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Was heißt schon „Welt“?
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Soll man jenen, die mit dem Schutz des Bestehenden befasst sind, auch die Zukunft überlassen? Schlagwort Weltkulturerbe: eine Attacke.

25. Juni 2005 - Friedrich Achleitner
Bekanntlich sind gute Absichten nicht unbedingt das Gute selbst. Deshalb möchte ich am Beginn meiner Bemerkungen und Fragen ausdrücklich feststellen, dass es hier nicht um eine Kritik an den Zielen von Unesco geht, sondern um die Artikulation eines Unbehagens im Zusammenhang mit dem Konstrukt Weltkulturerbe.

Es geht auch nicht um die Infragestellung des weltweiten Schutzes von kulturellem Erbe, sondern um die Ausdehnung dieses Schutzes etwa auf „lebendes Erbe“, wo sich also der „Schutz“ in eine Verhinderung entstehenden, künftigen Erbes verwandeln kann. Oder anders ausgedrückt: Sollte man jenen, die mit dem Schutz des Bestehenden befasst sind, auch die Zukunft überlassen? Die Zukunft kann keine Extrapolation aus dem Bestehenden sein, wenn sie sich nicht als Farce in das Bestehende einschmuggeln soll.

1. Was heißt „Welt“?

Der Begriff ist wohl im 19. Jahrhundert im Zusammenhang mit der Konkurrenz der aufstrebenden Nationalstaaten populär geworden: Weltausstellungen, Welthandel, Weltherrschaft (später: Weltkrieg), Weltuntergang. Und nicht zuletzt auch im Sport: Weltmeister. Welt ist auch ein enzyklopädischer Begriff, der in jeder Hinsicht Totalität anstrebt, mit eingeschlossen Hierarchien, Ordnungen, Wertungen, von Anfang an eurozentriert, was sonst. In einem kulturellen Kontext also Welt in den Mund zu nehmen ist nicht nur eine Anmaßung, sondern setzt sich dem Verdacht auf Blindheit oder Naivität aus.

2. Interessen und Interessenkollisionen

Weltkulturerbe ist kein Wert an sich, keiner, den die Länder (Staaten) a priori anerkennen - und wenn, dann unter sehr unterschiedlichen Bedingungen. Weltkulturerbe ist ein Prädikat, das zuerkannt wird. Damit werden die Verwalter dieses Weltkulturerbes zunehmend zu einem Verhalten genötigt, das sich diesen unterschiedlichen Interessen anpasst. Aber welche Interessen sind es dann wirklich? Welche Gründe gibt es, um für dieses Prädikat anzusuchen? In dieser Frage steckt der Wurm. Es geht nicht um den Glanz und die Verpflichtung, dokumentiertes und ausgezeichnetes Kulturgut zu erhalten - kein Land weiß mehr, wie es die Mittel für die Erhaltung seiner Kulturgüter aufbringen soll -, sondern es geht um einen handfesten Rollenwechsel, von einer idealen auf eine reale Ebene, es geht um Wirtschaft, Werbung und Tourismus. Das ist nicht unehrenhaft, aber es stellt die Sache auf den Kopf. Und der Teufelskreis schließt sich, wenn man sich aus dem Effekt der Auszeichnung die ökonomische Basis für die Erhaltung verspricht.

Damit verbunden ist ein neoliberalistisches Denken: Die Staaten, Städte und Gemeinden wollen eigentlich dieses Erbe loswerden, das Weltkulturerbe wird zunehmend in eine ökonomische „Selbstständigkeit“ entlassen (siehe Schönbrunn). Es soll also, wenn es überleben will, selbst für sich arbeiten. Und gerade dieser Rollenwechsel bedeutet eine Entfremdung, die auf lange Sicht zur Zerstörung führen muss.

