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Architektur der Ausgeglichenheit
Neue Zürcher Zeitung

Eine Würdigung der Brüder Perret in Le Havre

In Le Havre haben die Brüder Perret nach 1945 ihre letzten Meisterwerke gebaut. Diese wurden über die Jahre hin zum Teil entstellt, doch dafür lockt die Hafenstadt jetzt mit einer von der Konzeption wie vom Materialreichtum her überragenden Gesamtschau über das Leben und Werk der grossen Architekten und Bauunternehmer.

27. September 2002 - Marc Zitzmann
Am 5. und 6. September 1944 ging das Zentrum von Le Havre im Bombenhagel unter: 5126 Einwohner fanden den Tod, 80 000 waren obdachlos, und 12 500 Gebäude wurden zerstört. Bereits vor dem Bombardement hatten ehemalige Schüler dem damals siebzigjährigen Auguste Perret die Leitung eines «Atelier de Reconstruction» angetragen. Ziel war es, einen ganzheitlichen Ansatz für den Wiederaufbau auszuarbeiten. Zwar scheiterte Perrets Projekt, Le Havre um 3,5 Meter erhöht auf einer Plattform wieder aufzubauen, doch in einem «monumentalen Dreieck» (Joseph Abram) am Vorhafen konnte er einen Teil seiner Ideen verwirklichen. Das Herz des Plans bildet das am nordöstlichen Eck des Dreiecks placierte Rathaus. Hier treffen die Avenue Foch und die Rue de Paris rechtwinklig aufeinander. Erstere, eine von Alleen und siebenstöckigen Wohnblocks gesäumte Prachtstrasse, führt zur westlichen Meerfront, wo die Porte Océane einen perspektivischen Blick auf den Atlantik bewirkt. Die Rue de Paris führt ihrerseits vom Rathaus zur südlichen Meerfront; zwischen den beiden Achsen sind alle Strassen streng orthogonal angelegt, lediglich der Boulevard François-1er verläuft als Hypotenuse des Dreiecks diagonal dem Meer entlang.

Der Masterplan von Perrets «Atelier de Reconstruction» sollte die Einheitlichkeit der von verschiedenen Architekten auf dem neu parzellierten Areal zu erbauenden Gebäude gewährleisten. Gelungen ist dies nur zum Teil: Das heutige Stadtbild mutet heterogener an als das, welches die ursprünglichen Pläne vorsahen. Doch zeigt etwa das urbane Gefüge aus sogenannten Immeubles sans affectation individuelle (I. S. A. I.) um die Place de l'Hôtel-de-Ville, was Perret vorschwebte: eine Abfolge von Haupt- und Nebenstrassen, von eher privaten Seitenwegen und belebten Flanierzonen, von langen Kastenbauten und Hochhäusern.


Sensualistischer Minimalismus

Ein Besuch in einer Eigentumswohnung in der Rue de Paris zeigt, dass die für damalige Verhältnisse grosszügigen Standardwohnungen noch heute zu gefallen vermögen. Nach drei Seiten hin von einem schmalen Balkon umlaufen, verfügt das helle Appartement über elf Fenster, Parkettböden und originales Küchenmobiliar. Allerdings hätten, so Elisabeth Chauvin, die Autorin eines Artikels über die I. S. A. I. in dem soeben erschienenen «Album de la reconstruction du Havre» (Editions Points de vue), etliche Besitzer die ursprüngliche Raumdisposition zerstört. Doch sei es, seit ein Teil der Stadt 1995 zur «Zone de protection du patrimoine architectural» ernannt wurde, immerhin möglich geworden, die Gestaltung von Reklameschildern oder den Anstrich von Balkonen zu reglementieren und die Fassaden fachgerecht zu restaurieren.

Freilich: Die Ende der achtziger Jahre erfolgte Verschandelung von Perrets Rathaus durch einen billigen Anbau wird wohl ebenso schwer rückgängig zu machen sein wie der Bau eines Grillrestaurants auf dem hoheitsvollen Rathausplatz. Und auch die Eglise Saint-Joseph ist in ihrem Innern durch Hinzufügungen verunstaltet worden. Das ist umso bedauerlicher, als Auguste Perret ein «sensualistischer» Minimalist war, der mit wenigen, sorgfältig aufeinander abgestimmten Werkstoffen arbeitete - entsprechend anfällig sind seine Bauten für jeden Zusatz. Der Zauber, den der innen hohle und mit bunten Zierfenstern gesäumte 108 Meter hohe Kirchturm entfaltet, und der hinreissende Effekt, der aus dem Kontrast zwischen der wuchtigen Masse der Wände und den freistehenden Betonpfeilern resultiert, könnten noch viel grösser sein, wenn das Gebäude seinen Originalzustand wiederfände.


