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Kultur contra Kommerz
Neue Zürcher Zeitung

Streit über den Wiederaufbau des World Trade Center

23. Juli 2002 - Andrea Köhler
«Missing: Two Handsome Twins, Age 28» steht auf einer Photographie des World Trade Center an der Wand; doch gilt die Vermisstenanzeige in diesen Tagen eher einer akzeptablen städtebaulichen Alternative zum einstigen WTC. Als am letzten Dienstag die Grundstückseigner des Geländes, auf dem vormals die Zwillingstürme standen, der Öffentlichkeit sechs neue Bebauungspläne präsentierten, war das Entsetzen über die Phantasielosigkeit der Entwürfe gross: «Trostlos» und «öde», «uninspiriert» und «kleingeistig» waren noch die mildesten der Vokabeln. In den Chor der Kritiker aus Architekten, Städteplanern, Politikern und Journalisten stimmen nun auch die Bewohner, Anlieger und Hinterbliebenen der Opfer ein. Über 5000 Bürger versammelten sich am letzten Samstag im Jacob Javits Convention Center am Ufer des Hudson River, um über die Zukunft von Lower Manhattan zu diskutieren; am gestrigen Montag traf sich die zweite Staffel. Mehr Lebensraum, mehr Wohnungen und kleine Geschäfte, Grünflächen und Jobs aller Einkommensstufen, lauten die Forderungen der Bürgerinitiative «Listening to the City». Allem voran aber wünschen die Hinterbliebenen sich ein Memorial, das die Erinnerung an die Toten nicht kommerziellem Kalkül und städteplanerischem Kleinmut opfert.

In einem Punkt nämlich sind sich die Kritiker der Überbauungspläne für Ground Zero einig: Die sechs Vorschläge sind zuerst an der Rentabilität orientiert und zuletzt an einer überzeugenden urbanistischen Vision interessiert. Die Hafenbehörde von New York und New Jersey, Eignerin des Areals, will auf die 120 Millionen Dollar Mieteinnahmen, die sie aus den Büroflächen des World Trade Center bezog, nicht verzichten; die Masterpläne, die sie nun gemeinsam mit der Lower Manhattan Development Corporation vorgelegt hat, sehen darum je nach Entwurf zwischen vier und sechs Wolkenkratzer vor, die, um einen Gedenkpark herum gruppiert, als Business- und Büroraum genutzt werden sollen. «Sechs Arten, den Kuchen zu teilen», höhnte der Architekturkritiker der «New York Times» und warf den Konzepten Engstirnigkeit, Provinzialität und einen eklatanten Mangel an symbolischem Bewusstsein vor.

Die neuen Wolkenkratzer, darin herrscht Einigkeit, sollen nicht grösser als die Twin Towers des ehemaligen World Trade Center sein. Doch sehen alle sechs Pläne für einen oder zwei der höchsten Türme des Arrangements Skyline Elements in Form von Antennen oder Skulpturen vor, die die Höhe des ehemaligen WTC noch überbieten. Auch sonst zeigen die Modelle mehr Ähnlichkeiten als architektonische Alternativen; mehr Vielfalt, eine an den Interessen der Bewohner, einschliesslich Chinatowns, orientierte Anlage wünschen sich die Teilnehmer von «Listening to the City». Nun soll angesichts der überwältigenden Resonanz der Bürgerversammlung doch noch ein Mitspracherecht eingeräumt werden. Bürgermeister Michael Bloomberg teilte in einer Radioansprache am Freitag schon vorsorglich mit, dass ein deutlich höherer Anteil der Bebauung für Wohnraum reserviert werden müsse, der für verschiedene Einkommensgruppen erschwinglich sei.

Auch die Betreibergesellschaften rudern mittlerweile zurück und räumen Nachbesserungen ein; überhaupt, heisst es jetzt, seien die Pläne noch nicht bindend, ja eigentlich gar nicht ausgereift. Strittig, auch unter den Teilnehmern von «Listening to the City», ist vor allem die Frage, welchen Raum die Gedenkstätte für die rund 2800 Toten einnehmen soll, die in den Trümmern des World Trade Center verschwanden. Alle sechs vorliegenden Bebauungsentwürfe sind um einen mal quadratischen, mal drei- oder rechteckigen oder auch ovalen Platz herum angelegt, der entweder als «Memorial-Plaza», «Memorial- Square» oder «Memorial-Triangle» die «Fussabdrücke» des ehemaligen World Trade Center einschliesst. Den Hinterbliebenen ist die Gedenkstätte verständlicherweise das grösste Anliegen; auf der Bürgerversammlung plädierten viele dafür, zuerst ein Denkmal zu bauen und den Raum drumherum der Gedenkstätte anzupassen. Gleichwohl nährt der breite Exodus aus Lower Manhattan seit dem 11. September eher Bedenken, ob es klug ist, den neuen Stadtteil in erster Linie als einen Erinnerungsort zu entwerfen; dem Andenken an die Toten ist vielleicht eher gedient, wenn das Leben in ihre Mitte zurückkehrt.

Eines scheint jedenfalls klar geworden zu sein: Wann immer verbindlichere Pläne vorgelegt werden (womit frühestens Anfang des nächsten Jahres zu rechnen ist) - ganz an den Interessen der Bevölkerung vorbei wird dieser symbolische Ort nicht wieder aufgebaut werden können. «Democracy in action» nannte eine Sprecherin von «Listening to the City» die über achtstündige Samstagssitzung im Jacob Javits Center. In einer Umfrage am Schluss der Versammlung waren freilich über 60 Prozent der Anwesenden davon überzeugt, dass ihre Vorschläge kein Gehör finden werden. Allen aber wird der flammende Aufruf des Vizebürgermeisters Daniel Doctoroff im Ohr bleiben, der mit rhetorischem Aplomb die Mittelmässigkeit der vorliegenden Überbauungspläne für Ground Zero geisselte. Man dürfe sich nicht unterkriegen lassen, rief er den New Yorkern zu - «Do something great!»

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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