3. Theorie und Praxis

Die vorläufige Liste des „Erbes der Welt“ umfasst bisher (nach Manfred Wehdorn) 754 Denkmäler von 128 Staaten. Auf einer „Warteliste“ stehen 1325. Und das Interesse, der Druck wird immer größer. Wie man erfährt, sollen in Zukunft nur rund 30 Objekte pro Jahr in die Welterbeliste aufgenommen werden. Was bedeutet das?

Der Zugang zu dieser Liste ist also praktisch auf ein halbes Jahrhundert blockiert. Da es dabei, wie gesagt, um handfeste wirtschaftliche Interessen geht, kann man sich ungefähr ausmalen, was hier für politische und ökonomische Lobbys in Bewegung gesetzt werden. Das Entscheidungsgremium besteht aus etwas mehr als 20 Personen, die, wie man versichert, Funktionäre der Unesco und keine Fachleute sind. Auch das noch.

4. Ein paradoxer Zustand

Einerseits wird versichert, dass es sich bei der Weltkulturerbe-Kommission um ein beratendes Organ ohne Entscheidungskompetenz handelt (also ein in Wirklichkeit zahnloses Instrument), andererseits wird das Auftreten dieser Scheininstitution medial so aufgewertet, dass jede Stadtregierung zittert, wenn dieses oberste Weltkulturorgan mit der Drohung auftritt, das Prädikat Weltkulturerbe (bei entsprechendem Missverhalten) wieder abzuerkennen (Schauplatz: Wien Mitte). Nun könnte man zynisch anmerken, ein Instrument für Drohgebärden kann in manchen Fällen ganz nützlich sein, aber ich fürchte, das wird sich herumsprechen.

5. Aufwertung ist gleich Abwertung

In dem nützlichen „Stadtführer durch das Weltkulturerbe der Unesco Wien“ ist dem Grafiker ein Lapsus passiert. In der Luftaufnahme Wiens ist die Kernzone rot eingerandet und dunkelgrau „hinterlegt“, die Pufferzone blau eingerandet und hellgrau unterlegt, während die nicht tangierten Stadtteile in voller Schärfe erscheinen. Auf den ersten Blick bekommt man einen Schreck, man glaubt, in Wien hat eine Bombe eingeschlagen: Die Kernzone ist ausradiert, die Pufferzone zeigt noch spärliches Leben. Botschaft: Wenn die Bombe Weltkulturerbe eine lebendige Stadt trifft, sieht es später einmal so aus.

Das ist natürlich eine maßlos übertriebene und zynische Bemerkung. Das Bild wollte gerade das Gegenteil vermitteln. Aber dann wäre der Kern übrig geblieben und die Stadt wäre verschwunden. Also doch eine Botschaft? Diese liegt im Hervorheben! Wenn man etwas hervorhebt, wird mit dieser Auszeichnung etwas anderes abgewertet. So werden Teile der Wiener Bezirke von drei bis neun zu einer „Pufferzone“ degradiert. Zonen, die man aber für ihre Lebensqualität weltweit „feiern“ müsste. Und das andere Wien ist überhaupt kein Thema mehr.

Diese Problematik überträgt sich beim Konstrukt Weltkulturerbe auf die ganze „Welt“. Wenn man die zahnlosen Instrumente der Bewertung bedenkt, kann das nur in einem Desaster enden. Die Konsequenz daraus wäre, den ganzen Globus zum Weltkulturerbe zu erklären und die ganze einseitige, überbetont kunsthistorisch-ästhetische Betrachtung aus der Welt zu schaffen.

Aber die Unesco kümmert sich doch auch schon um die Natur? Eben, man muss sich um alles kümmern, wenn man das Besondere erhalten will. Denn dass beim Absterben des Erdballs das Weltkulturerbe übrig bleibt, wird ja niemand ernsthaft annehmen.

