Artikel

Leise Aufbruchstimmung am Jurasüdfuss
Neue Zürcher Zeitung

Bauten von Geninasca Delefortrie in Neuenburg

Baukunst ist derzeit in der Romandie weit weniger ein Thema als in der deutschsprachigen Schweiz. Gleichwohl trifft man vom Wallis bis zum Jura vermehrt auf interessante Architekturbüros. In Neuenburg sind es Geninasca Delefortrie Architectes, die in den vergangenen Jahren mit einer Reihe spannender Neubauten überraschten.

3. Februar 2006 - Martino Stierli
Im Jahr 2002 durfte man aufgrund der Expo hoffen, dass Neuenburg fortan auch in Sachen Architektur vermehrt ins nationale Bewusstsein rücken würde. Doch richtete sich der Blick der Schweizer Öffentlichkeit nur einen Sommer lang auf die Stadt am Jurasüdfuss, um sich anschliessend wieder dem Courant normal zuzuwenden. In Architektenkreisen begegnete man der Indienstnahme des Bauens durch das Spektakel ohnehin mit Reserve, ist doch die Baukunst im Zeichen des Bilbao-Effekts ohnehin schon längst auf die Logik von Stadtmarketing und Tourismus eingeschwenkt. Auch in der Neuenburger Architekturszene scheint die Aufbruchstimmung der Expo 02 mehr oder weniger wirkungslos verpufft zu sein, wenngleich die Neubauten von Bauart Architekten für das Bundesamt für Statistik am Espace de l'Europe noch immer die Aufmerksamkeit des Fachpublikums auf sich zu ziehen vermögen. Die weniger inspirierten Wohn- und Geschäftshäuser mit ihren Lochfassaden, die den Strassenzug seit kurzem komplettieren, belegen jedoch ein weiterhin eher geringes Interesse an zeitgenössischer Architektur. In der Tat erhält die lokale Szene keine Impulse von einer Fachhochschule, und auch die Universität bietet keine Architekturausbildung an. Die Architekten beziehen ihre Inspiration daher von aussen oder aber aus der lokalen Tradition, die eine Reihe barocker Palais und klassizistischer Gebäude im harmonischen Stadtbild hinterlassen hat.

Auseinandersetzung mit der Stadt

Dafür, dass sich auch unter erschwerten Bedingungen qualitätvolle Architektur planen und ausführen lässt, stehen die in jüngerer Zeit entstandenen Bauten des Büros Geninasca Delefortrie Architectes. Die treibenden Kräfte des seit rund zehn Jahren in Neuenburg agierenden Büros sind der Belgier Bernard Delefortrie sowie Laurent Geninasca, der sein Diplom an der ETH Zürich erwarb. Das Büro beschäftigt rund 25 Mitarbeiter, was umso mehr überrascht, als Geninasca Delefortrie ihr Auftragsbuch bisher vorwiegend durch siegreiche Wettbewerbsprojekte füllen konnten. Spätestens mit dem Gewinn der Ausmarchung um das neue städtische Fussballstadion in der Maladière, das sich zurzeit im Rohbau befindet, drang das Büro auch in das Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit; auf dem benachbarten Grundstück konnten die Architekten kürzlich ebenfalls im Auftrag der Stadt eine Dreifachturnhalle mit charakteristischer schwarzer Holzfassade und Sheddach fertig stellen. Dass Laurent Geninasca zu den kreativen Köpfen der Stadt gehört, stellte der Architekt mit Jahrgang 1958 bereits 1994 unter Beweis: Gemeinsam mit dem Architekten Luca Merlini und dem Journalisten Michel Jeannot heckte er damals ein Konzept für die Durchführung einer Landesausstellung in Neuenburg aus. Obwohl die einstigen Vordenker von der anlaufenden Expo-Maschinerie ausgebootet wurden und in deren öffentlicher Wahrnehmung keine Rolle mehr spielten, ist doch die erfolgreiche Idee der Arteplages dem ad hoc gebildeten Dreierbund zu verdanken.

