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«Das langfristige Denken müssen wir noch lernen»
Neue Zürcher Zeitung

Vittorio Magnago Lampugnani zu Zersiedelung, Planungsfehlern und Dauerhaftigkeit

Das Bauen ist eine Abfolge von Vorgängen von der Planung bis zur Nutzung und Bewirtschaftung von Immobilien. Im folgenden Interview skizziert Prof. Vittorio Magnago Lampugnani, neuer Direktor des ebenfalls neuen Netzwerkes Stadt und Landschaft (NSL) an der ETH Zürich, die Rolle von Städteplanung, Langfristigkeit, Willensbildungsprozess beim Planen sowie die Kosten der Zersiedelung. Das Interview führte Beat Gygi, Wirtschaftsredaktor der NZZ. (Red.)

15. November 2005 - Beat Gygi
NZZ: Wie effizient geht man in der Schweiz beim Bauen mit Boden und Raum um?

Vittorio Magnago Lampugnani: In der Schweiz geht man damit effizienter um als in vielen anderen Ländern, aber immer noch sehr verschwenderisch. Im Verbrauch von Landschaft, im Platzverbrauch liegen weiterhin grosse Probleme beim Bauen in Europa, auch in der Schweiz.

Liegt das einfach in der Natur der Sache?

In der Natur der Sache liegt beim Bauen nichts. Bauen ist ein höchst artifizieller Prozess mit ökonomischen, juristischen und anderen Mechanismen, die sich steuern lassen. Der Verbrauch von Landschaft sollte weniger attraktiv werden. Für den Einzelnen ist es heute einfacher und billiger, ein Haus auf eine freie Wiese zu stellen als ein Haus in der Innenstadt zu renovieren und zu erweitern, was umständlich, teuer und mit Überraschungen verbunden ist. Wir müssen die Anreize so setzen, dass es günstiger und attraktiver wird, zunächst einmal die Städte auszubauen und gut zu nutzen und erst dann aufs Land auszuweichen.

Neues Bauland ist also zu billig zu haben?

Ich glaube, es ist zu billig und zu einfach zu haben. Würde man wirklich ausrechnen, was es bedeutet, ein Stück neues Land zu bebauen, samt Infrastruktur, Verkehrserschliessung, Leitungen, Entwässerung, ergäbe dies gigantische Summen, die gerechterweise auf diejenigen abgewälzt werden sollten, die da bauen wollen.

Dann übernehmen die Gemeinwesen heute einen zu grossen Teil der Infrastrukturkosten, die privaten Bauherren zu wenig?

Genau so ist es.

Vieles wird ja politisch auf Gemeindeebene entschieden; ist diese Steuerung somit ungeeignet?

Es wäre sinnvoller, wenn auch nicht ganz einfach, die Besiedelung zentraler zu steuern, da sich die Gemeinden - dies gilt für die Schweiz wie für Italien oder Deutschland - allzu einfach Konkurrenz machen können. Leipzig beispielsweise hat lange Widerstand gegen Baumärkte und Einkaufszentren in der Peripherie geleistet und versucht, die Innenstadt zu stärken und die Investoren dahin zu bringen. Die Folge war, dass sich Baumärkte und Einkaufszentren in den Nachbargemeinden angesiedelt haben, und zwar unmittelbar an der Grenze zu Leipzig. Solchem könnte man mit einer umfassenden Planung vorbeugen.

Eine kantonale Abstimmung der Pläne wäre also besser?

Noch besser wäre eine gesamtschweizerische Optimierung.

Ist die heutige Raumplanung in der Schweiz Ihrer Ansicht nach ungenügend?

Ich kann nur auf die Ergebnisse schauen und feststellen, dass sie nicht gut funktioniert.

Wenn nicht Bürger oder Märkte - wer sonst müsste das Bauen steuern?

