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wien-izmir-wien: freiraumnutzung im reisegepäck
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„Fremde“ Freiraumnutzungskultur wird von der einheimischen Bevölkerung oft als Vandalismus interpretiert. Im folgenden Beitrag versuche ich anhand einiger Beispiele die Freiraumnutzungen in der Türkei und jene der GastarbeiterInnen in Wien zu erläutern, um damit zu einem besseren Verständnis für die Freiraumansprüche dieser Bevölkerungsgruppe beizutragen.

11. Juni 2002 - Shams Asadi
Da ich als Iranerin aus einer nicht-europäischen Kultur komme, jetzt in Wien lebe und hier als Planerin arbeite, ist es mir möglich, die Problematik der Freiräume und die der Migration unter sehr unterschiedlichen Gesichtspunkten zu beleuchten. Zum einen habe ich selbst zweimal die Erfahrung gemacht, eine „Fremde“zu sein; zum anderen habe ich mich im Rahmen meines Studiums mit der Problematik der Freiflächennutzung vor allem in Slumgebieten – so genannten „Gecekondus“ – in Izmir beschäftigt. Gecekondu heißt in der wörtlichen Übersetzung „über Nacht gebaut“. Diese Bezeichnung verweist auf eine Besonderheit im türkischen Recht, wonach ein Wohnbau, der über Nacht errichtet und mit einem Dach versehen wurde, nicht mehr abgerissen werden darf. Eine solche Siedlung darf nicht als „Slum“ im hier gebräuchlichen Sinne verstanden werden, denn fast alle Bauten sind aus Stein gebaut und mit kleinen Gärten ausgestattet und erhalten im Laufe der Zeit oft sogar mehrere Stockwerke.

Grob kann Migration in „Binnenmigration“ und „Internationale Migration“ unterschieden werden, wobei die Ursachen für beide sehr unterschiedlich sein können, sich aber auch stark überschneiden. Die Binnenmigration fasst die Wanderungsbewegungen innerhalb eines Landes zusammen, die internationale die grenzüberschreitenden.

Die „WienerInnen“

Wie schon in der groben Übersicht über die Bevölkerungszusammensetzung in Wien zu erkennen ist, sind nur maximal zwei Drittel der in Wien lebenden Menschen auch hier geboren, vor etwa hundert Jahren betrug dieser Anteil sogar nur ein Drittel. Die Anzahl der ZuwanderInnen aus den Bundesländern (Binnenmigration) und jener aus dem Ausland (Internationale Migration) ist zwar nicht ident, die beiden Gruppen bilden aber zwei ähnlich große Blöcke. Die Länder mit der höchsten Zuwanderungsrate waren in den letzten Jahrzehnten die Türkei und das ehemalige Jugoslawien. Der Anteil der in Wien wohnenden TürkInnen stieg von 11.223 im Jahr 1975 auf 45.858 im Jahr 1991. Das sind fast drei Prozent der Wiener Gesamtbevölkerung. Die Zahl der aus dem ehemaligen Jugoslawien stammenden Personen betrug 1991 etwa 91.000, das sind fast sechs Prozent. Die restlichen ZuwanderInnen kommen entweder aus Industriestaaten und bringen somit ähnliche Ansprüche an die Freiräume mit oder bilden eine kleinere Gruppe und sind daher zahlenmäßig nicht von so großer Bedeutung wie die oben angeführten. Ende der sechziger Jahre und in den siebziger Jahren hatte Österreich großen Bedarf an Arbeitskräften (in Westeuropa begann der Zuzug von GastarbeiterInnen schon fünfzehn Jahre früher).

Mit gezielten „Werbestrategien“, beispielsweise durch direkte Kontakte der österreichischen Verwaltung zu den Arbeitsämtern in den Herkunftsländern der GastarbeiterInnen, wurde versucht diesen Bedarf zu decken. Der/die klassische GastarbeiterIn aus der Türkei, genauso wie jene/r aus dem ehemaligen Jugoslawien, entspricht dem Bild des/der HilfsarbeiterIn und ähnlichen „Berufsbildern“. Die Personen, die von solchen Angeboten angesprochen wurden, stammen logischerweise aus einem typischen, sozial wie wirtschaftlich schlechter gestellten Milieu. In erster Linie rekrutiert sich diese Schicht aus ländlichen oder kleinstädtischen Gebieten. Durch die Schwierigkeiten, sich den unterschiedlichen sozialen Mustern in den verschiedenen Migrationsorten (auch innerhalb des Heimatlandes) anzupassen, entstehen für die MigrantInnen schon Probleme im eigenen Land. Diese Anpassungsschwierigkeiten werden bei einem Sprung nach Westeuropa durch den großen sozialen und kulturellen Unterschied noch verstärkt. Ebenso wie die türkischen LandarbeiterInnen ihre Gewohnheiten und Ansprüche mit in die türkische Großstadt nehmen, stellen sie dieselben Ansprüche auch an europäische Großstädte. Zusätzlich zu den Widersprüchen zwischen ihren sozialen Bedürfnissen und den räumlichen Möglichkeiten (in Europa) kommt das Problem der oft in mehreren Schritten erlebten Entwurzelung.

