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Baustelle Paris
Neue Zürcher Zeitung

Strategien zur Erneuerung der französischen Hauptstadt

Rund zehn Prozent der Fläche der französischen Hauptstadt sind derzeit im Umbau. Im Folgenden werden drei Beispiele vorgestellt, die je für einen Aspekt der Erneuerung der Kapitale typisch sind. Dazu zählt auch das Riesenprojekt «Paris Rive Gauche».

27. Februar 2006 - Marc Zitzmann
Paris, die meistbesuchte Stadt der Welt, mit deren Bauerbe nur Städte wie Rom rivalisieren können. Paris, dessen Zentrum stark vom einem ortsspezifischen Urbanismus geprägt ist, dem «haussmannisme» des späten 19. Jahrhunderts. Paris, eine der flächenmässig kleinsten und am dichtesten besiedelten Kapitalen - kann man in einer solchen Stadt überhaupt noch bauen? Wer meint, die Ville Lumière sei museifiziert oder gar mumifiziert, täuscht sich. Tausend Hektaren oder rund zehn Prozent der Fläche der Hauptstadt sind derzeit im Umbau. Neben Beispielen von standardisiertem Bürobau und «Fassadismus» finden sich auch ambitionierte urbanistische Projekte.

Ein neues Viertel am Fluss

Touristen, die mit einem älteren Stadtplan Paris erkunden, mögen sich wundern, warum sie die Rue René Goscinny partout nicht finden können. Oder die Strassen, die nach Hans Arp, Paul Klee, James Joyce, Primo Levi und vielen anderen benannt sind. Der Grund: im 13. Arrondissement sind in den letzten Jahren Dutzende von neuen Strassen entstanden. «Paris Rive Gauche» ist ein riesiges Projekt - manche sprechen gar von den umfangreichsten Arbeiten seit der Ummodelung der Innenstadt durch den Präfekten Haussmann zwischen 1853 und 1870. Die kurz ZAC genannte «Zone d'aménagement concerté» (Zone, deren Bebauung von der öffentlichen Hand organisiert wird) umfasst den gesamten 2,7 Kilometer langen Nordteil des 13. Arrondissements entlang der Seine. Bis 2015 sollen auf dem 130 Hektaren grossen Areal zwischen der Gare d'Austerlitz und der östlichen Vorstadt Ivry-sur-Seine über 2,2 Millionen Quadratmeter Nutz- und 98 000 Quadratmeter Grünfläche geschaffen werden - die Gesamtkosten des 1988 lancierten Projekts sind auf 3 Milliarden Euro veranschlagt.

Was die Zahlen nicht erfassen, ist das seltsame, zugleich prickelnde und bedrückende Gefühl, das einen beim Flanieren durch die ZAC beschleicht. Am Quai d'Austerlitz, der vom gleichnamigen Bahnhof aus nach Osten führt, stehen sich buchstäblich Alt und Neu gegenüber. Zur Seine hin die Magasins généraux: 280 Meter heruntergekommene Betonfassaden, hinter denen Grossisten ihre höhlenartigen Verkaufsräume mehr schlecht als recht eingerichtet haben - ein Dekor für einen Roman von Simenon. Auf der andern Strassenseite die glasfunkelnden, metallblitzenden Bürokomplexe von Finanz-, Informatik-, Pharma- und Telekomunternehmen. Dieses Jahr beginnt die Verwandlung der Magasins généraux durch Dominique Jakob und Brendan MacFarlane in eine trendige Cité de la mode et du design. Auch die Eröffnung eines Flussbads mit Schwimmbecken, Sauna, Hammam, Jacuzzis usw. am Fuss der Nationalbibliothek sowie einer doppelt geschwungenen Fussgängerbrücke von Dietmar Feichtinger, die nach Bercy führt, wird zur Erschliessung des Seine-Ufers beitragen.

