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Vom Standbein aufs Spielbein
Vom Standbein aufs Spielbein, Foto: Walter Zschokke
Spectrum

Architektonisches Gestalten heißt Ordnen. Dinge, Materialien, Funktionen, Räume werden in Zusammenhänge gesetzt, die rational oder gefühlsmäßig, zufällig oder logisch sein können. Nachdenken über den doppelgesichtigen Sinn von Ordnungen.

31. August 2002 - Walter Zschokke
Max Frisch berichtet in seinen Tagebüchern über die Probenarbeit zur Uraufführung seines Stücks „Andorra“. Der Darsteller des Andri hatte seine Schuhe ausgezogen, denn er mußte ja seine Füße zeigen, und so hingestellt, wie zwei Schuhe stehen, wenn sie mit einer Hand gepackt und abgesetzt werden. Beim mehrmaligen Auf- und Abtreten der Schauspieler beim Wiederholen der Szene gerieten sie offenbar einem der Mitspieler zwischen die Füße, sodaß sie verschoben wurden.

Auf der leeren Bühne erkannten plötzlich alle die neue Wirkung der gestörten Abstellposition. Imaginär wuchsen Standbein und Spielbein aus den Schuhen und mit ihnen die Person des abwesenden, weil abgeführten Andri. Der veränderte Normalfall dokumentierte schlagartig den Bruch im alltäglichen Ablauf der Dinge, und die Regie nützte die Erkenntnis, um mit der Irritation der gewohnten Ordnung die dramatische Wirkung zu steigern.

Die kleine Geschichte lehrt uns, daß Veränderungen an Ordnungen, die zu Standards geworden sind, schnell bemerkt und interpretiert werden und - soweit sie mit dem praktischen Leben der Menschen zu tun haben - meist auch eindeutig verstanden werden. Andere Positionen von Schuhen verweisen auf andere Zusammenhänge: Ungeordnet, einer vielleicht verkehrt, vor dem Sofa liegend, wurden sie vielleicht ausgezogen, bevor man es sich auf den Polstern gemütlich machte.

Nicht jedes menschliche Accessoire eignet sich zu derartigen Aussagen, und nicht jede Konstellation ist sofort verständlich, aber je gewohnter der Normalfall, desto besser läßt sich mit einem Bestandteil auf den ganzen Menschen verweisen und in einem gegebenen Kontext eine eindeutige Aussage machen.

Ähnlich verhält es sich mit Sesseln. Da sie für das Sitzen der Menschen entwickelt und perfektioniert wurden, scheinen sie sehr oft dieses Sitzen bereits darzustellen. Auf alle Fälle verweist ein Sessel auf die menschliche Gestalt auch dann - beziehungsweise insbesondere dann -, wenn diese abwesend ist. Dies haben Architekturphotographen schon frühzeitig erkannt, indem sie bei Innenaufnahmen nicht selten mit demonstrativ aufgestellten Sesseln nicht vorhandene menschliche Maßfiguren ersetzten.

Doch auch hier ist nicht jede Anordnung gleich aussagekräftig. Knapp an den Tisch gestellt, meint aufgeräumt, Menschen sind dabei ausgeschlossen. Etwas abgerückt und aus den Raumachsen verdreht, lautet die Aussage ganz anders. „Wer ist auf meinem Stühlchen gesessen?“ vermochte der Zwerg in „Schneewittchen“ zu fragen, nicht etwa, weil die Sitzfläche noch warm gewesen wäre, sondern weil das kleine Möbel vom Tisch weggerückt war.

Leere Sessel können also diese oder jene Vorstellung hervorrufen, wenn sie aus der Ordnung abstrakten Aufgeräumtseins herausgehoben sind, wenn sie von stattgehabtem Leben erzählen.

Die Theaterkunst macht sich solche Erkenntnisse zunutze, aber was tut die viel langsamere Architektur? Natürlich ist sie abstrakter und hängt bloß mittelbar mit dem Leben zusammen. Der architektonische Raum ist meistens Umraum. Er hält relative Distanz zum eigentlich Lebendigen, denn Raumhülle ist eben nicht Kleid und schon gar nicht Haut. Es sind dies drei klar verschiedene Kategorien, auch wenn gewisse Kollegen dies gern verwischen. Raum ist daher unspezifischer als Bekleidung, aber doch nicht ohne jede Bedeutung. Er umfängt meist nicht einzelne Individuen, sondern kleine und größere Gruppen.

Wenn nun aber die Verhaltensmuster mehr und mehr divergieren, der ursprüngliche Standard zu einer Spielart unter mehreren wird, verliert der unspezifisch gewordene Raum seine Aussage über in ihm gelebte gesellschaftliche Vorgänge und Verhältnisse. Bildhafte Erkenntnis ist immer nur in Relation zu gesicherten Bedeutungen möglich. Schon bei fünf Interpretationsmöglichkeiten ist ein Erkennen erschwert. Doch wie kommt es zu Bedeutungen? Das Leben und das Kulturverhalten, die Art und Weise der Benutzung ordnen die Dinge einander zu und schreiben die Bedeu-tungen in Konstellationen ein.

Doch es gibt auch Naturgesetze, wie etwa die Schwerkraft, oder Materialkonstanten, wie Elastizität und Festigkeit, sowie Eigenschaften: daß ein Material brennen, verrotten oder rosten kann. Sie können bestimmte Ordnungen erzwingen oder hervorrufen, die sich mit wenig Allgemeinbildung oder mit Erfahrung erkennen und interpretieren lassen.

Das architektonische Gestalten versucht sich indes immer wieder von dieser Erdenschwere zu befreien und allgemeinere Prinzipien auszudrücken, die über kurzfristige Bedeutungs-zuweisungen hinausgreifen. Mit dem Erreichen allgemeiner Gültigkeit nähert es sich einer Ausdrucksweise, die für eine Epoche gern als klassisch bezeichnet wird.

Davon produzieren Nachahmende dann Klischees. Bis die ideale Form erreicht war, dauerte das Schleifen einer dorischen Säule am Parthenon Wochen oder gar Monate.

Daran läßt sich im übertragenen Sinn in der heutigen Zeit abschätzen, wie lange es dauert, bis konstruktive Prinzipien so weit entwickelt sind, bis bei der Betrachtung der danach errichteten Bauwerke die Herstellung, das „Gemacht-Sein“, ja jede Erinnerung an Materialgesetze sich verliert und allein das sublime architektonische Prinzip noch existiert: der spezifische Raumübergang, die trennende Membran vor ei-nem Raumgefüge, Lasten oder Schweben und anderes mehr.

Wenn die Gestaltung gar zu abgehoben agiert, und sich von allgemeiner Verständlichkeit zu weit entfernt, kann sie bald einmal mit nicht immer angenehmen gesellschaftlichen Realitäten konfrontiert werden.

Es muß ja nicht jedes Mal ein Absturz in einen Matsch aus Blut und Boden sein, aber leicht verständliche und daher eingängige Bilder sind in der Meinungsindustrie beliebt. Und gerade dann greifen populistische Simplifizierungen um sich, wenn Glätte und Distanz die Dimensionen gelebten Alltags verlassen haben.

Störungen in spiegelnden Oberflächen, die tiefer blicken lassen, Unstetigkeiten in sinnentleerten Rastern oder Lebensspuren an völlig geometrisierten Formen, die einen Gebrauch auszuschließen schienen, werden dann plötzlich zur Ritze in der Oberfläche, zur Verwerfung in einer zwanghaft harmonisierten Ordnung oder zur bedeutungtragenden Abnützung, die gefühlsmäßig und intellektuell wieder einen Zugang möglich machen und Wege zur Veränderbarkeit aufzeigen, sodaß es mit der Architektur wieder ei-nen Schritt oder einen Sprung weiter geht.

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