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Kein einsames Genie
Neue Zürcher Zeitung

Gaudí und seine Zeit - eine Ausstellung in Barcelona

18. Juli 2002 - Markus Jakob
Antoni Gaudí bleibt auch im Jahr seines 150. Geburtstags eine kontroverse Figur. Dabei steht kaum mehr seine Bedeutung an sich zur Debatte, wohl aber, worin diese genau bestehe. Ist er jener «Baumeister der Jahrhundertwende», als den ihn Le Corbusier pries - mithin ein Vorläufer der Moderne? Oder eher das göttlich inspirierte Genie, herausgelöst aus jeglichem geschichtlichen Kontext - eine fast mythische Gestalt? Weder noch, meint Juan José Lahuerta, Kurator der Ausstellung «Univers Gaudí» im Centre de Cultura Contemporània in Barcelona, die ursprünglich einfach «Gaudí Entorns» heissen sollte: «Gaudís Umfeld».

Im Erbauer der Sagrada Familia allein den Konstrukteur zu sehen, der geometrische Regelflächen in nie gesehene Strukturen verwandelte, ist offensichtlich eine unstatthafte Engführung. Ohne den ornamentalen Exzess, der nicht zuletzt ein Spiegel seiner Gesinnung ist, lässt sich dieser Architekt nicht begreifen. Vernachlässigt wurden aber bisher von beiden Seiten, den Rationalisten und den Mystifizierern, die Einflüsse, die ihn prägten, sowie die Parallelen zur Arbeitsweise einiger Zeitgenossen. Eben diese Lücke schliesst nun eine Ausstellung in Barcelona, deren dritter Teil auch einige Aspekte der Wirkungsgeschichte behandelt.


Ruskin und Wagner

Die Präsentation der 420 Exponate in einer weichen, aus zu Nischen gespannten Stoffbahnen bestehenden Ausstellungsarchitektur ist bewusst der Üppigkeit einer Maison d'artiste des Fin de Siècle nachempfunden. Schon der erste Saal widerlegt eine Legende: die vom angeblichen Desinteresse des jungen Gaudí, eines der ersten Absolventen der barcelonesischen Architekturschule, an seinem Studium. Die frühen Entwürfe sind nicht nur ambitioniert, sondern sie führen im Fall des Projekts für einen Monumentalbrunnen, 1877, auch bereits klar über die Beaux-Arts-Tradition hinaus - ganz im Sinn jener katalanischen Bourgeoisie, die es für ihre Selbstinszenierung nach einer genuin katalanischen Expressivität verlangte. Die geniale Einzelfigur, als die Gaudí gern gesehen wird, verlieh dem Traumreich der barcelonesischen Industriebarone, allen voran sein Hauptauftraggeber Eusebi Güell, märchenhafte Gestalt. Zwar scheint sich der formale Exzess schwerlich mit unserer Vorstellung eines kommerziellen Architekten vereinbaren zu lassen, der allenfalls durch chronische Budgetüberschreitungen abschreckte. Doch wenn 125 Jahre später ein Kulturreferent der katalanischen Generalitat als einen der Hauptzwecke dieses Gaudí-Jahrs jenen nennt, ihn als «Markenzeichen der katalanischen Identität» bekannt zu machen, so bringt er damit bloss die Urabsicht auf den Begriff.

Die Ausstellung, unter Dutzenden in diesem Gaudí-Jahr wohl die interessanteste, geht indessen andere Wege. Sie versucht zunächst die laut Lahuerta «beinahe osmotische Beziehung Gaudís zu Ruskin» aufzuzeigen, die geistigen Parallelen zu William Morris und den Präraffaeliten. Dann folgt sie jener andern Spur, die den Architekten, der weder Paris noch Rom gesehen hat, immerhin einmal bis nach Carcassonne führte. Seine einzige Reise zu einem «modernen» Bauwerk galt den Eingriffen von Viollet-le-Duc an der dortigen Kathedrale. Dessen Einfluss zumindest auf das Frühwerk ist denn auch unverkennbar - und Viollet-le-Ducs ätherisch präzise Zeichnungen gehören zu den Höhepunkten der Ausstellung.