Der zentrale Sektor der ZAC «Paris Rive Gauche» um die 1996 eröffnete neue Nationalbibliothek ist heute fast vollendet. Beidseits der vier Büchertürme von Dominique Perrault stehen Wohn- und Bürogebäude von Philippe Chaix und Jean-Paul Morel, Philippe Gazeau, Franck Hammoutène, Francis Soler und anderen. Trotz der unbestreitbaren Qualität vieler Bauten wirkt das Viertel ein wenig leblos - vielleicht liegt es auch an der strengen Kastenform fast aller Gebäude. Ganz anders der südöstlich angrenzende Sektor: Christian de Portzamparc, der den Masterplan entworfen hat, setzt hier erstmals im grossen Rahmen sein Konzept der «Ilots ouverts» um, der nur teilweise bebauten Parzellen mit kleinen Gärten und Plätzen, zwischen denen lichtdurchflutete Strässchen mäandern. Neben Altstars wie Ricardo Bofill, Henri Gaudin und Norman Foster wurden auch junge Büros verpflichtet; die Formen- und Farbenvielfalt der Bauten ist gross.

Wie ein Fremdkörper inmitten all der architektonischen Vorzeigearbeiten wirkt der Squat «Les Frigos». Das 1921 erbaute Kühllager, eine mit Graffiti übersäte Trutzburg aus Beton, beherbergt seit einem Vierteljahrhundert Künstlerateliers. Anfang 2004 ist es in den Besitz der Stadt Paris übergegangen, die seine jetzige Bestimmung erhalten möchte. Mit den Frigos, den Galerien der Rue Louise Weiss, der Nationalbibliothek, dem von Jean-Michel Wilmotte entworfenen Kinokomplex MK2 sowie dem Batofar, einem auf Konzerte mit elektronischer Musik spezialisierten Hausboot, verfügt «Paris Rive Gauche» bereits jetzt über ein breit gefächertes Kulturangebot.

Dieses dürfte sich im Herbst noch stark erweitern mit dem Zuzug der Université Paris 7 - Denis Diderot und ihren 27 000 Studenten. Die Universität wird nicht nur über zwei umgestaltete «historische» Bauwerke verfügen, die Grands Moulins de Paris (Nutzfläche: 30 000 Quadratmeter; Architekt des Umbaus: Rudy Ricciotti) und die Halle aux farines (17 800 Quadratmeter; Nicolas Michelin). Sondern sie wird sich auch in Neubauten niederlassen, die zwischen Wohn- und Bürogebäuden stehen. Ebenfalls im Herbst bezieht auch die Ecole d'architecture de Paris - Val de Seine einen Neubau von Frédéric Borel und eine umgebaute Fabrikhalle aus dem Jahr 1891. In der Nähe bauen Valode & Pistre fünf Gebäude für einen biotechnologischen Pol. Der von Portzamparc mitgestaltete Sektor setzt nicht nur auf die Erhaltung markanter Industriebauten, sondern auch auf funktionale Durchmischung.

Während der an der Seine entlangführende Nordbereich der ZAC schon fast vollständig konzipiert und zu einem Gutteil vollendet ist, befindet sich der schmalere Südteil entlang der Avenue de France noch weitgehend im Planungsstadium. Diese neue Hauptverkehrsader wurde teilweise über die Gleise gebaut, die von der Gare d'Austerlitz aus Richtung Südosten führen. Sie bildet die Naht zwischen dem «alten» 13. Arrondissement und dem neu erschlossenen Areal entlang der Seine. Von der Qualität der urbanistischen Gestaltung des Plattenbaus über den Gleisen und seiner unmittelbaren Umgebung wird es abhängen, ob Neu und Alt zusammenwächst.

Verbindung über den Stadtrand

Bei der ZAC «Les Lilas» am südöstlichen Stadtrand ist die Ausgangslage eine ganz andere. Hier geht es darum, die Verbindungen zwischen drei jenseits des Boulevard périphérique gelegenen Vororten und den Randzonen der 19. und 20. Arrondissements zu verbessern. Heute schlägt der Boulevard périphérique, die ringförmige, bis zu achtspurige Schnellstrasse um Paris, im Bereich der ZAC eine tiefe Schneise, welche einzig an der Porte des Lilas von einem Verkehrskreisel überbrückt wird. Dessen ausgesparter Mittelbereich, unter dem der Verkehr braust, wird zurzeit überdeckt. Metallträger spannen sich über die Leere, zwei Kräne sind am Werk. Eine arabische Passantin ruft ihrer Begleiterin zu: «Das ist ja wie in Beirut hier!».

Die Baustelle wird freilich noch grösser: Nach dem Mittelbereich soll beidseits des Kreisels der Périphérique über eine Länge von je rund hundert Metern überdeckt werden. Nebst einem 15 000 Quadratmeter grossen Park sind dort ein Busbahnhof, eine Bibliothek und ein Multiplexkino geplant. Ein Studenten- und ein Altersheim sind bereits vollendet beziehungsweise im Bau.

Im Vergleich mit dem Riesenprojekt «Paris Rive Gauche» wirkt die ZAC «Les Lilas» unspektakulär. Sie ist jedoch emblematisch für mehrere Projekte, deren Ziel es ist, Verbindungen zu schaffen zwischen Paris und seinen Randgemeinden und die Belastung durch den Autoverkehr auf ein erträgliches Mass zu reduzieren. Der Périphérique wird auch an der Porte de Vanves und zwischen den Portes des Ternes und de Champerret überdeckt, Parks entstehen an den Portes de Montreuil und de Vincennes.

Lifting für den Plattenbau

Ganz anders die Probleme, die der Front de Seine unweit des Eiffelturms aufwirft. Der ab 1959 von Raymond Lopez und anderen konzipierte Komplex besteht aus einer weitläufigen Plattform für Fussgänger, die sich zwei Geschosse über das Bodenniveau erhebt. Auf dieser «Dalle» stehen zwanzig 98 Meter hohe Wohn- und Bürotürme und etwa ebenso viele Flachbauten. Wer empfänglich ist für die Atmosphäre ungewöhnlicher Stadtlandschaften, wird einen Spaziergang hier goutieren. Über eine spiralförmige Rampe erreicht man vom Quai de Grenelle aus die Dalle. Deren weisser, graubrauner und blaugrauer Kachelboden bildet aus der Vogelperspektive betrachtet psychedelische Muster. Die Wolkenkratzer sind alle verschieden gestaltet: die Fassaden orthogonal oder konkav, mit einer Prädominanz von Glas, Beton oder Metall.

Bis auf ein paar alte Leute und eine asiatische Familie ist weit und breit niemand zu sehen. Dabei arbeiten hier 5000 Menschen und wohnen doppelt so viele. Brücken verbinden Abschnitte der Dalle, die eine Querstrasse zum Quai de Grenelle durchschneidet. Unten geht das Leben seinen Gang, oben schwebt man in einem seltsam luftleeren Raum. Im Einkaufszentrum stehen ganze Galerien leer. Die Stimmung schwankt zwischen Melancholie und Klaustrophobie. Das soll nun alles anders werden. Der Baulärm verrät es: Grössere Arbeiten sind im Gang. Die Dalle wird punkto Stabilität, Wasserdichte, Beleuchtung usw. instand gesetzt und erhält 20 Prozent mehr Grünfläche. Renovierte oder neu geschaffene Treppen, Rampen und Aufzüge sollen die Zugänglichkeit und so auch die Anbindung an das umgebende Viertel verbessern. Das Einkaufszentrum wird dank einem tiefgreifenden (und umstrittenen) Umbau durch das Büro Valode & Pistre Investoren wie die Fnac und die Galeries Lafayette anziehen. Und auch die Renovation der Wolkenkratzer beginnt: Das genannte Büro ist dabei, die frühere Tour Flatotel in ein Luxusheim «à l'américaine» zu verwandeln.

Die Projekte «Les Lilas» und «Front de Seine» sind mit einem veranschlagten Gesamtbudget von 225 Millionen beziehungsweise über 400 Millionen Euro und einer Fläche von 25 beziehungsweise 18 Hektaren mittelgrosse urbanistische Vorhaben. Im Gegensatz zu «Paris Rive Gauche» dürften sie kaum internationales Interesse erregen. Doch ist jedes der drei hier angeführten Beispiele charakteristisch für je einen spezifischen Aspekt des hauptstädtischen Urbanismus nach der Ära der «Grands travaux»: Erschliessung einer lange Zeit durch Bahn- und Industrieanlagen besetzten Enklave («Paris Rive Gauche»), Annäherung der Kapitale an ihre Randgemeinden («Les Lilas»), Reparatur des schlecht gealterten Stadtgefüges der Nachkriegszeit («Front de Seine»). Paris erneuert sich im Grossen wie im Kleinen, am Rand wie im Zentrum, spektakulär wie fast unbemerkt.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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