Grossartige Ausstellung

Bleibende Verdienste hat sich Le Havre jetzt allerdings mit der vom Pariser Institut français d'architecture (IFA) produzierten Ausstellung «Perret, la poétique du béton» gesichert, die bis zum 6. Januar im Musée Malraux zu sehen ist. Das 1999 von Laurent Beaudouin renovierte Kunstmuseum, ein am Meer gelegener Glasbau von Guy Lagneau mit einem Aluminiumdach von Jean Prouvé (1958-61), zählt zusammen mit Oscar Niemeyers Maison de la culture (1979-82) zu den weiteren Architekturattraktionen in Le Havre. Aus dem Erdgeschoss wurden jetzt alle Gemälde entfernt, um Platz zu schaffen für die erste umfassende Perret-Ausstellung seit 1976. Ihre Ambition, ein umfassendes Bild vom Leben und Schaffen der Perret-Brüder zu entwerfen, erfüllten die Kuratoren Joseph Abram und Jean- Louis Cohen grandios. Unter Verzicht auf audiovisuelle Hilfsmittel wartet der von Bruno Reichlin linear, aber überraschungsreich gestaltete Parcours mit einer Fülle von Material auf: Pläne und Skizzen, 350 originale Photographien und oftmals grossformatige Zeichnungen, dazu 30 Modelle. Von diesen wurden 17 eigens für die Ausstellung angefertigt - eine Augenfreude sondergleichen, neben den originalen Modellen des Rathausturms von Le Havre derart detailgenaue Maquetten zu sehen wie die vom Wohnhaus in der Rue Franklin (1903/04), vom Théâtre de l'exposition des arts décoratifs (1924/25) und von der Eglise Saint- Joseph (1951-54), die im unüblich grossen Format von 1:33 von Meistern in Genf, Mailand und Wien angefertigt wurden.

Von der Ausbildung der Perrets an der Pariser Ecole des Beaux-Arts über die Gründung der Firma Perret Frères (1905) - in der Claude (1880-1962) die Verwaltung übernahm, während Gustave (1876-1952) und Auguste (1874-1954) sich die schöpferische Arbeit teilten, Ersterer mehr dem Technischen, Letzterer mehr dem Künstlerischen zugewandt - bis hin zu den späten Meisterwerken in Amiens und Le Havre zeichnet die Ausstellung (er)kenntnisreich die Laufbahn der Architekten und Bauunternehmer nach. Dabei begegnet man Werken wie der bahnbrechenden Garage in der Pariser Rue de Ponthieu (1906/07), die den Stahlbeton salonfähig machte, dem Théâtre des Champs-Elysées (1910-13), das den Ruhm der Perrets etablierte, aber auch Ikonen wie der Kirche in Le Raincy (1922/23), dem in Sachen Raumdisposition neuartigen Wohnhaus in der Rue Raynouard (1929-32) oder dem Musée des travaux publics (1936-48) mit seiner kühn geschwungenen Doppeltreppe. Darüber hinaus gelingt es der Schau, die Ästhetik der Perrets zu veranschaulichen. Die sie begleitende und vertiefende «Encyclopédie Perret», ein unumgängliches Komplement zu dem vor zwei Jahren vom IFA und von den Editions Norma publizierten Werkkatalog, fasst es in Worte: Es gibt im Œuvre der Perrets einerseits technische und formale Charakteristika - das fast exklusive Arbeiten mit Stahlbeton; der rationalistische Verzicht auf Dekoratives, ja selbst auf Verputz; die Betonung der tragenden Strukturelemente; die Bevorzugung der «lebenspendenden» Vertikale, namentlich bei der Gestaltung der Fenster und Fassaden -, anderseits einen dezidierten künstlerischen Gestaltungswillen. Dabei paart sich eine quasi spartanische Austerität mit einer grossbürgerlichen Freude an ausgesuchten Materialien, einer fast japanisch anmutenden Kunst der Reduktion und einem geradezu klassischen Sensorium für Proportionen, Rhythmen und Wiederholungen. Man sieht es den Bauten an, dass Auguste Perret mit Paul Valéry befreundet war, diesem unaufgeregten Denker und überragenden Dichter, der die Antike mit der Moderne vermählte und sich den Fesseln der Prosodie aus demselben Grund unterwarf wie Perret jenen des Rasters, der Symmetrie und des «Ausdrucks durch Struktur»: um durch selbst gesetzte Schranken den kreativen Geist immer weiter zu schärfen und zu verfeinern. Die epochale Architektur der Perrets bietet denn auch «un spectacle de sérénité» - ein Bild der Ausgeglichenheit.


[Bis 6. Januar 2003. - Encyclopédie Perret. Hrsg. Joseph Abram, Jean-Louis Cohen und Guy Lambert. Editions du Patrimoine/Editions du Moniteur, Paris 2002. 445 S., Euro 59.-.]

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