis zu bringen. Der altstädtische Kontext erlaubte oder erforderte strukturelle und gestalterische Entsprechungen und Assoziationen. Wichtig wurde das Vorbild der auf den prekären Pisaner Baugrund abgestimmten Konstruktion der Turmhäuser. Carmassi hat seine Formensprache, wie sie sich an seiner Wohnüberbauung Pontedera oder der Friedhoferweiterung San Pietro (beide in Pisa) ablesen lässt, in intimer Auseinandersetzung mit der Baugeschichte entwickelt. Sie eignet sich - wie der von ihm bevorzugte Backstein -, in Einklang mit historisch überkommenen Elementen gebracht zu werden, ohne die Eigenständigkeit einzubüssen. Die Neubauten entlang der Via degli Orafi haben ihre versteckte «historische Verankerung» darin, dass sie auf Fundamenten stehen, die nach der seinerzeitigen Planierung wieder freigelegt wurden.

Das Äussere der Neubauten wirkt asketisch, gegen die Via degli Orafi hin geradezu klösterlich abweisend. Hinter der Fassade entfalten zwei zu eigentlichen Gassen bis unter das Dach hochgezogene Durchgänge und Hohlräume um die Rundtürme der Wendeltreppen eine vielfältige Raumstruktur, die man vom Hof aus - in Teilstücken erspähend - mehr nur erahnt als wirklich durchschaut. Holz (für Jalousien und Decken) sowie Glas und Metall (für die Ladenräume im Erdgeschoss) bestimmen die inneren Bauteile. Eine der «Gassen» ist - schief ins Gebäude gestellt - auf die Rückfassade der Kirche ausgerichtet. Vom Hof aus hingegen sieht man durch die einzige Lücke der Umbauung einen benachbarten Wohnturm. Im Hof kontrastiert der kräftig rote Ziegelstein der neuen Mauern zur hellen Fassade der Kirche und steht in variierender Spannung zu den bleicheren Mauerresten unterschiedlichen Alters.

Rundbögen des neuen obersten Geschosses, die auf der Nordseite leicht zurückgesetzt hinter der alten Mauer aufragen, wecken entfernte Assoziationen an den einstigen Kreuzgang oder an die doppelschaligen Pisaner Kirchenfassaden. Carmassi variiert - mit der «Dialektik der Epochen» spielend - mannigfaltig das Gestaltungsprinzip der zwiefachen Oberfläche (unter anderem mit den hinter die Maueröffnungen zurückversetzten Fenstern). Auf der Südseite ist vor einen der hier gegeneinander versetzten, an Turmbauten erinnernden Baukörper skulptural ein noch gedeckter Ruinenrest gestellt. Ein paar Mauerstücken ist die unregelmässigen Krone des Zerfalls belassen. Der ursprünglich als in den Platz eingelassene Rampe vorgesehene Zugang zur Krypta fällt dahin, weil die Mittel für die Restaurierung des mit Fresken aus dem zehnten Jahrhundert geschmückten, aber einen Meter hoch mit Wasser gefüllten Bauwerks fehlen. Bewegt man sich im Hof, so fasziniert die Abwechslung und Vielfalt der Ansichten und Perspektiven, die die Ruhe und Ausgewogenheit des Gesamteindrucks nicht beeinträchtigen.

Die schönen Bilder der im vergangenen Jahr in Wien mit dem Sonderpreis des Brick Award 2004 ausgezeichneten Anlage wecken Erwartungen, die vor Ort leicht enttäuscht werden können. Ist Carmassis Werk doch nach nunmehr 20-jähriger Bauzeit noch immer nicht vollendet. Durchgänge und Schaufenster sind verrammelt; und seit einigen Jahren ruhen die Arbeiten. Einige Häuser stehen innen noch im Rohbau. Andere wären praktisch bezugsbereit, weisen aber die ersten Folgen von Vandalismus auf. Dem Platz fehlt der Belag. Säulen, die zur Erinnerung an den Kreuzgang aufgestellt werden sollen, liegen noch am Boden.

Die Geschichte ist nicht zu Ende

Es mangelte uns die Geduld, in den Mäandern der Pisaner Politik und Verwaltung herauszufinden, was schief gelaufen ist und was die Behörden davon abgehalten hat, ein Projekt, das in der Fachwelt auf Interesse stösst, nicht abzuschliessen. Bei einem so komplexen Werk sind mancherlei Konflikte möglich, und die Kredite haben mit Sicherheit nicht gereicht. Carmassi hat die Stadt seiner Väter schon in den neunziger Jahren enttäuscht verlassen und ist nach Florenz übergesiedelt. Mit dem komplexen San-Michele-Projekt schlägt sich seither die Architektin Dunia Andolfi engagiert herum. Sie gehörte schon in den Anfängen zu Carmassis urbanistischem Team und hatte wesentlichen Anteil an den baugeschichtlichen Studien. Die Stadt will, des Unternehmens müde, die Liegenschaft abstossen. Damit ist der Ausgang ungewiss.

Ein unlängst publizierter Werkkatalog macht deutlich, dass dem San-Michele-Projekt in Carmassis Gesamtschaffen ein besonderer Stellenwert zukommt. Im Gespräch mit dem Architekten spürt man, wie sein Denken noch immer um dieses Projekt kreist, das ihn mit Grundfragen des Werdens und Vergehens konfrontiert hat. Kann Vergänglichkeit in der modernen Welt noch präsent sein? Es kam die Rede auf Carmassis grosses Vorbild Kahn und - in Florenz - natürlich auch auf Brunelleschi. Der grosse Renaissancearchitekt vollzog den Schritt von den Bauwerken, die sich über weite Zeiträume in Osmose mit der Geschichte entwickelten, zu den bis in ihre Einzelheiten gedachten und bestimmten Projekten. Auch für Carmassis ins Ganze einbezogene Ruinen ist die Vergänglichkeit zu Ende. Es sei denn, die Geschichte holt das Projekt ein, bevor es abgeschlossen ist.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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