Eine weitere, wie eigenwillig auch immer interpretierte Inspirationsquelle war der Symbolismus. Wie kein Zweiter bot Wagner das ästhetische und ideologische Modell, an dem sich die mythischer Legitimation so bedürftige katalanische Bourgeoise ergötzte und orientierte. Nicht umsonst gelten die frühen Wagner-Aufführungen im Liceu in Barcelona bis heute als historische Ereignisse, und zweifellos wurde auch Gaudí damals vom «wagnerianismo» erfasst. Lässt sich die gestirnte Kuppel des Güell-Palasts nicht genauso als Gral deuten wie dessen parabolische Bögen als architektonisches Leitmotiv? Ins Gigantische gesteigert aber wird der Gesamtkunstwerks-Charakter dieser Architektur bei der Sagrada Familia. In das unvollendete Hauptwerk eingeflossen ist auch das Höhlen- und Tropfsteinmotiv, von dessen Beliebtheit bei Gaudís Zeitgenossen ein weiterer Saal Zeugnis gibt. Nicht nur nach, sondern mit und aus der Natur zu schaffen, war in Neuschwanstein eine Kaprize, im Park Güell hatte es Methode.

Nein, Gaudí war nicht allein, er war purer Zeitgeist, zum steinernen Wahn gesteigert. Von Haeckels «Kunstformen der Natur» über die Falten eines Fortuny bis zu zeitgenössischen Lehrbüchern über orientalische Ornamentierung, die der Student selbst in der Hand gehalten haben mag - «Univers Gaudí» weist die Einflüsse nach, taucht den Betrachter in ein geistiges Magma und schlüsselt es zugleich auf. Vermisst wird allenfalls die den Sagrada-Familia-Türmen morphologisch verwandte afrikanische Lehmarchitektur. Und nur im Katalog wird angesprochen, was Gaudí vorsätzlich ignorierte: den Impressionismus und, schwerwiegender für einen Baukünstler, die Schule von Chicago. So brillant seine konstruktiven Lösungen waren, strukturell und in der Materialwahl war er nicht auf der Höhe seiner Zeit. Umso wundersamer, dass dieser Mischmasch aus Gotik und Barock, aus Beaux-Arts und Byzanz, aus Hellenismus und Lokalismus nicht nur in jedem einzelnen Bau seine Stringenz bewahrte, sondern den Kubismus, den Surrealismus und den architektonischen Biomorphismus vorwegnahm.


Die mythische Bauhütte

Den Hintergrund zu diesen hochbürgerlichen Delirien gibt das verelendete Proletariat ab. Das gewaltgeschwängerte soziale Umfeld ging auch an Gaudís Werk nicht spurlos vorüber - berühmt ist die Darstellung eines Mannes, der von einem Teufel mit einer von den Anarchisten für ihre Anschläge verwendeten Orsini-Bombe in Versuchung geführt wird, in der Rosenkranz-Kapelle der Sagrada Familia. In Lahuertas Schau weist «Die Kathedrale der Armen», ein Gemälde von Joaquim Mir, am eindrücklichsten auf diesen Kontext hin und leitet zugleich zum zweiten Ausstellungsteil über, betitelt «Die Bauhütte». Gaudís «obrador», im Spanischen Bürgerkrieg zerstört, hatte wenig mit einem konventionellen Architekturstudio gemein. Eher glich er einem Bildhaueratelier, auch in diesem Fall ins Gigantische gesteigert. Die Arbeitstechniken waren indessen dieselben, deren sich viele Bildhauer um die Jahrhundertwende bedienten: Photographien und Abgüsse des menschlichen Körpers. Juan José Lahuerta hat eine Fülle faszinierender Dokumente verschiedenster Provenienz zusammengetragen, von Geoffroy-Dechaumes fast wieder Fleisch gewordenen Gipsleibern über Jean-Louis Igouts und Josep María Serts photographische Körperstudien bis zu den Aufnahmen von Ricard Opisso, auf denen die aus dem Barrio stammenden Modelle für die Skulpturen der Geburtsfassade zu sehen sind. Mit jedem dieser Objekte, so lose der Zusammenhang erscheint, wird Gaudís demiurgisches Universum greifbarer. Auch und gerade Rodin, der mit der «Porte de l'Enfer» fast ebenso lange gerungen hat wie der Katalane mit der Sagrada Familia, ist dann kein so ferner Zeitgenosse mehr.


[Bis zum 8. September im Centre de Cultura Contemporània de Barcelona (CCCB), anschliessend vom 15. Oktober an im Centro de Arte Reina Sofía in Madrid. Katalog, 238 S., Euro 25.-.]

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