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Neuer Stein in alte Kanäle
Neue Zürcher Zeitung

Architektur von gestern und heute in Brügge

Die diesjährige europäische Kulturhauptstadt Brügge setzt nicht nur auf renovierte historische Bauwerke, sondern auch auf Neubauten. Darunter ist der Konzertsaal von Paul Robbrecht und Hilde Daem ein nicht nur im flämischen Kontext wichtiges Werk.

28. Juni 2002 - Marc Zitzmann
Brügge, das Venedig des Nordens, ist nach der Versandung des Meerkanals in einen Dornröschenschlaf gesunken und konnte dadurch seine spätmittelalterliche Bausubstanz wahren. So jedenfalls steht es in fast jedem Reiseführer - und gleich in dreifacher Hinsicht falsch. Der Publizist Roel Jacobs hatte 1997 in seinem Buch «Brugge, een stad in de geschiedenis» (Uitgeverij Van de Wiele, Brugge), das in Flandern viel diskutiert und heuer, da Brügge zusammen mit Salamanca europäische Kulturhauptstadt ist, auch auf Englisch und Französisch übersetzt wurde, ein paar zähe Mythen aufs Korn genommen. So lebte Brügge zu seiner Glanzzeit von der Textilindustrie und war keine Stadtrepublik wie Venedig. Sodann war die Versandung des Zwin nicht die Ursache, sondern die Folge eines durch politische und wirtschaftliche Faktoren bedingten Niedergangs. Und schliesslich stammt der Grossteil der von Touristen als mittelalterlich empfundenen Bauten aus dem 19. und 20. Jahrhundert: Der Stadtkern ist mehr Imitat als Original.

Renovationen für Millionen
Immerhin: Wegen der jahrhundertelangen Wirtschaftsmisere und eines tief verwurzelten Konservativismus, der das Bauen im neogotischen Stil mit der Erhaltung katholisch-flämischer Werte gleichsetzte, hat sich Brügge das Aussehen einer spätmittelalterlichen Stadt bewahrt. Und auch an historischer Bausubstanz ist genug Wertvolles erhalten: 1998 wurden 13 Beginenhöfe auf die Unesco-Liste des Weltkulturerbes gesetzt, 1999 24 Bergfriede, 2000 folgte die ganze Altstadt. Über alle Erwartung hat sich der 1877 geäusserte Wunsch des Königs Leopold II. erfüllt: «Ich möchte, dass die alten Gebäude restauriert werden, damit Brügge ( . . . ) ein einziges prächtiges Museum sei und kein Ausländer Belgien besuche, ohne sich jenes anzuschauen.» 116 829 Einwohner zählte Brügge am ersten Januar dieses Jahres, auf jeden von ihnen kommen im Schnitt dreissig Touristen pro Jahr; heuer werden gar fünf bis sechs Millionen Besucher erwartet.

Wie es sich für eine europäische Kulturhauptstadt gehört, wurde ein umfangreiches Renovationsprogramm lanciert. Betroffen waren die Liebfrauenkirche mit dem 112 Meter hohen Turm, das Memling-Museum im Sint-Jans-Hospitaal, das von späteren Hinzufügungen befreit wurden, der Gotische Saal des Stadhuis, die Kirche und das Kloster der Karmeliter, die Heilige Bloedkapel usw. Prunkstücke des Programms sind die vormalige Griffie (Bürgerregister), eines der frühesten Gebäude im Renaissancestil der südlichen Niederlande mit vergoldeten Säulen und raffinierten Bildhauerarbeiten, und die Stadsschouwburg, eine 1869 durch den Brüsseler Architekten Gustave Saintenoy errichtete Bonbonniere in Gold und Samtrot.

Die Stadtverwaltung und die Organisation Brugge 2002 setzen aber auch auf zeitgenössische Architektur. Das ist umso couragierter, als heutige Bauwerke, die auch so aussehen wie von heute, in der Stadt äusserst rar sind. Die futuristische Riesenseifenblase des 1989 von Rem Koolhaas und OMA entworfenen Sea Terminal in Zeebrugge ist geplatzt. Verdienstvolle urbanistische Masterpläne wie die des örtlichen Büros Groep Planning für das Zentrum (1972-74) und des Niederländers Willem-Jan Neutelings für das Bahnhofareal (1997) haben in rein architektonischer Hinsicht (bisher) kaum Ergebnisse gezeitigt. Nennenswert sind zwei Werke von Stéphane Beel: der strenge, kastenförmige Sitz der Bank BACOB in Sint- Andries (1988-91) und der ehemalige Spaarkrediet (heute: Centea) in der Vlamingstraat (1987-89) mit seinem von schwarzem Stein umrahmten Erdgeschoss und der schräg nach innen verschobenen Glasfront. Auch die wenigen übrigen zeitgenössischen Arbeiten in der Stadt sind eher kleinformatig.

