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Wenn ein Reisender an einem Wintertag
Neue Zürcher Zeitung

Die vorolympischen Spiele - Stadtplanung und Kulturprogramm in Turin

Nach Jahren des Stillstandes wirkt die Hauptstadt des Piemont heute aktiv auf neue Ziele ausgerichtet. Für die Olympischen Winterspiele diesen Februar wurde einiges in Bewegung gesetzt. Urbanistische Projekte werden bleibende Zeichen setzen; das Kulturprogramm dürfte - zumindest was das Theater angeht - für Denkanstösse sorgen.

30. Januar 2006 - Christine Wolter
Der Turin-Reisende rekapituliert seine Kenntnisse und Erinnerungen: die sprichwörtliche Höflichkeit der Turiner; die glanzvolle Vergangenheit des Savoyer Herzogtums mit seinen barocken Prachtbauten, der kurze Ruhm als erste Hauptstadt Italiens (1861-64) und die Schmach der Degradierung, der Aufstieg zur Industriemetropole unter dem Zeichen Fiat. Auch ein paar andere Turin-Topoi fallen ihm ein: Hauptstadt der Schokolade, erste Filmstadt Italiens, Besitzerin des zweitgrössten ägyptischen Museums der Welt nach Kairo. Er denkt an Nietzsches letzte Liebe: das Turin der geraden Strassenkarrees und der quadratischen Plätze mit ihren Reiterdenkmälern. Und an die schönen Laubengänge, die einen schützend durch alle Strassen begleiten.

Natürlich erwartet der Reisende auch, Baustellen und neue Sportstätten zu finden. Die Olympischen Winterspiele stehen bevor, auch wenn - merkwürdigerweise! - die italienischen Medien nicht viel über Turins Aktivitäten berichtet haben. Nur ein Thema schlug Wellen, die Proteste der Bewohner des Susa-Tals gegen den Bau eines 50-Kilometer-Tunnels durch die Alpen für eine Hochgeschwindigkeitsverbindung mit Frankreich, ein Projekt, das in seinen Auswirkungen für Umwelt und Bewohner mit den Anwohnern kaum diskutiert worden war.

Unter- und überirdische Baustellen

Am Bahnhof Porta Susa steigt der Reisende aus und steht tatsächlich auf einer Baustelle. Der alte Bahnhof ist nur noch Notbehelf, der neue, noch im Bau, wird als zentraler Bahnhof mit Schienen und Bahnsteigen unter der Erde liegen, darüber erhebt sich lediglich ein schlanker Hochbau der Bahnverwaltung neben einer langen gläsernen Galerie als Shopping-Meile. Unterirdisch verläuft nun auch der Schienenstrang, der die Stadt bisher zerschnitt; jetzt liegt darüber ein breiter Boulevard mit Alleen, Auto-, Fuss- und Radwegen, aber vor allem mit Raum für Kunst im Freien. Eine neue U-Bahn ist entstanden, deren erster Abschnitt im Januar eingeweiht wurde; eine moderne Strassenbahn ist schon in Betrieb. Im Stadtinneren sind die olympischen Sportbauten für Eiskunstlauf, Eishockey, Eisschnelllauf fertig. Sie sind so ausgelegt, dass sie nach den Spielen für Sport, Konzerte, Ausstellungen zur Verfügung stehen. Anstelle eines einzigen olympischen Dorfes wird es mehrere Zentren für Sportler und Presse geben; auch sie sind anschliessend für Kultur und Wohnen vorgesehen.

Eine weitsichtige und kulturfreundliche Stadtplanung nutzt dabei den olympischen Impuls, um stillgelegte Industriebauten, die sich als bedrohliche Brache rings um das Zentrum zogen, wieder mit Leben zu erfüllen. Nach dem Beispiel des Lingotto-Komplexes von Fiat, der in den achtziger Jahren von Renzo Piano in ein Kongress- und Messezentrum verwandelt wurde (auch die Turiner Buchmesse findet jeweils dort statt), werden Industriebezirke in öffentliche Räume verwandelt. Und das reicht weit über das Olympia-Projekt hinaus. Das Polytechnikum wächst und bezieht frühere Fabrikgebäude mit ein, eine neue zentrale Bibliothek wird entstehen und unmittelbar daneben, ebenfalls auf früherem Industriegelände, ein Kulturzentrum mit einem neuen Theater.