Trotz der Marginalisierung im Rahmen der Expo 02 ist Geninascas Büro zu einer treibenden Kraft der lokalen Architekturszene geworden. Das sichtbarste Zeichen dafür bildet neben dem im Entstehen begriffenen Maladière-Stadion die vor Jahresfrist vollendete neue Filiale der Migrosbank. Der siebengeschossige Bau über polygonalem Grundriss befindet sich an städtebaulich sensibler Stelle, bildet er doch den Kopf einer kurzen Häuserzeile zwischen dem schmalen Faubourg du Lac und der Avenue du Premier-Mars, die die Neustadt mit dem mittelalterlichen Stadtkern verbindet. Damit liegt das Geschäftshaus an einer wichtigen Scharnierstelle im Stadtgrundriss, an der unterschiedliche Epochen und Massstäbe aufeinander treffen. Diese Ausgangslage erhoben die Architekten zur entwerferischen Leitidee: Von Osten her gesehen, markiert der turmartige Neubau das Eingangstor zum historischen Stadtkern und tritt mit seinen sieben Geschossen der monumentalen Hauptpost von 1896 auf der anderen Seite der Avenue du Premier-Mars selbstbewusst entgegen. Von der im Altstadtbereich gelegenen Place Numa-Droz aus sind dagegen aufgrund eines Fassadenknicks nur zwei Achsen des Neubaus erkennbar. Dadurch und dank der mittels eines abfallenden Pultdachs verringerten Geschosszahl orientiert sich der Bau in dieser Richtung am Massstab der kleinteiligen Bebauung der Häuserzeile aus dem 18. Jahrhundert, deren östlichen Abschluss er bildet.

Das Gebäude präsentiert sich also mit zwei grundlegend verschiedenen Gesichtern; der Einordnung in die traditionelle Zeilenbauweise steht der prononciert öffentliche Charakter zur Place Alexis-Marie Piaget entgegen. Hier ist auch der Eingang zu den Schalterräumen situiert. Ist das Parterre der Banknutzung vorbehalten, befinden sich in den Obergeschossen Büroräume sowie Wohnungen. Die rigide Gliederung der Lochfassade durch raumhohe, hochrechteckige Fenster mit seitlichen Lüftungsklappen wird durch die verglaste Eckpartie mit Eingangszone, die Schaufenster im Erdgeschoss sowie ein quadratisches Panoramafenster an der Ostfassade unterlaufen, die bündig an der Fassade anliegen und die Tektonik des Rasters aus der Ferne in ein zweidimensionales Bild auflösen. Körperlichkeit gewinnt der Bau erst von nahem durch einen groben, ockerfarbenen Putz. Dessen Farbton verweist auf den Hauterive-Kalkstein, das traditionelle Baumaterial, welches wesentlich zum einheitlichen Gepräge der Stadt beiträgt.

Janusköpfige Bauten

Der gebaute Kontext bildet auch bei einer Wohnüberbauung, die Geninasca Delefortrie jüngst in Serrières realisieren konnten, einen ersten Referenzpunkt. In diesem heterogenen Aussenquartier von Neuenburg stossen Industriebauten, Wohnblöcke der sechziger Jahre sowie Zeugen der Zeit um 1900 unvermittelt aufeinander. Im Auftrag der städtischen Pensionskasse bauten die Architekten hier vierzig preiswerte Mietwohnungen, die auf vier Etagen U-förmig um einen zentralen Innenhof mit Spielplatz angelegt sind, was der Überbauung einen intimen Charakter verleiht. Daneben sind primär zwei Elemente bestechend: erstens die Privilegierung des öffentlichen Raumes gegenüber den konventionell zugeschnittenen Wohnungen. Diese werden über breite Laubengänge erschlossen, die sich als Aufenthalts- und Begegnungsraum eignen, aber die private Möblierung ausdrücklich zulassen. Zweitens überzeugt die ungewöhnliche Verwendung herkömmlicher Materialien, wie man sie von der niederländischen Architektur - etwa der Siedlung von MVRDV auf Hageneiland - her kennt: Von den mit leuchtend roten Dachziegeln verkleideten Fassaden heben sich die Lauben rundum in hellem Holz ab, so dass man sich selbst im Aussenraum wie in einem Chalet wähnt. Ihren Sinn für Materialien und Strukturen haben Geninasca Delefortrie auch bei einem Wohnbau im Stadtteil Peseux bewiesen, der gewissermassen das bürgerliche Pendant zur Siedlung in Serrières bildet.