Die Politik; und zwar die Politik des gesamten Landes. Für einen Bürger, einen Investor oder einen Gemeindepräsidenten ist es schwierig, immer den Gesamtkontext im Blick zu halten. Jeder hat sein eigenes Haus, seine Gemeinde, seine Einkaufszentren im Blick. Daraus ergibt sich eine Addition von Partikularinteressen, aber keine wirklich vernünftige, umfassende, harmonische und nachhaltige Planung.

Eine Planung gegen den politischen Willen oder gegen Märkte wäre aber kaum möglich.

Die Frage ist, wie man zum politischen Willen gelangt. Bürger können ihre Präferenzen formulieren, aber es muss der Fachmann hinzukommen, der den Beteiligten, den Politikern oder den Ökonomen die Konsequenzen ihrer Entscheide klar macht. Die grossen, wirklich weitreichenden städtebaulichen Projekte in der Geschichte waren zum Zeitpunkt, als sie lanciert wurden, meist nicht sehr populär. Die Rue de Rivoli in Paris, die Napoleon I. gewollt hatte, war zunächst ein totaler Flop, weil niemand in einer Strasse mit immer gleichen Fassaden, Arkaden und vielen Einschränkungen bauen wollte. Heute ist die Rue de Rivoli eine der schönsten Strassen Europas, wenn nicht der Welt. Sie ist auch wirtschaftlich ein Erfolg, aber auch der hat ziemlich lange auf sich warten lassen. Das Denken in langen Perioden müssen wir noch lernen.

Wäre das in der Schweiz erreichbar, wenn es die geeigneten Institutionen gäbe?

Wenn irgendwo, dann gerade in der Schweiz, denn sie ist reich und klein genug, um sich als innovatives Modell zu profilieren.

Gibt es Beispiele?

In der Regel sind alle grösseren Projekte, die eine Vision verkörpern, deswegen unbequem, weil man ihren unmittelbaren Vorteil nicht erkennen kann. Wir alle sind kaum geneigt, langfristig zu denken, schon gar nicht in Generationen. Wenn wir uns jeweils fragen würden, was unsere Kinder darüber denken werden, würden wir in der Stadtplanung sehr vieles anders machen.

Heisst das, dass man sich beim Bauen von traditionellen Sichtweisen abwenden sollte?

Im Gegenteil. Wir müssen geradezu moderne Stadtplanung aus der Tradition heraus entwickeln, denn alles Wissen über Instrumente, Mechanismen, Dispositive im Städtebau kommt aus der Vergangenheit. Wir können versuchen, daraus zu extrapolieren und etwas Neues zu entwickeln.

Wo steht die Schweiz im Vergleich mit dem Ausland hinsichtlich Qualität und Preis-Leistungs- Verhältnis des Bauens? Man hört immer wieder den Vorwurf, hier werde zu teuer gebaut.

Es ist teurer, dafür aber auch besser. Natürlich kostet ein Haus in den Niederlanden die Hälfte dessen, was es in der Schweiz kostet. Nur ist es nicht das gleiche Haus. Das Schweizer Haus hat eine ganz andere Qualität, damit auch eine ganz andere Lebensdauer und Leistung. Vielleicht fehlt hierzulande ein kluges Abwägen, wo sich eine grosse Investition lohnt und wo man sparen könnte. Aber das pauschale Urteil, man baue in den Niederlanden oder Deutschland viel billiger, ist kurzsichtig. Man geht in der Regel davon aus, dass die billigeren Länder die Avantgarde sind und die Schweiz hinterherhinkt. Aber vielleicht bilden die Schweizer die Avantgarde, ohne es zu wissen, und die Nachbarn müssen aufholen.

Wo hielten Sie billigeres Bauen für sinnvoll? Im Industrie- und Gewerbesektor?

Ich bin grundsätzlich gegen das Kurzfristige im Bauen. Eher bin ich allerdings bereit, beim Ausbau zu sparen, weil Bauten ihr Innenleben in relativ kurzen Abständen wechseln können. Aber die Hülle, die eigentliche Struktur, das, was städtebaulich und auch landschaftlich wirksam ist, sollte von Dauer sein und also von so hoher materieller und ästhetischer Qualität, dass man lange damit leben kann.

