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Worthülsen und Stahlkrinolinen
Neue Zürcher Zeitung

Die vierte Ausgabe von ArchiLab in Orléans

5. Juli 2002 - Marc Zitzmann
Was ist der Unterschied zwischen einem schweizerischen und einem französischen Architekten? Der eine konzipiert Gebäude, der andere glossiert über Thesen und Phrasen von Guattari oder Virilio. Dieser (ernst gemeinte) Witz war bei der Vernissage von ArchiLab in Orléans zu hören, der jährlichen Ausstellung über junge und/oder avantgardistische Architekturbüros aus aller Welt. Die Eidgenossenschaft wurde von den beiden Kommissarinnen, Marie Ange Brayer und Béatrice Simonot, sowie den fünf Mitgliedern des Comité scientifique wieder einmal links liegen gelassen. Von den seit 1999 präsentierten 165 Büros stammte gerade eines aus der Romandie, womit die Schweiz in Sachen Präsenz noch hinter Australien, Chile und China rangiert. Doch ist die abermalige Abwesenheit der für ihre Praxisbezogenheit bekannten Schweizer durchaus charakteristisch für die Veranstaltung - «Vive la théorie, à bas la pratique!» könnte die Losung lauten.

Unter dem diesjährigen Thema, «Economie de la terre», kann man sich alles und nichts vorstellen. Nach der Lektüre der meisten Essays im Katalog ist man so klug als wie zuvor. Manche der Sätze, die einem da unter die Augen kommen, gehörten in eine Anthologie der geschraubtesten Worthülsenkonstrukte. Kehrseite der Medaille des traditionell kopflastigen französischen Diskurses über Architektur, der sich in ArchiLab besonders wild austobt, ist ein schreiender Mangel an Didaktik. Die bunten Bilder im Katalog ergänzen nicht die - zugegebenermassen meist wohltuend sachbezogenen - Texte zu jedem Projekt, sondern zelebrieren sich selbst. In der Schau ist bei manchen Exponaten trotz hippen Illustrationen und Begleittexten à la Guattari, Virilio usw. schlichtweg nicht zu verstehen, worum es eigentlich geht. Sollte ArchiLab die Ambition haben, sich produktiv weiterzuentwickeln, wäre dringend mehr Publikumsfreundlichkeit anzuraten.

Zum Glück jedoch erschöpft sich die Veranstaltung nicht im theoretischen Überbau, sondern präsentiert im stimmungsvollen Site des Subsistances militaires auch Projekte. Heuer sind es rund 90 von 30 verschiedenen Büros - und viele davon sind interessant. Freilich erwartet den Besucher des linearen, mit Plänen, Skizzen, Diagrammen, Modellen, Videos und auf Computern abrufbaren Informationen angereicherten Parcours nicht nur reine Architektur. Etliche Exponate entstammen den Sparten Urbanismus, Design (Möbel) oder bildende Kunst (Installationen). Am interessantesten jedoch sind die Architekturprojekte im eigentlichen Sinn - hier ein paar Beispiele, die dem Thema der Schau im Spannungsfeld von Begriffen wie «Natur», «Umwelt», «Ökologie» usw. am nächsten kommen.

Die drei gezeigten Projekte von Francis Soler zum Beispiel beeindrucken, weil sie den Kontext souverän mit einbeziehen, zugleich aber zu einem ganz eigenen formalen Profil finden: So soll die frühere U-Boot-Basis Keroman in der Bretagne - von der umgebenden Erde befreit - zu einer kleinen Inselkette mit schlanken weissen Windrädern werden, auf der touristische und nautische Aktivitäten stattfinden. Wie das gestauchte Skelett einer Krinoline sieht das Riesenprojekt einer über 2,5 Kilometer langen Autobahnbrücke in Südwestfrankreich aus, deren 330 Meter lange Segmente auf aus Stahl geflochtenen ovalen Pfeilern mit einem Schnitt von maximal 140 Metern ruhen; und die Netzhülle der 237 Meter langen spindelförmigen Voliere von Cloud 9 im neuen Meereszoo von Barcelona soll von einem «Baum» aus Stahlröhren getragen werden. Dieser führt den Pflanzen, die auf ihm wachsen, Wasser und Dünger zu und liefert per Kamera Bilder der brütenden Vögel. Interessant sind auch einige Beiträge zu den Themen «Selbstversorgung» - wie Françoise-Hélène Jourdas Stadt unter Glas im deutschen Ruhrgebiet (NZZ 20. 10. 99) - und «Recycling». So will das junge Pekinger Büro TeamMinus im Hinblick auf die Olympischen Spiele 2008 Bauschutt in Elemente aus Glas und Stahl füllen, aus denen dann Kioske, Telefonzellen oder Bushaltestellen gebildet werden sollen.


[Bis 14. Juli ( www.archilab.org). Katalog: ArchiLab. Editions HYX, Orléans 2002. 244 S., Euro 48.-.]

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