Transformationen

Nach Jahren des Stillstandes, des Industriesterbens, des Bevölkerungsschwundes wirkt dieses neue Turin aktiv, bewegt und auf neue Ziele orientiert: Forschung, Wissenschaft, Kultur, Kommunikation, Tourismus. Der Schlüsselbegriff «trasformazione» taucht überall auf - Verwandlung. Ein Beispiel ist das Teatro Limone Fonderie, das in der Randgemeinde Moncalieri liegt: Eine ehemalige Giesserei wurde in ein Open-Space-Theater umgebaut, dessen metallische Fassade die alte Gestalt nicht verleugnet und sich zugleich im vorstädtisch-gestaltlosen Umfeld selbst als Kunst-Gegenstand behauptet.

Hier liegen jetzt auch die Werkstätten des Teatro Stabile di Torino (TST), das dieses Theater übernommen hat. Im grossen Olympia-Programm des Turiner Stabile soll hier eine von fünf Inszenierungen aufgeführt werden, die Luca Ronconi unter dem Obertitel «Domani» vorbereitet. In verschiedenen Spielstätten wird vom 2. Februar bis zum 15. März ein auch formal vielgestaltiges Programm zu Themen der Gegenwart auf die Bühne kommen. Krieg und Gewalt in Shakespeares «Troilus und Cressida» und in Edward Bonds Kriegstrilogie; die Ökonomie in Szenen ihrer Geschichte; die Bioethik als dramatisches Lexikon und «Das Schweigen der Kommunisten» in der Bühnenfassung eines Briefwechsels zwischen drei Grossen der italienischen Linken, Miriam Mafai, Vittorio Foa und Alfredo Reichlin. 7,5 Millionen Euro hat die Stadt dem TST ausserhalb des regulären Budgets dafür zur Verfügung gestellt.

Eben wurde auch der Umbau des Kinos Astra fertig, in dessen roh belassenem Innenraum Ronconi probt. 2005 konnte das Stabile in das neue, elegante Teatro Vittoria in der Stadtmitte einziehen. Dazu kommen die Säle der früheren Reitschule, die traditionellen Räume des barocken Teatro Carignano und des klassizistischen Teatro Gobetti - innerhalb der Stadt eine eigentliche Theaterstadt, für die ihr Direktor, Walter Le Moli, mit Elan und Phantasie ein weitgespanntes Programm aufgebaut hat. Acht Neuinszenierungen und eine Koproduktion mit der Oper des Teatro Regio sind ausser dem «Domani»-Projekt geplant, dazu ein Dutzend Gastspiele. Denn, so Le Moli, nicht die einzelne Grossleistung wird das Theater in Turin am Leben erhalten, sondern nur ein dauernder, vielfältiger Kontakt mit dem Publikum, ein Suchen und Fragenstellen. Was bisher erreicht wurde - dass zum Beispiel 50 Prozent der Abonnenten Jugendliche unter 25 Jahren sind, dass die Zuschauerzahlen steigen -, sei «kein Wunder, sondern Arbeit», sagt der umtriebige und zugleich geduldige Le Moli.

Nicht zu vergessen natürlich die Museen, allen voran das Ägyptische Museum, das zu den Olympischen Spielen mit Sonderausstellungen aufwartet, oder der Palazzo Bricherasio (mit einer Ausstellung zum Surrealismus) oder das Filmmuseum im Turm der berühmten Mole Antonelliana. Eine ganze Ausstellungslawine, vom Sport über Autos bis zum Design, begleitet den sportlichen Grossanlass. Und die Innenstadt selbst ist ein Museum. Wer abends durch ihre Strassen spaziert, kann die extra für diesen Winter entworfenen Lichtspiele bewundern. Wer am Tag die Piazza San Carlo oder die Piazza Castello betritt, stellt beglückt fest, dass die Autos unter die Erde verbannt sind und Turins grandiose Architektur wieder in reiner Form sichtbar ist. Auf dem Schlossplatz wurde eben die Restaurierung des barocken Palazzo Madama abgeschlossen, die Turiner strömen familienweise und gratis durch die Pracht seiner Säle.

Ein Erfolgsbericht also? In letzter Minute hat der Staat die Mittel für die Olympischen Winterspiele gekürzt. Die staatlichen Mittel für die Bühne wurden bereits um 35 Prozent beschnitten. Nicht zu vergessen: Auch die Gemeinden müssen im neuen Staatshaushalt eine Kürzung ihres Budgets um 15 Prozent in Kauf nehmen, was wiederum weniger Ausgaben für die Kultur bedeutet. Bei Fiat drohen weitere Entlassungen (der Staat scheint allerdings Frühpensionierungen anzubieten). Erstaunlich mutet an, wie wenig Turin mit seinen kulturellen Bemühungen in den italienischen Medien beachtet wird. Liegt es daran, dass Stadt, Provinz und Region von einer kulturfreundlichen linken Mitte regiert werden, die Medien aber meist anderen Herren dienen?

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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