Gibt es heute genug Bauherren oder Eigentümer, die einigermassen langfristig denken?

Bauherren, die nur die unmittelbare Rendite im Auge haben, werden zum Glück seltener. Die meisten wollen längerfristig denken und investieren, und mit ihnen sind wir tatsächlich in einen Dialog gekommen, um nach Ansätzen zu suchen, die auch für die Stadt gut sind.

Ist das eine jüngere Entwicklung?

Es gibt heute fast so etwas wie einen Rollenwechsel. Traditionell ist die Stadt oder Gemeinde, die das öffentliche Interesse vertritt, für hohe Qualität und Dauerhaftigkeit eingestanden, während Investoren versucht haben, Projekte möglichst schnell und oft billig umzusetzen. Inzwischen hat sich das geändert. Während die öffentliche Hand bedauerlicherweise immer mehr ihre Verpflichtung zum langen Atem zu vergessen scheint, sind viele Investoren eher an Qualität interessiert, sogar an Stadträumen, also an Räumen, die sie gar nicht verwerten können. Sie wissen, dass der Kontext, in dem die Gebäude stehen, genauso wichtig ist wie die Gebäude selbst.

Das hat also der Markt zustande gebracht.

Wie früher in London, als die Adligen und Grossbürger neben ihren Bauten wunderschöne Plätze und Parkanlagen geplant und finanziert haben, weil durch diese Grün- und Freiräume ihr Boden so aufgewertet wurde, dass sich die Mehrinvestitionen lohnten.

Für den Umgang mit knappem Raum sind Märkte also eine vernünftige Einrichtung?

Ja, wenn die Märkte intelligent reagieren.

Gibt es in Zürich eine Bestätigung für diese Entwicklung?

Im Grossen und Ganzen schon.

Ist also Optimismus am Platz?

Das Schlimmste ist ja schon geschehen. Das Schlimmste ist die Peripherie mit den wirr überbauten Gebieten in Pendlerdistanz, mit der heute niemand so recht etwas anzufangen weiss.

Stabilisiert ist die Lage aber nicht, da werden doch laufend neue Flächen überbaut.

Die Frage ist, wie lange wir uns das leisten können und wollen. Wir sprachen von den Anreizen zu langfristigem Denken und Investieren - ich glaube, das Problem besteht nicht zuletzt darin, dass wir, auch aus ökonomischer Sicht, sehr wenig über die Mechanismen der Stadtentwicklung wissen. Ein erster Schritt bestünde darin, die wirklichen Kosten eines Hauses im Grünen zu ermitteln, nicht nur die Grundstückskosten und die Abgaben, sondern alle indirekten Kosten, die anfallen. Man müsste auch berechnen, was es für die Menschen bedeutet, die dort leben.

Sie müssen mobil sein.

Wenn sie irgendwo draussen wohnen und auch noch schlecht angebunden, muss früher oder später jedes Familienmitglied ein Auto haben, wie dies in Amerika der Fall ist. Die Belastungen betragen mehr als nur die Anschaffung des Wagens und dessen Spritverbrauch, es gibt Folgekosten wie Umweltzerstörung und mehr Strassen. Diese Verquickungen hat meines Wissens niemand einmal wirklich durchgerechnet. Ich glaube, da würde man auf erstaunliche Ergebnisse kommen.

Auf die Kosten der Zersiedlung.

Ich bin überzeugt: Es würde sich klar zeigen, dass wir uns die Zersiedlung, die wir inzwischen seit sechzig Jahren in grossem Massstab praktizieren, gar nicht leisten können, ja dass wir sie uns eigentlich vor sechzig Jahren auch schon nicht leisten konnten. Die Agglomeration ist auch wirtschaftlich eine totale Fehlplanung.

Gibt es in der Zusammenarbeit von Architekten, Bauunternehmen und Bauherren Probleme?