6. Definitionskompetenz, Definitionsmacht?

Während die auf wackeligen Beinen stehende, kritisch zu hinterfragende und nur durch Schein legitimierte Definitionskompetenz sich langsam in eine Definitionsmacht verwandelt und zu einer Art „ästhetischer Weltregierung“ mutiert, führen die daraus resultierenden Maßnahmen in ein unüberschaubares Desaster. Die neoliberalen Strategien der „Verwertung“ sind in Wirklichkeit auf Jahrzehnte angelegte Zerstörungsstrategien. Man kann auf dieses Problem nur mit Nachdruck hinweisen. Eine Studie „Was nützt das Weltkulturerbe - und was richtet es an?“ wäre dringend zu empfehlen.

Jede Verleihung des Prädikats Weltkulturerbe trägt ein ökonomisches Versprechen in sich und weckt Begierden und Hoffnungen bei anderen. Die Ernennung zum Weltkulturerbe rückt ein Objekt, eine Stadt oder eine Landschaft im weltumspannenden Wertenetz in zentrale Positionen, macht sie (was man ja will) zu begehrten touristischen Zielen, man schafft also die Garantie, dass Millionen von Menschen dieses Erbe zertrampeln, und was nicht von den Menschen selbst angerichtet wird, schaffen Erschließung und Infrastruktur, Neben- und Versorgungseinrichtungen. Es wären also, wollte man wertvollstes Kulturerbe wirklich schützen, Gegenstrategien angesagt: Verheimlichung, Streichung aus den touristischen Verteilernetzen, generelle Sperrung, selektive Zugänglichkeit (etwa nur für Studienzwecke) und vieles mehr. Es stellt sich die Frage, ob Strategien, die auf Konkurrenz und Gewinn aufbauen, dies jemals leisten können. Sicher nicht.

Wenn man schon vom Schutz kulturellen Erbes spricht, müsste man auch viele andere Aspekte bedenken, etwa die der symbolischen Verwundbarkeit von Staaten, Kulturen, Religionen. Welche Rolle spielen „Bestenlisten“ in einem solchen Kontext, oder welche könnten sie spielen? War es ein Zufall, dass im letzten Jugoslawien-Krieg die Generäle bevorzugt ihre Kanonen auf jene Objekte richteten, an denen die blauweißen Schilder der Unesco angebracht waren? Was bedeutet in einem solchen Kontext Schutz wirklich? Von den Horrorbildern aus den irakischen Museen gar nicht zu reden.

Mir scheint, das Wettrennen um das Prädikat Weltkulturerbe ist nicht nur ein törichtes, sondern letztlich auch ein gefährliches Spiel. Weltweite Aufmerksamkeit ist keine Garantie für Sicherheit, eher eine für die langsame Zerstörung. Die Millionen schwitzender Menschen, die durch Schönbrunn geschleust werden - und die zu 95 Prozent nicht einmal wissen, warum - sind weder kulturell noch ökonomisch argumentierbar. Sicherheit oder eine Art Trost läge in einer totalen Inflation von Weltkulturerbe, dass alle Artefakte wieder in eine relative Bedeutungslosigkeit zurücksinken.

So wie man den Museen erlauben sollte, sich Bordelle oder Spielcasinos zu halten, statt sie selbst auf den Strich zu schicken, so sollte man auch für die Erhaltung des „Weltkulturerbes“ andere Finanzierungsstrategien als jene peinliche „Weltmeisterschaft“ entwickeln, die sich als Instrument der Selbstzerstörung erweisen wird. Wenn der Begriff Welt in diesem Zusammenhang einen Sinn hat, dann jenen, dass diese Welt für ihr Erbe zu sorgen hätte, und zwar ohne dieses auf den Weltmarkt zu werfen.

Dazu wären aber andere Institutionen aufgerufen als Vereine von Kunsthistorikern und Denkmalpflegern. Und man sollte den Begriff des Erbes auf die toten Zeugen der Weltkulturen beschränken und alles aus dem Spiel lassen, das noch künftiges Weltkulturerbe produziert.

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