Freiräume im türkischen Dorf

Der zentrale Platz des Dorfes (mit der Moschee, dem Kaffeehaus, Verwaltungsgebäuden etc.) ist der Mittelpunkt des sozialen Geschehens und wird dementsprechend auch in erster Linie von den Männern frequentiert. Kleinere Plätze mit Trinkwasserbrunnen zur Wasserversorgung mancher Häuser werden verstärkt von Frauen und Mädchen benutzt. Privatgärten dienen in erster Linie zur Versorgung mit Gemüse und sind somit „Arbeitsplatz“ der Hausfrauen. Die Benutzung der Freiräume bekommt also eine starke geschlechtsspezifische Komponente. Nicht die Möglichkeiten, welche sich auf einem Platz bieten, bestimmen die Struktur der BenutzerInnen, vielmehr wird durch die soziale Hierarchie ein Raum auch funktional besetzt und damit zugeordnet.

Freiräume in der türkischen Stadt

In den vier größten türkischen Städten (Istanbul, Ankara, Izmir und Adana) leben zwischen 55 bis 75 % der Bevölkerung in den Gecekondus. Durch die starke Binnenwanderung in der Türkei sind die Gecekondus „ländliche Lebensräume“ in der Stadt geworden. Die Lebensgewohnheiten werden selbstverständlich nicht mit dem Wunsch nach einer Verbesserung des Lebensstandards aufgegeben. Erst nach und nach übernehmen die ZuwanderInnen die Freiraumangebote der Städte (Kinderspielplatz, Parks, Plätze etc.). Die strenge soziale Zuordnung der Freiräume verliert an Bedeutung. Die ArbeitsmigrantInnen, welche aus städtischen Gebieten nach Österreich kommen, stammen in erster Linie aus diesen Gebieten. Speziell diese Gruppe ist von den schon erwähnten „Entwurzelungsschritten“ betroffen.

Freiräume in Wien

Dem „Berufsbild“ des Gastarbeiters/der Gastarbeiterin entsprechend steigen diese auch hier in Berufe mit niederem Einkommen ein. Die Möglichkeiten auf dem derzeitigen Wohnungsmarkt für eine mehrköpfige Familie mit geringem Einkommen eine adäquate Unterkunft zu finden, sind sehr beschränkt. Die Wohnungssuche gestaltet sich für eine ausländische Familie noch viel schwieriger, da NichtösterreicherInnen bei der Anmietung oft von vornherein ausgeschlossen werden. Folge davon ist das Zusammendrängen der MigrantInnen in viel zu kleinen Wohnungen mit relativ unsicherer Rechtsgrundlage.

Im Durchschnitt kommen in Wien auf eine Person 25 m² Wohnfläche, auf eine/n jugoslawische/n GastarbeiterIn dagegen nur elf Quadratmeter (vgl. BUNDESMINISTERIUM FÜR SOZIALE VERWALTUNG, 1985). Gründe dafür sind die Größe der Familien einerseits und die aufgrund der niedrigen Einkommen kleinen Wohnungen andererseits. Der Wunsch nach Veränderung der Wohnverhältnisse ist folglich bei den GastarbeiterInnen entsprechend hoch.
Die kleine Wohnung bringt die Menschen dazu, zumindest während der warmen Jahreszeit, ins Freie auszuweichen. Soziale Reibungsflächen innerhalb der Familie, bedingt durch das enge Zusammenleben, können ein wenig reduziert werden. Das geringe Familieneinkommen macht auch die Inanspruchnahme von teureren Erholungsmöglichkeiten und Urlauben nahezu unmöglich.

Die traditionelle Großfamilie, das geringe Durchschnittseinkommen mit all seinen Folgen und die gewohnte Nutzung des Freiraums bedingen Freiraumnutzungen, die den ÖsterreicherInnen fremd sind. So werden von GastarbeiterInnen auch Räume angenommen, die von ÖsterreicherInnen kaum mehr benutzt werden wie zum Beispiel „Hausvorbereiche“ oder Beserlparks in unmittelbarer Nähe der Wohnung, vor allem in dicht bebauten städtischen Gebieten. Die ArbeitsmigrantInnen, speziell jene aus ursprünglich ländlichen Bereichen, benutzen die Hausvorbereiche und Straßenräume im Einzugsbereich der Häuser als Treffpunkt, wie sie es von ihrer Heimat gewöhnt sind. Die Frauen erledigen dort auch ihre Hausarbeit. Ebenso ist der naheliegende Beserlpark Treffpunkt und Kommunikationsort. Mit der geringen oder überhaupt nicht vorhandenen Ausstattung (außer manchmal einem Ballkäfig) dienen diese für ausländische Frauen, Kinder und Jugendliche als meistgenutzte Freiräume vor allem an Werktagen, Einheimische halten sich hier nur mehr selten auf. Am Wochenende werden diese Plätze verstärkt auch von Männern in Anspruch genommen, speziell, wenn die Familie kein Auto besitzt.

