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Kommunizierender Campus
Neue Zürcher Zeitung

Architektonische Aufbruchstimmung in Lugano

Der Campus der Tessiner Universität in Lugano ist nach gut zweijähriger Bauzeit bezogen und steht zur Einweihung bereit. Das Gespann Galfetti/Könz war für die Konzeption und die Aula magna verantwortlich. Zudem zeugen vier weitere Universitätsgebäude von einer neuen Aufbruchstimmung unter den jungen Tessiner Architekten.

2. August 2002 - Roger Friedrich
Das Tessin hat einen hochschulpolitischen Parforceritt hinter sich. Anfang der neunziger Jahre sprossen neue Ideen für eine Tessiner Universität. Botta lancierte das Konzept einer Architekturakademie in Mendrisio. Lugano plädierte für eine Wirtschafts- und Kommunikationsfakultät. Dann überstürzten sich die Ereignisse. 1995 schuf der Kanton mit einem Hochschulgesetz die Basis für eine Universität. Im gleichen Jahr errichtete die Stadt Lugano eine Stiftung für eine Fakultät. Im Herbst 1996 wurden in Lugano die ersten Vorlesungen gehalten. Heute studieren 1500 Studenten an der Università della Svizzera italiana. Der Rhythmus, der die Gründung der Tessiner Universität bestimmte, wurde auch bei den Arbeiten auf dem Campus in Lugano eingehalten. Mitte 1998 konnten die Arbeiten eines Architekturwettbewerbs juriert werden. Ende 1999 fuhren die Bagger auf dem Gelände auf.


Ein offener Campus

Die Stadt Lugano hatte sich rechtzeitig auf das Tessiner Hochschulzeitalter vorbereitet und das alte Stadtspital mit einem grösseren Areal für eine künftige Universität reserviert. Weiter meldete sich im rechten Moment eine grossherzige Spenderin, Cele Daccò, die es mit 17 Millionen Franken der Universitätsstiftung erleichterte, das 40-Millionen-Bauvorhaben rasch und forsch zu realisieren. Die Spenderin drängte mit fünf für die theologische Fakultät bestimmten Millionen, diese private, von der Universität der italienischen Schweiz institutionell getrennte Hochschule in den Campus zu integrieren, und sie schlug als Architekt der ganzen Anlage Aurelio Galfetti vor. Galfetti zog es vor, sich auf das Gesamtkonzept und die Projektierung der Aula zu beschränken und für vier Universitätsbauten einen Wettbewerb unter jungen Tessiner Architekten auszuschreiben. Galfetti tat sich mit Jachen Könz zusammen. Dieses Gespann entwickelte den Masterplan, projektierte die Aula, begleitete den Wettbewerb und organisierte und kontrollierte den Baufortgang.

Das rechteckige Areal, auf dem der Campus entstand, befindet sich im Quartier Molino nuovo, und zwar zwischen der Via Madonnetta und der in Via Giuseppe Buffi umgetauften Via Ospedale (umgetauft nach dem vor zwei Jahren verstorbenen Staatsrat, der sich als Erziehungsdirektor so sehr verdient um die Universität gemacht hat). Mit den schmalen Seiten stösst das Grundstück an den Viale Cassarate - die Allee, die den Fluss dieses Namens säumt - und an den Corso Elvezia. Letzterer ist eine der Hauptachsen, die vom See her das Gebiet erschliessen, in das sich die Stadt im 20. Jahrhundert ausbreitete. Das Quartier blieb, obwohl keine zehn Gehminuten von der «Bankencity» entfernt, urbanistisches Hinterland. Lugano ist nach dem See orientiert. Das «Landesinnere» kommt schwer zu seinem Recht. Der Campus fügt sich nun in die vom See bis zum Stadion reichende «grüne Achse», die das Quartier Molino nuovo, das jetzt zum Universitätsviertel wird, an das Zentrum anbinden soll.

Als Galfetti seinen Auftrag bekam, sah er sich mit einem von mancherlei Bauten besetzten Areal konfrontiert. Das prominenteste Gebäude, das einstige Spital, hatte die Universität bereits bezogen. Es handelt sich um einen langgestreckten Bau (1905 bis 1909 nach Plänen von Giuseppe Ferla entstanden) mit einer markanten Eingangspartie in der Mitte und zwei durch Zwischentrakte mit Säulengalerien abgesetzten Flügeln. Weiter hat der Palazzo Rezzonico an der nordwestlichen Ecke einen gewissen Stellenwert im Erinnerungsschatz des Quartiers; es wurde im späten 19. Jahrhunderts von M. Fontana als Altersheim errichtet und diente später verschiedenen sozialen und kulturellen Zwecken. Die weniger bedeutenden Bauten wurden beseitigt.

Einige Vorarbeit für ein Campus-Konzept hatte bereits Peter Zumthor zusammen mit Studenten geleistet. Er entwarf die Idee eines Parkes mit Pavillons, die nicht den Fakultäten, sondern den Funktionen (Bibliothek, Hörsäle, Labors) zugewiesen werden sollten. Galfetti entwickelte Konzept und Masterplan auf dieser Linie weiter. Der Campus sollte sich als allgemein zugänglicher Park der Stadt öffnen. Einer der ersten «symbolischen» Entscheide war, die alte hohe Umzäunung zu entfernen und durch ein niederes Mäuerchen zu ersetzen. Die Universität soll mit ihrer Umgebung kommunizieren.


Regel und Rhythmus

Das alte Spitalgebäude, Grundstock des Campus, bildet zusammen mit der Aula magna und dem quadratischen Bau der theologischen Fakultät von Michele Christen die lange Basis eines U, das nun die Grünfläche einfasst. Von Anfang an wurden bauliche Akzente in den Ecken vorgesehen, die dem Spitalgebäude gegenüberliegen. In der einen beherbergt das alte Rezzonico-Gebäude mit dem angefügten schmalen Neubau von Giorgio und Michele Tognola Bibliothek und Lesesäle. Im neuen Teil sind zwischen den flachen Pfeilern auf drei Etagen kleine Nischen für Lesetische angeordnet. Auf den quadratischen Scheiben, die diese gegen aussen abschliessen, lässt eine Aluminiumabdeckung nur den Rand und in der Mitte zwei kleine schmale Fenster offen. Die Fassade lässt mit ihrem eigenwilligen Raster, an klösterliche Abkehr gemahnend, die Lesezellen erahnen. In der andern Ecke des Terrains steht der höchste Neubau, in dem sich die Computerarbeitsplätze befinden, das siebengeschossige «Laboratorio» von Sandra Giraudi und Felix Wettstein mit seiner leicht um eine Betonstruktur gelegten Glashülle.

Parallel zur Hinterseite des alten Spitals - diesem sehr nahe gerückt - steht der längliche Trakt der Hörsäle von Lorenzo Martini und Donatella Fioretti, dessen einfache Quaderform das intensive Rot der von hellen Längsbändern unterbrochenen Glasverkleidung belebt. Hinter dem zweiten Spitalflügel ist Platz für einen weiteren Bau gleichen Volumens reserviert. So entwickelt sich um zwei lange schmale «Höfe» ein verdichteter Bereich, von dem sich die Weite der Grünanlage erst recht abhebt. Die Individualitäten der Architekten sind eingefangen sowohl im streng geregelten Gesamtkonzept als auch im freien Rhythmus der Aussenräume und dem Zusammenspiel der diszipliniert eingesetzten Ausdrucksmittel, der prägnanten «Grafik» der Bibliothek (reizvoll am Abend, wenn die Innenräume erleuchtet sind), der temperamentvollen Farbigkeit der Hörsäle, der Eleganz des «Laboratorio» und der feinen Gliederung der theologischen Fakultät.

Galfetti hat neben dem Masterplan das Projekt der Aula magna beigetragen, die sich bescheiden im Boden verkriecht, als solle die ganze Aufmerksamkeit den anderen Universitätsbauten überlassen werden. Aber wen macht eine Grube nicht neugierig? Der Bau treibt ein raffiniertes Spiel mit dem Oben und dem Unten, dem Innen und dem Aussen und regt an zum Einblick in die Tiefe. Die Aula ist in den Boden eingelassen, um die Sicht in den Campus von der Stadt her offen zu halten. Die Decke der Aula dient als Piazza. Als «Gebäude» sichtbar ist nur der Vorraum, der als gläserner Pavillon aus dem Boden ragt. Er verbindet - halb Treppenhaus, halb Vestibül - das gewachsene Terrain mit dem Niveau der Aula. Das leichte Dach hängt an zwei Stahlträgern. Den transparenten Pavillon und die Piazza begrenzen auf zwei Seiten Folgen kurzer Betonstellwände. Zwei tragen die beiden Stahlträger, die andern eine Pergola. Vom Aussen- zum Innenraum wechselt man durch einen wie ein Motto an die Glaswand gelegten Türrahmen. Extravaganteste architektonische Attraktion des Aulakomplexes ist die schräg in den Vorraum gestellte, monolithische gerade Treppe, die eine Niveaudifferenz von fast elf Metern überwindet. Der Weg in den Untergrund geschieht wahrlich nicht verschämt, sondern wird zelebriert, als solle jeder, der hinuntersteigt, feierlich seine Portion Tag oder Nacht mit sich hinabtragen. Die Aula sodann ist eine 500 Personen Platz bietende Halle, auch sie klar und streng konzipiert. Licht fliesst den Betonwänden entlang herab, diffundiert in den asketischen Raum und verleiht ihm diskrete Würde.

Der Campus ist offen gedacht, und schmale Fussgängerwege führen von allen Seiten in ihn hinein. Die Universitätsbauten aber sind nur vom Campus her zugänglich. Der Eingang des früher dem Corso Elvezia zugewandten Rezzonico-Gebäudes wurde geschlossen. Nur das Hauptgebäude betritt man durch das alte Portal, auf das die Via Lambertenghi (das Rückgrat der «asse verde») zuführt. Wirklich dem Stadtkern zugewandt ist heute allerdings die Ecke am Corso Elvezia, wo schon Enea Tallones Kirche Sacro Cuore aus den zwanziger Jahren einen Akzent setzt, weiter die auffällige, etwa zwanzigjährige Casa della Giovane von Livio Lenzi steht und nun Galfetti mit Aula und Piazza den Campus mit der Stadt in Kontakt bringt.

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