So wirken die drei kleineren Architekturprojekte von Brugge 2002 schon fast wie grosse Eingriffe. Die Umgestaltung des Kanaaleilands, wo eine Brücke, ein Sanitärgebäude und ein geschwungenes Wetterdach den Besuch der verkehrsfreien Altstadt für motorisierte Touristen mit einer gewissen Eleganz beginnen lassen sollen, wird gerade vollendet. Bereits fertiggestellt ist Jürg Conzetts Fussgängerbrücke über der Coupure, ein Werk von schweizerischer Reduktion. Auf zwei sechs Meter hohen Steinpfeilern beidseits des Kanals ruhen zwei dicke Stahlröhren, an denen an dünnen Kabeln ein 36,5 Meter langer Holzsteg hängt. Die Röhren lassen sich mittels hydraulischer Motoren drehen, so dass die Kabel sich an ihnen aufwickeln und der emporgezogene Steg den Weg für kleine Boote freigibt - ingeniös! Der Kontrast zwischen den mächtigen Röhren und den feinen Kabeln sowie zwischen den Materialien - rostfarbener Stahl, Sandstein und Eichenholz - verleiht dem Werk eine gewisse Expressivität. Demgegenüber enttäuscht der zeitweilige Pavillon von Toyo Ito auf dem zentralen Burg-Platz. Über die Fundamente der Sint- Donaas-Kathedrale hat der Japaner einen 28 Meter langen und 6 Meter breiten Laufsteg aus Glas gelegt. Dieser ist von einem lichten, rechteckigen Tunnel aus Aluminiumwaben und riesigen verzerrten Ovalen überdacht und führt über einen Wasserkreis. Das Ganze wirkt auf dem Papier ansprechender als in der Realität.

Beton und Terrakotta
Der eigentliche Trumpf des Kulturjahrs ist das Concertgebouw von Paul Robbrecht und Hilde Daem. Das Genter Büro hatte in einem Wettbewerb u. a. über Peter Eisenman, Kisho Kurokawa und Neutelings Riedijk gesiegt. Der rund 43 Millionen Euro teure Konzert- und Opernsaal erhebt sich zwischen dem zentralen Platz 't Zand im Norden, einer Schnellstrasse in einem teilweise offenen Tunnel im Westen, einem Park im Süden und der Altstadt im Osten. Die urbanistische Einbindung erfolgt geschickt: Auf der Tunnelseite wird ein Busbahnhof mit Baumreihen placiert, die Fensterfronten der grossen Proberäume blicken auf den Park, zur Altstadt hin schafft der vorgeschobene «Laternenturm» eine quadratische Einbuchtung in dem rechteckigen Gebäude und also einen kleinen Platz. An dessen nördlichem Eck prangt ein riesiges, leicht auskragendes Fenster, das als eine vom ganzen Zand aus zu sehende Leinwand für Live-Übertragungen aus dem Konzertsaal benutzt werden kann. Dach und Aussenwände sind grösstenteils mit über 85 000 Spezialziegeln aus Terrakotta bedeckt, deren mit Eisenoxid angereicherte tiefbraune Blutfarbe auf die Dachlandschaft der Altstadt verweist.

Im Innern bietet der über zwei seitliche Rampen ansteigende Weg zum 1300 Zuhörer fassenden Saal eine eigentliche Promenade architecturale. Durchblicke ergeben sich vom Foyer über raue Betonschluchten nach den beiden oberen Stockwerken sowie durch Panoramafenster, deren Funktion als Rahmen für urbane Postkartenbilder an Jean Nouvels KKL erinnert. Das spektakulärste dieser Fenster erlaubt einen atemberaubenden Blick auf den Turm der Liebfrauenkirche. Im Saalinnern tritt das wichtigste Strukturelement klar hervor. Es handelt sich um vertikale Lamellen, die man fast überall findet: in der Bühnenschale für Sinfoniekonzerte, die an eine lichte, leichte Fassung von Anselm Kiefers bleiernen Bibliotheken gemahnt, in den (akustisch bedingten) unregelmässigen Rillen der Gipswände, in den bunt gestreiften Türen und Möbeln vor dem Saal, den Geländern und dem - noch unvollendeten - vertikalen Terrakottagitter um den «Laternenturm». Hervorgehoben werden diese Lamellen durch die Verwendung von Leitfarben - Leberbraun, Himmelblau, Grün und Weiss. Künstlerische Assoziationen - etwa an die irritierenden Streifenbilder von Bridget Riley - sind erwünscht, haben Robbrecht & Daem doch oft zusammen mit Künstlern oder für den Ausstellungsbetrieb gearbeitet, so mit den Aue-Pavillons der documenta X oder der Erweiterung des Museums Boijmans Van Beuningen in Rotterdam.

Der Klang im grossen Saal ist, wie ein Konzert mit der Koninklijk Filharmonie van Vlaanderen zeigte, von hinreissender Natürlichkeit - das Ensemble Anima Eterna und sein musikalischer Leiter Jos Van Immerseel, die hier ab 2003 en résidence sein werden, dürfen sich glücklich schätzen. Etwas weniger gefällt der Kammermusiksaal im «Laternenturm». Die 350 Zuhörer sitzen wie in einem italienischen Cortile um die Musiker herum sowie auf drei im Quadrat spiralförmig sich in die Höhe schraubenden Balkonen. Doch dessen ungeachtet besitzt Brügge, das bisher hinter Antwerpen und Gent das kulturelle Schlusslicht der flämischen Städte war, mit dem Concertgebouw von Robbrecht & Daem nunmehr den fesselndsten Konzertsaal im ganzen Königreich.


[Informationen: www.brugge2002.be. Marc Dubois: Contemporary architecture in Bruges. Stichting Kunstboek, Brugge 2002. 84 S., Euro 19.80.]

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