In der Schweiz ist die Zusammenarbeit mit Bauherren und Generalunternehmern in der Regel gut, weil die Architekten noch - ich sage, noch - Respekt geniessen und ihre Kompetenz auch geltend machen können. Dies hat auch mit der Ausbildung zu tun. Wir versuchen Architekten auszubilden, die nicht nur irgendwelche Bilder produzieren können, sondern auch wissen, wie man diese Bilder im konkreten Bau umsetzt, also in Material, Konstruktionen und Bauprozesse. Sonst gibt es natürlich schon die Schere zwischen den Büros, die bauen, und den Architekten, die mehr oder weniger Designer sind, die nur das Kleid - oder noch schlimmer: das Image - malen, das andere dann realisieren. Das ist eine grosse Gefahr für unsere Städte, für unsere Gebäude.

Architekten können dies auch provozieren, indem sie sich entsprechend spezialisieren.

Natürlich: Wir sind aufgefordert, unsere Kompetenz, die auch eine konstruktive Kompetenz sein muss, in den Bauprozess einzubringen. Wir müssen die Mechanismen beherrschen, die zu einem Bau führen. Wir brauchen sowieso den Statiker zum Ausrechnen der Deckenstärken, den Haustechniker, der die Angaben zu Leitungen und Klimatechnik macht. Aber die Grundfrage: Braucht es eine Klimatechnik oder nicht?, müssen wir Architekten stellen.

Orientieren sich die Architekten eher an den Bauherren oder eher an Totalunternehmern, oder wissen sie aus anderer Quelle, was der Markt will?

Ich bin überzeugt: Was der Markt will oder was er wollen wird, das weiss niemand. Ich glaube allerdings, dass man sich seinen Anforderungen dadurch nähert, dass man verschiedene Kompetenzen und Sichtweisen zusammenbringt. Die gute Architektur ist immer in einem engen und zum Teil auch qualvollen Dialog (um nicht zu sagen: Streit) zwischen Architekt und Bauherr entstanden. Wenn der Bauherr nur durchsetzt, was er will, gibt es meistens Entgleisungen, aber das Gleiche lässt sich oft sagen, wenn nur der Architekt bestimmt. Die Aufgabenteilung ist am besten, wenn es ein gewisses Gleichgewicht gibt, das heisst, wenn der Bauherr intelligent genug ist, auf uns zu hören, und wir, auf ihn zu hören.

Im Bauprozess gibt es technischen Fortschritt, der sich etwa in Vorfertigung, Standardisierung und neuen Aufgabenteilungen in der Wertschöpfungskette zeigt. Wie verändert das Ihre Arbeit?

Die grosse Euphorie der Serienfertigung, der Massenproduktion und der vorfabrizierten Elemente ist längst vorbei. Die finanziellen Vorteile sind nicht so gross und die Nachteile kaum mehr akzeptabel. Inzwischen ist die Technik so flexibel, dass Veränderungen in der Bauproduktion nicht teuer sind. Es geht heute nicht mehr wie in den sechziger Jahren darum, Wohnungen am laufenden Band zu produzieren, sondern um gezielte Eingriffe der Stadt-Erneuerung, die geschmeidigere Instrumente erfordern als das, was eine Fabrik herausstampft.

Am Markt suchen institutionelle Investoren immer Objekte mit 6 Prozent oder 7 Prozent Bruttorendite. Gibt es viele derart rentable Lagen?

Deswegen ist doch Städtebau so wichtig. Einige Stadtverwaltungen haben es noch nicht so richtig mitbekommen, aber die Investoren haben längst realisiert, dass die Lage einer Immobilie entscheidend ist: auch ökonomisch. Die Lage ist allerdings etwas, was die Architekten, die Investoren, aber auch die Leute, die im Quartier leben, schaffen. Man kann eine Ia Lage - um im Developer- Jargon zu sprechen - durchaus planen. Und eine Ia Lage ist sowohl für das Portemonnaie des Investors als auch das Leben der Bürger eine grosse Bereicherung.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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