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Gefangen in der Moralfalle
Der Standard

Was ist und wie verändert sich die Rolle von Architektur heute? Ein breit angelegter Berliner Kongress auf der Suche nach Antworten.

3. August 2002 - Matthias Boeckl
Um die 4000 Architekten versammelten sich vergangene Woche in Berlin beim Kongress der „Union Internationale des Architectes“. Das globale Megaevent der Architektur findet in dreijährigem Rhythmus statt und wurde diesmal unter das Motto „Ressource Architektur“ gestellt. In zahllosen Referaten, begleitenden Ausstellungen und Diskussionen versuchte die Weltgemeinde der Architekten fünf Tage lang, ihre Rolle im Zeitalter von Globalisierung, sozialen und ökologischen Krisen neu zu definieren. Im Mittelpunkt standen dabei - was unter deutscher Regie zu erwarten war - tief bohrende Fragen an die eigene Moral sowie politische Forderungen, wie man sie sonst eher von NGO-Meetings am Rande der G-8-Gipfel kennt.

Eines war schon 1922 dem Modernepionier Le Corbusier klar: Architekten können sich im Industriezeitalter nicht mehr darauf beschränken, einfach nur schöne Häuser zu bauen, sondern sie müssen avancierte Technologien adaptieren und in der Architektur künstlerisch einsetzen. So entstand das „Wohnhaus als Maschine“. Achtzig Jahre später hat sich das komplexe Fachwissen, das Architekten im täglichen Überlebenskampf erwerben und einsetzen müssen, vervielfacht.

Nach der Industrieverklärung Le Corbusiers stürzte eine wahre Wissensflut über die Planer: Mit dem Ölschock das Öko-Know-How, im Zeitalter des Neoliberalismus grundlegende Strategiekenntnisse der Investmentpolitik und nun, im globalisierten Infoage, auch noch digital gestütztes „globales“ Verantwortungsbewusstsein - und das alles in der Zwickmühle zwischen extremem Kostendruck und hinterfragbaren Investorenwünschen auf Bauherrenseite einerseits und den humanitären Idealen des Planers lebenswerter Umwelten andererseits.

Kein Wunder, dass sich da mitunter Resignation breit macht und so mancher Architekt sich auf eine Philosophie des „Machbaren“ zurückzieht. Ginge es nach den Organisatoren des jüngsten „Weltkongresses“ der Architekten, dann müssten die Baukünstler angesichts der prekären Lage unseres Planeten und seiner Bewohner noch radikalere Konsequenzen ziehen - und ihr Ureigenstes, den Entwurf neuer Bauten, sofort aufgeben. Architekten dürften dann bestenfalls umbauen und ergänzen, und auch das nur mit einem Rück- und Abbauplan im Kopf, der den umweltgerechten Kreislauf der verwendeten Materialien sicherstellt - das forderte Karl Ganser, Sprecher des wissenschaftlichen Komitees, im Habitus eines Priesters.

Doch nicht alle Architekten denken derart fundamentalistisch: „Das ist gegen alles, was in der Architektur Spaß macht“, meint dazu der experimentierfreudige Shootingstar der deutschen Architekturszene, Matthias Sauerbruch. Und: Die Architektur sei doch vor allem eine Disziplin der Innovation, des räumlichen Ausdrucks und der Formen.

In der Tat besteht die Gefahr einer Moral-Falle: Denn die Architekturdisziplin sieht sich heute von derart vielen Harte-Fakten-Wissenschaften und moralischen Forderungen umstellt, dass kaum mehr Raum und Zeit für ihre „Kernkompetenz“ bleibt - nämlich die (nicht selten intuitive) Schöpfung von funktionierendem und stimulierendem Lebensraum. Oft genug werden zudem „unflexible“ Architekten von Investoren an der Planung großer Baukomplexe nur mehr am Rande und ohne jeden Einfluss beteiligt.

Auf dem Berliner Kongress wurde anlässlich dieses Krisenszenarios vielerlei diskutiert: Das Bild des Architekten schwankte zwischen dem eines Experten, der sich immer weiter von seinen ursprünglichen Handlungsfeldern weg-entwickelt, und weiterhin dem des Bauers „schöner Häuser“. Das war zwar nicht die Sache der großen Stars, von denen nur Dominique Perrault und Lord Norman Foster am Programm standen.

Die expressive Fraktion zwischen Frank Gehry und Zaha Hadid ersparte sich lieber die quälende Selbstbefragung. Für größte Vielfalt war aber allein schon durch die Herkunft der Teilnehmer aus China, Kasachstan, Brasilien und Ländern der westlichen Hemisphäre gesorgt. Besonders die beginnende Selbstkritik der bisher weitgehend an schlechten westlichen Praktiken orientierten neuen chinesischen Architektur scheint viel versprechend, ebenso ökologische Ansätze aus Südamerika.

Unter allen Positionen der Architektenpraxis steht jedoch, so scheint es, heute nur noch eine einzige, noch dazu eine klassische, als weitgehend integer da: Ausgerechnet die Ingenieure, die oft für die desaströsen Auswirkungen der Großtechnologie auf unsere Umwelt verantwortlich gemacht werden, können heute ästhetische, ökologische, wirtschaftliche und soziale Forderungen an das Bauen perfekt zur Deckung bringen.

Der konstruktive Ingenieurbau, so referierte es eindrucksvoll Jörg Schlaich, der globale Doyen dieser Disziplin aus Stuttgart, sei nicht nur materialsparend und elegant. Die technische Infrastruktur nehme auch eine geradezu geopolitische Bedeutung an: Das beweise weltweit die direkte Koppelung des Bruttoinlandsprodukts an das Ausmaß vorhandener Straßen- und Bahnkilometer. Vor allem den radikalen Ökologen schrieb Schlaich Unerhörtes ins Stammbuch: Man solle mittels der funktionierenden, aber politisch boykottierten Technik riesiger Solarkraftwerke, die just in den ärmsten Ländern der Welt am besten funktionierten, doch die Entwicklungsländer an unserem Konsum verdienen lassen.

Ein neues, lustvolles Energiekonsumieren hierorts wäre die aparte Folge davon. Nicht immer werden die Architekten derart Fundamentales zur Weltzukunft beisteuern können. Dennoch hatte ihre Weltversammlung immerhin den Erfolg, sich Mut zu machen in der unverzichtbaren gesellschaftlichen Rolle, die Architekten nach wie vor spielen: als gestaltende, nicht bloß moderierende Koordinatoren verschiedenster Disziplinen. Diese kreative, eigentliche Triebkraft des Architektendaseins sollte die heute unverzichtbare Ressourcen-Moral eigentlich schon eingebaut haben.

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