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Das Vorbild nebenan
Spectrum

Als Prügelknaben sind sie schnell zur Hand, die Häuselbauer. Dabei steckte einst in ihrem Bauen die Erfahrung von Jahrhunderten - und durchaus ästhetische Perfektion.

28. Mai 2005 - Walter Zschokke
Als Prügelknaben sind die Häuselbauer und ihre Produkte, der allgemein verbreitete Eigenheimbau, schnell zur Hand, wenn Architekten oder Kritiker so richtig loslegen. Ein Blick auf verhäuselte Landschaften bestätigt: Es herrscht ein Missstand. Doch mit permanenter Schelte wurde noch nie eine nachhaltige Verhaltensmodifikation erreicht. Unbesehen der gewichtigen raumplanerischen Argumente, die gegen den massenhaften Bau frei stehender Einfamilienhäuser sprechen, wie Landverbrauch, Infrastrukturkosten und Verkehrsaufkommen, findet er trotzdem statt. Aber wenn schon unvermeidlich, sollte er vielleicht vernünftiger erfolgen. Betrachten wir ihn daher einmal als Phänomen.

Eigentlich würde der verbreitete Eigenheimbau zum anonymen Bauen zählen, jenem traditionalen Hausbau früherer Zeiten. Das mag paradox klingen, aber für einen Großteil führen ähnliche Vorgänge zu Form und Gestalt, indem nämlich passende vorhandene Bauten, allenfalls geringfügig modifiziert, einfach kopiert werden. Auf diese Weise entwickelten sich vor Jahrhunderten jene regionalen Bautypen, die beispielsweise von der Bauernhausforschung erkannt und analysiert werden. Wirtschaftsformen, Klima, vorhandenes oder leicht greifbares Material, aber auch formgeschichtliche Aspekte führten zu oftmals und über Jahrhunderte wiederholten Typen, deren leichte Variation oder lagespezifische Modifikation jenes auf den ersten Blick gleichförmig-ruhige, im Detail jedoch vielfältig individualisierte Bild ergibt, das uns als „anonymes Bauen“ oder „Architektur ohne Architekten“ fasziniert. Die Vorbilder des anonymen Bauens stammten in der Regel von nebenan. An ihnen konnten auf gutnachbarschaftliche Art Mehr- oder Minderbedarf, auch die benötigte Menge Material abgemessen oder abgezählt, ja sogar die Kosten abgeschätzt werden. Und das alles ohne gezeichneten Plan. Über die Jahrzehnte und Jahrhunderte sammelte sich in diesen Typenbeispielen sehr viel Erfahrung - und durchaus auch ästhetische Perfektion. Den Beweis liefern mehrere Publikationen, die heute als klassisch gelten.

Seit einigen Jahrzehnten verläuft nun aber der Prozess, wie man zu Situierung, Grundrissaufteilung, Fassade und letztendlich zu seinem Haus kommt, anders ab. Es werden nicht mehr Haustypen an die eigenen Bedürfnisse adaptiert, sondern Elemente gesammelt, die nicht primär Funktionsträger in einem umfassenden Sinn, sondern vor allem Bedeutungsträger sind: Turm, Erker, Schopfwalm, Rundbogen, Wintergarten, Biotop und so weiter. Oft stammen diese Elemente aus aufwendigeren Hauskategorien und müssen daher reduzierter und billiger ausgeführt werden. Wegen des hektischen Bedeutungswandels kultureller Moden gelingt es den Bauenden nicht mehr, das naive Flickwerk auch ästhetisch in den Griff zu bekommen, wie früher üblich, als alles noch viel langsamer ablief.

Oft missproportioniert und zusammengeschustert, verlieren solche Häuser ihren einfachen Charakter und geraten zur peinlichen Karikatur. Dies wird allerdings von jenen, die sie - wenigstens zum Teil - mit eigenen Händen erbaut haben, klarerweise nicht so gesehen. Denn schließlich haben sie sich ihre vermeintlich architektonischen Applikationen von hoch gelobten Häusern abgekupfert. Warum bleibt nun das Lob aus? Übrigens, um es der Gerechtigkeit halber zu sagen, nicht wenige studierte Architekten arbeiten auch nicht anders und sind beleidigt, wenn man sie darauf hinweist.