Verkehrsreiche Straßen oder funktionell und gestalterisch wenig gelungene Plätze werden – wenn die Möglichkeit eines ungestörten Aufenthalts gegeben ist – ebenso angenommen wie zum Beispiel Bahnhöfe. Bei diesen kommt sicher der Aspekt des Heimwehs zusätzlich zum Tragen.

Auch das Wetter ist ein entscheidender Faktor in der Freiraumnutzung. Bei schlechtem Wetter und in der kalten Jahreszeit sind die Wohnungen Treffpunkte der Frauen und kleinen Kinder in kleineren Gruppen. (Männliche) Jugendliche halten sich dann oft in U-Bahn-Eingängen oder in Einkaufszentren auf.

Lösungsansätze

Eine generelle Lösung der Probleme für ArbeitsmigrantInnen im Hinblick auf Freiräume gibt es sicher nicht. Auch wenn es zwischen älteren Menschen und ausländischen Jugendlichen im städtischen Freiraum vermehrt Auseinandersetzungen gibt, kann jeder einzelne Freiraum nur in seinem speziellen Umfeld individuell behandelt werden. Genaue Untersuchungen und Fallstudien sind hiezu notwendig. Gleichzeitig muss aber auch darauf hingewiesen werden, dass mit einer engagierten und kreativen Freiraumgestaltung alleine die Probleme der ArbeitsmigrantInnen nicht gelöst werden können. Die Gestaltung des Lebensraums kann Bemühungen auf wirtschaftspolitischer und sozialer Ebene unterstützen aber nicht ersetzen.

Projekte wie spezielle Parkbetreuungen, „Streetworks“ und verschiedene kulturelle Veranstaltungen im Freiraum zeigen, dass in den letzten Jahren in Wien versucht wurde, die Probleme im öffentlichen Raum zu entschärfen. Institutionen wie Gebietsbetreuungen in Stadterneuerungsgebieten und Integrationsfonds spielen in diesem Bereich eine große Rolle. Multikulturelle Veranstaltungen der Gebietsbetreuungen und andere Initiativen haben in den neunziger Jahren eine positive Entwicklung der Freiraumkultur mit sich gebracht.

Eine reine Gestaltung von Freiräumen ohne Auseinandersetzung mit den sozialen und kulturellen Ansprüchen der BenutzerInnen kann dazu führen, dass eine Nutzung, die von der ursprünglich geplanten abweicht, als Vandalismus interpretiert wird. Kurzfristig ist eine abstrakt-theoretische Planung sicher einfacher und billiger. Langfristig aber ist eine Integration der Ansprüche der ArbeitsmigrantInnen und deren Kinder wie durch oben genannte Projekte billiger als eine Neugestaltung der Freiräume im herkömmlichen Sinne. l

postscriptum: mein statement, von Shams Asadi

Die strenge Migrationspolitik gegen Ende der 90er Jahre und die ausländerfeindliche Politik der jetzigen Bundesregierung führte zu einem geringeren Familienzuzug und zu minimalen Migrationen nach Österreich.
Die Zweite Generation der Arbeits-emigrantInnen hat die Pubertätsphase hinter sich und die 3. Generation sucht derzeit ihre eigene Rolle in der Gesellschaft. Seit 10 Jahren versucht die Stadt Wien mit diversen Aktivitäten (StreetworkerInnen, Parkbetreuung, Jugendanwaltschaften in den Bezirken, Partizipationsprojekte mit den Jugendlichen etc.) Lösungen für Konflikte im öffentlichen Raum zu finden.

Das Problembewusstsein innerhalb der Fachdisziplinen ist in den vergangenen Jahren gestiegen. Ziel muss es sein, die positive Entwicklung der Jugendlichen (unabhängig von deren Herkunft) in der Öffentlichkeit zu verankern.

Shams Asadi ist Raumplanerin und Mitarbeiterin der Magistratsabteilung 18 - Stadtentwicklung und Stadtplanung in Wien.

Literatur:
JOHN, M., LICHTBLAU, A. (1990): Schmelztiegel
Wien – Einst und Jetzt. Wien.
BUNDESMINISTERIUM FÜR SOZIALE VERWALTUNG (1985): Ausländische Arbeitskräfte in Österreich. Forschungsberichte aus Sozial- und Arbeitsmarktpolitik Nr. 9. Wien.

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