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Bauen mit Verstand
Neue Zürcher Zeitung

Zum 70. Geburtstag des Tessiner Architekten Luigi Snozzi

29. Juli 2002 - Roman Hollenstein
Spätestens seit dem Erfolg von Frank O. Gehrys Guggenheim-Museum in Bilbao wünscht sich wohl jede Stadt eine derartige Attraktion. Mit solch gebauten Primadonnen wächst zwar die Popularität der Architektur, die wesentlichen Fragen aber, was deren Aufgabe und Bedeutung in sozialer und urbanistischer Hinsicht seien, können und wollen diese Werke nicht beantworten. Gleichwohl lassen sich die meisten Architekten nur allzu gerne von der Aussicht blenden, die Welt mit auffälligen Duftmarken zu parfümieren, und sehen sich kaum mehr in der Rolle des Intellektuellen mit Verantwortung gegenüber Stadt, Natur und Mensch. Der Fehler liegt indes nicht nur bei der bauenden Zunft, sondern auch in der Tatsache, dass viele meinen, auf das Meer banaler Spekulationsbauten sei nur mit spektakulärer Architektur zu reagieren. Für Verfechter einer ethischen Baukunst wie Alvaro Siza und Luigi Snozzi scheint da kaum noch Platz zu sein. Doch während der Portugiese in seiner Heimat respektiert und mit gewichtigen Aufträgen bedacht wird, kommt Snozzi hierzulande allzu selten zum Zuge, auch wenn man ihn gerne als «soziales Gewissen der Schweizer Architektur» bezeichnet.

Obwohl Snozzi bald im Rahmen städtebaulicher Wettbewerbe, bald aus eigener Initiative viele wegweisende Projekte entwarf, konnte dieser einsame Rufer in der Wüste seine Ideen nur in Monte Carasso, einem Vorort Bellinzonas, realisieren. Dieses von gezielten ordnenden Interventionen geprägte urbanistische Projekt, das 1996 auf der 6. Architekturbiennale von Venedig im Schweizer Pavillon geehrt wurde, findet noch immer als kontextbezogene Alternative zur modischen Verherrlichung des Vorstadtchaos Beachtung. Als Vorsitzender des Gestaltungsbeirats war Snozzi zudem in den achtziger Jahren mitverantwortlich für das damalige «Salzburger Architekturwunder». In Maastricht wiederum flossen Snozzis Einsichten über Jo Coenen, den heutigen «Rijksbouwmeester» der Niederlande, ein in die Planung des Céramique-Viertels. Hier steuerte Snozzi eine 300 Meter lange Wohnmaschine bei, welche gegenwärtig den letzten Schliff erhält. Schliesslich hatte dieser kompromisslos radikale Architekt dank Ursula Koch auch Einfluss auf die Zürcher Gestaltungspläne, welche die einstigen Industriegebiete von Zürich Nord und Zürich West neu ordneten und in kulturell und gesellschaftlich attraktive Quartiere verwandelten.

Als Denker, dem das Bauen in erster Linie eine soziale Kunst ist, liebt es Snozzi, im Stillen zu wirken. Die laute, aufgeregte Geste ist seine Sache nicht. Eher sieht er sich als Diener der Architektur, der unermüdlich versucht, im Widerstand gegen Baugesetze, Institutionen und Kommissionen einer menschengerechten Stadt zum Durchbruch zu verhelfen. Ausgehend von den Theorien Aldo Rossis und Vittorio Gregottis, reagiert er mit seinen städtebaulichen Entwürfen und seinen Bauten immer auf den Ort, dessen Geschichte und Topographie die architektonische Form letztlich mitbestimmen. Dies ist mit ein Grund dafür, dass seine Häuser stets anders aussehen - einmal abgesehen vom Beton, dem Material, das sich in Snozzis Augen am besten zum Bauen im Tessiner Kontext eignet. Das beweisen nun auch seine einstigen Mitarbeiter: Raffaele Cavadini in Gerra Piano und Michele Arnaboldi in Intragna, wo der in Form und Proportion präzis dem kleinstädtischen Dorfkern angefügte Betonkubus der Raiffeisenbank zu einer Hommage an den Meister werden dürfte.

Der Weg des am 29. Juli 1932 in Mendrisio geborenen Luigi Snozzi hin zu einer asketischen, dem Genius Loci verpflichteten Architektur war lang. Nach dem Studium an der ETH Zürich liess er sich zunächst von Peppo Brivio für Frank Lloyd Wright begeistern, fand dann aber in der Zusammenarbeit mit Livio Vacchini schnell zur abstrakteren Moderne eines Mies van der Rohe, dem sie 1965 mit der lateinischen Rationalität des Fabrizia-Bürohauses in Bellinzona antworteten. Nachdem Snozzi zusammen mit Botta, Carloni, Galfetti und Flora Ruchat 1970 mit dem städtebaulichen Wettbewerb für die Erweiterung der ETH Lausanne ein nicht realisiertes Schlüsselwerk der «Tessiner Schule» entworfen hatte, legte er ein typologisch an die Klosterarchitektur angelehntes urbanistisches Alternativprojekt für das später verunstaltete Flussdelta von Brissago vor. Mit der Casa Kalman entstand dann 1975 in Minusio der erste «klassische» Snozzi: ein Betonbau mit gezielt auf die Landschaft ausgerichteten Öffnungen, mit Wegen und Terrassen, die den Höhenkurven folgen, sowie mit der zum Haus in einen Dialog gestellten Pergola.

Diese städtebaulich-architektonischen Themen entwickelte er bis heute weiter in den Häusern von Verscio, Agarone, Ronco, Carona und Cureglia. Vor allem gelang es ihm aber, in Monte Carasso seine Ideen durchzusetzen - von der meisterhaften Miniatur des Turmhauses für den Sindaco über die enigmatische Doppelsphinx der Turnhalle und die Friedhoferweiterung bis hin zum Umbau des ehemaligen Klosters in ein Gemeindezentrum und zum grossen, das Dorf gegen die Autobahn abschirmenden Wohnblock. Verglichen mit seinen fast gleichaltrigen Tessiner Kollegen Galfetti und Vacchini oder dem elf Jahre jüngeren Botta ist Snozzis gebautes Œuvre klein. Doch wohnen jedem urbanistischen Entwurf, jedem Haus architektonische Aussagen inne, die bis heute nichts an Gültigkeit eingebüsst haben. Erinnert sei nur an den 1978 von ihm und Botta urbanistisch exakt formulierten Wettbewerbsentwurf für einen Zürcher Reiterbahnhof (den ein anderer Architekt dann zur amorphen Megastruktur des HB-Südwest verwässerte). Wenn heute Snozzis karge Bauten, die allem Detail- und Materialkult, allem selbstverliebten Minimalismus und aller formalen Übersteigerung abhold sind, auf junge Architekten wieder erfrischend neu wirken, so mag ihn dies darüber hinwegtrösten, dass er viele seiner schönsten Träume bisher nicht verwirklichen konnte. Zu wünschen wäre ihm und seinem Wohnort Locarno, dass seine vor Jahren konzipierte und jetzt wieder diskutierte Neugestaltung der Piazza Grande, auf der demnächst das Filmfestival eröffnet wird, doch noch verwirklicht werden kann.

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