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Holzauge wandert durch Wien
Der Standard

Die Stadt ist aus Stein, Glas und Stahl. Christian Fischer (Fotos) und Thomas Rottenberg (Text) gingen Holz suchen.

22. Oktober 2005 - Thomas Rottenberg
Die Kellnerin war ungehalten. Weil sie die Kinder schon zum dritten Mal heruntergestampert hatte: Wozu, seufzte sie - mehr resigniert denn sauer -, habe der Heurigenwirt wohl einen Kinderspielplatz in den hinteren Gartenbereich gestellt, wenn die Kleinen doch auf dem alten Baum im Hof herumklettern würden? Der Baum sei alt - uralt - und ein amtlich für schützenswert befundenes Naturdenkmal. Und sie wisse, referierte die Kellnerin, nicht, was wohl schlimmer wäre: Ein Kind, das sich beim Runterfallen verletzt - oder ein Stück Baum, das zu Schaden käme. Daher: „Obe vom Ba'm! Dalli!“

Natürlich gehorchten die Kinder. Und maulten: „Baumklettern“, raunzte ein Bub, „kenne ich nur aus dem Fernsehen.“ Und das einzige Holz, mit dem er in Kontakt käme, sei jenes im Wohn- und Schulbereich: Tisch, Bett, Bücherregal und Parkettboden.

Dabei stimmt das gar nicht. Aber das hat viel mit der Wahrnehmung des gewohnten Lebensumfeldes zu tun: So wie Fledermäuse den Weg vom Schlafplatz zum Jagdrevier - sonarpiepskräfteschonend - quasi „blind“ fliegen, zieht der Städter mit geschlossenen Augen seines Weges: Die Stadt ist aus Stein. Und dort, wo sie modern ist, aus Beton und Stahl. Wozu schauen?

Und so existiert schon der „Stock im Eisen“ am Stephansplatz nur für Touristenaugen. Und die Griffe an den Türen jener Geschäfte, die - egal ob Flagshipstore in der Innenstadt oder Einzelhandelsrelikte in Randlage - der Versuchung von Schiebe- und Drehtüren widerstehen konnten, sieht auch keiner mehr. Genau wie Fenster und Haustore, Geländer und Barrieren, Schanigärten und Blumenkisten. Erst wenn diese Versatzstücke von Natur in der Stadt ummaterialisiert sind, fällt der Verlust auf. Früher wurden alle Baustellen mit Holzplanken von der Außenwelt getrennt - heute wachsen metallene Bauzäune: Was auffällt, ist die Veränderung zum weniger Schönen - denn dass heute auf Kinderspielplätzen verstärkt (Rindenmulch als weiche Unterlage, Holz für Klettergerüste) Holz verwendet wird, wird - da so selbstverständlich - nicht einmal registriert.

Die Probe aufs Exempel machte da das Wiener Designer-Tischlerpaar Katja und Werner Nussbaumer. Sie holten die hölzernen Sitz- und Lehnschalen aus ausrangierten Straßenbahnen und bauten „Straßenbahnsessel“. Für zu Hause - und plötzlich fiel den Leuten auf, dass da jeder Sitz eine andere Maserung und eine andere Farbe hat. Weil kein Stück Holz dem anderen gleichen kann. Aber keiner hatte je darauf geachtet.

Denn Städter haben verlernt, Holz zu sehen - sogar wenn es in Augenhöhe über den Weg ragt: Der alte Baum des Pötzleinsdorfer Heurigen streckt seine Äste unmittelbar vor den Toiletten quer über den Hof. Und es vergeht kein Abend, ohne dass sich zumindest zwei Gäste die Stirn am Naturdenkmal anhauen. „Die Leut“, kommentiert die Kellnerin, „haben einfach verlernt zu schauen - die haben nix als Bretter vor dem Kopf.“

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