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Geometrie, Licht und Komfort
Neue Zürcher Zeitung

Der Architekt Robert Mallet-Stevens im Centre Pompidou

Als Protagonist des modernen Bauens in Frankreich ist Robert Mallet-Stevens etwas in Vergessenheit geraten. Bewundert werden aber noch immer seine Hauptwerke: die Villen Noailles und Cavrois. Eine grosse Ausstellung im Pariser Centre Pompidou zeichnet jetzt ein vollständiges Porträt des Mitbegründers der Union des Artistes Modernes.

13. Juni 2005 - Marc Zitzmann
«In die Kompositionen von Mallet-Stevens», schrieb Georges-Henri Pingusson 1978 über seinen Kollegen, «schlich sich eine Art Magie, ein ausserordentliches Parfum von Futurismus, eine vorweggenommene Präsenz dessen, was geboren werden wird, eine kubistische Logik und Kraft, die über die dekorativen Formen hinausgingen.» Sigfried Giedion sah das anders: Nannte er doch Mallet-Stevens 1928 einen Formalisten, «der die neuen Mittel über das alte Skelett zieht». Robert Mallet-Stevens (1886-1945) ist noch heute eine schwer einzuordnende Figur. Als Vertreter der «zweiten Generation» des modernen Bauens in Frankreich - nach Tony Garnier und den Brüdern Perret - war er in der Zwischenkriegszeit neben Le Corbusier der markanteste Vertreter seiner Zunft. Doch spätestens seit seinem Tod 1945 steht sein Werk im Schatten des grossen Schweizers. Mallet-Stevens' Interesse für rein Technisch- Konstruktives war gering, wie auch seine Neigung zu radikal-utopischem Theoretisieren. Soziale Wohnbauten, urbanistische Projekte oder auch industriell produzierte Möbel spielen in seinem Œuvre allenfalls eine Nebenrolle. Kommt hinzu, dass seine Archive auf eigenen Wunsch hin vernichtet und viele Hauptwerke jahrelang dem Verfall preisgegeben wurden.

Belle Epoque und Modernismus

Eine grosse Ausstellung im Pariser Centre Pompidou entwirft nun ein vollständiges Porträt dieses Meisters der «geometrischen Präzision der Form» (Konstantin Melnikow). Die ungewohnt schnörkellos und allgemein verständlich gehaltene Schau ist chronologisch geordnet und in dreizehn bio- oder monografische Sequenzen unterteilt. Die Szenographie verzichtet bis auf das Eingangsportal, das den Pavillon du tourisme von 1925 in Erinnerung ruft, auf architektonische Anspielungen. Doch eignet ihr durchaus Atmosphäre: So evozieren etwa die türkisblauen Wände des ersten Saals die Belle Epoque, in der Mallet-Stevens' erste Arbeiten entstanden sind.

Nach seinem Studienabschluss an der Pariser Ecole spéciale d'architecture knüpft Mallet-Stevens Kontakte in den Pariser Avantgardekreisen und legt eine Vielzahl von Projekten vor, von denen - auch wegen des Kriegs - keines vor 1923 realisiert wurde. Das «Œuvre de papier» dieses ersten Schaffensjahrzehnts steht vom architektonischen Vokabular wie von der grafischen Umsetzung her stark unter dem Einfluss von Josef Hoffmann. In Brüssel hatte der Österreicher für Mallet-Stevens' Onkel und Tante das nach ihnen benannte Palais Stoclet entworfen, sein 1911 vollendetes Hauptwerk. Der junge Architekt lernte Hoffmann wohl auf der Baustelle kennen, arbeitete möglicherweise gar in seinem Büro.

Das «wienerische» Idiom findet sich noch in der 1922 veröffentlichten Mappe «Une Cité moderne». In jenem Jahr stellt Le Corbusier am Pariser Salon d'automne seinen kühnen Entwurf einer «Ville contemporaine» für drei Millionen Einwohner vor. Nichts dergleichen bei Mallet- Stevens: Jede der 32 Zeichnungen zeigt ein Einzelgebäude, das zwar eine bestimmte Funktion verkörpert (Bank, Kino oder Museum), aber in keinerlei urbanistischen Kontext eingebunden ist. Interessanterweise lässt die Ausstellung 20 gleich geartete Zeichnungen folgen, die wohl von 1923/24 stammen: auch hier kontextlose Gebäude mit je einer präzisen Funktion - doch das «Wienerische» ist einer modernistischen Einfachheit gewichen, mit Flachdächern, glatten Fassaden und schlichten kubischen Volumen.