In abschüssiger Lage sind in dem kompakten Bau mit annähernd quadratischem Grundriss zehn Wohnungen untergebracht. Im Vergleich zur populären Materialsprache in Serrières kam man hier mit einer Betonfassade den Geschmacksvorstellungen eines gehobeneren Zielpublikums entgegen. Die aufgeraute, linear strukturierte Oberfläche erweist den rustizierten Sockeln aus Jurakalkstein in der Nachbarschaft eine Reverenz, bildet aber für den kubischen Solitär zugleich eine ansprechende, ornamental über die Aussenseite des Baus gelegte Bekleidung. Ihre haptische Qualität wird am ehesten in einer schmalen Stiege spürbar, die dem Haus entlang vom höher gelegenen Plateau zur Hauptstrasse führt. In die schuppenartige Oberfläche sind verglaste Türen, breite, bronzefarbene Metallfenster sowie tiefe Eckterrassen eingeschnitten, ohne dass dadurch der monolithische Gesamteindruck des Baus beeinträchtigt wird. Trotz der einheitlichen Oberflächengestaltung ist er wie die Migrosbank von janusköpfigem Charakter: Während er mit seiner Höhe zur Hauptstrasse hin Urbanität markiert, passt er sich rückseitig raffiniert dem Massstab der vorherrschenden Einfamilienhausbebauung an.

Beispielhafte Lösungen

Dass Geninasca und Delefortrie einen Sinn für topographische Besonderheiten haben, bewiesen sie nicht zuletzt mit dem Kindergarten der Gemeinde Bevaix. Das Programm umfasste neben einem Lehrerzimmer sechs Klassenräume, die in einem Bau auf dem Gelände des ehemaligen Gemeindefriedhofs untergebracht werden sollten. Von diesem blieben lediglich die Umfassung aus Bruchsteinmauerwerk sowie das prachtvolle Eingangstor erhalten. Geninasca Delefortrie begegneten dieser Vorgabe, indem sie in das leicht abschüssige Geviert einen flachen, eingeschossigen Neubau stellten. Sein Rückgrat bildet ein interner Weg, der sich längs durch das Gebäude zieht und dem ansteigenden Terrain folgt. Die holzverkleideten Klassenräume sind aufgrund dieses Arrangements durch leichte Niveausprünge voneinander abgesetzt, was insbesondere im umlaufenden Aussenraum deutlich wird, wo jedes Zimmer über eine kleine Grünfläche zwischen Gebäude und Umfassungsmauer verfügt.

Zusätzlichen Freiraum bietet der rückwärtige Teil der Anlage, wo eine ausgesparte Gebäudeecke mit der Umfassungsmauer einen geschützten und doch offenen Pausenraum entstehen lässt. Der Neubau mit seinen grossen Fensterscheiben duckt sich unauffällig auf seinem Terrain. Es entsteht eine quasi symbiotische Beziehung mit der Umgebung, die durch das begrünte Flachdach und die raue, die Natursteinmauer architektonisch reflektierende Textur des Sichtbetons betont wird. Damit konnte auch im Fall des Kindergartens von Bevaix eine beispielhafte Lösung für die Neunutzung einer nicht unproblematischen Parzelle gefunden werden.

teilen auf

Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

Ansprechpartner:in für diese Seite: nextroomoffice[at]nextroom.at

Tools: