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Surrealistische Kunstwelt
Neue Zürcher Zeitung

Die Villa Noailles in Hyères als Zentrum für Design und Architektur

Die von Robert Mallet-Stevens erbaute Villa Noailles in Südfrankreich dient seit ihrer Renovation als Kunstzentrum. Zurzeit ist dort eine Ausstellung dem Architektenduo Lacaton & Vassal gewidmet.

17. März 2006 - Marc Zitzmann
Morgens kämpft man sich durch den Pariser Frost zum Bahnhof; nachmittags geniesst man mit geöffneter Strickjacke den Blick auf die sonnige Bucht von Hyères. In einem Satz ist so resümiert, warum die reichen Hauptstädter vor dem Krieg gern den Winter an der Mittelmeerküste verbrachten: «L'Azur! l'azur! l'azur! l'azur!», um Mallarmé zu zitieren. Nach einem anderen Werk des symbolistischen Dichters - «Un coup de Dés jamais n'abolira le Hasard» - ist ein surrealistischer Film benannt, den Man Ray 1929 in dem damals avantgardistischsten Anwesen der Côte d'Azur drehte: der Villa Noailles in Hyères. «Les Mystères du Château du Dé» führt aus dem winterlichen Paris in den frühlingshaften Süden und nähert sich der Villa von unten her, von der Stadt.

Unvollendeter Wurf

Am Hang erblickt man eine Art Festung, welche von den Türmen einer mittelalterlichen Burgruine überragt wird. Bei genauerem Hinsehen erkennt man eine geknickte, imposante Mauer, die von mannshohen Scharten durchbrochen wird. Ein kühner Einfall des Architekten, Robert Mallet-Stevens: Vom dahinter gelegenen Garten aus blickt man gleichsam auf eine Galerie von gerahmten Stadt- und Meerbildern. Die Hauptfassade der Villa setzt sich dezidiert vom maurischen oder anglo-normannischen Stil der sie umgebenden Villen ab: Ihre ineinander geschobenen Kastenformen sind wie der tiefer gelagerte dreieckige Garten von Gabriel Guévrékian kubistisch angehaucht. Im Innern ist vor allem der Salon rose bemerkenswert, ein fensterloser Atelierraum mit terrassenförmigem Glasdach.

Ein vollendeter Wurf ist die Villa Noailles jedoch nicht. Zwischen 1923 und 1933 stellte sie eine Art work in progress dar - bis die Auftraggeber, Charles und Marie-Laure de Noailles, das Interesse an der Dauerbaustelle verloren. Der ursprünglichen Villa liessen sie ohne Rücksicht auf das Gesamtbild den Salon rose und das Schwimmbad anfügen, eine «petite villa» für Gäste und Domestiken, eine Erweiterung des Esszimmers, einen Gymnastiksaal, eine Squashhalle. Doch nur ein Teil stammt von Mallet-Stevens - ein Spaziergang um den Komplex zeigt «ein Agglomerat von zementgrauen Kuben» (Man Ray) ohne grosse Kohärenz.

Gerade als letztlich gescheitertes Projekt ist die Villa aber von Interesse. Der Widerspruch war im Auftrag angelegt: Charles de Noailles wünschte sich «une petite maison amusante à habiter», ohne jedoch auf Dienstpersonal und auf Gäste wie Buñuel (der hier das Drehbuch von «L'Age d'or» schrieb), Cocteau, die Brüder Giacometti, Milhaud und Poulenc verzichten zu wollen. Waren geräumige Zimmer und kostbare Materialien verpönt, so betraute man Pierre Chareau, Georges Djo-Bourgeois und Francis Jourdain mit der Innenausstattung und gab ein Vermögen für die Sanitäranlagen aus. Mit ihrem falschen Beton und ihrer Ausrichtung auf Sport, Hygiene und Mechanisierung ist die Villa ostentativ modern und insofern zeittypisch. Nicht zuletzt stellt der technisch mittelmässig ausgeführte Bau das Erstlingswerk eines nicht mehr ganz jungen Architekten dar, der als Filmausstatter bekannt geworden war: Die Villa Noailles bildet das Dekor für die Inszenierung eines «anderen» Lebens.

1973 wurde das Anwesen an die Stadt Hyères verkauft - und 16 Jahre lang Verfall und Vandalismus preisgegeben. Die Renovierung ist langwierig: Obwohl seit 1989 bereits über 7 Millionen Euro investiert wurden, sind auf einem Rundgang mit dem Direktor der Villa, Jean-Pierre Blanc, noch immer Räume voller Schutt und Unrat zu sehen. Doch wird der Komplex seit 1990 für Ausstellungen genutzt. Seit einigen Jahren gibt es ein richtiges Kulturprogramm, dessen Kern das renommierte Festival International des Arts de la Mode d'Hyères bildet. Dieses besteht aus einem Wettbewerb für junge Designer, in dessen Jury Koryphäen wie Galliano, Gaultier und Margiela sitzen, und aus mehreren Ausstellungen rund um die Mode. Der Fotowettbewerb und der heuer erstmals veranstaltete Designwettbewerb funktionieren nach demselben Prinzip.

Mode im Frühjahr, Design im Sommer, Fotografie im Herbst und Architektur im Winter sind die Pfeiler des Programms. Mit 14 Mitarbeitern und einem Budget von 1,2 Millionen Euro verfügt Blanc seit kurzem erstmals über angemessene Mittel. Geplant sind freilich noch weitere Arbeiten, um Zimmer für artistes en résidence zu schaffen, ein Restaurant und - dies von Leihgaben der Noailles-Erben abhängig - eine Dauerausstellung über die Geschichte der Villa.

An die Geschichte knüpft auch die Programmpolitik mit ihrem Bestreben an, wie einst die aristokratischen Mäzene jungen Künstlern unter die Arme zu greifen und sie mit etablierten Schöpfern zusammenzubringen beziehungsweise mit deren Arbeiten vertraut zu machen. Nach Ausstellungen über Hussein Chalayan, Droog Design, Karl Lagerfeld, Marc Newson, Paco Rabanne und viele andere ist jetzt eine Schau dem Architektenduo Anne Lacaton und Jean- Philippe Vassal gewidmet.

Lacaton & Vassal wurden 1993 mit der in Floirac bei Bordeaux errichteten Maison Latapie bekannt, einem Low-Cost-Bau, der zur Hälfte aus einem Gewächshaus besteht. Auch beim Haus in Coutras in der Gironde und bei den viel publizierten Wohnungen in der Mülhausener Cité manifeste integrierten sie landwirtschaftliche Gewächshäuser. Diese sind zu einer Art Signatur des Teams geworden: Für wenig Geld bieten sie Lichtfülle, grosse Deckenhöhe, klimatischen Komfort - und Teilräume ohne vordefinierte Funktion, die frei genutzt werden können.

Flexible Architekturen

In jüngeren Projekten haben Lacaton & Vassal den Ansatz verfeinert. Die nächstes Jahr zu erbauende Architekturschule in Nantes fügt den 12 500 Quadratmetern des Grundprogramms quasi als «Bonus» 5500 Quadratmeter hinzu, deren Nutzung den Schülern und Lehrern überlassen ist. Wie für die Schule ist auch für den Entwurf eines 30-stöckigen Wohnturms in Poitiers die doppelte Deckenhöhe charakteristisch: Die Duplexwohnungen besitzen einen 6 Meter hohen, verglasten «Bonusraum» und sind mit einer Durchschnittsfläche von 200 Quadratmetern ungleich grösser als Appartements, die zu einem vergleichbaren Preis gebaut wurden.

Es ist spannend zu sehen, was die genannten Projekte mit der Villa Noailles verbindet: das Streben nach Lichtfülle, nach maximalem Nutzwert - Charles de Noailles' (nicht zu Ende gedachter) Wunsch nach «une maison infiniment pratique et simple» könnte auch das Credo von Lacaton & Vassal sein. Es wird aber auch klar, wo der entscheidende Unterschied liegt: Musste die Villa quasi pausenlos vergrössert werden, um Funktionen zu erfüllen, die im ursprünglichen (Minimal-)Programm nicht vorgesehen waren, so versucht das Bordelaiser Architektenduo, Bauten zu schaffen, die sich dank ihrer Flexibilität den wechselnden Wünschen ihrer Benutzer anpassen.

[ Die Ausstellung Lacaton & Vassal ist bis zum 2. April in der Villa Noailles in Hyères zu sehen. Kein Katalog. ]

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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