Von der Villa Noailles zur Villa Cavrois

Mallet-Stevens' erster grosser Wurf - ein 1921 vom Couturier Paul Poiret in Auftrag gegebenes Schloss kam über den Rohbau nicht hinaus - ist die 1923 bis 1932 in Hyères entstandene Villa Noailles. Aus dem «kleinen, interessant zu bewohnenden Haus», das der Vicomte de Noailles beim Architekten bestellt hatte, wurde durch sukzessive Anbauten ein labyrinthisches modernes Schloss mit rund sechzig Räumen und einer Gesamtfläche von 2000 Quadratmetern. Der Komplex überzeugt nicht restlos: Als Ganzes wirkt er heterogen, denn ein Gutteil der Hinzufügungen stammt von einem lokalen Architekten. Die Glasziegel der Decke des Schwimmbads wurden bald undicht und opak. Bemerkenswert ist jedoch die Art, wie die Villa bildartige Ausblicke auf die umgebende Hügellandschaft freigibt. Für die Innengestaltung wurden Koryphäen wie Pierre Chareau (Mobiliar), Henri Laurens (ein Basrelief), Theo Van Doesburg und Sybold van Ravesteyn (je ein Raum) verpflichtet; den kubistischen Garten entwarf Gabriel Guévrékian. 1928 liess Man Ray im Film «Les Mystères du château de Dé» Mallet- Stevens' Architektur die Hauptrolle spielen - der surrealistische Wachtraum ist neben weiterem Filmmaterial in der Ausstellung zu sehen.

Die Zusammenarbeit mit Künstlern aus anderen Sparten bildet eine Konstante im Schaffen des Architekten. Im Ehrenkomitee der von ihm 1914 gegründeten Zeitschrift «Nouvelle manière» fanden sich der Bildhauer Bourdelle, der Komponist Debussy, der Maler Denis und der Schriftsteller Maeterlinck. Als gefragter Filmausstatter konzipierte Mallet-Stevens unter anderem die Dekors von Marcel L'Herbiers Film «L'Inhumaine» (1923), der als eine Art Résumé der französischen Avantgarde gedacht war und an dem Chareau, Léger, Milhaud und Poiret mitarbeiteten. Auch in Mallet-Stevens' eigentlichem Meisterwerk, der 1932 in Croix bei Lille vollendeten Villa Cavrois, finden sich neben raffinierten eigenen Möbeln Beiträge von Jean Prouvé, den Brüdern Martel und vor allem die geniale indirekte Beleuchtung von André Salomon. Die Villa wurde zu einem Manifest des Geistes der Union des Artistes Modernes, die Mallet-Stevens 1929 mitgegründet hatte. Zugleich bildet sie eine gelungene Synthese der wichtigsten Inspirationsquellen des Architekten, vom Palais Stoclet über den Kubofuturismus bis zur Gruppe De Stijl. - Neben weiteren Inkunabeln der französischen Moderne wie den fünf Hôtels particuliers der Rue Mallet-Stevens in Paris (1926-1934) dokumentieren die Schau und der von ihrem Kurator, Olivier Cinqualbre, herausgegebene Werkkatalog auch Mallet-Stevens' Wirken als Innenarchitekt, als Möbelbauer und als Lehrer.

Nach 1930 wandte er sich vermehrt dem Entwurf von Schulen, Museen oder Ausstellungspavillons zu. Nicht alle Projekte fielen so überzeugend aus wie dasjenige des Pavillon de l'électricité an der Pariser Exposition des arts et techniques von 1937 - die meisten wurden erst gar nicht gebaut. Das Leben spielte dem eleganten Hedonisten nicht eben gut mit. Mallet-Stevens zählte zu jener Generation, deren Berufseinstieg vom Ersten Weltkrieg und deren Reifezeit von der Wirtschaftskrise und dem Zweiten Weltkrieg überschattet wurde. Mit seiner jüdischen Frau floh er 1940 in die freie Südzone. Im Gegensatz zu vielen Zunftgenossen war es ihm nicht vergönnt, nach der Libération am Wiederaufbau mitzuwirken. Anfang 1945 starb der Architekt an den Folgen einer schweren Krankheit. Sein Werk, dessen Leitwörter Rationalität, Geometrie, Lichtfülle, Hygiene und Komfort heissen, geriet halb in Vergessenheit. Die vorbildliche Schau im Centre Pompidou gleicht einer Rehabilitation.

Bis 29. August im Centre Pompidou in Paris. Katalog: Robert Mallet Stevens. L'œuvre complète. Ed. du Centre Pompidou, Paris 2005. 240 S., Euro 39.90.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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