Der Hauptunterschied zu früher liegt jedoch darin, dass die Vorbilder heute nicht nebenan, sondern in Magazinen gefunden werden. Meist sind es auch ziemlich aufwendige Häuser, oft eigentliche Villen, wenn auch nur auf Papier. Der Typus der Villa taugt jedoch nicht als Vorbild für den normalen Hausbau, weil dieser mit dem Luxus „Raum“ viel sparsamer umgehen muss. Auch ist die Lage meist bescheidener, die Parzelle um vieles enger, das Entree bloß ein Vorraum, das Wohnzimmer bestenfalls halb so groß, das Bad winzig und und und. Dagegen sind (schein)vergoldete Armaturen und Marmorfliesen fürs Bad in jedem Baumarkt zu finden und auch bezahlbar. Auf diesem Feld tobt denn auch der individuelle Konkurrenzkampf der Häuselbauer. Zu einer vernünftigen, Fläche sparenden Grundrissorganisation und einer klugen Gesamtkonzeption kommt man allerdings mit dem aus Nahezu-Villen zusammengestoppelten Eigenheim nicht.

Wie sollen nun aber die Häuselbauer aus ihrer Situation herausfinden, wenn adäquate Vorbilder fehlen, nicht ausreichend bekannt gemacht oder nicht angemessen, in einer verständlichen Sprache, erläutert und gewürdigt werden? Bis heute ist es unter Architekten beliebt, sich über den begehbaren Fertighäusermarkt der Blauen Lagune zu mokieren, aber als Methode liegt sie richtig.

Erinnern wir uns kurz an historische Versuche, an die Modellsiedlungen, die um 1930 auf Initiative der Werkbundbewegung entstanden. Da die sozialen Ziele der Propagierung der formalen Innovation einer neuen Architekturauffassung untergeordnet blieben und zudem oft deren Kostenrahmen sprengten, fanden sie nicht zu den eigentlichen Adressaten. Der Fortschritt im äußeren Erscheinungsbild war einfach zu groß, bei aller Qualität, die da und dort im Inneren zu finden gewesen wäre.

Mit dem Verlust der Vorbilder, verschärft noch durch Veränderungen der gesellschaftlichen Strukturen stellen sich heute entwerferische Probleme, die erst neu bearbeitet, in der Praxis erprobt und dann vermittelt werden müssen. Entsprechende Musterbauten sollten besichtigbar, begreifbar und 1:1 nachvollziehbar sein, nicht bloß in Form schöner Bilder vorliegen. Wenn aber für derartige Aufgaben nach Architekten gerufen wird - und als Neuentwicklungen wären sie eine klassische Architektenaufgabe -, bleibt vorausgesetzt, dass auf die Aufgabe bezogen und hart an der Realität gearbeitet wird. Das heißt vor allem, dass der Rahmen des Möglichen gewahrt und dass das typologisch Wesentliche klar vor dem Modischen rangiert.

Beispiele in Vorarlberg, wo nicht wenige Architekten mehrere Dutzend Einfamilienhausplanungen vorweisen können, zeigen, dass nicht jedes Mal alles neu erfunden werden muss. „Nicht der Rede wert“, sagen sie oft. Warum? Weil sie einen selbstverständlichen, unauffälligen und alltagstauglichen Standard gezeichnet haben, der in einigen wesentlichen Punkten, was Lage und spezielle Bedürfnisse betrifft, unkompliziert modifiziert wurde. Dieser Standard ist ohne viel Aufhebens von den Handwerkern baubar und für die Baufamilie oder den Auftraggeber auch bezahlbar.

Es ist jedoch wenig sinnvoll, den Häuselbauern bloß zu raten, sich doch einen Architekten zu nehmen, wenn nicht zuvor „vertrauensbildende Maßnahmen“ gesetzt werden. Etwa in Form einfacher und doch hochwertiger Mustersiedlungen zum Anschauen und Angreifen; aber auch seitens der Architekten, indem sie die Bauherreninteressen nicht ihrer Gier nach einem „publizierbaren Bau“ unterordnen.

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