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Die Poesie der Moderne
Neue Zürcher Zeitung

Zur Architektur von Berthold Lubetkin

19. Juni 2002 - Hubertus Adam
Die 100. Wiederkehr des Geburtstags von Berthold Lubetkin am 14. Dezember 2001 ist an der britischen Öffentlichkeit ebenso spurlos vorbeigegangen wie die Gründung der Architektengemeinschaft Tecton vor 70 Jahren (NZZ 9. 2. 02) - keine Jubiläumsausstellung rief das Wirken des im georgischen Tiflis geborenen, zeitweise in Wien, Warschau, Berlin und Paris tätigen Architekten in Erinnerung, der mit seinen plastisch- poetischen Bauten im England der dreissiger Jahre der Moderne zum Durchbruch verhalf und auch die Nachkriegsarchitektur Grossbritanniens durch eine Reihe von Wohnkomplexen im kriegszerstörten London entscheidend prägte. Nun hat John Allan, dem schon die massstabsetzende Lubetkin-Monographie von 1992 zu verdanken ist, ein weiteres Buch vorgelegt. Nicht der gewohnt kenntnisreiche, auf den früheren Studien basierende Essay des Autors macht diese Publikation unabdingbar, sondern eine 80-seitige Fotodokumentation aller bestehenden Bauten in ihrem heutigen Zustand, welche durch eine Liste der zerstörten Gebäude und eine aktualisierte Bibliographie ergänzt wird.

Die eindrucksvollen Bilder des Photographen Morley von Sternberg zeigen nicht nur Lubetkins Hauptwerke - die Zoobauten in London, Dudley und Whipsnade, die Highpoint Apartments oder das Finsbury Health Centre -, sondern auch sämtliche weniger bekannten Arbeiten, darunter zwei Bungalows in Whipsnade (1933-36), den Umbau eines georgianischen Hauses im Londoner Stadtteil Mill Hill (1936/37) und Spätwerke wie die St. Andrew's Ambulance Association in Glasgow (1966-70), bei der Lubetkin mit seinem schottischen Partner Douglas Bailey zusammenarbeitete. Auch wenn die meisten Bauten inzwischen unter Denkmalschutz stehen, sind einige weiterhin ernsthaft gefährdet, vor allem die Zoobauten in Dudley, die (den zum Teil geschönten Fotos zum Trotz) ungenutzt dem Verfall entgegensehen.

Während die theatralische, beinahe postmodern anmutende Trompe-l'œil-Skulptur im Garten des Londoner Cranbrook Estate noch 1994 der Zerstörung anheim fiel, begann zeitgleich die Restaurierung des Finsbury Health Centre. Vorbildlich wiederhergestellt wurden inzwischen auch die beiden Highpoint-Blöcke (1931-38) und der um eines der grandiosen Lubetkin-Treppenhäuser sich gruppierende Bevin Court nahe King's Cross (1946-54). Ohne Zweifel, die Bildsequenz beweist es erneut: Lubetkin war nicht nur ein hervorragender Neuerer der britischen Architektur, sondern zudem ein immer noch unterschätzter Protagonist einer unorthodoxen und zukunftsweisenden Moderne.


[John Allan und Morley von Sternberg: Berthold Lubetkin. Merrell Publishers, London 2002. 144 S., Fr. 88.-.]

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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